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It’s the frei<tag> Countdown. Noch 10 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 31. Mai 2011

Wer die Welt kennt, kennt nicht nur, wie die einstige NDW- und jetzige Erwachsenpopcombo Die Zimmermänner auf ihrem sympathischen Album Fortplanzungssupermarkt glauben machen möchte, den Zuckermann, sondern auch eine ganze Reihe von Heiligen von der Gottesmutter Maria bis hin zum Strohsack. Das hat weniger mit religiöser Ehrfurcht als mit ganz banaler Basisintegration mit der bendländischen Kulturgeschichte zu tun. Allerdings kratzt die Heiligenkenntnis des atheistisch-aufgeklärt Sozialisierten eher nur an der Spitze des Ei-Bergs. Tausendmal mehr und vielfältiger pocht hinter harten Schalen die weiche Substanz des guten Lebens.

I.

Heute zum Beispiel ist der Tag der Petronilla, Tochter des Fischers Simon und Gegenstand des Malers Simone (Pignoni). Von ihr ist wenig bekannt, außer dass sie märchenhaft schön gewesen sein soll und dazu fanatisch keusch, was gemeinhin einen nahezu unerträglichen Sozialdruck nach sich zieht, denn wie jeder weiß, ist Schönheit, die vor allem auf Jugend basiert, hochvergänglich und will, so ein pragmatischer Volksglaube, genutzt sein. Dies galt gerade in Zeiten, in denen eine (ökonomisch und genetisch) gute Partie das Überleben der gesamten Sippe sicherte.

So war ein angenehmes Äußeres der Tochter des Hauses nicht nur deren persönliches Kapital – was in Gary Shteyngarts Neu-Orwelliade „Super Sad True Love Story“ mit dem entzaubernden Statistikwert der Fuckability neben dem Aspekt der Personality und dem Konsumvermögen als zum Basisprofil des neuen Menschens der nahen Zukunft gehörig ausgegeben wird – sondern das Kapital der Familie.

Petronilla verweigerte sich einer Ehe, denn der um sie werbende Flaccus war ein heidnischer König. Die christliche Jungfrau entschied sich dieser Tatsache ansichtig für den Glauben und damit den jungfräulichen Tod und wurde damit Märtyrerin. Im deutschen Bibliothekswesen erinnert man sich der Petronilla dadurch, dass immerhin ein paar kirchlich betriebene Büchereien ihren Namen tragen. Ansonsten rief man sie an, wenn man gegen ein Fieber kämpfte.

Wo Petronilla also vor allem als fieberheilende Heilige ihre Funktion für das Leben des glaubenden Menschen erfüllt, schützt die Heilige Odilia sowohl Elsass als auch Augenlicht. Während Petronilla, so manche Quellen, von einer Lähmung geheilt wurde, kam Odilie nämlich blind zu Welt und erst die Taufe durch den Wanderbischof Erhard von Regensburg öffnete ihr die Augen zum Sehen. Dass sie überhaupt diese Taufe erlebte, verdankt sie der Mutter (mit dem schönen Namen Bereswinde), die sie vor dem Vater, Wüterich und Herzog Adalricus, rettete und sie, die vom Vater aufgrund ihrer Versehrtheit Todesgeweihte, in die rettenden Mauern eines Klosters gab. Später gründete Odilie selber eines und zwar auf oben auf der Kuppe, die heute erwartungsgemäß Mont Ste.-Odile heißt. Und ein zweites im Tal davor. Ihr Grab ist heute auf dem Berg in der kleinen, sehr gepflegten Anlage mit bezeichnenderweise herrlichen Blick über die Rheinebene und einem vom Abendlicht gefluteten Wallfahrerrestaurant, einer Herberge  mit die Zeitung lesenden Franzosen in der Lobby und einem um 19 Uhr bereits geschlossenen Souvenirshop.

II.

Im Prinzip funktioniert die Biografie zur Heiligwerdung immer ähnlich: Entweder wird man mit Handicap geboren oder es widerfährt einem eine Art Unbill, die das ganze bisher vorgebahnte Leben übermächtig aus dem Lot bringt. In Kooperation mit einer höheren Macht lernt man dies jedoch nicht nur zu ertragen, sondern auch zu etwas Gutem zu wenden und schließlich wird man für diese doppelten Verdienste (Aushalten und Gestalten) mit dem höchsten Grad der Anerkennung, den die Kirche zu vergeben hat, ausgestattet und ist MärtyrerIn.

In jüngerer Zeit geht es übrigens auch ohne fremdauferlegte Verwerfung im Schicksal. Jedoch nicht ohne selbstauferlegte weltliche Entbehrung sowie hoher Disziplin gegenüber den Regeln der jeweiligen Kirche. Diese wird in einer Art Führungszeugnis bescheinigt (nihil obstat).

Die Geschichte des pseudo-egalitären American Dream, des Giganten, der es vom Arbeiter Jett Rink zum Petrodollarmillionär Jett Rink bringt, folgt einem nicht unähnlichen Muster und zeigt zugleich, dass selbst im Aufbruchskapitalismus ein mühsam erarbeiteter Reichtum bestenfalls die halbe Miete darstellt. Am Ende gilt er bei der Eroberung unerschlossender Paradiese nur etwas, wenn sich der Edelmut eines Bick Benedicts dazu addiert. Man muss es demnach nicht nur geschafft haben. Sondern als Bonus auch noch seinen Nächsten lieben, also – genauer – demütig Gehorsam gegenüber einem alles transzendierenden Höheren zeigen. Das ist dann eher die Variante der protestantischen Ethik und der Schlüssel zur amerikanischen Philantropie.

III.

Dieses Heilige – manche nennen es auch das Erhabene – entspricht übrigens bei genauerer Betrachtung dem, was Max Frisch in seinen New Yorker Poetikvorlesungen im November 1981 unter dem Begriff der Utopie verortete. Nachdem Harold Brodkey bei einem dazugehörigen Panel Frischs zuvor in seiner Vorlesung aufgefalteten Bezug zum Utopischen präzisiert haben wollte, ergänzte Frisch, wie Mark Jay Mirsky berichtet:

„Es sei die Sehnsucht […] nach etwas, das der Mensch noch nie erlebt habe, das er aber haben möchte. »Die Trauer darüber, daß es so ist, wie es ist, die Einladung, dagegen zu protestieren, impliziert die Sehnsucht, daß die Welt anders sein könnte, ein Paradies.«“ und „»Wir werden es nicht schaffen. Die Sehnsucht gibt die Richtung an für das, was wir tun. […] Es ist nicht ganz weit weg vom religiösen Glauben. «“(In: Max Frisch (2008) Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 79f.)

Es ist nicht nur nicht ganz weit weg. Es residiert sogar direkt um die Ecke. Denn wenig ist so leicht erkennbar, wie dass am Ende alle Rationalisierungsbestrebungen Fortsetzungen des Religiösen mit anderen (berechnenderen und berechenbareren) Mitteln darstellen.

Das, was zunimmt, ist die verwaltbare Komplexität, die immer auch semiotisch sein muss, denn nur was man labeln und konzeptionalisieren kann, kann man auch operationalisieren. Die Wissenschaft hat ihre eigenen Heiligen genauso wie die Literatur und alle streben mehr oder minder explizit einer unerreichbaren Mitte zu, die uns, da wir in Zeitachsen denken, als zukünftig erscheint, aber natürlich in der kosmologischen Perspektive als ewige Gegenwart verstanden werden muss.

Der Mensch ist aus der Laune wahlweise einer Natur oder eines Gottes als Sinn-Wesen und in seinem Kern als sich permanent in seinem Willen nach Kohärenz verschiebendes Sin-Zeichen angelegt. Pragmatisch geht es mit Roland Barthes‘ Vorlesungstitel „Comment vivre ensemble“ darum, das Miteinander so zu organisieren (buchstäblich: in ein weitgehend heterostatisches Gefüge von funktionierenden Wechselwirkungen zu bringen), dass man trotz aller Nachteile gesellig seine Jahre in ganz guter Form übersteht. Egal, was da eigentlich kommen mag. Die Heiligen, heißen sie nun Foucauld oder Foucault, helfen uns, die wir blind auf unsere Zukunft starren, als vorbildende Orientierungspunkte. Jede Lehre ist auch eine Art vorgespanntes Führungsseil, eine Braille-Markierung in einem Höhlenkomplex, in der wir, unsere Becky Thatcher an der Hand, wenigstens unser Gleichnis suchen. Und/oder die Schatzkiste des Indianer-Joe.

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist selbstverständlich auch eine Art Lehre, die in der funktional differenzierten Wissenschaftsgegenwart so etwas wie eine Subgemeinschaft (=Fachcommunity) darstellt, der es momentan zugegeben ein wenig an Heiligkeit fehlt.

Da sich nun aber vorwiegend das Noviziat der kleinen intellektuellen Gilde rund um Buch, Bibliothek und Digitalo-versum in anderthalb Wochen (wenn es gut läuft) zu einer Art Hambacher Fest des bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Denkens trifft, darf also die Frage nach dem, was unserer Community eigentlich heilig ist, ruhig mal aufs Tapis.

