LIBREAS.Library Ideas

Ordnung ist das halbe Lesen. Zu Mikko Kuorinkis Variation über Foucault.

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Ben on 19. April 2012

Rezension zu: Mikko Kuorinki (2012): The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences. Karlsruhe: Mark Pezinger Verlag.

von Ben Kaden

Bis auf das Buch „Das Totenschiff“ segelte B. Traven an meiner Lektürebiografie fast spurlos vorbei. Aber irgendwie auch nicht. Denn eine meiner angenehmsten Tätigkeiten zur Entspannung des manchmal etwas von alltäglicher Betriebsblindheit geprägten Blicks während meiner Tätigkeit als studentischer Mitarbeiter in der Saur-Bibliothek des Berliner Instituts – damals noch nur – für Bibliothekswissenschaft, war das Herumstöbern in der teils doch sehr wunderlichen Zusammenstellung des dort vorgehaltenen Programms des Saur-Verlags. Einer meiner Lieblingstitel wurde Joachim Dietzes B. Travens Wortschatz [1]. Auch wenn ich also B. Travens Worten weitgehend fremd gegenüber stehe, so sind mir doch seine Wörter vertraut. Joachim Dietzes Arbeit ist nämlich ein so genanntes Frequenzwörterbuch, welches sämtliche von B. Traven verwendete Wörter nach Schaffensperioden auf etwas mehr als 700 Seiten listet. Das liest sich nicht mitreißender als ein Telefonbuch, aber dank Rückbezug zu einem konkreten Autor und seinem Werk doch aufregender als der Duden. Von den jeweiligen Handlungsverläufen erfährt man natürlich nichts, aber erstaunlicherweise ergibt sich aus dem aufmerksamen Durchblättern des tabellarisch nach Häufigkeit aufgeschlüsselten Wortschatzes durchaus ein grober Eindruck, worüber der Schriftsteller wie schrieb.

Sich mit Sinn und Zweck derartiger Erschließungen auseinanderzusetzen ist Gegenstand einer literaturwissenschaftlich orientierten Linguistik. Hilfreich sind Frequenzanalysen vor allem für Fragestellungen einer quantitativen Literaturwissenschaft, die sich auch mit Wortschatzauffälligkeiten und Verschiebungen im Vokabular befasst.

Einem Betrachter ohne Bezug zu solchen Erkenntnisverfahren erscheint die Vorstellung, ein Textwerk derart aufzulösen und zu -listen dagegen verständlicherweise wahlweise als spleenig, absurd oder frevelhaft.

Bibliotheks- und Informationswissenschaftler sehen schließlich darin möglicherweise wichtige Vorarbeiten einer literaturwissenschaftlichen Semiometrik, die für semantische Netze und Ontologieentwicklung nützliche Grundlagen legen kann.

Wie Joachim Dietze methodisch vorging, ist mir nicht bekannt und das Buch liegt mir auch nicht mehr vor, um in einer eventuellen Vorbemerkung entsprechend nachzulesen. Auch inwieweit Volltextkorpora wie Google-Books semiometrische Verfahren elaborieren vermag ich nicht genauer abzuschätzen und für entsprechende Hinweise bin ich immer dankbar. Der N-gram-Viewer[2] lässt jedoch vermuten, dass dort Ansätze dieser Art keine geringe Rolle spielen. Eher  darüber hinaus, wie sich derartige Verfahren als Werkzeuge auf Digitale Geisteswissenschaften appliziert denken lassen.

Eine Schwierigkeit bleibt freilich bestehen. Denn man besitzt zwar im Idealfall Korpus, Methode und Analysetechnik. Der Zweck, also das Erkenntnisziel, dieses „how (not) to read a million books“[3] bleibt aber unbestimmt.

In der Informationswissenschaft kenn man das schon länger. Denn die Formulierung relevanter Forschungsfragen und in gewisser Weise die Re-Qualifizierung quantitativer Möglichkeiten ist eine Herausforderung, die Sziento- und Bibliometrie grundlegend umtreibt. Wir können alles Mögliche messen, relationieren und visualisieren. Die Möglichkeit eines Übergangs zwischen einer Leistungsschau der Rechentechnik, dem ästhetischen Vergnügen an sauberen Kurvenverläufen und sinnvollen Aussagen mit konkreten Handlungsimplikationen wird dabei jedoch nicht immer greifbar.

Mikko Kuorinki - The Order of Things (Cover)

"Snobs who go to Bonn for bonbons know how to shop for good food." - Christian Böks nach-oulipotisches Eunonia (Edinburgh: Cannonball Books, 2001) stellt in gewisser Weise das Gegenmodell zu Mikko Kuorinkis' Ansatz dar. In fünf Kapiteln wird eine Literatur erzeugt, die der strengen Regel erfolgt, in jedem Kapitel jeweils nur einen Vokal zuzulassen, dafür aber möglichst das gesamte Repertoire an integrierbarem Vokabular zu verarbeiten. Laut Nachwort gelang dies zu 98 %. Das Vergnügen - man kann es am zitierten Satz leicht erproben - entsteht beim lauten Vortrag. Damit unterscheidet es sich übrigens grundlegend von Mikko Kuorinkis Ordnungswerk. Vor allem, weil man dort angesichts gebündelter Redundanz beim Lesen viel zu leicht in der Zeile verrutscht.

