LIBREAS.Library Ideas

Der Fall Julien Reitzenstein vs. H-Soz-Kult und die Frage nach der Kritikfähigkeit in der Wissenschaft

Posted in LIBREAS.Debatte by Ben on 24. Februar 2017

Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)

Update 27.02.2017: Im Anschluss an die Veröffentlichung des nachstehenden Beitrags korrespondierte ich ausführlich mit Julien Reitzenstein und erfuhr mehr zu den Hintergründen der Angelegenheit. Grundlegend lässt sich festhalten, dass die Sachlage differenzierter zu betrachten ist, als es zum Beispiel das Echo auf Twitter vermuten lässt. Ich halte es daher aus zwei Gründen, also einerseits der Fairness halber, die allen Positionen Raum zugestehen soll und andererseits, um die Debatte mit aus meiner Sicht notwendigen Zusatzinformationen zu bereichern,  für geboten, meinen Ursprungskommentar mit weiteren Ausführungen zu ergänzen.

In dieser Woche kam eine, glücklicherweise, erstaunliche und aus Sicht der Herausgeberschaft einer Zeitschrift, die auch Rezensionen veröffentlicht äußerst unersprießliche Angelegenheit ans Licht. Auf der zentralen deutschsprachigen Webplattform für die Geschichtswissenschaften, H-Soz-Kult, war 2016 eine Besprechung des Historikers Sören Flachowsky erschienen, der sich mit der Arbeit mit dem Titel Himmlers Forscher : Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS (Paderborn: Schönigh, 2014) des Historikers Julien Reitzenstein auseinandersetzte. Julien Reitzenstein fand am Besprechungstext offenbar einiges unzulänglich. Diese Mängel schienen ihm gravierend genug, um die Ebene des fachlichen Disputs sofort zu verlassen und sowohl den Rezensenten wie auch die Herausgeber von H-Soz-Kult mit einer vom Landgericht Hamburg angesegneten Unterlassungserklärung zu konfrontieren.

Michael Wildt und Rüdiger Hohls haben den Vorgang mit sichtbaren Bemühen um Transparenz auf der Seite beschrieben und betonen, was eigentlich jedem Leser und jeder Leserin der problemlos über die amerikanische Mutterseite noch verfügbare Orginalrezension klar sein dürfte: (more…)

Muss man den Hochschulbibliotheken die Information Literacy entreissen, um sie zu demokratisieren?

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 18. September 2014

Karsten Schuldt

Zu: Withworth, Andrew / Radical Information Literacy: Reclaiming the Political Heart of the IL Movement. – (Chandos Information Professional Series). – Amsterdam et al. : Chandos Publishing, 2014

 

Der Anspruch, den Andrew Withworth in seinem Radical Information Literacy erfüllen möchte, ist die Re-Politisierung der Information Literacy (IL), weg von einem Konzept, welches er als „funktionalistisch“ beschreibt und hin zu einem Konzept von Fähigkeiten, welche die Demokratie unterstützen. Dazu dekonstruiert er das Konzept IL im ersten Teil seines Buches, ausgehend von der Geschichte des Konzeptes und stellt dabei sowohl das verbreitete Verständnis von IL als auch die Verankerung von IL in Hochschulbibliotheken in Frage. Letztlich führt er die geringe Einbindung von Hochschulbibliotheken in die Hochschulbildung auf die Verengungen von IL auf diese Bibliotheken zurück. Im zweiten Teil seines Buches unternimmt er es, IL wieder zu rekonstruieren. Dafür greift er scheinbar vor allem auf Jürgen Habermas und Mikhail Bakhtin zurück, um IL als Teil eines demokratischen Prozesses zu beschreiben und einzufordern; allerdings scheint es sich bei seinen Wahrnehmungen unterschiedlicher Theorien oft mehr um „produktive Missverständnisse“ als um die tatsächliche Nutzung von Theorieelementen zu handeln. Das im Buchtitel angekündigte „Radical“ ist im Ergebnis seiner Studie nicht zu finden.1 Die Stärke des Buches ist eindeutig der erste Teil.

Kritik des Status Quo

Grundsätzlich speist sich die Kritik von Withworth aus zwei Quellen: erstens einem Verständnis von Information als kontextbezogen und zweitens der Geschichte der Debatten um IL. Withworth versteht Information immer als Bestandteil sozialer Kommunikation. Die Idee, dass es Informationen geben würde, die nicht Artefakte solcher Kommunikationsakte wären, lehnt er ab. Information ist für ihn immer in einem Kontext entstanden; abgespeichert als Text oder in anderer Form trägt jede Information ihren Entstehungskontext mit sich und kann auch nur wieder in einem spezifischen sozialen Kontext als Information genutzt werden. Systeme, welche solche Informationen abspeichern und wieder verfügbar machen, reproduzieren diese Verhältnisse, insbesondere die sozialen Hierarchien mit. Radical IL würde helfen, diese Strukturen zu erkennen und ihnen bei der Nutzung von Informationen entgegenzutreten. Aus diesem Grundgedanken leitet Withworth ab, dass die IL, wie sie in den unterschiedlichen Standards – insbesondere der ALA – niedergelegt sind, keine Kompetenz beschreiben, sondern einzig Studierende (eine besondere Gruppe in der Gesellschaft) während ihres Studiums (einer besonderen Situation) bei der Nutzung von Informationsressoucen als Instrument (aber nicht reflektierend, sondern als vorgeblich abgeschlossener Kommunikationsakt und Fakt) unterstützen.2 Diese Standards würden nicht das Ziel haben, Menschen bei dem Verständnis der sozialen Situationen, in denen Informationen entstanden sind oder beim Verständnis des aktuellen Nutzungskontextes unterstützen. Kürzer: Sie wären nicht auf demokratische Werte, sondern auf den Instrumentencharakter von Informationssystemen hin ausgerichtet.

Eine wichtige Erkenntnis, die Whitworth vermittelt, ist die, dass dies nicht so sein müsste, sondern das Ergebnis strategischer Entscheidungen war. Er zeichnet die Entstehung des Konzeptes IL nach, beginnend in den frühen 1970er Jahren, über die Entstehung der ersten Standards der ALA (American Library Association) 1989 und dem weiteren „Besetzen“ der IL durch die Hochschulbibliotheken. Während der 19070er und 1980er Jahre hätte es ein weit grösseres Verständnis von IL gegeben, dass zum Teil gar nicht auf das Lehren von IL, sondern auf die Gestaltung von Informationssystemen gerichtet gewesen wäre. Die einflussreichen – und auch im deutschen Sprachraum in verschiedenen Abwandlungen rezipierten – IL-Standards der ALA seien als Ergebnis des Berichtes A Nation at Risk: The Imperative For Educational Reform als strategisches Dokument entstanden. Dieser Bericht, 1983 erschienen und heute ein Klassiker der bildungspolitischen Texte, stellte das Bildungssystem der USA als grundsätzlich disfunktional und dem Zusammenbruch nahe dar. Es wurden grundlegende Reformen angemahnt und anschliessend zum Teil durchgeführt (die heute allerdings zum Teil wieder als Grund für das schlechte Schulsystem der USA gelten, insbesondere der fast schon fanatische Fokus auf Standards und Schulautonomie). Nicht erwähnt wurden im Bericht Bibliotheken. Diese verstanden sich allerdings als Bildungseinrichtungen (was heute nicht anders ist) und versuchten, angepasst an die aufkommenden Diskurse der späten 1980er Jahre, ein Thema zu besetzen, welches sie als ihr eigenes in die Bildungsdebatten einbringen konnten und wählten die IL, wobei die Hochschulbibliotheken diese Strategie dominierten. Dies, zumindest der Darstellung Whitworths folgend, war der Beginn der Verengung der Debatten darum, was IL sein soll und was sie erreichen soll.

Von Interesse ist dabei gar nicht so sehr die Interpretation, welche Whitworth vorlegt, als vielmehr die notwendige Erinnerung daran, dass die Debatten um IL – mit den gleichen grundlegenden Annahmen darüber, dass „heute“, also Ende der 1970er, die Informationsmenge zu gross sei, um sie eigenständig zu verarbeiten, wie sie im 21. Jahrhundert immer noch angeführt werden – recht alt sind und viele mögliche Entwicklungswege offen gestanden hätten. Die Fokussierung auf Standards, welche ja einen bestimmten Typ von Mensch – zweckrational handelnde Studierende – als Grundlage haben, war nur ein möglicher Weg. Dabei sind, wieder Whitworth folgend, nicht nur mögliche historische Entwicklungen ausgeschlagen, sondern auch eine Diskussion von IL etabliert worden, welche die Bibliotheken (und die Library and Information Science) und deren Sicht auf Informationen in den Mittelpunkt stellt und dabei notwendig andere Einrichtungen marginalisiert – was erklärt, warum eine Kooperation, welche die Bibliotheken immer wieder einfordern, nicht wirklich zustande kommt sowie die tatsächlichen Erfahrungen und Praktiken von Nutzerinnen und Nutzern kaum wahrnehmen kann – würden diese als soziale Prozesse wahrgenommen, müssten die Hochschulbibliotheken ihre Deutungshoheit über Informationsnutzung und IL aufgeben.

„[This situation has] created a gap between the idealised, theoretical information user – an individual aware of their information needs and face to make judgements from the full range of information sources – and real information practices undertaken by individuals (subject to anxiety, pressures of time, cognitive authorities, and other psychological effects), within communities and information landscapes that may help or hinder their experience of variation in different ways.” (Whitworth 2014, 84)

Demgegenüber würde fast die gesamte Literatur zu IL sich heute damit beschäftigen, die jeweils lokal gültigen Standards in der Praxis umsetzbar zu machen, aber weder über Ziele noch Grenzen von IL diskutieren noch über eine theoretische Fundierung nachdenken.

radicalinformationliteracy

Wenig überzeugende Neufassung von IL

Dieses Nachdenken von Whitworth über die Realität von IL ist erfrischend kenntnisreich, kritisch und polemisch. Grundsätzlich führt er die Debatte an einem Punkt, an dem man ihm entweder vollständig widersprechen – aber dann hinzunehmen hat, dass sich die Situation wohl nie ändern wird, weil IL in einer gewissen „Praxis-Sackgasse“ feststeckt – oder aber eine grundlegende Trennung von Hochschulbibliotheken und IL-Debatten anstreben muss, um weitere Ziele in die Debatten einzubringen, die im Laufe der Zeit „vergessen“ wurden.