St. Odile

"Ich wünschte, es gäbe einen Knall und die Psyche wäre aufgeräumt." Ach Kitty Hoff, es ist schon fast bestürzend, wie Dein "Psychenswing" den Refrain zum Thema bietet. Denn das, was uns heilig ist, ist in gewisser Weise und buchstäblich die ersehnte Knallcharge. Daher heißt das Album, auf dem sich das Lied befindet sehr passend "Blick ins Tal". Irgendwo dort unten, in einem Örtchen namens Avolsheim steht die Église Saint-Pierre de Molsheim. Die ist insofern für den vorliegenden Text beachtenswert, als dass man – jedenfalls wenn man Elsässer war – lange Zeit dachte, die Heilige Petronilla sei tatsächlich in dieser Kirche begraben. Entsprechend wurde die Grabstätte Pilgerort der lokalen Fieberkranken bis sich herausstellte, dass dort eine gewisse Terentia Augustala beigesetzt sei, die weder eine Heilige noch eine Fieberheilkräftige war. Sondern nur eine ganz normale römische Frau. Erstaunlicherweise erfüllte das Grab, als Statthalter der Heiligkeit Petronillas missverstanden, seinen Zweck als placeboesker Pilgerort bis zur Enttarnung offenbar recht gut. Wenn es, jetzt abstrakter gedacht, in diesem Zusammenhang eine Aufgabe für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft geben kann, dann die, die zunächst dank der Postmoderne einzig möglich Form des Umgangs mit diesen Transzendenz-Storyplots auszuentwickeln: eine Synopse der Möglichkeiten des Heiligen. Beispielsweise in der Wissenschaft. Hat man daraus dann ein wohlgeordnetes (wissenschaftssoziologisches) und in der semiotischen Grundanlage organisches Zeichengewebe gesponnen, wird sich, da darf man sicher sein, schon eine neue Aufgabe zur Arbeit an den Infrastrukturen auch des wissenschaftlichen Glaubens finden.

(bk)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 11 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 30. Mai 2011

Die Jugend. Für einige von uns ist sie schon länger vergangen, für einige noch nicht ganz so lange. Sicherlich schaffen wir es immer wieder einmal, uns irgendwie jugendlich, zumindest jung zu geben: Mehr Internetnutzung, als die durchschnittlichen Jugendlichen, mehr Verweise auf Subkulturen, Chanspeak, lange wach sein und über existenzielle Fragen nachdenken. Und wirklich alt wollen wir uns ja auch noch nicht fühlen, obgleich Nutzerinnen, Nutzer und Studierende uns schon länger siezen, obwohl wir Verantwortung für unser Leben, teilweise schon für das unserer Kinder haben. Doch uns rettet da zum Glück noch die Soziologie mit ihrer Diskussion über die Ausweitung der Jugend bis in die erste Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts und der Frage, ob sich nicht zwischen Jugend und Erwachsenenalter noch ein weiteres Lebensalter etabliert. Zur Not können wir uns als Avantgarde dieses Alters fühlen.

Die Jugend aber, wenn wir einmal ehrlich sind, ist für uns vorüber. Was wir bis jetzt nicht gemacht haben, haben wir nicht gemacht, als wir die Chance hatten. Sicherlich können wir all die jugendlichen Sachen immer noch machen, aber wir können sie nicht mehr mit jugendlichem Leichtsinn erklären. Sie sind zumeist einfach nur noch unverantwortlich.

Die Jugend aber, wenn wir ehrlich sind, wurde uns zum Ort der Nostalgie. Lange schon gibt es Plätze, an die wir zurückkehren und uns erinnern können an die naiven Hoffnungen der Zeit als wir 16 waren, oder 18. Vielleicht rettet uns gerade – zumindest die, die schon älter sind – der Fakt, dass im Allgemeinen mit der Wissenschaft spät im Leben angefangen wird und wir uns deshalb voll im Zeitplan fühlen können, davor, in die berüchtigte Midlife-Crisis zu fallen. Es scheint nun wirklich nicht so, will mir scheinen, dass wir gerade am Leben verzweifeln und alles Tun als sinnlos ansehen würden. Wir sehen uns auch nicht auf dem Höhepunkt unseres Lebens angekommen, von wo ab es nur noch immer das Gleiche geben wird. Schließlich laden wir auch zu einer eher hippen Veranstaltungsform, einer Unkonferenz, ein, um unsere Wissenschaft weiter zu bringen.

Die Jugend aber, reden wir noch einmal darüber: Können wir eigentlich aus unserer Position heraus sagen, was diese gerne hätte in Bibliotheken, was die fordert und nutzen könnte von Informationsstellen und Archiven? Können wir sagen, wie die sich im Netz sieht, wie sie die Kommunikationskanäle und Potentiale „neuer“ Medien – ab wann werden die eigentlich zu alten Medien? – nutzt? Sicherlich können wir das erheben und erforschen, dazu ist die Bibliothek- und Informationswissenschaft ja eine forschende Wissenschaft (Oder?). Aber aus unserem eigenen Erleben und unserer Lebensgeschichte können wir es nicht mehr ableiten. Das ist schwer und nicht immer einfach zu akzeptieren.

Den die Jugend, wenn wir einmal ehrlich sind, ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Beziehungsweise, was sie einmal werden sollte. Gerne stellen wir uns die Jugend ja als informationskompetent, kompetenzorientiert und gleichzeitig als die eigenen Informationen frei in alle Sozialen Netze eintragend vor. Aber die Realität ist doch wie zuvor: Mediennutzung lässt sich durch Schicht und Bildungshintergrund eher erklären, als durch das Alter. Die Idee zum Beispiel, dass die Jugend unheimlich gerne Medien bewerten und Rezensionen über konsumierte Bücher schreiben würde, die vor einigen Jahren die Bibliotheksszene umtrieb, hat sich in der Zwischenzeit als falsch herausgestellt. Ebenso wie die Annahme, dass ein Großteil der Menschen unbedingt ins Second Life gehen würde. Wir können heute realistisch abschätzen, dass das immer nur ein kleiner Teil der Menschen war, die das wollten und tun und dass das kein generationelles Phänomen war.

Gleichwohl: Die Jugend verändert sich immer weiter. Das ist ja eine ihrer Eigenheiten. Sie ist halt nicht nur Durchgangsalter zwischen Kindheit und Erwachsensein (oder wie das Lebensalter nach der Jugend auch immer heißen wird), sondern auch eigenständiges Alter, in welchem die Abgrenzung von den vorhergehenden Generationen quasi als Generationenaufgabe besteht. In gewisser Weise Rebellion als Aufgabe, was selbstverständlich etwas paradox ist und zudem immer schwerer wird, wo zumindest in einigen Sozialschichten heute alle verständnisvoll sind und Kreativität genauso toll finden, wie Leistungsorientierung und Lernen, aber auch wissen, dass Menschen, die für ein paar Jahre aus der bürgerlichen Gesellschaft aussteigen, zumeist wiederkehren. Wie soll man da noch gegen irgendwas irgendwie anders und rebellisch sein?

Nichtsdestotrotz: Die Jugend bleibt auch (erstmal). Einmal als Antrieb unser selbst, als nostalgische Erinnerung daran, was wir alles wollten und immer noch nicht haben, was wir gehofft und vielleicht auch falsch eingeschätzt haben, was wir persönlich auf dem Weg zwischen den zum Teil naiven Hoffnungen und heute gelernt und erlebt haben, was auch immer die Potentiale anzeigt, von dem, was alles noch gelernt und erlebt werden kann. Und gleichzeitig als jeweils zeitgenössische Jugend mit einer gewissen Anklage, dass wir Älteren das eh nicht verstehen, nicht verstehen können, was wichtig ist, sondern schon langweilig geworden sind, in gewisser Weise, egal was wir so einst erlebt haben und wo wir heute noch versuchen, uns subkulturell zu verorten. Dieser Stachel trifft auch immer Bibliotheken. Nie werden sie es schaffen – das hier einmal als steile These, aber steile Thesen sind in gewisser Weise ja sehr jugendlich –, für Jugendliche so ansprechend zu sein, wie sie erhoffen. Auch die Beteiligung von Jugendlichen und der Aufbau expliziter Jugendabteilungen mit jugendlichem Aussehen und Bezug auf die jugendliche Mediennutzung, wird das nicht erreichen. Die Differenz zwischen Jugend und anderen Generationen ist konstitutiv. Wird sie überwunden, entsteht einfach eine neue. Ein Teil der Jugend wird Bibliotheken immer meiden oder – andersherum – lieben, weil ihre Vorgeneration Bibliotheken nicht mochte.

Ja aber hallo, Bibliothek Berlin-Mahlsdorf, drei Uhr an dem Morgen. {Jugendgerechter Satzbau, außerdem subkultureller Verweis auf den fast vergessenen HipHop-Klassiker „5 O'clock“, also auch noch ein szenespezifisches Wissen andeutend, obwohl das auch nach hinten losgehen kann, wenn man der Einzige ist, der dieses Wissen hat.} Eine der Situationen, wo man nach über zehn Jahren fast durch Zufall an Orten steht, die in der Jugend für eine Zeit bedeutsam waren, dann aber vergessen wurden. Da auch der Nachtbus schon fort war, nicht nur eine Zeit für Bilder, sondern auch zur Reflexion. Alles hat sich verändert, aber ist doch ähnlich geblieben. Sicherlich: Als Gymnasiast hier unterwegs vor mehr als zehn Jahren hatte man nicht die Vorstellung mit abgeschlossenen Studium – lol was? Studieren? Warum? – in was bitteschön? Bibliothekswissenschaft? noch einmal wieder zu kehren. Eher war es wichtig, die Aufkleber neofaschistischer Gruppierung an den Laternen zu vernichten und selber um sich zu blicken, dass man nicht dabei vom „Mahlsdorfer Landsturm“ (kein Witz, so nannten die sich) oder der örtlichen NPD erwischt würde. Das wäre wieder nur zu stressig gewesen. Man hätte ja auch niemand anrufen können, wenn das passierte, schließlich hatte man kein Handy. Handys hatte man nur, um anzugeben. Und Blogs zum nachher drüber bloggen gab es eigentlich auch nicht. Zudem: Man hatte ein Date, wenn man in der Gegend war, zu dem man wollte. Was sollte man auch sonst in Mahlsdorf, als Jugendlicher? Heute: Handy ist da, Blog auch. Vom Handy könnte man bloggen. Der „Mahlsdorfer Landsturm“ soll sich aufgelöst und zum Teil den Weg durch bürgerliche Parteien angeschlagen haben (wohl mit dem „Jugendsünde“-Argument), die örtliche NPD ist zur mittlerweile aber auch verbotenen Kameradschaft geworden, Naziaufkleber gibt es nicht mehr zu sehen, überhaupt: Aufkleber und Straßenkunst scheint es seit Jahren hier nicht mehr zu geben. Alle sind alt geworden offenbar. Ein Date hat man hier auch nicht mehr, die BeziehungspartnerInnen aus der Gegend wohnen längst anderswo. Niemand und nichts stört dabei, einzutauchen in die eigene Jugend, die eine kurze wilde Zeit im Leben (aus der man aber mit einem Abitur heraus- und in ein Studium hineinstolperte, so wild kann es dann doch nicht gewesen sein).Was macht die Jugend hier eigentlich jetzt? Die, die am Bahnhof steht, sieht aus, als würde sie geschlossen bei H&M einkaufen. Nur die Bibliothek, die Bibliothek ist immer noch da, im Blau der Berliner Bibliotheken leuchtet sie voller Ruhe durch die Nacht. Als wäre sie der Mittelpunkt einer nicht erzählten Geschichte.