Wenn nun der finnischen Künstler Mikko Kuorinki die Methode des Frequenzwörterbuchs auf Michel Foucaults Les mots et les choses (allerdings englische Übersetzung, also: The Order of Things) anwendet, darf man sicher keinen übermäßig wissenschaftlichen Hintergrund erwarten. Zudem ist anzunehmen, dass die Übersetzung ohnehin einige Verwischungen im Sprachgebrauch enthält, was auch die Aussagekraft über den Sprachgebrauch Foucaults begrenzt. Dennoch eröffnet sich ein erfrischender Zugang.

Das Werk zur Umordnung des Textes ist selbstverständlich bewusst gewählt. Es in der Form aufzubrechen und nach Worthäufigkeiten neu aufzustellen, es also von formulierten Aussagen zu in der Wortverwendung an sich aufschimmernden impliziten Aussagen eines Subtextes zu öffnen, lässt sich unschwer als Referenz auf die Grund(in)fragestellung von Wissen durch die Idee des Diskurses lesen. Mikko Kuorinki treibt die Vorstellung, wie wir über die Dinge sprechen und wie sie Foucault gerade auch in diesem Werk unter dem Begriff der Archäologie untersuchte auf eine interessante und dekonstruktive Spitze. Und zwar, indem er sich ausschließlich des in der Vorlage benutzten Vokabulars bedient und es nach dem schlichtmöglichsten Ordnungsverfahren (=alphabetisch) arrangiert. „Discourse“ besetzt nun mehr als eine ganze der leider nicht nummerierten Seiten und geht direkt in eine halbe weitere mit „discover“ über. Inwiefern auf Schöpferseite (also bei Mikko Kuorinki) die Freude am Nonsens bei der Arbeit eine Rolle spielte, wird vom Buch her nicht deutlich. Die Werkgeschichte des Künstlers ist aber durchaus von der Auseinandersetzung mit der Verbindung zwischen Mensch und Welt via Sprache geprägt. Damit kann man ihn sicher vom L’art pour l’art-Verdacht freisprechen. Im Buch selbst findet sich keine Erklärung. Die etwas zu gequälten Blurbs auf der Buchbanderole wirken fast ein wenig den Spaß verderbend.

Der Inhalt ist wahrscheinlich tatsächlich wortidentisch mit der Vorlage, semantisch aber maximal aufgespreizt. Denn jedes Wort steht nun für sich und alle abgebildeten Kontexte sind syntaktisch motiviert. Was mitunter tatsächlich in eine eigenartig konkretisierte Poesie des Eigensinns der Sprache führt. Abgesehen davon überrascht die linguistische Visualisierung der Wortverwendungen („information“ kommt nur dreimal vor, „belief“ bzw. „believe“ in verschiedenen Beugungen 49 Mal) mit einiger Aufschlusskraft über den Foucault‘schen Diskurs, also die spezifische Rede- bzw. Schreibweise über seinen Gegenstand.

Möglicherweise ist diese rücksichtslose Form der Diskursbrechung dank eines simplen Ordnungssystems der uns verbliebene Weg einer erkennenden Distanzierung zu den unvermeidlich gebundenen Aussagesystemen der Wissenschaften. Ich glaube nicht, dass Mikko Kuorinkis Arbeit als Plädoyer für die Elaboration entsprechender semiografischer und semiometrischer Methoden angedacht ist. Aber sie lässt sich – wenn man hier von lesen sprechen möchte – vor allem so lesen. Und enthält dabei, die richtige Fragestellung vorausgesetzt, durchaus Erkenntnis stiftendes Potential.


[1] Joachim Dietze: B. Travens Wortschatz : ein Frequenzwörterbuch zu seinen drei Schaffensperioden. München : Saur, 1998

Misstraut dem/n Durchleuchtstoffröhren. Die Transparenzgesellschaft Byung-Chul Hans bleibt ohne Strahlkraft.

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Ben on 17. April 2012

Rezension zu: Byung-Chul Han (2012): Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

von Ben Kaden

Das gibt es tatsächlich: Jemand wird zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen und diejenigen, denen er gegenüber sitzt, haben das Facebook-Profil des Bewerbers geöffnet, um im Zweifelsfall abgleichen zu können, zwischen der Typisierung, die sich persönlich vorstellt und der, die man von sich über Jahre ins Netz hat fließen lassen. Profiling wird da wortwörtlich zur Selbstaufgabe. Denn diese potentielle Durchleuchtung vor Augen, stimmt man zwangsläufig das, was in das digitale Eigenarchiv aus semiprivaten Kommunikationen in Sozialen Netzwerke einfließt (wie würde es denn aussehen, wenn auf einmal Stephan Remmler in der Playlist erschiene und nicht Krzysztof Penderecki) mit immer notwendig diffusen Erwartungshaltungen von zukünftigen Durchleuchtern ab. Mit den Sozialen Netzwerken entfesselt man Bourdieu’sche Überlegungen in lange ungeahnter Weise. Wer sich davon einwickeln lässt, führt in der Tat eine armselige Existenz auf Repräsentation gerichteter, nun ja, Identitätsmodellierung.

Insofern handelt es sich genau genommen weniger um eine Selbstentblößung als um eine inszenatorische und soziotechnische Selbstgestaltung. Wie diese vermeintliche Befreiung des Individuellen im Digitalcode den Kreis zu der in harten Kämpfen halbwegs bezwungen erschienen Welt von Traditionszwängen und Übernormungen rückzuschließen beginnt, wäre ein hervorragendes Thema für gegenwartsanalytische Schriften. Aber anscheinend bewegen wir uns noch im Stadium einer anderen Anamnese. (more…)

Die Bibliothek in der Literatur. Heute: (Nicht) in Natalja Kljutscharjowas Dummendorf.