Der zweite Teil des Buches hingegen, in dem Whitworth versucht, auf der Basis von Versatzstücken verschiedener Theorien eine solche neue Debatte zu IL anzustossen, in welcher andere Ziele gesetzt und ein weitergehendes Verständnis von IL als sozialer Prozess angestrebt wird, fällt weit hinter diesen Anspruch zurück. Über weite Stelle liesst sich dieser Teil, als hätte Whitworth eine Vorstellung von IL, die er zu untermauern versucht, indem er die Theoriegeschichte plündert. Dies führt aber nicht weit. Grundsätzlich fordert er, dass die Kontextgebundenheit von Information als Ergebnis sozialer Prozesse zum Teil von IL wird.3 Wer informationskompetent ist, sollte nach Whitworth diese Kontexte erkennen, interpretieren und neu verwenden können. Autorität und Artefakte sozialer Kommunikation (d.i. Texte, Dokumente, Daten etc.) sollten hinterfragt, ihre impliziten Voraussetzungen identifiziert und gleichzeitig neu Information geschaffen werden können. Oder anders: Nicht (nur) Texte gefunden, sondern diese auch kontextualisiert und für neue Texte verwendet werden können. Zu erreichen sei das vor allem durch Gegenhegemonien. Den Begriff Hegemonie borgt sich Whitworth von Antonio Gramsci – allerdings ohne die auf eine marxistische Revolution zeigende Zielrichtung bei Gramsci zu beachten – und entwirft ein Programm von IL, welche die demokratische Bildung zum Ziel hat. Wer informationskompetent ist, sollte die Gesellschaft mitbestimmen können (und nicht nur das Studium abschliessen).

Das ist kein neuer Entwurf. Vor dem Hintergrund der politischen Geschichte der letzten Jahrzehnte liesst sich der Entwurf von Whitworth – der allerdings keine Kenntnis von den Debatten in den deutschsprachigen Gesellschaften zu haben scheint – wie ein Manifest zur Gegenöffentlichkeit, wie sie die taz oder verschiedene Blogprojekte darstellen wollen; nur auf der Ebene persönlicher Kompetenzen eine möglichst breiten Masse von Menschen im Bezug auf Informationen. Dies mag eine sinnvolle Haltung sein, aber es ist keine – wie im Titel seines Buches angekündigte – radikale Haltung, auch wenn er im Laufe des Textes beständig marxistische Denker anführt. Wäre der Begriff nicht so negativ belegt, könnte man Whitworths Vorstellungen von IL gut als „reformistisch“ beschreiben. Gleichwohl lohnt sich das Buch aufgrund der Anregungen im ersten Teil. Gewiss lassen sich aus den Hinweisen dieses Teils auch andere, bessere abgesicherte Forderungen und Debattenanlässe generieren, als dies Whitworth im zweiten Teil selber tut.

 

Fussnoten

1 Vielmehr geht er dem aus dem Weg, in dem er – ebenso produktiv – die Frankfurter Schule vor Habermas und zugleich Michel Foucault uminterpretiert und nicht etwas aus beiden radikale Einsichten oder Forderungen zieht. Vielmehr bewegt er sich in seinem Denken in einer affirmativen Haltung zur existierenden Gesellschaft, was zum Beispiel dazu führt, dass er der Frankfurter Schule vorwirft, einfach gar keine Lösung anzubieten, anstatt ernstnehmen, dass es in deren Diskussionen immer auch um die radikale Überwindung der aktuellen Gesellschaft geht. Ebenso reduziert er Bakhtin auf eine Kommunikationstheorie und umgeht dessen marxistischen Hintergrund. Es ist recht erstaunlich, wie sehr Whitworth Radikalität in Anspruch nimmt, aber gleichzeitig nicht in sein Denken integriert. Er scheint zwar die Radikalität als Anspruch zu geniessen, aber ansonsten zwar grundlegend demokratisch, aber auch unradikal zu denken – was vor allem deshalb irritiert, da er beständig von Radikalität spricht.

2 Er insistiert darauf, dass dies grundlegend auch für weitere IL-Standards, insbesondere für Schulen gilt, die darauf abzielen würden, Schülerinnen und Schüler früh diese Fähigkeiten zu vermitteln, die sie eigentlich nur im Studium benötigen würden.

3 Womit er, meiner Meinung nach, vollkommen Recht hat.

Neues von der Digitalkritik. Zu einem aktuellen Text Evgeny Morozovs.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 2. Mai 2014

Eine Notiz von Ben Kaden / @bkaden.

 Das BOOKFORUM ist eine dieser Zeitschriften, die regelmäßig auf einem hohen Niveau genau den Kulturjournalismus publizieren, den man sich vom Zeitungsfeuilleton wünschen würde. Allerdings muss dieses täglich liefern, während das BOOKFORUM zweimonatlich in die Verkaufsregale gelangt, dafür dann aber weniger kostet als eine Woche Tagespresse.

Beiträge wie die dahingeschnurrte Ode auf das E-Book des Informatikers John Hennessy, welche die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus einem unerfindlichen Grund in ihrer Reihe über die Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Geisteswissenschaften (vgl. dazu auch LIBREAS.Weblog vom 12.03.2014) eingeordnet hat und daher auch in der Wissenschaftsbeilage am Mittwoch druckte, fänden da sicher keinen Platz. Was, bitteschön, haben diese beiden zweifellos fantastischen kalifornischen Life-Hacks mit der Digitalisierung der Geisteswissenschaften zu tun:

„Die große Schrift auf meinem E-Reader bietet den Vorteil, dass ich auf dem Crosstrainer lesen kann und am Ende den Eindruck habe, die halbe Stunde sei schneller vergangen und noch sinnvoller genutzt. Und beim gedimmten Schein eines Lesegeräts um zwei Uhr nachts wecke ich meine Frau nicht auf, was bei der offenbar altersbedingt zunehmenden Schlaflosigkeit ein enormer Vorteil ist.“

Dass die Sacherschließung der FAZ aus der ziemlichen trivialen Sonnenscheinlektüre extrahiert:

„Themen zu diesem Beitrag: George Washington | Nelson Mandela | Steve Jobs  | Studenten“

von denen drei Themen (Namen) auf Bücher, die John Hennessy gerade las, verweisen und nichts mit dem Artikel sonst zu tun haben und die Studenten nur als Zielgruppe auftauchen, vor denen der Informatikprofessor seine Leseerlebnisse gern präsentiert, ist eher ein Beispiel für die Grenzen digitaler Inhaltsverarbeitung. Allerdings ist eindeutig, dass die Themenzuschreibung gar nicht dokumentarischen Zwecken dient, also der Orientierung von Leser und Nutzer, sondern der Suchmaschinenoptimierung.

Dennoch: Weder einen Geistes- noch einen Dokumentationswissenschaftler (und nicht einmal einen SEO-Experten) versetzen solche halbhoch in den Diskurs durchgeschossenen Textphänomene anders als verärgert, jedenfalls wenn derartige Artikel mit dem Anspruch in die Welt gesetzt werden, etwas Reflektiertes über die Gegenwart darzustellen.

Selbstverständlich finden sich in den Ausgaben des BOOKFORUMs genauso zahllose Aspekte, mit denen man nicht blindlings mitgehen möchte, allerdings meistens doch auf handwerklich deutlich höherem Niveau und daher ganz anders anschlussfähig an den Diskurs, den man führen möchte und um den es ja eigentlich in derartigen Medien gehen soll.

In der aktuellen Ausgabe bespricht nun der mit seinen Thesen nicht immer ganz unumstrittene Evgeny Morozov das Buch The People’s Platform: Taking Back Power and Culture in the Digital Age der Kanadierin Astra Taylor, die vor einigen Jahren mit ihrem Dokumentarfilm Zizek! bekannt wurde und die uns im Vorwort noch einmal an eine zentrale Erkenntnis der Ernüchterung erinnert, welche sich spätestens vor einer Dekade und allerspätestens mit dem reifenden Web 2.0 durchsetzte :

“In some crucial respects the standard assumptions about the Internet’s inevitable effects have misled us. New technologies have undoubtebly removed barriers to entry, yet, […] cultural democracy remains elusive. While it’s true that anyone with an Internet connection can speak online, that doesn’t mean our megaphones blast out our messages at the same volume. Online some speak louder than others. There are the followed and the followers. As should be obvious to anyone with an e-mail account, the Internet, though open to all, is hardly an egalitarian or noncommercial paradise, even if you bracket all the porn and shopping sites.” (Taylor, 2014)

In seiner Review zum Buch, die angesichts dessen, das ihm, wie die Textstelle andeutet, ein eher zahmes Stück Rotwild vor die kritische Flinte geführt wird, recht milde ausfällt (“why set the bar so low?“), vermerkt Morozov an einer Stelle einen Bezug zu Bibliotheken und der soll hier, wenn er beim close reading schon auffiel, dokumentiert werden.

Auf die, besonders aus europäischer Sicht, sehr berechtigte Frage, warum es keine (zu Google) alternative, nicht-kommerzielle und also auf das Geschäftsmodell Werbung setzende Suchmaschine gibt, die in nennenswerten Umfang genutzt wird, (denn selbstverständlich gibt es nach wie vor Alternativsuchmaschinen, wobei beispielsweise die durchaus etwas verbreitet zu nennende holländische www.ixquick.com ja auch Werbeanzeigen in die Ergebnislisten integriert, wo es nur geht) antwortet Astra Taylor offenbar: weil die Debatte um das Digitale von Menschen dominiert wird, die sowohl als Person wie auch in ihrer Vorstellungskraft beschränkt erscheinen.

Evgeny Morozov - Public Libraries

In Ermangelung einer besseren Abbildung hier das Zitat der paraphrasierten Textstelle direkt vom Blatt.

Evgeny Morozov, immerhin mittlerweile selbst ein Großkopfeter der Digitaldebatten, antwortet: Das mag schon sein. Die Ursache liegt aber noch auf einer elementareren Ebene. Die Menschen hungert und dürstet nicht gerade nach Alternativen, so wie es sie, meint Morozov, auch nicht nach öffentlicher Bildung und öffentlichen Bibliotheken hungert und dürstet.