Auch der Kasten der Bibliothek auf dem Bahnhof ist noch da. Wie oft stand man auf diesem Bahnhof, angekommen mit der letzten Bahn, in den Sonnenaufgang schauend, wartend auf die Bahn in die Schule? Peinlich, wenn man dann mit den eigenen Lehrerinnen und Lehrern wartete. Was sollte man da sagen? Was würde man heute sagen, wenn die um halb vier Morgens hier aufschlagen würden. (Zumal man selber erklären müsste, was man um diese Zeit in den Berliner Außenrandbezirken tut.) Wir haben wohl alle solche Orte der persönlichen Nostalgie. Jeder und jede andere, dieser hier ist einer von meinen.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 12 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 29. Mai 2011

von Matti Stöhr

Vis a vis zum Konzerthaus am Gendarmenmarkt, in welchem die Eröffnungsveranstaltung des nahenden 100. Bibliothekartages stattfinden wird, sowie auch nur wenige Schritte vom frei<tag>s-Venue entfernt, residiert eine der größten und wichtigsten Institutionen der Berliner Wissenschaftslandschaft: Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften – kurz BBAW. Es ist gar nicht so lange her, da feierte diese selbst ein großes, rundes Jubiläum und stellt dabei spielend – nach der bloßen Zahl der Lenze – den Konferenzgeburtstag in den Schatten. Zwar existiert die Akademie in ihrer jetzigen Form erst seit 1992, zusammen mit ihren Vorgängereinrichtungen – so direkt zuvor firmierend als Akademie der Wissenschaften der DDR – ist sie jedoch fast genau 301 Jahre alt. [1] Am 11. Juli 1700 war es soweit: Der brandenburgischen Kurfürst Friedrich III. gründete die Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften. Gottfried Wilhelm Leibniz, welcher die Akademie auch geplant hatte, wurde ihr erster Präsident.

Englischsprachige Info-Tafel zur BBAW-Geschichte am Akademiegebäude Markgrafenstr., Ecke Jägerstr. - formschön mit der wohlbekannten, umtriebigen frei<tag>-Karte

Führt man sich nun das Leben und Wirken dieses – zweifelsohne – beachtenswerten Universalgelehrten (oft als der „Letzte“ seiner Art bezeichnet) vor Augen, so fällt es leicht, eine Brücke von ihm zur frei<tag> und umgekehrt zu schlagen. Dass Leibniz in vielen Wissensgebieten und Positionen aktiv war – außer vielleicht als Keksfabrikant – ist hinlänglich bekannt; so auch als Bibliothekar. 1676 wurde er nach Hannover berufen und dort unter anderem zum Hofbibliothekar ernannt. Ihm zu Ehren wurde die Niedersächsische Landesbibliothek im Jahre 2005 in Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek umbenannt. Ausgelastet war Leibniz damit freilich nicht, wurde er doch 1691 auch Bibliothekar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Vor ein paar Jahren erschien ein Sammelband, welcher sich mit eben jenem bibliothekarischen Schaffen von Leibniz auseinandersetzte. In dessen Beschreibung heißt es:

„Gottfried Wilhelm Leibniz leitete die Bibliothek der Hannoveraner Welfen vierzig Jahre lang bis zu seinem Tod 1716. Die Vision, dass eine Hofbibliothek nicht allein der Machtspiegelung ihres fürstlichen Besitzers, sondern zugleich der öffentlichen Wohlfahrt dienen möge, äußerte er in dieser Zeit wiederholt. Mit einer Erwerbungspolitik, die auf die enzyklopädische Repräsentanz allen verfügbaren Wissens zielte, schien Leibniz diese Vision erreichbar: Erst eine Bibliothek, die nicht einseitig den Belangen des Hofes dienstbar gemacht würde, könnte ihre Benutzer in die Lage versetzen, die noch nicht absehbaren theoretischen und praktischen Probleme der Zukunft zu lösen. Im Aufbau von Wissensspeichern als Teilen einer fortschrittsfördernden wissenschaftlichen Infrastruktur sah Leibniz eine zentrale Aufgabe des territorialen Wohlfahrtsstaates. Setzte Leibniz‘ Vision demnach auf die Vereinbarkeit von Staatsraison und Wissenschaft, so stellte sich dies Verhältnis in der Realität doch eher als ein Spannungsverhältnis dar. Die einseitige Vereinnahmung der Bibliothek für die fürstlichen Machtinteressen und die mangelnde Kontinuität, mit der Geld in die Pflege der Büchersammlungen floss, stellte ihn in der bibliothekarischen Praxis vor geradezu unüberwindliche Herausforderungen.“ [2]

Trotz oder gerade wegen der hier angerissenen Ambivalenzen zwischen Anspruch und Realität bibliothekspraktischer Herausforderungen, ist die Leibnizsche Vision durchaus aktuell. Auch in der Gegenwart wird der (bildungs- und wissens-)gesellschaftliche Wert von Bibliotheken immer wieder aufs Neue infrage gestellt bzw. ist keine Selbstverständlichkeit – man erwähne nur das Spektrum von Kürzungen des Erwerbungsetats, über Personaleinsparungen bis hin zu Bibliotheksschließungen. Bibliotheken funktionieren nur dann sowohl als Wissensspeicher als auch als wissensvermittelnde Institutionen, sofern sie die Möglichkeit haben vor dem Hintergrund ihres Sammelprofils umfassend (wissenschaftliche) Publikationen, egal welcher physischen Form. zu sammeln, zu erschließen und verfügbar zu machen. Hier gibt es – ohne sie jetzt alle konkret aufzuzählen – viele Hemmnisse; allen voran ökonomische und urheberrecht- bzw. nutzungsrechtliche.

Leibniz‘ Vorstellungen und Aktivitäten, so auch hier in Berlin an der Akademie, können folglich eine Reihe von Impulse für die Sessions und Diskussionen im Rahmen des frei<tags> bieten. Auch wenn er wie schon erwähnt nicht dafür verantwortlich ist – sicherlich geschieht der heurige Gedankenaustausch wohl entspannter und genussvoller beim Verzehr des einen oder anderen einschlägigen Keksgebäcks. Ein kleiner Spaziergang zum Aufhänger dieser Zeilen, dem herrschaftlichen Akademiegebäude, sowie die Lektüre der abgebildeten Infotafel ist zur Verdauung allemal drin…

Fußnoten
[1] Zur Akademiegeschichte kann man sich hervorragend auf der entsprechenden Info-Website unter http://www.bbaw.de/die-akademie/akademiegeschichte informieren. Dieser folgend, gebe ich die historischen Fakten wieder.
[2] Hartbecke, K. [Hrsg.] (2008). Zwischen Fürstenwillkür und Menschheitswohl. Gottfried Wilhelm Leibniz als Bibliothekar, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 13 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 28. Mai 2011

An einem vielleicht nicht ganz vordergründigen Detail des Countdown-Beitrags vom 26.05.2011 hängt die Brücke zum heutigen Baustein des Herunter-Zählens bis zum 10. Juni und zeigt zugleich, dass nicht nur menschliche Beziehungen in einer höchstens sechs Stationen umfassenden Stafette vom Einen zum Anderen und vom Hundertsten ins Tausendste führen können. Sondern selbst jedes noch so kleine Sinnfädlein.

Wer den Text zum Küssen in der Wissenschaft (und anderswo) sehr aufmerksam las, erinnert sich eventuell daran, dass das angepriesene Buch über die russische Kussgeschichte bei einem Verlag namens Grupello erschien. Das ist zwar nicht vom Thema aber vom Verlagsstandort her nachvollziehbar, sitzt der kleine Verlag doch im großen Düsseldorf. Wer dort schon einmal eine Stadtführung mitmachen durfte, hat möglicherweise registrieren dürfen, dass das Reiterstandbild auf dem Marktplatz mit dem auf der Stelle trabenden Jan Wellem nicht nur Gegenstand einer etwas grünspanigen Briefmarkenausgabe der Deutschen Bundespost im Jahr 1964 war.

Sondern auch, dass es vom Bildhauer Gabriel de Grupello geschaffen wurde, was nicht weiter verwundert, beschäftigte ihn der Kurfürst doch als Hofsculpteur. Geboren wurde dieser Grupello nun im ostflanderischen Geraardsbergen und zwar gute 160 Jahre nach einem anderen Sohn der Stadt, der gleichfalls auszog, anderen Völkern zu zeigen, was eine schöne Figurine ist. Gemeint ist der Franziskanermönch Pedro de Gante, der als Pieter van der Moere zur Welt kam. Als er sie dann in einer Seelenruhe eines Kloster zu Gent erreicht hatte, zeigte er sanft aber bestimmt den indigenen Bewohnern im altacolhuaischen bzw. neuspanischen Tetzcoco, Mexiko, was ein rechter Glauben ist und war damit so erfolgreich, dass die Missionierten seine Lehre und vor allem seine Lehrmethoden freudig weiterführten.