Posted in Die Bibliothek in der Literatur by Ben on 14. April 2012

von Ben Kaden

Über:

Spuren der Bibliothek in den Romanen Endstation Russland (Berlin: Suhrkamp, 2010) und Dummendorf (Berlin: Suhrkamp, 2012) der jungen russischen Autorin Natalja Kljutscharjowa.

(Soeben entdeckte ich auf einem entlegenden Datenträger einen Schubladentext. Da man so etwas heute schnell und einfach aus der Schublade eines vergessenen Dateiordners in die Weböffentlichkeit zerren kann, vollziehe ich diesen Schritt nun einfach mal zum Samstagabend. Denn unsere Kategorie Die Bibliothek in der Literatur zeigt sich doch etwas stiefmütterlich behandelt=vernachlässigt. Als Erläuterung für alle, die es nicht kennen sollten: Das Wort Frankenpolish taucht – auch für mich bei der heutige Nachlektüre erstaunlich – zweimal im Text auf und steht für eine ausgeprägte Fingernagel- bzw. Manikürkultur und in diesem Fall stellvertretend für eine überbetonende Einstellung zu Glanz und Bling und Körperpolitur, wie sie erfahrungsgemäß bei Studentinnen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft äußerst selten anzutreffen ist, in anderen Ausbildungsstudiengängen dafür etwas häufiger.) (more…)

Statt Standards, Handlungshilfen für Bibliotheken

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 11. April 2012

Zu: Ministère de la culture et de la Communication, Direction générale des médias et des industries culturelles, Service du livre et de la lecture ; Collignon, Laure (ed.) ; Gravier, Colette (ed.) / Concevoir et construire une bibliothèque : Du projet à la réalisation. Paris : Éditions du Moniteur, 2011. 75 €.

Von Karsten Schuldt

In Deutschland, aber auch der Schweiz und zuletzt in Österreich, versuchten und versuchen bibliothekarische Verbände, mal alleine, mal in Kooperation mit anderen Organisationen Masterpläne für ein nationales Bibliothekswesens aufzustellen. Diese Masterpläne folgten zwar immer wieder neuen, zeitgenössischen Vorstellungen und Sprachmoden, waren mal mit mehr, mal mit weniger Zahlenmaterial bestückt, mal mehr, mal weniger in PR-Sprache gehalten. Grundsätzlich sollten sie nicht nur einen Rahmen für das Bibliothekswesen bieten, sondern auch die Politik und Gesellschaft davon überzeugen, die Bibliotheken sich in die jeweils gewünschte Richtung entwickeln zu lassen und diese Entwicklung zu finanzieren. Fraglos immer mit dem Wunsch, dass jeweils bestdenkbare Bibliothekswesen zu schaffen. Gleichzeitig aber scheiterten diese Masterpläne – Bibliotheksplan ’73, Bibliotheken ’93, Bibliotheksplan 2000, Bibliothek 2007, Die Zukunft gestalten: Chance Bibliothek et cetera – an diesem Anspruch. Sie waren Thema der bibliothekarischen Ausbildung, aber (bislang zumindest, gerade in Österreich wurde vom Parlament im letzten Jahr bekanntlich anderes beschlossen) kaum der Politik. (more…)

Digitale Philatelie, angedeutet. Zu einem aktuellen Aufsatz in der International Information & Library Review.

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Ben on 5. April 2012

von Ben Kaden

Zu:

Mangala Anil Hirwade; Ujwala Anil Nawlakhe: Postage stamps and digital philately: Worldwide and Indian scenario. In: The International Information & Library Review. Volume 44, Issue 1, March 2012, Seiten 28–39. http://dx.doi.org/10.1016/j.iilr.2012.01.001

Eine der Beobachtung nach häufig unterschätzte Stärke von Briefmarken ist ihr dokumentarischer Gehalt. Dabei stellen sie als lange Zeit hoheitliche Wertmarken äußerst ausdrucksstarke semiotische Kondensationen dar, die unzweifelhaft alles erfüllen, was man von Objekten des kulturellen Erbes erwarten kann.

Die Sammlerwelt goutiert allerdings, wie persönliche Messeerfahrungen zeigen, eine allzu hermeneutische Annäherung an ihre Gegenstände vergleichsweise selten. Hier ist es wie in vielen Lebensbereichen: Ästhetischer Reiz, Faktenhuberei oder die allseits dominante Frage nach einem möglichen finanziellen Gewinn dominieren diesen kuriosen Mikromarkt, auf dem wie bei fast allen Sammlermärkten aus ihrem ursprünglichen Funktionskontext gelöste Objekte weit über dem Materialwert über die Verbindung von Angebot und Nachfrage mit einem symbolischen Wert aufgeladen werden.