Empirisch wird hier unhaltbar über einen sehr grob gezähnten Kamm geschoren, aber darauf nehmen Digitaldebatten, die rohwollige Argumente lieben und brauchen, bekanntlich eher selten Rücksicht. Der Kern der mehr Ergänzung als Gegenrede ist dennoch zu beachten und passt ein wenig zu dem, was ich vor zwei Wochen hier im LIBREAS-Weblog zum Thema Digital Managerialism zu behandeln versuchte.

Evgeny Morozov richtet seinen Schlaglichtkegel auf das Problem, dass öffentliche Kultureinrichtungen generell geschwächt werden (was oft mit der Begründung / Selbstberuhigung der Entscheidungsträger erfolgt, eine mystische Freeconomy des Internets böte vollumfänglich kostensparendere und zugleich attraktivere Alternativen) und dies bevorzugt unter der direkten Anbindung solcher Institutionen in einen Wettbewerbskontext, der sie kategorial eigentlich gar nicht erfassen sollte.

„Market knows best”, so das Mantra, auf das Morozov verweist und das, so lässt sich ergänzen, trotz allem Long-Tail-Geklapper, bestimmte Nischen dauerhaft vermauert, weil es am Markt trotz allem zumeist am besten über die Marge des schnellen Massendurchsatzes funktioniert. Was langsam in Produktion, Konsumption und Wirkung ist und dazu auch noch viel kostet, bleibt entweder etwas für eine Elite oder verschwindet, wie die Nicht-Flagship-Stores in der Alten Schönhauser Straße, in der offenbar die Lage gar nicht mit eigentlichen Umsätzen sondern nur noch aus dem Werbeetat finanzierbar wird.

Es ist mittlerweile offensichtlich, wie sich dieser neoliberale Schliff der Perspektive (Wachstum, Reichweite, Page-Impressions, Viralisierung) hervorragend mit den immateriellen und dennoch zählbaren digitalen Aktivitäten der Menschen integrieren lässt, zumal die hochdynamische Ressource Aufmerksamkeit sogar noch zuhauf unabschätzbare Emergenzen und damit Chancen (bzw. Business-Opportunities) verspricht.

(Die Modeläden in Berlin-Mitte funktionieren auch häufig mehr als Showroom für einen Online-Shop, über den dann das eigentliche Geschäft gemacht wird, weshalb man auch fast immer gebeten wird, die E-Mail-Adresse für ein „exklusives” Kundenprofil zu hinterlegen (10%-Rabatt, einmal im Jahr als Gegenleistung) – der Konnex wird gleich vor der Haustür sichtbar.)

Morozov ist weitgehend beizupflichten, wenn er betont, dass sich der neoliberale und der Digitalitätsdiskurs überschneiden und gegenseitig verstärken und dass diese Effekte auch auf nicht primär digitale Räume zurückwirken und damit zugleich auf öffentliche Bibliotheken, die sich zwar (wenigstens in Deutschland) dank Onleihe, einer versunkenen Bibliothek-2.0-Partizipations-Schimäre und dem Zeitgeistdiskurs eine Digitalkur verordnet haben, die aber keinesfalls totalisierend auf die Institution wirken muss. Entgegen der landläufigen Einschätzung sind die Menschen in Deutschland nämlich noch gar keine John Hennessys, die ihre Erfüllung darin finden, die tägliche halbe Stunde körperliche Selbstoptimierung auf dem Cross-Trainer dank E-Lektüre „noch sinnvoller” zu nutzen.

Für den Diskurs, sogar für den zu den so genannten Digital Humanities (bzw. digitalisierten Geisteswissenschaften), streut Evgeny Morozov gegen Ende seiner Review noch ein weiteres Körnchen Kritik ein:

„In fact, the presumed theoretical novelty of such terms [er bezieht sich hier konkret auf „digital sharecropping“, das man im WWW als Digitale Naturalpacht übersetzt findet, vgl. auch Carr, 2012] – invariably appended by qualifiers like „digital“ – isn’t genuine. It serves mainly to distract us from more lucid frameworks for understanding how power works today.”

Eine ideale öffentliche, also auf das Phänomen einer aufgeklärten Öffentlichkeit gerichtete (vgl. dazu auch Schulz, 2009, S. 52ff.), Bibliothek würde sich möglicherweise statt dem sanften Mythos der Digitalkultur mehr oder weniger treuherzig hinterherzuwuseln, genau auf diese Frage, nämlich der Möglichkeit eines Durchdringens gegenwärtiger Machtstrukturen und Machtbestrebungen, konzentrieren und ihren Nutzern die Materialien in der Form bereitstellen, die für diesen Blick vor, durch und hinter die Kulissen notwendig ist. Dazu zählen Besprechungen wie die Morozovs und an guten Tagen auch noch die, na ja, Qualitätspresse, also so etwas wie die FAZ. Dazu zählt auch, wie Morozov betont, ein Hinterfragen der Sprache selbst, in die wir den Diskurs einspannen:

“In reframing long-running political debates around impressive-sounding but mostly empty concepts like the „digital“, even those Internet pundits who lean to the left end up promoting extremely depoliticized, neoliberal agendas.”

Wie sehr die von Haus aus sprachsensiblen Geisteswissenschaften und vielleicht darin eingebettet eine entsprechend sprach- und diskurskritisch operierende Bibliothekswissenschaft  hier aktiv werden könnten, bevor sie sich, bisweilen leider förderpolitisch getrieben, oft mehr mit neuen Labeln als mit neuen Paradigmen digitalkulturell metamorphisieren, muss eigentlich nicht weiter erklärt werden.

Akzeptierte man das prinzipielle Verschränktsein des Digitalen, wie wir es heute kennen, mit dem Neoliberalen, dessen Handlungsmuster bereits länger massiv in die Universitäten dringen, und machte man es selbst stärker zum Gegenstand der Erkenntnisarbeit, ginge damit vielleicht sogar ein tieferes Verständnis auch dafür einher, wie die gegenwärtigen Machtstrukturen Wissenschaft korrumpieren. Ein wenig aufgeklärte Widerborstigkeit (nicht zu verwechseln mit unaufgeklärter pauschaler Ablehnung), im besten Fall hin zu eigenen und selbstbewussten Gestaltungsansprüchen könnte nicht zuletzt Prophylaxe für das sein, was die deutschen Tageszeitungen unter dem Druck der Zeitungskrise (und nicht des Journalismus) schon eine Weile bedroht: die Überoptimierung hin zur Irrelevanz. Für Bibliotheken auf dem Weg zu Digitalen Bibliotheken gilt übrigens und wenig überraschend nach wie vor ganz ähnliches.

Der abschließende Vorwurf Evgeny Morozovs an Astra Taylor lautet, dass sie nicht verstanden hat, dass es in der Digitaldebatte (“digital debate”) nichts zu gewinnen gibt, sondern dass man nur aus ihr aussteigen kann. Was Morozov von jedenfalls mir und vielleicht noch ein paar anderen Teilnehmern des Diskurses unterscheidet, ist, dass ich niemandem Unverständnis unterstellen würde, wohl aber ein diskursethisch fragwürdiges Verhalten, denn die Exit-Option ist in keiner Weise fruchtbar sofern die Rahmenbedingungen des Diskurs intakt sind. Wenn uns digitale Kommunikationsräume trotz aller Defizite etwas gegeben haben, dann genau diese Voice-Optionen. (Zur berühmten Hirschman’schen Dreiheit (Hirschman, 1970) fehlt also nur noch Loyalität, die aber in einem offenen Diskurs unpassend ist, da sie der Kritik im Weg steht.)

Und im Gegensatz zu dem offenbar trotz allem ebenfalls im Wettbewerbs- und Kampfparadigma gefangenen Morozov, der glaubt, dass es um das Gewinnen, Verlieren und das Rechthaben, also um Durchsetzung geht, weiß die Diskursgemeinschaft, in der wir uns als Geistes- und Bibliothekswissenschaftler bewegen sollten, dass das Interessante im Verstehen und Durchschauen der Prozesse zu suchen ist, also dem, was Morozov selbst bezüglich des Machtkomplexes oben anspricht. Die Entscheidungen, die beispielsweise notwendig sind, um eine Erweiterung und Modifikation geisteswissenschaftlicher Standardmethodologien oder bibliothekarische Dienstleistungen mit digitalen Technologien angemessen zu steuern und zu begleiten, sollten wir erst dann treffen, wenn wir beim Verstehen, Durchschauen und – auch das – Überdenken der jeweiligen Handlungsziele ein gewisses bzw. wissenderes Niveau erreicht haben. Am Ende könnte das sogar für die öffentlich finanzierte Wissenschaft und die Bibliotheken auch ökonomisch vorteilhafter sein. Wofür man nicht einmal einen Bezug zur Adolf von Harnacks Nationalökonomie des Geistes herstellen muss (vgl. Umstätter, 2009). Aber natürlich problemlos könnte.

Berlin, 02.05.2014

Quellen

Nicholas Carr (2012) The economics of digital sharecropping. In: roughtype.com, 04.05.2012

John Hennessy (2014) Vorzüge des E-Books: Mit Charles Dickens auf dem Crosstrainer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung / faz.net. 28.04.2014.

Albert O. Hirschman (1970) Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge, MA: Harvard University Press

Ben Kaden (2013) Heute in der FAZ. Jürgen Kaube über Evgeny Morozov. In: LIBREAS.Tumblr, 09.12.2013

Ben Kaden (2014) Am Impuls der Zeit. Hans-Ulrich Gumbrecht ringt in der FAZ um ein Verständnis der digitalisierten Gegenwart. In: LIBREAS. Weblog, 12.03.2014

Ben Kaden (2014) Konzepte des Gegenwartsdiskurses. Heute: Digital Managerialism. In: LIBREAS. Weblog, 18.04.2014

Evgeny Morozov (2014) Chip Democratic. In: Bookforum. VOl. 21, Issue 1. S. 9

Manuela Schulz (2009) Soziale Bibliotheksarbeit : „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen.