Da sich Tetzcocos administrativer Stadtführer Ixtlilxochitl (II) in vorauseilendem Anpassungsgehorsam mit Hernán Cortés für seine Spättaufe einen Paten heraussuchte, der noch wusste, wie man spornstreichs christliche Werte durchsetzt, war Tetzcoco zu dieser Zeit (1523+) vermutlich ein ziemlich ruhiger Hafen für die Missionsarbeit.

Erstaunlicherweise stieß Pedro de Gantes Willen zur Volksbildung dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) bei den encomenderos genannten Neugrundbesitzern aus der Alten Welt nicht unbedingt auf Gegenliebe, fürchteten diese doch, dass die für sie unter erbärmlichen Bedingungen arbeitenden Indios mit abendländischer Bildung durchschauten, was hier eigentlich geschah. An Aufmüpfigkeit hatte man – vielleicht noch die Noche Triste auf der anderen Seeseite vor Augen – nun wirklich kein Interesse.

An dieser konquistadoren Furcht vor der Nach- und Neubildung erkennt man nicht zuletzt deutlich, wo der kurzsinnige Raubtierkapitalismus eigentlich seine Wurzeln hat. Dass man dereinst darüber hinaus Bibliotheken nur schätzte, wenn sie den eigenen Interessen nützlich waren, hatte man bereits zuvor veranschaulicht, als der neue Bischof die berühmte Bibliothek der Stadt aus heidnischen Gründen in Rauch auflösen lies. Nun kann man es mit dem Kolorit der Zeit erklären, dass man Kulturen, die zum Menschenopfer neigen, nicht nur jede zivilisatorische Entwicklung absprach sondern auch jedes Recht, sich nicht nach Gutssklavenart unterjochen zu lassen. Andererseits war sicher auch damals bereits bekannt, dass die Vernichtung identitätsstiftender Symbole die vermeintlich schnellste Methode darstellt, um einem Gegenüber flugs die Identität zu zertrümmern. Allerdings, so die menschheitsgeschichtliche Erfahrung, ist so ein Semiozid selten nachhaltig. Um eine Idee auszumerzen braucht es schon mehr als ein Feuerzeug und kein Gewissen.

Pedro de Gante verfolgte dagegen einen feinsinnigeren, pädagogisch ausgewogeneren Ansatz: Er versuchte es mit Integration. Und zwar zunächst mit seiner in die vorgefundene Kultur. Das gelang in gewisser Weise indem er die Sprache der Indianer lernte. Es wird sogar kolportiert, dass der stotternde Missionar schließlich mit den Ureinwohnern besser kommunizieren konnte, als mit den zugereisten mehr Schlagetötern als Fürchtenixen von der Iberischen Halbinsel. Die führten ihm nämlich zunächst zu seinem Entsetzen die Schüler, nachdem ein König das Edikt zur missionarischen Bildungsoffensive erlassen hatte, in gefesseltem Zustand zu Hunderten in die Schule. Pedro de Gante war kurz zuvor, alles hinzuwerfen und aus der Neuen Welt zurück nach Flandern zu fliehen. Allerdings: Er blieb und lernte neben der Sprache auch die Hieroglyphen-Schrift der Azteken. Auf dieser Basis entwickelte er einen visualisierten Katechismus, der sein Ziel weitaus besser erreichte, als jede Predigt von der Kanzel. Und wahrscheinlich auch überzeugender wirkte als jeder Donner aus der Hakenbüchse.

Der Kniff zur Integration, die bald von der Selbsteinpassung in indigene Zeichenpraxis in exogene Wirkung umschlug und die indianischen Schüler dauerhaft christianisierte, lag darin, den Symbolhorizont der Schüler gerade nicht zu zerstören, sondern in ganzer formaler Bandbreite anzuerkennen, um ihn schließlich mit neuen Inhalten zu unterfüttern. Die Lernziele für seine Zielgruppe fasste er also in ihren eigenen Zeichenschatz und holte damit, wie man heute sagen würde, die Zielgruppe dort ab, wo sie sich befand.

Dass die Schüler mittlerweile ganz von selber zu ihm strömten und nur noch von den christlichen Botschaften gefesselt vor ihm saßen war eine logische Folge. Denn mit einer gewissen Leichtigkeit adaptierten nun die Schüler der Missionsschule europäische Kulturpraxen und handwerkliche Fertigkeiten, wobei Pedro de Gante sich selbst organisierende Bruderschaften bilden musste und konnte, die einerseits den Vorsitz per Abstimmung, also quasi-demokratisch, ermittelten und andererseits in ihren Aktivitäten in friedlichen Wettbewerb mit anderen Bruderschaften traten. Hätten diese Bruderschaften nicht tatsächlich Kirchen errichtet und Missionsschulen eröffnet, würde man vermutlich heute von einer Planspiel basierten Ausbildung reden. Aber sie operierten ja tatsächlich mit neo-christlichen Instrumenten passgenau im offenen Herzen Mexikos.

Natürlich repräsentierte die Neue Welt, in die er seine Schutzbefohlenen lenkte, auch eine Form der Kolonialisierung, aber immerhin eine, die – wenn auch aus taktischen Gründen – die Andersartigkeit des Gegenübers in gewissem Umfang respektierte und in der Entwicklungsperspektive berücksichtigte. Dieser Weg zwang nicht, er verführte. Er drohte nicht mit Vernichtung, sondern lockte mit Verbesserung. Er schlug den Kopf nicht ab, sondern setzte ihm eine erleuchtete Kappe auf. Von einer Partnerschaft kann man freilich nicht sprechen, denn jede Missionierung hat die Hegemonie schon klar im Gepäck. Es war aber immerhin ein kleineres Übel und in all dem Wüten der westlichen Welt in Westindien und dahinter ein Silberstreif im goldberauschten Horizont der Brachialeroberung. Helle Barden statt Hellebarden.

Am Ende erhielt Pedro de Gante zwar keinen Preis für Bildungsforschung aber immerhin einige Jahrhunderte später die Heiligsprechung durch Johannes Paul II. Und zu seinem 400sten Todestag von der mexikanischen Postverwaltung eine solide Gedenkbriefmarke. Das ist schon angemessen, für jemanden, der jene berühmten fürstlichen Tugenden (Klugheit, Mäßigung, etc.) leiblich und performativ veranschaulichte, die Gabriel de Grupello in seiner noch berühmteren Pyramide in eine steife, stahlharte Form goss und die nun auf dem Mannheimer Paradeplatz stehen, in dessen Schatten ich diesen kleinen Text gerade de facto schreibe.

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Die Fürchtenixe? Einer Undine im Abendschein können sie nichts anhaben, zumal wenn sie in schönster Bronze schimmert. Und ihre seemädchenhafte Tugend (ikonisch bekannt in der Kopenhagener Hafenausführung Edvard Eriksens) ist noch einmal eine Steigerung aller kurfürstlichen Wahrheit und/oder Taten-Ethik. Allerdings hatten die schönsten aller Wasserwesen während der knüppelharten mesoamerikanischen Kreuzritterei wenig zu melden. Eroberungskrieg ist traditionell Männersache. Und ob dem lammfrommen Bruder Pedro auch Schülerinnen in die Missionsschule kamen, ist wenigstens mir nicht bekannt. 

Ach so – das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen: Ein Geheimnis Pedro de Gantes lag, wie überliefert ist, in kleinen Figuren, die er den Schülern beim Eintritt in die Schule übergab und die sie als eine Art Schutzpatron mit sich führen bzw. deren Symbolgehalt sie auf ihre Gewänder zeichnen sollten. Diese fast talismännlichen Püppchen nannte er, da sie die Schüler von ihrem so furchteinflössenden wie (aus der Perspektive 1523) fürchterlich alten Glauben kraft neuer Symbolik befreiten: LIBREAS.

(bk, 27.05.2011)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 14 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 27. Mai 2011