Briefmarke "State of Palestine" von Khaled Jarrar

Dies ist ein schönes Beispiel einer Briefmarke, bei der herkömmliche philatelistische Klassifikationsnormen ziemlich gefordert werden. Die Abbildung zeigt einen Jerichonektarvogel (Cinnyris osea), der sich einer Blüte nähert. Also Klasse=Fauna? Immerhin wurde bei der Stempelung sogar die Botschaft „Schützt die Natur“ als Maschinenwerbestempel mit dem WWF-Panda dazugefügt. Der Vogel ist allerdings deutlich – unter seinem englischen Namen Palestine Sunbird – in einer anderen Funktion unterwegs, nämlich als Bote eines möglichen State of Palestine. Allerdings gibt es diesen als briefmarkenherausgebende politische Entität nicht, weshalb die Marke eine nicht vorhandene Normalität vorspiegelt und insofern eine hochpolitische Aussage trifft: So könnte eine Dauermarke eines vollanerkannten Staates namens Palästina aussehen. Bzw. so lässt sie jemand aussehen. Dass man sie für die Frankierung von Briefen benutzen kann, ist ein Ergebnis ausgerechnet der Privatisierung der deutschen Post, die mittlerweile mit ihrem Produkt „Marke individuell“ durch Privatpersonen frei gestaltbare Ausgaben zulässt. Die Privatperson hinter dieser Marke ist der Künstler Khaled Jarrar. In gewisser Weise repolitisiert er das durch durch die Individualisierung von Briefmarken entpolitisierte Medium wieder und selbstverständlich wird eine entsprechend frankierte Sendung, wie die gezeigte gestern in Berlin eingeworfene, von der Deutschen Post anstandslos befördert und zugestellt. Es handelt sich also um a) eine offizielle deutsche Briefmarke mit b) dem inoffiziellen Motiv einer palästinensischen Ausgabe, die als Motiv c) einen hübschen Nektarvogel zeigt, der d) die Botschaft eines Wunsches nach einem ganz normalen (also auch Briefmarken emissionierenden) und unabhängigen Staat Palästina transportiert. Gibt es dafür eine Klasse bei der World Association for the Development of Philately (WADP)?

Diese spannende Facette interessiert Mangala Anil Hirwade und Ujwala Anil Nawlakhe vom Department of Library and Information Science der Rashtrasant Tukadoji Maharaj Nagpur University in ihrem Text zur Digitalen Philatelie leider nur am Rande. Sie erwähnen zwar einige Gesichtspunkte, an denen sich wirkliche Fragestellungen anschließen könnten, bleiben im Ergebnis aber bedauerlicherweise bei einer nicht sehr viel Erkenntnis stiftenden Vorstellung einer Datenbank und der Wiedergabe einiger Abfragen u.a. zu indischen Briefmarkenausgaben mit dem thematischen Schwerpunkt. Eigentlich handelt es sich also, ich muss es derart kühl sagen, um einen umfänglich annotierten Linktipp mit ein wenig dahingeschenkten Problematisierungspotential. Auch philatelistisch spielt der Text bestenfalls in der unteren Sammelklasse. So ist bereits die erste Definition dessen, was eine Briefmarke ist, schwer tragbar:

„small pieces of colorful paper issued by the government of a nation or country”.

Das könnte auch auf Banknoten zutreffen. Die Definition wird später durch eine etwas euphemistisch „Definition analysis“ benannte Passage anhand von drei Zitaten aus Drittquellen (The Freedictionary, Wikipedia) etwas nachgeschärft und ist dann erwartungsgemäß recht zutreffend. Da die Wikipedia auch weiß, was unter Philatelie zu verstehen ist, findet sich dieser Kontext ebenfalls korrekt eingebunden. Für Wissensquizze lehrreich ist eventuell der Hinweis, dass man ebenfalls von Timbrologie bzw. Timbrophilie sprechen könnte, wogegen sich die dazu geordnete Timbromanie nicht ganz auf der gleichen Bedeutungsschiene bewegen dürfte. In ihrer weiteren Verortung sprechen die Autoren nicht unbedingt von mitteleuropäischen Verhältnissen, denn gegen jede dieser Aussagen kann man leichthändig Gegenbeispiele aufschichten:

„Philately is the study of stamps and its collection is considered the king of hobbies. It is equally right to say philately is a hobby of a king due to its costly nature and huge investment. Philately is perhaps the most popular´pastime.“

Die ehemalige Popularität des Hobbys erklärte sich ja gerade aus relativ kleinen ökonomischen Einstiegshürden. Jedenfalls in einer Zeit, in der selbst Behördenbriefe mit Briefmarken zum Abweichen versehen waren. Material, idealerweise zum späteren Tauschen, kam mit nahezu jeder Postzustellung ins Haus. Das parallel dazu eine kleine ausgewählte Schichte monegassischer Hochfinanzphilatelie eine übersichtliche Auktionswirtschaft am Leben erhält, ist wahr. Diese Sammlerelite existiert allerdings auch für Münzen, Uhren und Fabergé-Eier. Abgesehen davon sind Briefmarken heute nicht unbedingt etwas, womit man das Gros jedenfalls deutscher Freizeitgestalter erreicht.

Die Parallele zwischen Sammler und Bibliothekar wirkt ebenso etwas sehr übers Knie gezwungen:

„As a library associates with collection, philatelists like a librarian are responsible for collection development and collection management.”

Auch in diesem Fall könnte jedes Sammelgut in den Mittelpunkt rücken. Immerhin wird noch einmal deutlich, dass sehr vieles mehr als traditionelle Buch-, Zeitschriften- oder ähnliche Publikationen Dokumente sein können. Nur bewegt man sich hierbei auf der zackigen Grenze zum Archivgut. Den Status von Briefmarkenausgaben dahingehend zu diskutieren, wäre sicher eine spannende Herausforderung.