Astra Taylor (2014) The People’s Platform: Taking Back Power and Culture in the Digital Age. New York: Metropolitan Books

Walther Umstätter (2009) Bibliothekswissenschaft im Wandel, von den geordneten Büchern zur Wissensorganisation. In: Bibliothek – Forschung und Praxis. Band 33, Heft 3. S. 327-332. DOI: 10.1515/bfup.2009.036,

Anmerkungen zur Information Literacy

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 28. November 2013

Karsten Schuldt

Zu:

  • Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.) (2010) / Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010
  • Accardi, Maria T. (2013) / Feminist Pedagogy : for Library Instruction. Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013
  • Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.) (2013) / Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013

Information Literacy scheint in den englischsprachigen Bibliothekswesen1 keinen ganz so grossen Platz einzunehmen, wie es in den deutschsprachigen Bibliothekswesen die Informationskompetenz tut. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, erscheinen in einiger Regelmässigkeit im englischsprachigen Bibliothekswesen Beiträge, die sich kritisch mit Information Literacy auseinandersetzen. Diese Literatur wird in den deutschsprachigen Bibliothekswesen bislang ebenso selten wahrgenommen wie die restliche Literatur zu Information Literacy. Dies ist zu bedauern, da sie einen tiefen Einblick in tatsächliche Praxis der Information Literacy Instruction und das Unwohlsein mit dieser bei einer relevanten Anzahl von aktiven Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sowie Forschenden erlaubt. Dabei lehnt kaum einer dieser Beiträge die Idee ab, dass Menschen besser mit Information umgehen können sollten. Sie stellen allerdings tiefgreifende Fragen an die Konzepte und impliziten Annahmen um Information Literacy, welche dazu beitragen können, über dieser Praxis nachzudenken und sie besser zu gestalten, wobei eine Diskussion notwendig wird, was „besser“ eigentlich heissen soll. Auffällig ist an diesen Texten, dass sie sich zumeist sehr klar daran orientieren, die Arbeit von Bibliotheken für die Nutzerinnen und Nutzer so zu gestalten, dass diese am Ende sinnvoll mit Informationen umgehen können, gleichzeitig aber immer wieder Zweifel daran äussern, ob Information Literacy – insbesondere in der Form von definierten Standards – der richtige Weg ist. Zudem beschreiben sie bibliothekarische Arbeit beständig als Arbeit, welche dem sozialen Gegebenheiten nicht entkommen und deshalb, gewollt oder nicht, immer auch politisch ist.

Für alle, die ihre Arbeit im Bezug auf Information Literacy oder Informationskompetenz nicht als reine Werbemassnahme verstehen, kann diese Literatur vor allem Irritationen auslösen, die dazu beitragen kann, die eigene Haltung zu diesen Themen klarer zu fassen. Sicherlich muss man sich dazu darauf einlassen, die eigene Haltung zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, auch muss man damit umgehen, dass sich diese kritische Literatur nicht auf ein Thema oder eine Aussage reduzieren lässt, sondern selber widersprüchlich ist. Aber das ist die Aufgabe solcher Literatur und, selbst wenn man am Ende jeden Punkt der vorgebrachten Kritiken ablehnen sollte, die beste Möglichkeit, mehr über die bibliothekarische Praxis nachzudenken und sie sinnvoll zu gestalten.

Die drei hier besprochenen Werke sind prägnante Beispiele für diesen Trend. Sie sind allesamt im gleichen, für seine kritischen Bücher zur Bibliothekspraxis bekannten, Verlag erschienen. Library Juice Press ist einer der bevorzugten Orte für solche kritischen Interventionen in bibliothekarische Diskurse. Dies führt dazu, dass in diesen Werken sowohl die profundeste als auch die weitgehendste Kritik geäussert wird. Man kann sie als den radikalen Pol dieser kritischen Strömung ansehen. Nicht alle Texte, die sich kritisch zu Praxis um die Information Literacy äussern, gehen so weit, wie die hier besprochenen. Allerdings: Je vehementer der Widerspruch, umso mehr ist aus ihm zu lernen.

criticalinformationliteracy

Critical Pedagogy, Paulo Freire

Insbesondere die beiden Sammlungen Critical Library Instruction : Theories and Methods (Accardi, Drabinskis & Kumbier, 2010) und Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis (Gregory & Higgins, 2013) versammeln Texte, welche sich regelmässig auf Critical Pedagogy berufen, wobei unter dieser eine Anzahl von Ansätzen zusammengefasst wird. Grundsätzlich ist diesen, dass sie eine Pädagogik meinen, welche das Ziel hat, den Lernenden zu helfen, im Lernprozess ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Dieses Bewusstsein soll ihnen ermöglichen, über die Nutzung von Informationen als reine Fakten hinausgehend, mit Informationen kritisch, reflektiert und mit einer umfassenden Analyse umgehen zu können. Es geht den Schreibenden um Empowerment; darum die Lernenden in die Lage zu versetzen, sich selber zu äussern und aktiv zu werden. Viele, aber nicht alle, verstehen Critical Pedagogy als Form, um sozialen Aktivismus zu unterstützen oder auszulösen. Andere stellen die Frage, ob das Publikum, welches Information Literacy Instructions erhält wirklich die Personen sind, welche in sozialem Aktivismus partizipieren werden. Duke, Ward & Burkert (2010) sehen kritisches Bewusstsein beispielsweise als notwendig für ein unterstützendes Arbeiten von Special Needs Teachers in abgelegenen Siedlungen in Alaska – welche sie weiterbilden – an und beschreiben dieses Bewusstsein explizit politisch:

Critical consciousness is characterized by the ability to recognize and take action against the multiple forms of privilege and oppression that contribute to social, political, and economic injustice. […] When the awareness of oppression (i.e., critical consciousness) begins, so, too, begins the struggle for liberation ([Trask, H. (1999). From a native daughter. Colonialism and sovereignty in Hawai’i. (Revised ed.) Honolulu, Hi : University of Hawai’i Press]).“ (Duke, Ward & Burkert, 2010, 115)

Eine Reihe von Autorinnen und Autoren der besprochenen Bücher berichtet über Lernende, die sozial benachteiligten Gruppen angehören. Diese betonen mehrfach, das kritisches Bewusstsein und Information Literacy zusammengehörten.

“Liberatory education practices are closely related to and complementary with the goals of information literacy instruction. Community colleges are committed to fostering critical thinking skills in their students, and both critical pedagogy and information literacy provide methodologies for fabricating that goal.“ (Keer, 2010, 157)

Gleichzeitig erhalten immer noch vor allem Studierende, die, bei aller sozialen Mischung, in den letzten Jahren wieder verstärkt aus den privilegierten gesellschaftlichen Schichten stammen, Information Literacy Instructions. Gleichwohl betonen die Schreibenden, dass auch diese kritisches Bewusstsein benötigen würden, um überhaupt mit wissenschaftlicher Literatur und Informationen umgehen zu können. In gewisser Weise postulieren die Schreibenden, dass ein sinnvoller Umgang mit Informationen erst dann möglich ist, wenn Lernende in der Lage sind, die Produktionsbedingungen dieser Informationen und damit die Gesellschaft inklusive ihre Ambiguitäten zu verstehen. Information Literacy Instructions, welche sich an den gegebenen Standards orientieren, seien dazu nicht in der Lage.

“Students may be unaware of the dialogic quality of the sources they use, but the researchers, theorists, and practitioners who produce them generally are not. A student may view a source as an absolute authority to which they must passively defer, as in the banking model of education, or they may view it as an embodied voice in a conservation, one that occupies a position in space and time and thus a political perspective in relation to real problems in the world. Librarians are not in a position to notice the difference between banking and problem-posing kinds of research if they see themselves merely providing materials to students, delivering items from point A to point B.” (Kopp & Olson-Kopp, 2010, 57)

Das in diesem Absatz angesprochene Gegensatzpaar Banking Model of Education vs. Problem-Posing liegt den meisten dieser Kritiken zugrunde. Es stammt von Bildungspolitiker und -theoretiker Paulo Freire, der in den 1960er und 1970er Jahren mit seiner Arbeit bei Alphabetisierungsprogrammen in Brasilien, später – als Flüchtling nach dem Militärputsch 1964 – unter anderem als Berater in verschiedenen internationalen Organisationen seine Theorie der Critical Pedagogy ausarbeitete. (Freire, 1970)

Grundsätzlich beschreibt Freire die herkömmliche Pädagogik als Banking Model („Bankiersmethode“), bei dem Wissen als Objekt verstanden würde, das zu weiterem Wissen hinzu addiert werden könnte. Die Lernenden würde in diesem System die benötigten Wissensstücke erhalten, speichern und mechanisch anwenden, aber nicht verarbeiten oder verstehen. Diese Methode, die er als Grundlage von Schulen und Hochschulen ansieht, würde die Lernenden dazu erziehen, Wissen als gegeben hinzunehmen und nicht selbstständig zu nutzen. Dem gegenüber stellt er das problembasierte Lernen, bei welchem die Lernenden in einem aktiven Dialog Wissen dadurch erwerben, dass sie es gemeinsam hinterfragen, auf ihre eigene Situation beziehen und dazu ermutigt werden, ihrem eigenen Wissen und ihren eigenen Entscheidungsfähigkeiten zu vertrauen. Freire liess dieses Konzept in den brasilianischen Alphabetisierungskampagnen anwenden. Auf deren Erfahrungen baute er auf, als er in den 1970er Jahren beim World Council of Churches arbeitete. Obgleich er heute in der deutschsprachigen pädagogischen Diskussion kaum mehr rezipiert wird, fungiert er im englischsprachigen pädagogischen Diskussionen weiterhin als Referenz. So auch für einen Grossteil der Autorinnen und Autoren der hier besprochenen Bücher.

Ein Hauptvorwurf vieler Texte an das aktuelle Verständnis von Information Literacy – vor allem niedergelegt in den Information Literacy Competency Standards for Higher Education der Association of College & Research Libraries, welche beständig den Referenzpunkt für weitere Standards und Policies darstellen – ist, dass es letztlich ein Beispiel des Banking Models wäre. Es würde die Prozesse des Umgang mit Informationen auf reine Techniken beschränken und somit Lernende dazu zu erziehen suchen, mechanisch Informationen als Objekte zu verstehen.