Was wir erwarten, werden wir nicht vorfinden, zumindest nicht immer. Beziehungsweise: Pläne sind dazu verurteilt, zu scheitern. Auch das ein Allgemeinsatz, der allerdings deshalb nicht falsch ist. Die überraschenden Ereignisse sind es, die unter anderem langweilige Jobs interessant machen, die teilweise überhaupt die Aufregung in den Arbeitsalltag bringen, uns ablenken von einer gewissen Fließband-Produktion oder der reinen fordistischen Abarbeitung von Dienstleistungsaufgaben. Sicherlich: Es gibt Jobs, da können wir diese Ablenkung durch Überraschungen auch nicht gebrauchen, da sie selber schon anstrengend genug sind. Oder Situationen, die schon komplex genug sind. Das ist ein Ergebnis der zunehmenden Projekte und der Abwälzung von Entscheidungsaufgaben von den Chefetagen hinunter zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Aber seien wir ehrlich: Lange Zeiten des Tages und des Lebens sind geprägt von Langeweile und dem Zwang, nichts zu tun. Schon, weil Dinge, die neu und aufregend erscheinen, irgendwann auch Überdruss erzeugen. Zudem: Dinge, die wir nicht erwarten, machen das Leben interessanter, treiben nicht nur in Film und Roman die Handlung des Lebens voran, zwingen zu Entscheidungen, neuen Blickwinkeln.
Dabei sind überraschende Momente und Begebenheiten definiert nur durch ihren unvorhergesehen Einbruch in die alltägliche Realität. Nicht einheitlich ist ihre Größe, Bedeutung oder auch nur, ob sie positive oder negative Wirkungen entfalten. Sie unterbrechen. Damit stellen sie immer auch Möglichkeiten der Reflexion dar. Welche Grundannahmen werden erschüttert? Welche stillschweigenden Erwartungen enttäuscht? Warum? Sind die Grundannahmen falsch, ist vielleicht die Beobachtungsgabe eingeschliffen? Haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, wie und das bestimmte Dinge funktionieren, so dass wir vielleicht eine überraschende Begebenheit benötigen, um darüber anfangen nachzudenken, dass es auch anders sein könnte, vielleicht gar besser? Oder um zu merken, dass Dinge doch nicht so funktionieren, wie wir sie angenommen haben?
Der Kontakt zu Nutzerinnen und Nutzern ist ein gesellschaftlicher Ort, an dem solche Überraschungen immer wieder auftreten können und auch auftreten. Unvorhergesehene Fragen, Antworten, Anforderungen, unverstandene Hilfsstellungen von Seiten der Bibliotheken, die von den Nutzerinnen und Nutzern überhaupt nicht angenommen oder aber – wohl öfter – uminterpretiert werden. Ein anderer Bereich in der bibliothekarischen Arbeit: Die Recherche, die „auf einmal“ gänzlich andere Ergebnisse produziert, als gewohnt; Rechercheanfragen, die uns zeigen, dass mit unserem Bestand oder den Datenbanken, die wir nutzen, etwas nicht stimmen kann, wenn wir diese nicht richtig beantworten können. Auch die Bibliothekswissenschaft lebt unter der Hand von Überraschungen, davon, dass Projekte nicht funktionieren, wie sie funktionieren sollen, dass sich Aufgaben gänzlich anders stellen, als angenommen, das Forschungsansätze scheitern. Sicherlich: Wir planen unsere Forschungen möglichst genau, inklusive der erwarteten Forschungsergebnisse. Und mindestens, wenn wir unsere Projekte gefördert bekommen, schreiben wir auch Forschungsberichte, die hauptsächlich Positives berichten. Aber wie in jeder Wissenschaft, lebt interessante Forschung auch in der Bibliothekswissenschaft gerade von unvorhergesehenen Ergebnissen, Widerständen, die sich im Projekt ergeben, mit anderen Worten: Von Überraschungen. Ohne Überraschungen würde Forschung langweilig werden, weil sie dann eigentlich nur bestätigen oder umsetzen würde, was wir vorausgedacht haben. Es wäre schwierig, auf neue Denkbahnen zu gelangen.
Einer der Orte, die immer wieder überraschen, außerhalb der Bibliothekswelt, sind große Städte wie Berlin. Auch diese Stadt lebt davon, dass immer wieder einmal Neues entsteht, Dinge sich verändern und vor allem scheitern und überraschend umgenutzt werden. Nicht aus Zufall beginnen Stadtbezirke und Quartiere langweilig zu werden, wenn angefangen wird, zuviel zu planen, was dann auch so umgesetzt wird, wie es geplant war. Dann wird Leben zwar vorgetäuscht, wie zum Beispiel im Prenzlauer Berg, aber es findet kaum noch statt. Zwar sieht alles schön bunt aus und ist für bestimmte Anlässe und Aufgaben – um beim Prenzlauer Berg zu bleiben: wenn man Kinder erziehen will, Eltern im Urlaub etwas zeigen soll oder englisch-sprachige Bücher im englisch-sprachigen Buchladen bestellen möchte – viel besser geeignet, als andere Orte. Aber neue Lebenseindrücke findet man immer seltener. Das Bunte überrascht nicht mehr. Es wird langweilig. Tobias Rapp hat in seiner Beschreibung der Berliner Technoszene (übrigens auch ein Ort voller Überraschungen, wenn man sich darauf einlässt aber auch ein wenig aufpasst) in Lost and Sound [Rapp, Tobias / Lost and Sound : Berlin, Techno und der Easyjetset. – (Suhrkamp Taschenbuch; 4044). – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2009] davon berichtet, dass im Berliner Senat extra darauf geachtet wurde, Clubs für elektronische Musik nicht zu sehr zu kontrollieren, damit sich nicht zu kommerzialisiert und eben langweilig wurden. Eine kluge Entscheidung. Es gibt schon genügend langweilige Clubs, die Szene (beziehungsweise Szene, wer will schon immer nur zu Minimal tanzen) braucht eine lebendige Infrastruktur, da muss man Menschen manchmal machen lassen. Leider hat sich eine solche Relaxtheit noch nicht überall durchgesetzt. Es würde ein spannenderes Leben ermöglichen, vielleicht.

Überraschung. Mitten in Neukölln, dem Bezirk mit dem aktuell wohl schlechtesten Ruf in Berlin – den er noch nicht mal verdient hat –, zwischen Altbauten, Sozialwohnungen, leeren Ladengeschäften, die allerdings immer mehr von zugezogenen Studierenden und Ex-Studierenden, Künstlerinnen und Künstlern genutzt werden als Kneipen, Clubs, Galerien, Ladenwohnungen, gar – einige Meter von dem Ort auf dem Photo entfernt – einem antisexistischen Infoladen (was auch immer das genau ist), liegt der Körnerpark. Weiß man nicht, dass er da ist und stolpert einfach über ihn, ist man genau das: Überrascht. Ein mehrstufiger, in den Grundformen symmetrischer Park, mit Rückzugsecken, kleinem Labyrinth, offener Wiese, Wasserfall, Galerie und Café, freien Wegen. Alles im Stil des späten 19. Jahrhunderts. Und auch die Nutzung wird überraschen, falls man sich bislang zu sehr in kulturalistischen Texten und Deutungen der gesellschaftlichen Entwicklung verfangen hat: Es gibt unterschiedliche Kulturen, aber sie bekämpfen sich nicht, vielmehr mischen sie sich. Langzeitarbeitslose und Studierende, Gruppen von Jugendlichen mit und ohnr Migrationshintergrund, mit und ohne Machogehabe, mit und ohne Kopftüchern besetzen friedlich nebeneinander die Parkbänke und kleinen Nischen; auf der Wiese und beim Wasserfall genießen Menschen ihr Bier (man hört Gerüchte, dass dort auch Joints konsumiert werden, aber wie soll man das nachprüfen), daneben feiern Klein- und Großfamilien Kinderfeste, Kinder spielen im und am Wasser, Menschen lesen Romane und Unitexte, junge Menschen beiderlei Geschlechts (oder, wenn schon der antisexistische Infoladen um die Ecke ist, allerlei Geschlechts) räkeln sich dabei, angetan mit möglichst wenig Kleidungsstücken, in der Sonne. Laut sind vor allem die Kleinkinder. Würde Franz Körner, der dem Park 1910 initiierte, heute vorbeikommen, er wäre auch überrascht. Aber positiv. Das passiert nun mal in Großstädten.


Was? Noch ein Bild aus dem Körnerpark, weil das überraschend anders ist, wo wir sonst ein Bild oder viele haben, aber nicht zwei. (Außerdem: Wasserfall im Hintergrund.)

Notizen zur Bibliothekswissenschaft 3: Carte Blanche für die Humanatees?

Posted in LIBREAS preprints by Ben on 26. Mai 2011

“ So bedauerlich jede Schließung ist, drängt sich jedoch die leidige Frage auf, ob die herkömmliche Bücherei in der Ära des E-Books zu einem Auslaufmodell wird.“

Es ist ein gutes Zeichen für eine lebendige Presse, wenn man innerhalb einer Feuilletonredaktion abweichender Meinung ist. Denn wo Felicitas von Lovenberg in der Mittwochsausgabe der FAZ unter der Überschrift „Mister Einprozent. Ergänzung statt Bedrohung“ wenigstens für den deutschen Buchmarkt eher eine nüchterne Perspektive für das Medium E-Book aufzeichnet, indem sie es analog zum Hörbuch sieht (S. 27), schreibt in der Freitagsausgabe G.T. [Gina Thomas] in ihrer Kolumne den eingangs zitierten Satz. Die Autorin rapportiert in knapper Form, was Alan Bennett und Philip Pullmann jüngst über den Niedergang des britischen Bibliothekswesens äußerten. (Ab in die Buchhölle. FAZ-Ausgabe vom 27.05.2011, S. 33) Wer die Neue Zürcher Zeitung vom 12.05.2011 gelesen hat, weiß, dass dies – berechtigt – nichts Gutes ist. Gerade weil Kommunen etwas tun, nämlich Bibliotheken schließen. (vgl. zum Thema auch den Kommentar Britpopliteratur mit Misston im IBI-Weblog) Die NZZ weiß übrigens auch, dass es der Literatur insgesamt auf der Insel gar nicht so schlecht geht und berichtet von dort immerhin noch 463 Millionen verkauften gedruckten Büchern im Jahr 2009. Das ist zwar weniger als 2007 aber nach wie vor nicht unbedingt ein Pappenstiel.