Denn in gewisser Weise sind Briefmarken natürlich auch Publikationen (man spricht von Ausgaben oder – etwas unschön – von Emissionen). und entsprechend neben der Funktion als Freimachung Informationsträger wie Kommunikationsmedium bestimmter Botschaften. Wichtig ist dabei, dass sie mehr oder weniger dezente Hinweis- und Erinnerungsmedien sind: Sie verweisen auf die Existenz eines konkreten Phänomens (z.B. Frankfurter Buchmesse), häufig verbunden mit einem aktuellen Zeitereignis oder einer Botschaft (z.B. Schützt die Wälder!).

Manchmal ergibt sich daraus sogar eine Kreuzung zu innerbibliotheksweltlichen Themen. Ich habe einmal bei LIBREAS zu diesem Bibliophilatelie genannten Thema einen Text verfasst und irgendwann ein Weblog abgebrochen.

Die Autoren diskutieren zwar kurz den Begriff der Bibliophilatelie und verweisen mit Larry T. Nix und Jerzy Duda auf Leitfiguren dieser äußerst überschaubaren Bewegung, ignorieren mich als Google-Champion zu diesem Suchbegriff allerdings. Womit ich selbstverständlich leben kann, zumal die Bibliophilatelie offensichtlich nur auftaucht, um Vollständigkeit anzuzeigen. Zum eigentlich Kern ihres Beitrags trägt dieser Nebenschauplatz wenig bei.

Die wirkliche Relevanz entfaltet sich dort um eine Ecke, wo es um Briefmarkensammlungen als Bewahrens wertes Sammlungsgut auch für Bibliotheken geht. Die Langzeitarchivierung erweist sich hier wie allen Druckmaterialien u.U. als Problem, besonders wenn die Ausgangsmaterialien, wie beispielsweise bei Provisiorien, Notausgaben, etc. entsprechend schlecht waren. Wenn die Autoren allerdings schreiben:

„In order to keep the record of these postal heritage or historical documents of national origin, digitization projects provide a golden path in line with the initiative of the digital library for preserving art, culture, and heritage.”

gehen sie wieder fehl. Ein goldener Weg ist die Digitalisierung keinesfalls, steht doch bei Briefmarken die Materialität und teilweise das Einzelstück noch stärker im Mittelpunkt, als bei anderen Druckmedien: Farbechtheit, Plattenfehler, Zähnungsvarianten und natürlich auch Stempelungen spielen eine Rolle, die bei reinen Digitalisierung postfrischer Beispielexemplare auf der Strecke bleiben müssen. Die philatelistische Tätigkeit ist grundständig Exemplar orientiert. Die Stärke Digitaler Philatelie liegt demnach hauptsächlich auf der Ebene des Nachweises an sich.

Wer sich regelmäßig mit Papierschnitten an den Finger durch die vielen Bände des Scott’s Catalogue of Postage Stamps wühlt, wüsste eine Gesamtdatenbank der Briefmarken der Welt sehr zu schätzen. Abgesehen davon leisten die Katalogisierungsexperten von Michel, Yvert & Tellier oder Stanley Gibbons seit je hervorragende Arbeit auf diesem Gebiet und zunehmend liegen die Nachweise auch digital vor. Eine Welt- bzw. Verbunddatenbank zum Nachweis aller Ausgaben fehlt allerdings bis heute.

Interessant wäre in diesem Fall neben der separaten Digitalisierung besonderer Ganzstücke oder besonderer Exemplare vor allem die übergreifende Standardisierung dieser Daten, die auch die Integration von Sammlungsnachweisen beispielsweise der Postmuseen ermöglichte. Das vorgestellte WADP Numbering System (WNS) von World Association for the Development of Philately (WADP) und Weltpostverein ist immerhin ein sehr begrüßenswerter erster Ansatz. An deren Website www.wnsstamps.ch arbeiten sich nun die Autoren auf und ab und kommen u.a. zu dem Ergebnis, dass die Zahl der dort jeweils pro Jahr registrierten weltweiten Neuausgaben grob ab- und aufgerundet zwischen 5000 und 6500 Briefmarken schwankt. Aus irgendeinem Grund klafft in der Länderliste zwischen Georgia und Ghana, also dort wo man die bundesdeutschen Ausgaben erwartet in der Datenbank eine Lücke. Weshalb die deutschen Marken fehlen und ob noch andere Länder betroffen sind, wird leider nicht erklärt.

Ebenso unklar ist, weshalb ein Großteil des Aufsatzes von einer Liste „Country wise registrations in WNS database“ besteht. Jeder Leser mit Webzugang kann tagesaktuell die Verteilung abrufen und prüfen, ob Frankreich die philatelistische Nationenwertung dieser Datenbank nach wie vor vor Japan und den USA anführt. Dass die Tierwelt („fauna“, 6800 Marken) als beliebtestes Motiv bald abgelöst wird, steht nicht zu befürchten. Dazu ist der Abstand zur „Architektur“ (3610) zu groß. Letztere könnte freilich von der Flora (3490) überflügelt werden.

Wie die Kategorien voneinander abgegrenzt werden und auf welcher Grundlage die kategoriale Zuordnung der Einträge erfolgt, wäre da aus bibliothekswissenschaftlicher bzw. klassifikationstheoretischer Sicht hochinteressant gewesen. Denn nicht immer scheinen die Zuordnungen gut zu passen. So ist beispielsweise die Ausgabe „250 Jahre Zahlenlotto“ der Österreichischen Post dem Themenfeld „Economy & Industry (Banking & Currency)“ zugeordnet. Das stimmt schon irgendwie, überzeugt aber dennoch nicht auf ganzer Linie. Die Deutsche Nationalbibliothek führt Lottoliteratur nämlich fast stimmiger in der Sachgruppe 793 Spiel. Das deckt sich dann wieder halbwegs mit der Ausgabe „25 Jahre 6 aus 49“ der Österreichischen Post, die sowohl bei Economy & Industry wie auch Games & Toys einsortiert wurde. Nun will ich nicht über Gebühr pingelig sein, denn die Regelausgabe einer Sonderbriefmarke lässt sich relativ eindeutig einer Sachkategorie zuordnen. Daher funktioniert die Datenbank auch für den Alltagsgebrauch recht zufriedenstellend. (Andererseits finden sich in der Masse doch allerlei Zweifelsfälle, für die auch andere Zuordnungen denkbar wären.)