Pankl & Coleman (2010) beschreiben beispielsweise eine Situation, in der eine Studierende am letzten Tag vor der Abgabe eines Papers die Bibliothekarin mit der Behauptung angeht, über ihr Thema gäbe es keine Literatur. In folgendem, längeren Abschnitt führen Pankl & Coleman (2010) dieses Denken auf ein falsches Verständnis von Information zurück, welches durch Information Literacy Instructions, die sich auf die Vermittlung von Techniken beschränken, verstärken würde.

“The fundamental problem in such scenario is that the student has failed to properly conceptualize the research process and lacks the cognitive sophistication to articulate and imagine her topic in a manner that is meaningful and dialectical. The hypothetical student truly believes that academic researcher is merely a process of punching some random terms into an electronic apparatus and then receiving, perhaps by the will of God, a magical and sizable list of sources that are all perfectly relevant to what she is writing about (and, ideally, these sources all have titles that closely match her own title). Such situations are attributable to education that is bound and constraint to positivism. Positivism is the belief and practice that valid knowledge is objective, empirical, and static. Unfortunately positivism is the dominant paradigm for most educational efforts in the U.S. and has been since the Enlightenment. Educational systems within the U.S. are committed to marketing knowledge as something outside of the individual, and treat individual’s fundamental character as instrumental rather than imaginative and creative. Such an educational ideology produces agents that are incapable and, for the most part, unwilling to construct their own knowledge – knowledge that might in turn liberate them form the tyranny of facts.

Critical pedagogy attempts to combat the positivistic stranglehold on the educational system. Its fundamental project is to emancipate all people from overt and hidden forms of oppression by denaturalizing dominant ideologies and systems as historically produced human constructs that are far reaching in their impacts and, perhaps more importantly, subject to change.” (Pankl & Coleman, 2010, 3f.)

Battista (2013) postuliert ebenso, dass Information Literacy, die auf Techniken reduziert würde, einen negativen Effekt auf das Lernen und Denken von Studierenden hätte.

“When students see the completion of an assignment as the chief goal of seeking information, they lose the ability to see themselves as participants in public discourse, and they fail to imagine ways that they can grow their information sources to serve them beyond a singular task that occupies them. […]

Because information literacy is a fluid ethic, we must depart from task-driven models of instruction and treat inquiry as a process that hinges on how well we build information networks.” (Battista, 2013, 88)

Während sich zahlreiche Texte auf Paulo Freires Theorien – und einigen Theorien, die Freires Theorie weiterschrieben – stützen, sind die Einschätzungen sehr unterschiedlich. Ein Teil der Schreibenden wirft der Praxis der Information Literacy vor allem vor, die eigenen Versprechen nicht einzuhalten. Diesem Problem sei mit eine Critical Pedagogy, insbesondere dem Problem Based Learning beizukommen. Ein anderer Teil, der grösste, postuliert, dass insbesondere die in der englischsprachigen Welt verbreiteten Standards für Information Literacy hoffnungslos dem Banker Model verhaftet seien. Auch dem sei mit Critical Pedagogy beizukommen, allerdings in andere Weise: Die bisherige Praxis der Information Litercay Instructions und die Zielsetzungen dieser Praxis sollten vollkommen geändert werden. Eine weitere Anzahl von Texten, allerdings die kleinste, geht über diese Kritik hinaus.

Ist die Information Literacy neoliberal?

Information Literacy als Modell stellt, so die weitestgehende Kritik, ein neoliberales Konzept dar. Diese Kritik wird vor allem in Gregory & Higgins (2013) wiederholt geäussert. Neoliberalismus wird dabei definiert als Ideologie, welche die sozialen Verhältnisse als Marktverhältnisse beschreibt, beispielsweise Menschen allein als Trägerinnen und Träger von anrechenbaren Fähigkeiten versteht, welche von diesen in rein rationalen Wegen zur Steigerung der eigenen Marktfähigkeit eingesetzt würden. Grundsätzlich sehe der Neoliberalismus den Marktprozesse als alleinigen Aushandlungsort von gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Prozessen an. Diese Ideologie würde eine Gefahr darstellen für Demokratie, soziale Sicherheit und die staatlichen Funktionen. (Seale, 2013; Enright, 2013; Lilburn, 2013)

Information Literacy, so wie es heute verstanden wird, sei im Zuge der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie entstanden und folge dieser. Dieser zeitliche Zusammenhang sei kein Zufall, vielmehr wäre Information Literacy ein neoliberales Projekt. Die Theorie des Human Capital sei der Information Literacy eingeschrieben. (Seale, 2013) So sei das neoliberale Subjekt – also die einzelne Person, die so reagieren würde, wie sich dies ideologisch vorgestellt wird – immer rational handelnd und auf die eigene Profitmaximierung ausgerichtet. Ebenso würden in den Standards zur Information Literacy Personen verstanden.

“The argument that I wish to finally advance here is not only that the information literate is the neoliberal subject par excellence, but is structured around the notion of human as homo economicus. Indeed, in all of the policy the information literate is always conceptualized as a rational, self-interested individual who can recognize ‘the need for information’ and continually ‘re-evaluates the nature and extent of the information need.’” (Enright, 2013, 32)

Die Standards für Information Literacy würden den Einzelpersonen die alleinige Verantwortung für diese Literacy zuweisen und damit die realen Ungleichheiten überdecken. Die Literacy sei von allen gleich gut zu erwerben und anzuwenden, wenn dies nicht geschieht, sei dies dies Schuld der jeweiligen Individuums.

“The ALA Presidental Commitee’s Final Report [(American Library Association Presidental Committee on Information Literacy (1989). Final report), welcher das aktuelle Verständnis von Information Literacy das erste Mal skizzierte und als Grundlage für die folgenden Policies und Standards gilt] duplicates this [die neoliberalen Vorstellungen der Regierungen Reagan, USA und Thatcher, GB] more and shifts the blame for social and economic inequalities onto the very individuals disempowered by those inequities; if an individual cannot find a well-paying job, it is because she or he has not actively pursued information literacy. The report wholeheartedly rationalizes and supports the adoption of neoliberalism that occurred during the 1980s.” (Seale, 2013, 49)

Diejenigen Texte, welche diese Kritik formulieren, gehen davon aus, dass der Neoliberalismus als Ideologie sich in der Krise befände. In zahlreichen Wissenschaftsfeldern hätten sich kritische Forschungsrichtungen etabliert, welche diese Krise und die Auswirkungen der Ideologie untersuchen würde. In der Library and Information Science, insbesondere im Bezug auf Information Literacy, sei dies nicht der Fall. Zwar würde verstärkt Kritik an der Gesellschaft in seiner ihrer jetzigen Form geübt, aber diese Kritik würde Information Literacy als Konzept nicht tangieren. Vielmehr sei Information Literacy zu einem in sich selbst geschlossenen Diskurssystem geworden, welches Kritik nur noch innerhalb des Systems zulässt, andere Kritik, welche die Grundannahmen nicht teilt, als irrelevant erscheinen lässt.2

“And yet despite the resurgence of critique, most critical research in LIS still tends to stop short at formulating any explicit critique of capitalist social relations thereby deemphasizing the relationship between 21st century librarianship, the expansion of capital and the resultant forms of discipline and control developing from capital’s late modern augmentation. The failure to link LIS with a broader critique of capitalism has resulted in a research program that fails to connect with the real, ‘everyday life’ constraints emerging from the ‘information society’ and driven by capital and its social relations. Sadly, the failure to position LIS within a systematic critique of capitalism also gives rise to an insufficient form of critique that consistently fails to scrutinize the central tenets of LIS practice by dislocating its historical specificity from the socio-economic context in which they are necessarily embedded.” (Enright, 2013, 16)

Der Neomarxismus des Autors ist kaum zu übersehen. In seiner Radikalität weist er aber – selbst dann, wenn der neomarxistische Anteil abgelehnt wird – auf eine wichtige Frage hin, die im Rahmen der Information Literacy nicht gestellt wird: Was für Menschen wollen Bibliotheken mit Information Literacy erziehen und welche Gesellschaft stellen sie sich dabei vor? Information Literacy, dass machen diese kritischen Texte schnell deutlich, ist weder frei von gesellschaftlichen Voraussetzungen noch rein objektiv. Es ist als Diskurs zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden – trotz Vorläufern verorten diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich damit beschäftigen, diesen Beginn zumeist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre – und trägt selbstverständlich die Grundannahmen der damaligen Gesellschaft in sich. Die hier angeführten Texte leiten daraus ab, dass Information Literacy mit den Diskursen der frühen 1990er Jahre verbunden ist. Der Schritt ist dann folgerichtig: Wenn in den frühen 1990er Jahren der Neoliberalismus als Ideologie dominierte und in die Information Literacy Standards und Policies eingeschrieben wurde, gleichzeitig diese Ideologie sich heute praktisch in einer Krise befindet, dann stellt sich die Frage, warum sich die Information Literacy als Diskurs und Praxis nicht auch in der Krise befinden sollte.

“When considering the meaning and purpose of information literacy, librarians must decide on the form of citizenship promoted through their teaching. They must decide whether the citizenship they help to produce is one that works to strengthen and uphold existing social, economic and political structures or whether it is one that dares the question and, if necessary, challenge the ideological foundations on which inequitable or oppressive distributions of social, economic and political power are based.” (Lilburn, 2013, 76)

Die Bücher im Einzelnen

Alle Texte der drei Bücher nehmen Information Literacy ernst als Konzept und als pädagogische Praxis von Bibliotheken. Sie nehmen es so ernst, dass sie ihm immense Wirkmächtigkeit zuschreiben. Niemand von Ihnen würde Information Literacy als Marketingwerkzeug für Bibliotheken verstehen. Allerdings, wie schon angedeutet, in sehr unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Kritiken an diesem Konzept. Einige Texte verwerfen Information Literacy vollständig, andere kritisieren es als ineffizient, unvollständig oder unzureichend, wieder andere kritisieren die Umsetzung der Information Litercay Instructions. Die Kritiken sind nicht deckungsgleich, vielmehr widersprechen sie sich in letzter Konsequenz zum Teil. Dennoch werfen sie immer wieder Fragestellungen im Bezug auf Information Literacy auf, die auffällig selten gestellt werden und plädieren oft dafür, zur Beantwortung dieser Fragen einen Schritt zurückzutreten und das gesamte Konzept samt seiner Zielsetzungen und eingeschriebenen gesellschaftlichen Vorstellungen zu befragen. Zudem eint alle Autorinnen und Autoren ein Bezug zu sozialen Fragen. Die drei Werke werden hier zusammen vorgestellt, weil sie inhaltlich zusammengehören. Gregory & Higgins (2013) verweist explizit auf Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) als Grundlage, Accardi (2013) stammt von einer der Herausgeberinnen des 2010er Werkes und stellt eine Ausarbeitung eines spezifischen Kritikstranges dar. Die drei Werke sollten auch als Zusammenhang begriffen werden.

Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) liest sich dabei als erste Erkundung des Themas. Die Autorinnen und Autoren zeigen sich unzufrieden mit der Praxis der Information Litercay und dem Umgang mit immer wieder auftretenden Problemen, wie den Problemen, Studierende wirklich zu erreichen. Nur wenige wagen sich mit der Kritik weiter vor, ein grosser Teil des Buches besteht aus Praxisberichten. Dennoch zeigt das Werk Tendenzen der Kritik, welche späterhin in Gregory & Higgins (2013) beschritten werden. Dieses bietet sehr weitgehenden Kritiken – bis hin zu solchen, die Information Literacy an sich ablehnen – Platz. Gregory & Higgins (2013) erscheint als das in sich geschlossenste. Es ist auch jenes, welches die meisten Anregungen zur Reflexion bietet. Accardi (2013) hingegen liest sich als Ergänzung des ersten Werkes aus einem speziellen Blickwinkel, dem der feministischen Pädagogik. Neben einer Einführung in dieser Pädagogik versucht sich die Autorin darin, konkrete Hinweise zur Integration der Kritik in die Praxis zu liefern. Das Buch enthält rund 150 Seiten, davon rund 35 alleine für Beispiele von Arbeitsblättern, welche direkt im Information Literacy Instructions eingesetzt werden können. Auffällig ist, dass sich in der Darstellung von Accardi (2013) feministische Kritik wenig von dem unterscheidet, was in den anderen beiden Werken als Critical Pedagogy mit Bezug auf Paulo Freire beschrieben wurde: Einbeziehung der Kontextes, Empowerment und soziale Fragestellungen als Mittel der Pädagogik.

Grundsätzlich ist Gregory & Higgins (2013) als das stärkste der drei Werke bezeichnen. Es ist, wie ebenfalls mehrfach angedeutet, ein Diskussionsbeitrag, welcher dazu führen kann, die bibliothekarische Praxis zu hinterfragen und somit – wenn sie während des Hinterfragens nicht gänzlich verworfen wird – sozial relevanter zu machen. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sich alle drei Werke auf die englischsprachigen Bibliothekswesen beziehen. Eine Übersetzung in den Kontext der deutschsprachigen Bibliothekswesen sollte wenn, dann vorsichtig geschehen. Die Debatten um Informationskompetenz haben sich zwar aus Übersetzungen relevanter Texte aus dem Englischen entwickelt, aber teilweise andere Richtungen genommen. Insoweit muss nicht jede Kritik auf den deutschsprachigen Kontext zutreffen.

Alles in allem ist die Lektüre der drei Werk zu empfehlen. Sie sind erfrischend offen, teilweise jugendlich radikal und zudem denkanregend.

Literatur

Battista, Andrew (2013) / From “A Crusade against Ignorance” to a “Crisis of Authenticity”: Curating Information for a Participatory Democracy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 81-97

Duke, Thomas Scott ; Ward, Jennifer Diane ; Burkert, Jill (2010) / Preparing Critically Consciois, Information Literate Special Educators for Alaska’s Schools. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 115-131

Enright, Nathaniel F. (2013) / The Violence of Information Literacy: Neoliberalism and the Human as Capital. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 15-38

Freire, Paulo (1970) / Pedagogy of the oppressed. New York, NY : Herder and Herder, 1970

Keer, Gretchen (2010) / Critical Pedagogy and Information Literacy in Community Colleges. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 149-159

Kopp, Bryan M. ; Olson-Kopp, Kim (2010) / Depositories of Knowledge : Library Instruction and the development of Critical Consciousness. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 55-67

Lilburn, Jeff (2013) / “You’ve Got to Know and Know Properly”: Citizenship in Kazou Ishiguro’s Never Let Me Go and the Aims of Information Literacy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 63-78

Pankl, Elisabeth ; Coleman, Jason (2010) / “There’s Nothing on my Topic!“ Using the Theories of Oscar Wilde and Henry Giroux to Develop Critical Pedagogy for Library Instruction. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 3-12

Seale, Maura (2013) / The Neoliberal Library. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 39-61

Fussnoten

1 Englischsprachige Bibliothekswesen ist selbstverständlich eine Verkürzung. Gemeint sind englischsprachige Bibliothekswesen des globalen Nordens, die sich in den Diskussionen immer wieder vermischen. Über Bibliothekswesen wie die in Nigeria, Belize oder auch Trinidad and Tobago ist im globalen Norden viel zu wenig bekannt, um solche Aussagen zu machen. Insoweit kann hier „englischsprachige Bibliothekswesen“ gelesen werden als Bibliothekswesen der USA, Grossbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands.

2 Diese Einschätzung erscheint nicht gänzlich unberechtigt. Vor einigen Wochen referierten Juha Kämäräinen und Jarmo Saarti auf der European Conference on Information Literacy (http://www.ecil2013.org/index.php/home) in Istanbul über das Promotionsprojekt von Kämäräinen, welcher die Rhetorik der offiziellen Dokumente zur Information Literacy in Finnland untersuchte. Dabei stellten sie in einen Raum gefüllt mit Personen, die offensichtlich von der Bedeutung von Bibliotheken und Information Literacy überzeugt waren, unter anderem die Frage, was eigentlich wirklich passieren würde, wenn Menschen nicht Information Literate würden. Auch befragt das Promotionsprojekt die Vorstellung, dass Information Literacy ein objektiv richtiges, und eben nicht auch ein durch politische Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen beeinflusstes, Projekt sei. Die Reaktion im Saal war erstaunlich. Den beiden wurde für den Vortrag gedankt, wie allen anderen Vortragenden, und niemand rührte sich, so als ob die Frage nicht relevant wäre. Im letzten, zusammenfassenden Vortrag am Abschluss der gleichen Konferenz stellte Ralph Catts, Erziehungswissenschaftler mit grossem Interesse an Information Literacy, klar dar, dass ein Grossteil der Forschung, die Aktive aus dem Bibliothekswesen zum Thema durchführen und bei der Konferenz präsentierten, wissenschaftlichen Mindeststandards nicht standhält, da sie zum Beispiel kein theoretisches Framework benennen, Forschungsmethoden und erhobene Daten nicht nachvollziehbar darstellen. Angesichts dessen, dass in den drei Tagen zuvor sich diese Aktiven gegenseitig grösstenteils ähnliche Studien vorgestellt hatten, die immer wieder die Bedeutung von Information Literacy und Bibliotheken herausstellten, gleichzeitig immer wieder die mangelnde Information Literacy anderer Personengruppen (Studierende, Dozierende) betonte, war dies ein relevanter Hinweise. Aber auch der wurde einfach übergangen. Beide Hinweise schienen zumindest bei dieser Konferenz von den anderen Teilnehmenden als irrelevant ignoriert zu werden. Tatsächlich erschien es teilweise, als würde Information Literacy als ein Diskurs funktionieren, der sich selber genügt und nicht mehr begründet werden müsste, weshalb auf Kritik, die an den Grundfragen des Diskurses (Ist er wirklich objektiv?, Ist er wirklich begründet?, Ist er wirklich theoretisch abgesichert?) ansetzt, nicht reagiert werden muss oder kann.

Peer Review – eine Entscheidungsfrage für kleine Zeitschriften

Posted in LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 6. Juni 2012

 Von Karsten Schuldt

Motivation (Einleitung)

Innerhalb der LIBREAS-Redaktion wird immer wieder einmal diskutiert, ob und wie wir ein härteres Peer Review Verfahren einführen sollten. Bislang arbeiten wir nach dem Prinzip des Editorial Review. Dass heisst, das wir innerhalb der Redaktion jeweils eine Person bestimmen, welche die Hauptentscheidungen zu einem Artikel trifft und insbesondere dann, wenn dies als notwendig angesehen wird, zuvor mit den Autorinnen und Autoren an einem Artikel arbeitet; nschliessend, wenn der Artikel fertig bearbeitet ist, der restlichen Redaktion eine grundsätzliche Entscheidung zur Publikation mitteilt und die anderen Mitglieder um eine Stellungnahme bittet. Mindestens zwei von uns sollten diese Rückmeldung geben (die wiederum alles sein kann: Annahme, Ablehnung, Vorschläge für Änderungen). Eine letzte Entscheidung über die Publikation oder Nicht-Publikation trifft dann die letzte Redaktionskonferenz vor der Publikation gemeinsam. Ein teilweise aufwendiges Verfahren, aber meines Erachtens ein gutes, da es eher zu besseren Texten führt.

Es gibt Gründe für dieses System. Gleichzeitig jedoch gibt es offenbar Gründe für ein anderes Peer Review Verfahren. (more…)

Nützlichkeit kennt klare Grenzen. Eine Position zu Dissens, Kritik und Wissenschaftsfreiheit (nach Judith Butler)

Posted in LIBREAS preprints by Ben on 14. August 2011

von Ben Kaden

Abstract:

Der Aufsatz untersucht ausgehend von der Argumentation Judith Butlers zur Wissenschaftsautonomie (Butler, 2011) das Konzept der Kritik als möglichen meta-analytischen und meta-methodologischen Grundbaustein von Wissenschaft. Diese Kritik zweiter Ordnung wird dabei nicht nur, Judith Butler folgend, als Option für die Selbstlegitimation von Wissenschaft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ansprüche an eine Nutzbar- und Verwertbarkeit wissenschaftlicher Arbeit angesehen, sondern darüber hinausgehend verstanden als erforderliches Verfahren, aus dem heraus sich Aktualisierungs- und Übersetzungsprozesse inner- und interdisziplinär organisieren lassen.