Da in dem Beitrag Gina Thomas‘ das schöne Wort Marktfundamentalismus aufscheint, nutze ich die Steilvorlage, um den dritten Teil meiner Notizen zur Bibliothekswissenschaft nachzulegen. (Teil 1, Teil 2) In diesem ziehe ich einige Schleifen um das Schleifen der Geisteswissenschaften, dass ja gerade in Großbritannien eine seltsame Parallelentwicklung zum öffentlichen Bibliothekswesen nimmt. Davon ausgehend argumentiere ich, dass die häufig diesem Fächerspektrum im Diskurs zugeordnete Irrelevanz in markt- und innovationslastigen Ökonomien – also dem aktuellen Spätkapitalismus – beiden Seiten schadet. Denn, so der trendforsche Leitgedanke meiner Skizze, gerade die sich andeutende Umgestaltung der grundlegender Geschäftsmodelle von Produktbasierung zu Ereignisbasierung und von Eigentum zu Zugang  (Semiokapitalismus) erfordert starke bedeutungsgenerierende gesellschaftliche Instanzen mit viel Raum für Auslauf im Denken. Also wenn man so will in der Tat Auslaufmodelle. Zu diesen zählen zweifelsohne Geisteswissenschaften genauso wie Bibliotheken. Daher erscheint mir auch eine stärkere Fokussierung geisteswissenschaftlicher Aspekte in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft sehr angebracht. Alles Übrige im Essay – Text als PDF-Download: Carte Blanche für die Humanatees? Gedanken zu einer geisteswissenschaftlich gewendeten Bibliothekswissenschaft

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 15 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 26. Mai 2011

Nahezu unbemerkt ging uns vorgestern, also am 24. Mai, der Welttag des Kusses über die Lippen. Zumindest glaubte ich das, denn im bisher schönsten Kussbuch des 21. Jahrhunderts – in Tatjana Kutschtewskajas „Küssen auf Russisch“ (Düsseldorf: Gruppello-Verlag, 2007, Seite zum Buch) – findet sich auf S. 14 eine solche Datierung. Die Wikipedia datiert den International Kissing Day dagegen auf den 06. Juli. Allerdings gibt es keinen Grund, auf diese in gewisser Weise doppeltes Zünglein an der Waage der Mottotag-Geschichte schmallippig zu reagieren. Besser man macht das Doppelzüngige buchstäblich  zum Programm soweit Lippenbändchen und Amorbogen spannen.

Da man jemanden, der einen bei einem zeitnahen Hinweis auf den Weltkusstag mit spitzfindigem Faktenwissen korrigiert, ohnehin den Kuss verweigern sollte, ist es eigentlich im bester Schwitterschen Façon rouge schnuppe, wann ich meine Schnauze auf die von jemand anders bauze. Der Tag, an dem man jemanden vermistelt, ist weitaus unerheblicher, als die Person, die man vermistelt. Nun ist die Großstadt Berlin meist nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Ecken (sommernachts in der Brückenbeuge vor dem Bodemuseum) Heimstatt der romantischen Herzen. Oft fühlt man sich mit Fremdheit und Abgrenzung überschwemmt zwischen hektischen Anzugträgern, abgebrühten Studierenden und desorientierten Touristengruppen am Bahnhof Friedrichstraße wie Pjotr Wegins (Пётр Вегин in der Википедия) Besucher vom Lande:

„Ein Bauer mit Kuss auf der Backe
Kommt stolz daher auf der Twerskaja-Straße.
An ihm strömt vorüber – und stockt auf der Hacke
Und guckt – die kußlose Fußgängermasse.“ (Kutschewskaja, S. 119)

Nichts liegt dort im Anonymahlstrom der Metropole ferner als ein satter Kuss auf hungrigen Mund. Und weiter unten an der Oranienburger kann man sich fast alles an Körperlichkeit inklusive einem lockeren Mundwerk kaufen, nur eben keine Zuneigung und kein Geküsse, also bloß diesen faden und bonierten Stil von Nähe, den man sonst offensichtlich auf Verkaufsleiterfeten bei Unternehmen der Ergo-Versicherungsgruppe pflegt.

Und auch ein wummerndes Berghain ist nicht unbedingt die Alm, die man mit einem sympathischen Stelldichein verbindet, sondern erinnert in dieser Hinsicht mehr an die Alb einer Vergellert-Therme. Einen Kuss, der wie ein Kuss gemeint ist, ist grundsätzlich unbezahlbar.

Dennoch sollte man sich beständig und mit aller Güte in der Metro mit Rimma Tschernawina (mehr von Римма Шернавина im Журнальный зал) sagen:

пришло лето и к этим людям (=auch zu diesen Leuten ist der Sommer gekommen / vgl. Felix Philipp Ingold: Geballtes Schweigen. St. Gallen: Erker Verlag, 1999. S. 100)

Denn auch wenn jemand Cool-Spröde-Alphaanbetendes – alles gesehen, alles gemacht, jedes gehabt – Zärtlichkeit und langsame Nähe in unserer hyperfunktionalen Epoche als splittiges und überflüssiges Relikt der Voraufklärung ansieht, die – wie in Zürich – ernsthaft mit dem Gedanken spielt, dem Straßensex offizielle Verrichtungsboxen (eventuell noch mit Münzeinwurf) zur Verfügung zu stellen, kann man, von pathologischen Fällen abgesehen, davon ausgehen, dass dieses Über-Ego in irgendeinem Darkroom seines Herzens trotz allem nicht ganz immun ist gegen das leise Hauchen glücklicher Naivität, das im fliederduftgetränkten Park so ungefragt und scheinbar planlos plötzlich von Hand zu Hand überspringt, wie das morgendliche Gezwitscher früher Vögel durchs offene Schlafzimmerfenster fast kopfküssend auf die noch müden Lider sinkt.

Bei der Gelegenheit sollte man auch ruhig wieder einmal bei Edward mit den Frühlingshänden nachlesen: Spring is like a perhaps hand? Mit Sicherheit. Auf diese jähen Gipfel kann erfahrungsgemäß kein noch so hoch gestimmtes Runners High mitklettern. Denn wo letzteres aufs Siegertreppchen eines Endorphinales einlädt, ist ersteres von Vornherein über jede Versportlichung erhaben.

So ähnlich scheint es auch mit der fischkalten Wissenschaftskultur dieser Jahre zu sein: die Welt liegt ohne Zweifel als ziemlich enträtselte Bradford-Verteilung vor uns und das einzige, wo man noch legitim eine Art Kür losgarnen darf, sind, so scheint es,  ein paar Jubiläumsreden im Audimax und/oder weitreichende Programmschriften zur Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft.

Abgesehen davon kann man Wissenschaft in der Praxis weitgehend als knallharte Besitznahme auf Zeit im Projektlaufhaus begreifen und abarbeiten. Also als Olympische Spiele der Welterkenntnis für die man sich über die Ausscheidungswettkmäpfe nationaler Exzellenzmeisterschaften qualifiziert.

Aber man weiß selbst dann, dass irgendwo noch etwas anderes, eine Spur der Wissenschaftsromantik existiert, eine Annäherung an einen Gegenstand als wirkliches Gegenüber wie ein kaum berührendes Heransenken der Lippen an den Flaum des weichen, einzigartig duftenden Nackens einer geliebten Person.

И санный след бежит сквозь сердце. (Нинель Крымова, vgl. Ingold, 1999, S. 54)

Wer seinen Tschechow kennt, ahnt sofort, wodurch Nineli Krymowas einzeilige Schlittenfahrt führt…

Ein Kuss nimmt ja nichts, sondern gibt. Er ist eine kaum sichtbare und doch für die, die ihn erfahren, über lange Zeit existente Markierung. Es ist die Erfahrung einer Berührbarkeit sowohl der Welt wie auch des Selbst. So kann wissenschaftliches Denken abseits von Beobachtung und Erklärung eben auch als Berühren und Berührtsein gedacht sein, bei dem immer etwas Unerkennbares bleibt.

Gilles Deleuze und Felix Guattari untertitelten ihr schönes Kafka-Buch sehr sanft „pour une littérature mineure“. Möglicherweise gibt es abseits der Big „Daddy“ Science auch die Option, kleinere, sensiblere Ansätze in die Erkenntnis- und Verständnispraxen hineinzuschmuggeln. Eventuell gelingt es ja abseits der berechtigten und notwendigen coolen Hipness des freitag 2011 diese weiche Form der Forschung zu berücksichtigen. Vielleicht mit Medaillon aber sicher ohne Medaille. In diesem Sinne: Schnauze bauze www.bibliothekswissenschaft.eu.

natürlich

"Natürlich mag ich, wen Du küsst." Während die FAZ in ihrem Feuilleton die Prosa der Straße in Verbindung mit dem Anschlag am Ostkreuz und dem "kommenden Aufstand" des "Unsichtbaren Kommitees" verknüpft, konzentrieren wir uns lieber auf den Anschlag der Poesie der Straße per Bogenrand am Rosenthaler Platz. Diese minimalisinvasive Markierung des Stadtraums zeigt, wo die Herzen der Großstadt eigentlich Feuer fangen. Nämlich in der Serendipity zweier sich kreuzender Augenblicke und allem, was diese Kreuzung nach sich zieht. Schöner geschildert als in Turgenjews "Erste Liebe" findet man solch ein einzigartiges und zufälliges Zusammentreffen, das alles verändert, vermutlich nirgends: „Sie wandte sich rasch nach mir um, breitete die Arme weit aus, umfasste meinen Kopf und küsste mich. Gott weiß, wen dieser lange heiße Abschiedskuß eigentlich suchte – dennoch, ich zögerte nicht, seine Süße tief auszukosten! Wußte ich doch nur zu gut, daß er sich nie wiederholen würde.“ Außer an glücklichen Tagen bei Nabokov oder eben im eigenen Leben an unseren Rosenthaler Plätzen.

(bk, 26.05.2011)

frei<tag>: Buzzword-Bingo zum Bibliothekartag

Werte Kolleginnen und Kollegen,

wenn auch Sie den 100. Bibliothekartag besuchen, möchte LIBREAS – Library Ideas Sie nicht nur in Berlin begrüßen und im direkten Anschluss an diese Konferenz auch ins Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft zur frei<tag> – Bibliothekswissenschaftliche Unkonferenz am Freitag, 10.06. einladen. Wir möchten Sie auch alle zu einem Spiel ermuntern: Buzzword-Bingo.

Wie geht es?
Ganz einfach. Nehmen Sie die Karte auf Ihre Tour durch den Bibliothekartag mit. Oder beginnen Sie schon einen Tag vorher beim Berlin Seminar von Cycling for Libraries. Immer, wenn Sie eines der Buzzwords, die auf der Karte stehen hören oder sehen (und Sie werden sie sehen, dass versprechen wir Ihnen), streichen Sie es ab. Wir vertrauen Ihnen da einfach, dass Sie nicht einfach so Wörter abstreichen oder sie in Diskussionen nur anbringen, um sie streichen zu können.
Unter all denjenigen, die mit einer vollständig abgestrichenen Karte bei der frei<tag> ankommen, werden wir in der Abschlusssession einen Gewinn verlosen. Aber selbstverständlich steht das Spiel im Vordergrund und weniger der Gewinn. Sie können also auch einfach so mitspielen.