Mein Kummer mit dem Text liegt vielmehr hier: Wenn man nämlich einen Aufsatz in einer Art wissenschaftlichen Zeitschrift zum Thema Digitale Philatelie publiziert, könnte man durchaus auch mal über eine blanke Deskription einer Datenbank hinausgehen. Für mich zählt zu diesem Thema eine ganz andere Bandbreite, die von Weblogs zum Thema, der Kommunikation zu philatelistischen Fragen in Sozialen Netzwerken und anderen digitalen Plattformen bis hin zu aufbereitenden Sammlungsdarstellungen einzelner Institutionen reicht. Auch die Europeana weist einen Bestand von entsprechenden Digitalisaten nach: http://europeana.org/portal/search.html?query=philatelic.

Der Erkenntniswert des vorliegenden Aufsatzes lässt sich dagegen auf das Vermelden der Existenz der WNS-Datenbank mit dem Ziel eines einheitlichen globalen Nachweissystems für neuere Ausgaben (der Bestand reicht derzeit nur bis 2002 zurück) eingrenzen. Diese behandelt Briefmarken vorwiegend als Publikationen, die es anzuzeigen gilt. So bleiben die eigentlich spannenden Fragestellung der Konservierung und Digitalisierung von konkreten Objekten und Sammlungen, der Entwicklung philatelistischer Normdaten und ihr Austausch oder eben auch die Rolle von Briefmarken als Dokument des kulturellen Erbes und damit Sammlungsgutes mehr als unterbelichtet. Bei allem Enthusiasmus, den man den Autoren gern gönnt. Solche Sätze im Fazit:

„The nature of philately is undergoing its most dramatic change in history. This new electronic world is making philately more exciting and enjoyable than ever before!”

zeigen einerseits, wie wenig Anschluss die Autoren an die Welt der Philatelie haben (in der z.B. die Einführung personalisierter Briefmarken und jeder Wechsel im Druckverfahren als dramatischstes Verwerfung der Philateliegeschichte gelten) und andererseits, dass ihr Text vielleicht doch mehr in den Briefmarkenspiegel oder das Stamp Magazine gehört als in eine bibliothekarische Fachpublikation.

05.04.2012

Eine kurze Anmerkung zum Password-Pushdienst vom 3. April bzw. zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte by Ben on 5. April 2012

von Ben Kaden

Willi Bredemeier ging im Password-Pushdienst vom 03.04.2012 kurz auf meinen Text zu Düsseldorfer Runde über die Zukunft der Informationswissenschaft ein und eigentlich wollte ich ihm dort mit einem Kommentar antworten. Da das Captcha der dortigen Kommentar-Funktion jedoch nicht lesbar ist, erscheint er hier. Und weil es ein Kommentar ist auch in übersichtlicher Länge.

„Wer ein Abstraktionsniveau oberhalb aller konkreten Ereignisse, Player, Autoren, Veröffentlichungen und Einrichtungen wählt, nimmt in Kauf, dass er mit seinen Überlegungen letztlich unbeachtet bleibt und keine wissenschaftlichen noch weitere Wirkungen entfaltet. Hier war Ben Kaden mit seiner Einschätzung der Hildesheimer ISI-Konferenz, die später mit einer Einzelkritik an den Beiträgen auf dieser Tagung bestätigt werden sollte, schon mal weiter.“ – Willi Bredemeier, Password-Pushdienst, 03.04.2012

Oder, so suggeriert es die Formulierung „höheres Abstraktionsniveau“, tiefer. Aber eigentlich meint Willi Bredemeier vermutlich, ich wäre schon einmal mehr auf ihrer Linie gewesen. Ich denke, es sollte nicht darum gehen, Beiträge gegeneinander auszuspielen oder zu gewichten. Die beiden Texte haben gänzlich unterschiedliche Ausrichtungen.

Während der kurze Hildesheim-Text tatsächlich einen wahrgenommenen Mangel benannte (gemeint ist wohl diese Passage:

„Bemerkenswert an der Hildesheimer Veranstaltung war, dass sie ungeachtet des wohlklingenden, sehr programmatischen Mottos „Information und Wissen: global, sozial und frei?“ Willi Bredemeiers Vorwurf an die Informationswissenschaft, sie sei kleinteilig, selbstbezüglich und nach Außen kaum relevant, zu weiten Teilen zu bestätigen schien. Eine Metadiskussion fand jedenfalls auch dort kaum statt.“)

wollte ich für die Düsseldorfer Diskussion eine weiterreichende Perspektive eröffnen. Ich näherte mich dort und nähere mich allgemein gern der Bibliotheks- und Informationswissenschaft tatsächlich mehr aus der Warte einer akademischen und weitgehend theoretischen Wissenschaft an. Die skizzierte Idee entspringt diesem Hintergrund.