Freiheit der Wissenschaft wird dabei als Verpflichtung zum Entscheiden verstanden, der nur mit einer elaborierten kritischen Kompetenz entsprochen werden kann. Die Integration dieser Kompetenz erfordert gleichermaßen das Anerkennen der sozialen Dimension von Wissenschaft, das produktive Zulassen von Dissenz und ein Verständnis der Rolle von Kontingenz im Prozess der Erkenntnisproduktion. Der Forderung nach Nützlichkeit wird einerseits die Notwendigkeit der Kontextualisierung (=nützlich für wen in welcher Hinsicht?) und andererseits das Konzept der Möglichkeit als Zweck der Wissenschaft entgegen gestellt.

(Der hier wiedergegebene Text ist die Vorversion eines Beitrags für die kommende Ausgabe (No. 19) der Zeitschrift LIBREAS. Library Ideas. ) (more…)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 2 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by Ben on 8. Juni 2011

Eine der wenigen ungelösten Grundfragen der kommunizierenden Menschheit ist, ob ein Bild wirklich mehr als zahllose Worte zu sagen vermag. Ich bin mir nicht sicher. Denn wie ein noch so locker dahingeworfener Blick auf die Geschichte des schriftsprachlichen Austausches zeigt, dass man sich schneller, als man vielleicht annimmt, um Kopf, Kragen und das eine Kragenstäbchen schreibt, das die Reinigung beim letzten Durchgang nicht einbehielt. Das will natürlich fast niemand und daher ist Kommunikation – wenigstens in unserem Betrachtungsfeld der Bibliotheks- und Informationswissenschaft – auch häufig auf eine Harmonisierung der Stimmungslage ausgerichtet. Wenn dann doch mal gepoltert wird, ist es oft gleich die große Zerspanung, die über die Bretter hobelt.

Generell fehlt aber die Möglichkeit, einen so sportlichen wie kritischen Diskurs zu führen, worauf Willi Bredemeier letztes Jahr in gewisser Weise mit seiner vielleicht einer Nummer zu groß angelegten Kritik der Informationswissenschaft hinwies. Darin, dass sich weite Teile der adressierten Kreise als solchen Offerten zur Diskussion gegenüber perlonifizierte Fachöffentlichkeit erwiesen und über die vielleicht nicht ganz offen hingestreckte Hand aber doch scharf zugespielte Vorlage hinweg sahen, mag eine der Ursachen liegen, warum das Fach momentan in Deutschland doch eher nicht als lebhaftes Geschehen wahrgenommen wird. In Potsdam schließt man die Dokumentationswissenschaft und hat Gründe dafür. Dennoch hätte es unabhängig des Ausgangs eines solchen Verfahrens durchaus für die Vigilanz der Community gesprochen, in breiterer Front öffentlichkeitswirksam Gründe für den Sinn und Zweck und natürlich auch die Unverzichtbarkeit aufzuzählen. Aber vielleicht fällt es schwer, solche zu finden.

Stefan Gradmann bringt dies in seiner Stellungnahme zum Vorgang wahrscheinlich eher unbeabsichtigt auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Dies mag beklagenswert sein – doch müssen wir als Realität akzeptieren, dass Kernbestandteile des Berufsprofils ‚Dokumentation‘ in der öffentlichen Wahrnehmung schlicht nicht mehr existieren und wohl auch nicht so ohne weiteres wiederzubeleben sein werden.“

Die affirmierende Reduktion auf das Klagen verfehlt m.E. aber den Punkt, denn hier geht es zunächst einmal um Rückgrat und Selbstachtung. Gerade unsere Disziplin, die sich mit nichts anderen als einer ordnenden Gestaltung der Repräsentation von Welt beschäftigt, sollte wissen, wie konstruiert und in dem Sinne inakzeptabel die Realität ist. Realität ist ein Prozess, kein Zustand. Die Realität der öffentlichen Wahrnehmung umso mehr.

Natürlich liegt das Kind längst am Grunde des Brunnens und sicher hätte man weitaus eher mit einer aktiven Aktualisierung des disziplinären Zweispänners Bibliotheks- und Informationswissenschaft beginnen müssen. Fraglos hatte das Institut in der Dorotheenstraße 2003 ein Heidenglück, als es sich mehr durch Protest denn durch Profil noch einmal um das herummogeln konnte, was nun die Dokumentationswissenschaft erreichte. Aber man hätte auch ohne in „reflexhaftes Protestgeschrei“ auszubrechen, einen Tick stärker zeigen können und vielleicht auch müssen, dass der durchgezogene Rotstift mehr vernichtet als einen Kostenfaktor. Nämlich ein Potential.

Immerhin stellt Stefan Gradmann mit seiner Position vom Vorgang für die DGI eine Perspektive in Aussicht, die er selbst als Professor an der Humboldt-Universität vorantreiben kann:

„Aussichtsreich ist sie [die Dokumentationswissenschaft] nur als Teil eines neuen Forschungsparadigmas, als Teil der sich gerade formierenden Web-Science. Genau dieser Entwicklung trägt die jüngste Diskussionsrunde der Gruppe RTP Doc in Frankreich unter dem Arbeitstitel „Le Web sous Tension“ Rechnung, in welcher der Prozess der „Redocumentarisation du Monde“ in die Welt des Web der Linked Open Data fortgeschrieben wird.“

Allerdings stört das „nur“ der Formulierung ein wenig. Denn damit wird präskriptiv eine sehr bestimmte Perspektive vorgegeben, die ohne Zweifel sinnvoll und berechtigt ist, zugleich aber möglicherweise ebenfalls sinnvolle und berechtigte weitere Perspektiven, die nicht zwingend an die  RTP Doc-Gruppe anschließen, von vornherein ausgrenzt. Stefan Gradmann forciert völlig nachvollziehbar seinen eigenen Forschungs- und Interessenshintergrund. Da aber gerade seine Ausrichtung auf die französische Fachwelt äußerst speziell ist, wäre nun eine Reaktion aus der Fachwelt zu erwarten, die da lautet: „Gern. Aber über die Details müssen wir noch einmal reden.“ Die Redokumentarisierung der Welt mit dem Anspruch

„traditionelle dokumentarische Erschließungsin[s]trumenten (Thesauri, Klassifikationen, Ontologien) und zielgruppenspezifische Kontextualisierungsansätze mithilfe von SKOS und Methoden der semantischer Verlinkung und der Linked (open) Data neu zu positionieren“

ist eine Perspektive. Ich sehe aber z. B. für die Disziplin noch eine ganz andere Aufgabe. Unter anderem die der Kritik. Wo Stefan Gradmann seine französische RTP Doc-Gruppe heranzieht, erlaube ich mir den Hinweis auf den französischen Soziologen Luc Boltanski, der unter Kritik so etwas versteht, wie die Kompetenz um die in jeweiligen Rechtfertigungsordnungen (z.B. die des hochschulpolitischen oder die eines innerdisziplinären Agenda Settings) anzutreffenden Wertmaßstäbe und Prinzipien hinsichtlich ihrer Anwendung zu prüfen. Vielleicht müssen wir uns zunächst einmal darüber verständigen, ob wir unsere Wissenschaft vorwiegend als cité industrielle, als cité de l’opinion, als cité inspirée oder als cité marchande begreifen. Im Idealfall ist es eine Mischung aus allen vier Elementen und unsere Diskurse zielen darauf ab, das Mischungsverhältnis so auszuhandeln, dass sich eine Balance einstellt. Diskurs ist nach meinem Verständnis ein Mittel der stetigen Legitimationsprüfung (Boltanski: épreuve de justification) von Ansprüchen, zu deren Eigenheiten es zählt, dass sie relational sind und zwar zwischen dem Äußerenden mit seinem Interessenfundament, dem Bezugsraum und dem Empfänger mit dessen Interessen. Eine diskursethische Prämisse ist dabei für mich, dem anderen die Möglichkeit zu geben, sich so zu meiner Äußerung zu positionieren, dass eine Anschlusskommunikation möglich bleibt, also neue Bedeutung entsteht. Man könnte hier das schöne Bild der Semiosis als Erklärungslogik heranziehen. Die Berücksichtigung der pragmatischen Ebene von Kommunikationen, für die sich übrigens auch Stefan Gradmann sehr überzeugend in seinem Eröffnungsvortrag auf der Informare 2011 aussprach, scheint mir für eine zukünftige Forschungsausrichtung der Bibliotheks- und Informationswissenschaft beinahe die bessere, in jedem Fall eine notwendig komplementäre Facette zu semantischer Verlinkung und der Linked Data.

Natürlich sind Bilder von schönen Netzwerken mit tüchtigem Appeal gesegnet und die Visualisierung zum Bibliothekartags-Twitter-Netzwerk erhält an einem Tag mehr Zugriffe und Retweets, als die meisten meiner Texte über ihre Lebenszeit. Aber das Bild selbst sagt selbstverständlich nicht mehr als diese ca. 1000 Worte. Doch es lässt viel mehr offen. Es positioniert sich nicht. Es bleibt deskriptiv. Was ist nun die sinnvolle Perspektive für unsere Wissenschaft: Deskription und/oder (kritische) Reflexion? Bereits übermorgen können wir darüber beim frei<tag> 2011 diskutieren.

raindrops

Raindrops on tables / Discussions on fridays. / Bright copper floor slabs / and memory highways. / Colorful 'mbrellas and summerlike springs / These is some Berlin-full of relevant things.