Worum geht es? Eine kurze Kritik der Buzzwords
Auf dem Bibliothekartag – aber auch anderswo – finden Sie ab jetzt unsere Teilnahmekarten für das Bingo. (Sie können es sich aber auch gerne ausdrucken, wenn Sie unbedingt mitspielen wollen.) Worum geht es? Es geht um all die Container-Wörter und scheinbar selbstverständlichen Begrifflichkeiten, die wir in unserer Arbeit tagtäglich verwenden, ohne weiter auf sie zu achten. Die Buzz-Wörter, welche Aktualität, Modernität, Zukunftsoffenheit ausstrahlen sollen, aber irgendwann auch zu Selbstläufern werden. Wir alle kennen sie, wir alle nutzen sie, wir alle gehen über sie hinweg.
Ist das gut oder ist das schlecht? Buzz-Wörter sind nicht per se negativ konnotiert. Sie eröffnen die Möglichkeit, Denkprozesse abzukürzen, die wir alle schon mehrfach durchlaufen haben. Insoweit sparen sie Zeit, ermöglichen die Diskussion über andere Punkte. Andererseits können Buzz-Wörter auch Denkprozess abkürzen, ohne dass sie fertig gedacht sind. Dadurch werden Begrifflichkeiten etabliert, die überhaupt nicht geklärt sind und über die man scheinbar nicht weiter diskutieren muss. Nicht zuletzt gibt es immer die Gefahr, dass Buzz-Wörter genutzt werden, um schwache Inhalte rhetorisch aufzuhübschen.
Oft ist das Buzz-Wort ein falscher Freund: Es sieht aus, als würde es ein Thema, einen Inhalt angemessen umschreiben, aber für andere wird es zum Zeichen, dass etwas mit einem Inhalt nicht stimmt, dass hier eben Rhetorik das Nachdenken und den Inhalt ersetzt hat; egal ob das wirklich zutrifft. Deshalb sollte man Buzz-Wörter auch meiden, wenn man in Diskussionen weiterkommen will. Wird ein Wort nur noch als Marker benutzt, ist es vielleicht Zeit, zurückzutreten und noch einmal eine inhaltliche Klärung des Begriffes vorzunehmen. Oft finden sich bessere Begrifflichkeiten, oft werden so erst die Schwächen eines Begriffes klar. Vielmehr: Oft wird erst dann, wenn man Buzz-Words inhaltlich zu bestimmen versucht, klar, was in diesem Container jeweils von unterschiedlichen Personen und Parteien hinein interpretiert wird. Und dann ist der Container einfach zu groß und weit.

Was soll es bringen?
Neben dem Spaß und der Erinnerung daran, dass man auch im Bibliothekswesen nicht immer alles so ernst nehmen muss, soll das Buzzword-Bingo auch eines erreichen: Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Buzzwords lenken. Eine Profession, die sich zu sehr hinter Buzzwords versteckt, läuft immer Gefahr, die eigentliche inhaltliche Entwicklung nicht mehr zu vollziehen. Gerade, wenn es auch eine Wissenschaft über eine Profession geben soll – so wie die Bibliothekswissenschaft zum Bibliothekswesen oder parallel die Bildungsforschung zum Bildungssystem –, wäre eine genauere Beachtung der verwendeten Sprache sinnvoller. Wir sagen nicht, dass das Bibliothekswesen aktuell Gefahr laufen würde, in Buzzwords unterzugehen. Aber als Zeitschrift, die auch immer einen gewissen kritischen Blick in die Debatten einbringen will, möchten wir auf diese Gefahr hinweisen.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 16 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 25. Mai 2011

„Are you working? What kind of work do you do?“ (Gang Starr: Work [Moment of truth, 1998])

Hier einmal eine einfach, kurze, aber doch nicht leicht zu beantwortende Frage: Wie arbeiten wir eigentlich? Wir alle im Allgemeinen in Bibliotheken, Dokumentationseinrichtungen, Archiven, Informationswirtschaft und Wissenschaft und – jetzt mal als Team, dass die frei<tag> – Bibliothekswissenschaftliche Unkonferenz organisiert – im Speziellen. Selbstverständlich sagt das etwas über uns aus, schließlich ist es der Arbeitsplatz, an dem wir einen großen Teil der Tage verbringen. Sicherlich: Die einen mehr und die anderen weniger, den einige von uns können ihre Arbeitsplätze wechseln, haben gar mehrere Arbeitsplätze, andere sind an einen Ort gebunden. Mehr als eine Person aus dem Team unterrichtet zum Beispiel, steht vor zukünftigen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Lehrerinnen und Lehrern. Einige von uns können auch immer einmal woanders arbeiten, zu Hause zum Beispiel oder – wie gerade jetzt, wo dieser Text entsteht – in der Kneipe am Tresen. Und nicht zuletzt: Wie unser Arbeitsplatz aussieht wird nicht von uns alleine bestimmt, sondern auch von den Vorgaben der Arbeitgeberinnen und -geber. (Niemand von uns ist selbstständig, niemand gerade arbeitslos. Dann würde die Situation sich noch anders darstellen.)
Nicht zuletzt ist unser Arbeitsplatz nicht unsere Arbeit, sondern „nur“ der Platz, an dem sie geschieht. Und trotzdem: Unser Arbeitsplatz sagt etwas über uns aus. Nämlich – insbesondere, wenn wir die Möglichkeit haben, uns zu inszenieren – etwas darüber, wie wir uns und unsere Arbeit organisieren, wie viel oder wenig Abstand wir von ihr halten wollen, wie sehr wir den Arbeitsplatz personalisieren oder so lassen, wie wir ihn vorgefunden haben. Als kleines Experiment – und auch, weil es persönlicher ist, als Namen im Wiki allein – stellt das gesamte Team der frei<tag> sich hier per Arbeitsplatz dar.

In alphabetischer Reihenfolge:

Julia Iwanowa, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Projekt "Open Access Netzwerk II"

Ben Kaden, Projekt IUWIS

Maxi Kindling, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Projekt "Open Access Netzwerk II"

Felix Ostrowski, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Projekt "LuKII"

Karsten Schuldt, Interdisziplinäres Zentrum für Bildungsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin

Manuela Schulz, Bibliothek der Medizinischen Fakultät Mannheim der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Jenny Sieber, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Projekt "LuKII"

Matti Stöhr, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jahresberichte für Deutsche Geschichte

Doreen Thiede, Zuse-Institut Berlin, Abteilung Wissenschaftliche Information (KOBV)

Außerdem: Nicht direkt beim Team dabei, wegen zuviel Arbeit, aber immer nahe am Entscheidungsprozess: Elke Greifeneder, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin

Was fällt auf? Zum einen sind wir unterschiedlich, wie man an den Stücken neben der verbindenen frei<tag>-Einladungskarte sieht, die wir an unseren Arbeitsplätzen bereithalten. Zum anderen teilen wir aber doch Vorlieben, offenbar. Nicht das Buch, wie man in der Bibliothekswissenschaft doch immer noch erwarten könnte, steht im Vordergrund, sondern der Computer, was vielleicht mehr auf die Informationswissenschaft hindeutet. Interessanterweise sind auf unseren Rechner dann aber alle drei großen Betriebssysteme vertreten (Sorry BSD). Eventuell ist es auch ein generationeller Wechsel, der sich hier zeigt. Lesen tun wir selbstverständlich dennoch ständig. Interessant ist, dass der mobile Rechner im Vordergrund steht. Unmobile Rechner stehen zumeist im Hintergrund. Gleichzeitig scheint niemand von uns sich aufgegeben zu haben. Positive Botschaften, eine eigenständige Einbindung in – teilweise unterschiedliche Fachdiskurse – und helle Farben überwiegen. Einige von uns stellen auch gar nicht den Arbeitsplatz, sondern eine positive Botschaft in den Mittelpunkt. Und das, obwohl viel Improvisation ist, unfertig, übergelassen von anderen Projekten.
Das sind also wir. Ist das normal für unser Wissenschaftsfeld? Sind wir Ausnahmen? Wie arbeitet ihr anderen eigentlich? Ist das gut, wie wir arbeiten? Sollten wir es verändern? Welchen Einfluss haben unsere Arbeitsplätze auf unsere Arbeit? Sind auch das Fragen, die auf der frei<tag> diskutiert werden können? Wie dem auch sei: Die Bilder sind auch eine Einladung, tiefer in unsere (und eure) Arbeitsprozesse einzutauchen.