Möglicherweise glitt ich für die Düsseldorfer Runde damit ein wenig ins Abseits. Es nagt sehr an mir, nicht dort gewesen zu sein. Denn in einer Auseinandersetzung mit der Position Stefan Gradmanns:

„Informationswissenschaft müsse innerhalb des Begriffes Web Science neu definiert werden. Es gehe nicht darum, möglichst viele Informationen zu akkumulieren, sondern sie so darzustellen, dass daraus Wissen wird. Die Informationswissenschaft brauche ein anderes semiologisches Fundament, so Stefan Gradmann.“

hätte ich meinen Standpunkt vielleicht doch schärfer konturieren können. Wo mir Web Science als Alternativbenennung vergleichsweise nichtssagend und daher überflüssig erscheint, bin ich in der semiologischen Frage sehr bei ihm, würde aber, wie beschrieben, die handelnden Akteure und die Zeichen auf der selben Gegenstandsebene verorten – möglicherweise auch, um das sumpfige und wuchernde Gebiet der Semantik (des Semantic Web) über diesen Umweg etwas einzuhegen.

Die Gemeinsamkeit zwischen der Position Willi Bredemeiers und meiner ist mittlerweile eindeutig benannt: Die Konzentration auf den Menschen, also den konkreten Akteur und sein kommunikatives Handeln. Das schlägt sich m.E. (vgl. dazu die umfängliche Diskussion mit Karsten Schuldt in diesem Weblog) in besonderer Form, z.B. in Publikationen, nieder. Für deren Analyse verfügen wir traditionell über ein recht weit entwickeltes methodologisches Fundament. Allerdings gilt es, dies anzupassen und gezielt zu erweitern.

Das Ziel kann meiner Ansicht nicht mehr die Optimierung von Informationsflüssen an sich sein. Es muss vielmehr in der Gestaltungen von Kommunikation (daher auch meine Betonung des Diskursiven) liegen. Information ist dabei nur ein Mittel zum Zweck. Die großen aktuellen Dominanten im Web (Google, Facebook, z.T. Amazon) zeigen uns deutlich auf, wie diese Schwerpunktverschiebung von der reinen Vermittlung zur möglichst weitreichenden Lenkung aussieht.

Die deutsche (und wahrscheinlich auch die europäische) Bibliotheks- und Informationswissenschaft wird solche Angebote angesichts ihrer Ressourcen nicht entwickeln. Sie kann aber eine analysierende und reflektierende Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen vornehmen. Der Unterschied von mir zu großen Teilen des – sicher auch durch die Strukturen der Wissenschaftslandschaft darauf ziemlich festgenagelten – bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Establishments liegt darin, dass es mir nicht darum geht, Produkte, Dienstleistungen und Projekte zu entwickeln, sondern tatsächlich fast ausschließlich um die Reflexion und Analyse von Entwicklungen, die das informationelle und kommunikative Verhalten der Menschen beeinflussen, prägen und kontrollieren.

Wenn das Fach versteht, was geschieht, kann es selbstverständlich anderen, stärker produkt- und dienstleistungsorientierten Institutionen in diesem Bereich (z.B. Bibliotheken) Hinweise, Orientierung und Handlungsmodelle geben. Sowie parallel eine Transferleistung der Öffentlichkeit gegenüber erbringen, die sachlich fundiert erläutert, welche Bedingungen und Folgen den Phänomenen digital organisierter sozialer Welten innewohnen.

Die Pragmatischen Netze und ihre Gesellschaft. Zur Debatte um die Rolle des Diskurses in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 2. April 2012

von Ben Kaden

Dieser Beitrag ist Teil einer Debatte, die bisher veröffentlicht geführt wurde in:

Karsten Schuldt: Wer vom Diskurs redet, redet immer auch von der Gesellschaft. Eine Erwiderung. In: LIBREAS Weblog, 31.03.2012

Ben Kaden: Einladung zur Behauptung: Das Metadatum ist auch Diskurs. Eine Replik auf Karsten Schuldt. In: LIBREAS Weblog, 29.03.2012.

Karsten Schuldt: Der Diskurs ist kein Metadatum. Eine Replik zu Ben Kaden. In: LIBREAS Weblog, 29.03.2012.

Ben Kaden: Zur Diskursänderung. Eine Position zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft. In: LIBREAS Weblog, 21.03.2012.


Es wird argumentiert, dass die Diskussion nach wie vor missverständlich verläuft. Dabei wird das Ziel der Verständigung als Kernbaustein des Diskurses unterstrichen. Um diese herbeizuführen, werden einige Gesichtspunkte der Position für die Einbeziehung diskursanalytischer Blickwinkel in das Methodenspektrum der Bibliotheks- und Informationswissenschaft konkretisiert. Weiterhin steht der Vorschlag, die methodologische Diskussion und die Debatte um die Grundausrichtung des Faches in zwei verschiedene Diskursstränge aufzugliedern.

Erst ein Impuls, dann eine Replik, dann eine Replik zur Replik, auf die eine Erwiderung und jetzt gibt es noch einmal eine Entgegnung – so sieht ein lebendiger Diskurs aus.

Ob der Kreisel eines solchen Zweiparteiengesprächs allerdings ab einer bestimmten Stufe noch fruchtbar zu nennen ist, muss ich in diesem Fall leider bezweifeln.