(bk)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 17 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 24. Mai 2011

In seinem schmalen Bändchen [Gelhard, Andreas / Kritik der Kompetenz. – Zürich : Diaphanes, 2011] zur Kritik der (beruflichen) Kompetenzkonzepte als Nomalisierungs- und Zurichtungstechnik und zum Aufstieg der gleichen Kompetenzkonzepte als Psychotechniken, die „freundlich, aber bestimmt“ zur ständigen Selbstbeobachtung und -regulierung, zum ständigen Vergleich mit anderen und damit auch zum ständigen Abstandnehmen von den Besonderheiten der eigenen Personen anhalten, formuliert Andreas Gelhard seine Haltung vor allem auf der Basis der philosophischen Positionen Kants und Hannah Arendts. Gerade bei Arendt würde das sinnvolle Denken, so Gelhard, als öffentlich verstanden werden – wie es auch Kant forderte –, aber gleichzeitig als einsame Tätigkeit. Wir denken einsam, arbeiten am Schreibtisch, in der Bibliothek, versunken im Lärm der Cafés (um dieses Bild der Avantgarde zwischen Expressionismus und Existenzialismus zu erinnern). Die Bücher, Artikel, Texte, Dokumente und Tabellen entstehen in versunkener Einsamkeit, im besten Fall im legendären Flow; aber sie entstehen für die Öffentlichkeit, für eine öffentliche Prüfung. So die Darstellung bei Gelhard. Arendt würde darauf abheben, das diese Differenz praktisch unüberschreitbar wäre, wenn man den tätig handelnden und damit sich selbst immer wieder neu entwerfenden Menschen als solchen begreifen wollte – was Arendt ja auch tat. (Hierauf hebt auch Ludwig Pongratz im Kontext der Erwachsenenbildung ab, wenn er als „kürzesten Namen“ für Bildung das – von der Buchstabenzahl her selbstverständlich längere – „Unterbrechung“ nennt. [Pongratz., Ludwig A. / Kritische Erwachsenenbildung : Analysen und Anstöße. – Wiesbaden : VS, 2010])

Damit trat Arendt in einen scharfen Gegensatz zur „die Gedanken sind frei“-Behauptung, die sich in der deutschen Geschichte als so bedeutungstragend zeigte (und heute zum Beispiel noch bei Treffen von studentischen Korporationen zum Besten gegeben wird). Die Behauptung, dass sich Gedanken frei entfalten könnten, auch wenn sie nicht ausgesprochen und diskutiert werden können und wenn gleichzeitig alles andere verregelt und doktrinär durchgesetzt sie, die sich in dieser Haltung ausdrücken würde, sei grundfalsch. Denken müsse sich immer wieder äußern und der öffentlichen Prüfung stellen, um als solches überhaupt gelten zu können. Ansonsten bliebe es funktions- und wirkungsloses Wünschen, im besten Falle. Demgegenüber stünde aber das heutige Denken, so Gelhardt weiter, unter der ständigen Anforderung der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, die zudem durch die Psychotechnik der „Kompetenzmessung“ normalisiert würde, indem a.) eine begriffliche Weite, b.) das Versprechen, alles sei lern- aber auch messbar und c.) die Prüfung mittels standardisierter Tests miteinander verbunden würden.

Es geht Gelhardt kaum um die Frage der Einsamkeit selber, obgleich sie eine große Rolle in der Entwicklung des Denkens spielt. Ihm geht es zu Recht darum, im Anschluss an die Forschungen zum Wissen/Macht-Komplex von Foucault, Kompetenz als Machtinstrument, dass nicht unterdrückt, sondern erschafft, zu analysieren. Es ist allerdings auffällig, dass in der Geschichte des Denkens und des Nachdenkens über das Denken die Einsamkeit der Denkenden immer wieder Thema war und wird. Das gilt nicht nur für das wissenschaftliche und kreative Denken, es gilt immer auch für die alltägliche. Das Bild des Zurückfallens in eine meditative Ruhe, der Spaziergang, am besten irgendwo anders, im Wald, am Meer, in anderen Städten ohne persönliche Verpflichtung, oder der Blick über die schlafende Stadt als der Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden, ist beliebtes Stilmittel modernen Erzählens, egal ob im Roman, in der Kurzgeschichte oder dem Film.

Sicherlich ist zu viel und zu große Einsamkeit negativ besetzt. Depression, als willen- und ziellose Einsamkeit ist endlich dabei, als Krankheit anerkannt zu werden. Nicht selbst gewählte soziale Isolation ist in der Sozialforschung ebenso wie in der Sozialen Arbeit zum anerkannten Merkmal von Armut und sozialer Konfliktlage geworden. Fernab von den Vorteilen für das wissenschaftliche Arbeiten gilt als einer der möglichen Vorteile des Internets, dass es die sozialen Kontaktmöglichkeiten erhöht. Wer nicht selber aus der Einsamkeit austreten kann, gilt als bedauernswert, als Person, der geholfen werden muss.

Doch daneben hat sich die Faszination des weiten, möglichst leeren Raumes, seine Bedeutung erhalten. Da, wo nichts ist, wo Leere herrscht, der Raum, das Denken, die Zeit zum Denken und Handeln wenig eingegrenzt ist, wo es einsam ist, da werden immer noch die wichtigsten Denkvorgänge ausgeführt. Dem Kultus des ständigen Prüfens, Messens, Vergleichens steht das untergründige Anschwellen von Praxen, die leere Zeiten, leere Räume, also Einsamkeiten herstellen, gegenüber. Lange ist zum Beispiel bekannt, dass nicht die Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, die sich möglichst vollständig der Zugriffe durch Evaluationen und Messungen unterwerfen, die größte Qualität hervorbringen, sondern die, welche mit diesen Anforderungen so umgehen können, dass sie sich Freiräume schaffen, und sei es unter Vorspiegelung von Tatsachen. Während sich noch die Politik daran abarbeitet, die Welt und die Dinge vollständig vermessbar zu machen und Teil eder Wissenschaft, der Verbände, der Institutionen, der Öffentlichkeit sich dafür einspannen lassen, gibt es feststellbar immer mehr Akzeptanz dafür, dass auch diese Welle des Messens und Vergleichens es nicht geschafft hat, an das Geheimnis des Denkens zu gelangen. Die Hochschulen schaffen sich und ihren Forschenden immer mehr flexible Räume des Denkens, die Bibliotheken immer mehr flexible Räume des Arbeitens, die Stadtplanung schafft wieder mehr öffentliche Plätze oder ermöglicht die Umnutzung ehemals standardisierter und auf eine Aufgabe zugeschnittener Räume. Die Gesellschaft kommt – wieder einmal, muss man nach der Lektüre von Gelhards Bändchen sagen – zurück in die selbst-bestimmt nutzbare Fläche und das selbst-schaffende Denken kommt über Umwege wieder in die Hochschulen und die Forschung. Das ist nicht ungebrochen und wird es auch nie sein.

Aber Flächen und Zeiten der Einsamkeit enthalten heute wieder das Versprechen, sinnvoll durch die Individuen genutzt zu werden, wobei sinnvoll wieder mehr heißt: sinnvoll für die Individuen, die Gesellschaft. Die Idee der ständigen Leistungsbereitschaft als Qualitätsmerkmal erübrigt sich langsam, weil die Gesichter, die wir in den letzten Jahren mit dieser Anforderung verbunden hatten, nach und nach abgehen – seien sie überführte Plagiatoren und Plagiatorinnen, seien sie immer unerfolgreicher um Aufmerksamkeit buhlende Politikerinnen und Politiker, seien es Managerinnen und Manager, Beraterinnen und Berater die zur Karikatur ihrer selbst verkommen zu sein scheinen. Auch hat sich die erzwungene Geselligkeit der letzten Jahre nicht als ewig haltbarer Zustand erwiesen. Weder die Fanmeilen noch die alles umfassenden Strandbars noch die zahllosen Kulturevents und langen Nächte der XZY (Museen, Bibliotheken, Oper und Theater, Wissenschaft, Bücher, Kinos, in Wien letztens sogar der Anarchie) konnten die Gesellschaft zu einem Gemeinsamen formen. Die Gesellschaft, die Menschen, mit all ihren sozialen Gegensätzen wollen immer mehr ihre Ruhe haben und erstaunlicherweise haben sie sich diese in der letzten Zeit auch wieder erkämpft.

Wie werden sie diese Ruhe nutzen? Diese potentielle Einsamkeit? Zukunftsoffen? Senierend? Vergeudend? Von allem etwas – wird wohl die richtige Voraussage sein. Aber das enthält die Möglichkeit, dass Einsamkeit wieder mehr genutzt wird, um zurückzutreten und als Wissenschaft darüber nachzudenken, warum die Dinge sind, wie sie sind, warum sie funktionieren, wie sie funktionieren. Und nicht, wie sie sofort und zugleich zu steuern seien, um die richtigen und vorallem schnell zu überprüfenden und vergleichbaren Ergebnisse zu erhalten.

Es hat seine Zeit gedauert und bedurfte sozialer Auseinandersetzungen, aber heute ist es möglich, im Untergehen des Tageslichtes auf dem ehemaligen Flugplatz in Berlin-Tempelhof Bilder der offenen Einsamkeit zu machen. Nicht immer, den die Einsamkeit, die das Denken bei Arendt – und anderen, zum Beispiel sehr explizit bei de Beauvoir – kennzeichnet, ist hier nicht immer gegebenen. Die Fläche wird benutzt. Die Stadt Berlin hat relativ viel Fläche zur freien Nutzung freigegeben – wenn auch zeitlich begrenzt, im Sommer zum Beispiel nur bis 21.30 Uhr, und der immer wieder vorkommenden Schließung für besondere Veranstaltungen – und es haben sich schon unterschiedliche Nutzungsformen ergeben. Ein Comiczeichner, Plattensammler und Blogger etablierte beispielsweise eine mehr oder minder regelmäßige Swing-Tanzveranstaltung, Cosplayer sollen auch schon bei verabredeten Treffen gesichtet worden sein, ebenso treffen sich auf dem Hunde- und Grillplätzen immer wieder verabredet Gruppen. Gleichzeitig ist der Raum immer noch weit. Wer etwas hinein läuft in das Gelände, kann in Ruhe ins Nichts schauen oder flirten. Selbst erotischen Phantasien sollen in den hohen Gräsern des Flugplatzes schon ausgelebt worden sein. An einer Ecke des Platzes wird übrigens das Social Event (beziehungsweise die Unkonferenz) einen Tag vor dem Bibliothekartag stattfinden, welches im Rahmen des Cycling for Libraries organisiert wird. Also nicht die Unkonferenz, zu der hier heruntergezählt wird, sondern die andere, die aber auch besucht werden sollte. Wer dort genug hat von den Anforderungen des Gemeinsam-seins wird dann aus dem Zelt treten und eine Weile einsam ins Nichts des geschlossenen Flugplatzes laufen können.