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It’s the frei<tag> Countdown. Noch 17 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 24. Mai 2011

In seinem schmalen Bändchen [Gelhard, Andreas / Kritik der Kompetenz. – Zürich : Diaphanes, 2011] zur Kritik der (beruflichen) Kompetenzkonzepte als Nomalisierungs- und Zurichtungstechnik und zum Aufstieg der gleichen Kompetenzkonzepte als Psychotechniken, die „freundlich, aber bestimmt“ zur ständigen Selbstbeobachtung und -regulierung, zum ständigen Vergleich mit anderen und damit auch zum ständigen Abstandnehmen von den Besonderheiten der eigenen Personen anhalten, formuliert Andreas Gelhard seine Haltung vor allem auf der Basis der philosophischen Positionen Kants und Hannah Arendts. Gerade bei Arendt würde das sinnvolle Denken, so Gelhard, als öffentlich verstanden werden – wie es auch Kant forderte –, aber gleichzeitig als einsame Tätigkeit. Wir denken einsam, arbeiten am Schreibtisch, in der Bibliothek, versunken im Lärm der Cafés (um dieses Bild der Avantgarde zwischen Expressionismus und Existenzialismus zu erinnern). Die Bücher, Artikel, Texte, Dokumente und Tabellen entstehen in versunkener Einsamkeit, im besten Fall im legendären Flow; aber sie entstehen für die Öffentlichkeit, für eine öffentliche Prüfung. So die Darstellung bei Gelhard. Arendt würde darauf abheben, das diese Differenz praktisch unüberschreitbar wäre, wenn man den tätig handelnden und damit sich selbst immer wieder neu entwerfenden Menschen als solchen begreifen wollte – was Arendt ja auch tat. (Hierauf hebt auch Ludwig Pongratz im Kontext der Erwachsenenbildung ab, wenn er als „kürzesten Namen“ für Bildung das – von der Buchstabenzahl her selbstverständlich längere – „Unterbrechung“ nennt. [Pongratz., Ludwig A. / Kritische Erwachsenenbildung : Analysen und Anstöße. – Wiesbaden : VS, 2010])

Damit trat Arendt in einen scharfen Gegensatz zur „die Gedanken sind frei“-Behauptung, die sich in der deutschen Geschichte als so bedeutungstragend zeigte (und heute zum Beispiel noch bei Treffen von studentischen Korporationen zum Besten gegeben wird). Die Behauptung, dass sich Gedanken frei entfalten könnten, auch wenn sie nicht ausgesprochen und diskutiert werden können und wenn gleichzeitig alles andere verregelt und doktrinär durchgesetzt sie, die sich in dieser Haltung ausdrücken würde, sei grundfalsch. Denken müsse sich immer wieder äußern und der öffentlichen Prüfung stellen, um als solches überhaupt gelten zu können. Ansonsten bliebe es funktions- und wirkungsloses Wünschen, im besten Falle. Demgegenüber stünde aber das heutige Denken, so Gelhardt weiter, unter der ständigen Anforderung der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, die zudem durch die Psychotechnik der „Kompetenzmessung“ normalisiert würde, indem a.) eine begriffliche Weite, b.) das Versprechen, alles sei lern- aber auch messbar und c.) die Prüfung mittels standardisierter Tests miteinander verbunden würden.

Es geht Gelhardt kaum um die Frage der Einsamkeit selber, obgleich sie eine große Rolle in der Entwicklung des Denkens spielt. Ihm geht es zu Recht darum, im Anschluss an die Forschungen zum Wissen/Macht-Komplex von Foucault, Kompetenz als Machtinstrument, dass nicht unterdrückt, sondern erschafft, zu analysieren. Es ist allerdings auffällig, dass in der Geschichte des Denkens und des Nachdenkens über das Denken die Einsamkeit der Denkenden immer wieder Thema war und wird. Das gilt nicht nur für das wissenschaftliche und kreative Denken, es gilt immer auch für die alltägliche. Das Bild des Zurückfallens in eine meditative Ruhe, der Spaziergang, am besten irgendwo anders, im Wald, am Meer, in anderen Städten ohne persönliche Verpflichtung, oder der Blick über die schlafende Stadt als der Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden, ist beliebtes Stilmittel modernen Erzählens, egal ob im Roman, in der Kurzgeschichte oder dem Film.

Sicherlich ist zu viel und zu große Einsamkeit negativ besetzt. Depression, als willen- und ziellose Einsamkeit ist endlich dabei, als Krankheit anerkannt zu werden. Nicht selbst gewählte soziale Isolation ist in der Sozialforschung ebenso wie in der Sozialen Arbeit zum anerkannten Merkmal von Armut und sozialer Konfliktlage geworden. Fernab von den Vorteilen für das wissenschaftliche Arbeiten gilt als einer der möglichen Vorteile des Internets, dass es die sozialen Kontaktmöglichkeiten erhöht. Wer nicht selber aus der Einsamkeit austreten kann, gilt als bedauernswert, als Person, der geholfen werden muss.

Doch daneben hat sich die Faszination des weiten, möglichst leeren Raumes, seine Bedeutung erhalten. Da, wo nichts ist, wo Leere herrscht, der Raum, das Denken, die Zeit zum Denken und Handeln wenig eingegrenzt ist, wo es einsam ist, da werden immer noch die wichtigsten Denkvorgänge ausgeführt. Dem Kultus des ständigen Prüfens, Messens, Vergleichens steht das untergründige Anschwellen von Praxen, die leere Zeiten, leere Räume, also Einsamkeiten herstellen, gegenüber. Lange ist zum Beispiel bekannt, dass nicht die Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, die sich möglichst vollständig der Zugriffe durch Evaluationen und Messungen unterwerfen, die größte Qualität hervorbringen, sondern die, welche mit diesen Anforderungen so umgehen können, dass sie sich Freiräume schaffen, und sei es unter Vorspiegelung von Tatsachen. Während sich noch die Politik daran abarbeitet, die Welt und die Dinge vollständig vermessbar zu machen und Teil eder Wissenschaft, der Verbände, der Institutionen, der Öffentlichkeit sich dafür einspannen lassen, gibt es feststellbar immer mehr Akzeptanz dafür, dass auch diese Welle des Messens und Vergleichens es nicht geschafft hat, an das Geheimnis des Denkens zu gelangen. Die Hochschulen schaffen sich und ihren Forschenden immer mehr flexible Räume des Denkens, die Bibliotheken immer mehr flexible Räume des Arbeitens, die Stadtplanung schafft wieder mehr öffentliche Plätze oder ermöglicht die Umnutzung ehemals standardisierter und auf eine Aufgabe zugeschnittener Räume. Die Gesellschaft kommt – wieder einmal, muss man nach der Lektüre von Gelhards Bändchen sagen – zurück in die selbst-bestimmt nutzbare Fläche und das selbst-schaffende Denken kommt über Umwege wieder in die Hochschulen und die Forschung. Das ist nicht ungebrochen und wird es auch nie sein.

Aber Flächen und Zeiten der Einsamkeit enthalten heute wieder das Versprechen, sinnvoll durch die Individuen genutzt zu werden, wobei sinnvoll wieder mehr heißt: sinnvoll für die Individuen, die Gesellschaft. Die Idee der ständigen Leistungsbereitschaft als Qualitätsmerkmal erübrigt sich langsam, weil die Gesichter, die wir in den letzten Jahren mit dieser Anforderung verbunden hatten, nach und nach abgehen – seien sie überführte Plagiatoren und Plagiatorinnen, seien sie immer unerfolgreicher um Aufmerksamkeit buhlende Politikerinnen und Politiker, seien es Managerinnen und Manager, Beraterinnen und Berater die zur Karikatur ihrer selbst verkommen zu sein scheinen. Auch hat sich die erzwungene Geselligkeit der letzten Jahre nicht als ewig haltbarer Zustand erwiesen. Weder die Fanmeilen noch die alles umfassenden Strandbars noch die zahllosen Kulturevents und langen Nächte der XZY (Museen, Bibliotheken, Oper und Theater, Wissenschaft, Bücher, Kinos, in Wien letztens sogar der Anarchie) konnten die Gesellschaft zu einem Gemeinsamen formen. Die Gesellschaft, die Menschen, mit all ihren sozialen Gegensätzen wollen immer mehr ihre Ruhe haben und erstaunlicherweise haben sie sich diese in der letzten Zeit auch wieder erkämpft.

Wie werden sie diese Ruhe nutzen? Diese potentielle Einsamkeit? Zukunftsoffen? Senierend? Vergeudend? Von allem etwas – wird wohl die richtige Voraussage sein. Aber das enthält die Möglichkeit, dass Einsamkeit wieder mehr genutzt wird, um zurückzutreten und als Wissenschaft darüber nachzudenken, warum die Dinge sind, wie sie sind, warum sie funktionieren, wie sie funktionieren. Und nicht, wie sie sofort und zugleich zu steuern seien, um die richtigen und vorallem schnell zu überprüfenden und vergleichbaren Ergebnisse zu erhalten.

Es hat seine Zeit gedauert und bedurfte sozialer Auseinandersetzungen, aber heute ist es möglich, im Untergehen des Tageslichtes auf dem ehemaligen Flugplatz in Berlin-Tempelhof Bilder der offenen Einsamkeit zu machen. Nicht immer, den die Einsamkeit, die das Denken bei Arendt – und anderen, zum Beispiel sehr explizit bei de Beauvoir – kennzeichnet, ist hier nicht immer gegebenen. Die Fläche wird benutzt. Die Stadt Berlin hat relativ viel Fläche zur freien Nutzung freigegeben – wenn auch zeitlich begrenzt, im Sommer zum Beispiel nur bis 21.30 Uhr, und der immer wieder vorkommenden Schließung für besondere Veranstaltungen – und es haben sich schon unterschiedliche Nutzungsformen ergeben. Ein Comiczeichner, Plattensammler und Blogger etablierte beispielsweise eine mehr oder minder regelmäßige Swing-Tanzveranstaltung, Cosplayer sollen auch schon bei verabredeten Treffen gesichtet worden sein, ebenso treffen sich auf dem Hunde- und Grillplätzen immer wieder verabredet Gruppen. Gleichzeitig ist der Raum immer noch weit. Wer etwas hinein läuft in das Gelände, kann in Ruhe ins Nichts schauen oder flirten. Selbst erotischen Phantasien sollen in den hohen Gräsern des Flugplatzes schon ausgelebt worden sein. An einer Ecke des Platzes wird übrigens das Social Event (beziehungsweise die Unkonferenz) einen Tag vor dem Bibliothekartag stattfinden, welches im Rahmen des Cycling for Libraries organisiert wird. Also nicht die Unkonferenz, zu der hier heruntergezählt wird, sondern die andere, die aber auch besucht werden sollte. Wer dort genug hat von den Anforderungen des Gemeinsam-seins wird dann aus dem Zelt treten und eine Weile einsam ins Nichts des geschlossenen Flugplatzes laufen können.