Insofern stellt sich Karsten Schuldts Einleitung als tatsächliche und leider auch hauptsächliche Gemeinsamkeit dar:

 Ich spreche wohl für uns beide, wenn ich dazu auffordere, dass sich auch andere an der Debatte beteiligen. Dies ist kein Privatstreit, sondern ein Versuch, sich dem (möglichen) Inhalt und der (möglichen) Arbeitsweise der Bibliothek- und Informationswissenschaft anzunähern.“

Abgesehen davon lässt mich seine Erwiderung so unzufrieden zurück, wie das meistens der Fall ist, wenn sich ein chronisches Missverstehen zu etablieren scheint.

„Mir scheint allerdings in dieser Replik, dass ein wichtiger Hauptpunkt meines Beitrages nicht klar geworden ist, den ich deshalb hier noch einmal ausführen möchte […]“

schreibt mein Kontrahent und ich kann ihn in gleicher Formulierung als Einstieg verwenden. Denn der Kernpunkt meiner Argumentation, der semiotische Horizont in dem sich Form, Bedeutung und Handeln bündeln, bleibt weiterhin zugunsten einer sozialwissenschaftlichen Forcierung, gegen die ich wenig habe, ausgeblendet. Auf das Wenige komme ich gleich zurück.

I – Nichts Neues. Oder: Wie sich verständigen?

Zuvor muss ich zu meiner Verteidigung ein wenig Diskurskritik üben. Denn nicht so sehr der Inhalt, sondern die Form von Karsten Schuldts Argumentation widerstrebt mir doch sehr.

Zunächst enttäuscht mich Karsten Schuldt mit dem Vorwurf mangelnder Neuheit:

„Kaden schlägt nun explizit vor, Dokumente und deren Metadaten explizit als Teil von Diskursanalysen zu verstehen und zu benutzen. Das ist vollkommen berechtigt. Es ist nur wenig neu.“

Einerseits, weil ich nicht sehe, dass die Diskursanalyse in der Geschichte der deutschen Bibliotheks- und Informationswissenschaft bisher eine relevante Rolle spielte.

Wenn Karsten Schuldt sich während seines Studiums am Berliner Institut durch entsprechende Methodenvorlesungen durcharbeiten durfte, dann beneide ich ihn außerordentlich. Ich habe aber bisher die führenden Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerinnen der Bundesrepublik Deutschland zwar auf eine ganze Reihe von Akteuren – von Claude Shannon über Clifford Geertz bis Robert Musil und Niklas Luhmann – anspielen hören. Das einzige Mal, dass mir Michel Foucault aber als Referenz begegnete, war in einer Veranstaltung zum Bibliotheksrecht und ich ärgere mich heute noch mehr als damals, dass ich mir nicht merkte, weshalb auf einmal der Lektüretipp Surveiller et punir in den Seminarraum drang. Um die diskursanalytische Auswertung entsprechender kommunikativer Repräsentationen (Dokumente, Metadaten, Metadatenstrukturen) ging es dabei jedoch nicht.

Insofern mag in Karsten Schuldts akademischen Umfeld die Diskursanalyse anhand solcher Datenstrukturen ein alter Hut sein. In meiner Erfahrung mit der Bibliotheks- und Informationswissenschaft erscheint sie noch nicht mal als Häubchen vorhanden.

Andererseits ist der Abqualifizierung eines Argumentes mit dem Gegenargument, es sei wenig originell, Teil einer beliebten und leicht durchschaubaren rhetorischen Strategie, die Novität über Reflexion postiert um die eigene Position mittels Abwertung der des Gegenübers zu stärken. Generelle Neuigkeit ist natürlich genau einer dieser idealtypischen Ansprüche der Wissenschaftskommunikation die im Prinzip und gerade in argumentativen Fächern unhaltbar sind und die Karsten Schuldt mit der Möglichkeit von Diskursregeln eigentlich verwirft.

Nun fordert er mich im Gegenzug in seiner Diskurspraxis an diversen Stellen berechtigt und unberechtigt auf, gerade diesen Regeln Folge zu leisten, da mein Argument sonst nicht zählen kann. Wie er dabei den Geltungsanspruch seiner Argumentation schmälert, scheint ihm nicht bewusst zu sein.

Ich freue mich ja, dass Karsten Schuldt mir klare Aufgaben zuweist:

„ sollte er (a) nicht vom Diskurs reden und (b) begründen, was daran neu und / oder anders wäre“

mir also den „Raum des Sagbaren“ eingrenzt und mir die Richtung meiner Aussagen vorschreibt. Für die Schlüssigkeit seiner Ausführung ist diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit aber nicht unbedingt hilfreich.

Karsten Schuldt manövriert sich meiner Lesart nach pikanterweise in das Fahrwasser des von ihm etwas verzerrten Verständnisses der Diskursethik.

Der geht es im Kern vor allem um eine Frage: Wie miteinander sprechen? Wie können wir uns verständigen? Wenn der eine Diskurspartner das Geschehen aber als Kampfsport begreift und der andere mehr als harmonisierenden Abgleich der Positionen haben wir schon ein fast unüberbrückbare Regeldiskrepanz. Zu den Regeln des seines Vollzugs bewussten Diskurses, wozu für mich der Diskurs in der Wissenschaft zählen sollte, gehört für mich auch die Pflicht des Verstehen-Wollens, also ein gewisses Maß an Affirmation. Aber es ist selbstverständlich Ansichts- und manchmal auch Mentalitätssache, ob man Aussagen mehr hinsichtlich des Trennenden und also der Abweichungen vom Eigenen hin interpretiert oder umgekehrt auf das Verbindende bzw. die Übereinstimmung.   (more…)