Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In den Kindheitserinnerungen von Ljudmila Petruschewskaja.
Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)
Dass erfolgreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Kindheitsbegegungen mit Buch und Bibliothek die Keimzelle ihrer späteren Berufung sehen, ist erfahrungsgemäß eher Regel als Ausnahme. Auch die 1938 geborene russische Autorin Ljudmila Petruschewskaja weicht davon in keiner Weise ab, wie ihre unlängst unter dem Titel The Girl from the Metropol Hotel übersetzten und publizierten Erinnerungen (New York: Penguin, 2017) unterstreichen. Erstaunlich und bestürzend sind jedoch die Umstände. Als Kind so genannter Volksfeinde – ein Ausdruck, der als „Enemies of the People“ derzeit durch Donald Trump wieder gruseligerweise popularisiert wird – war ihre Kindheit ein Leben, oft mehr Überlebensversuch, am absoluten Nullpunkt der sowjetischen Gesellschaft. Das in den Schilderungen spürbare Ausmaß an Armut und Ausgeschlossensein kann man eigentlich nur erschüttert zur Kenntnis nehmen. Ein Nachvollzug scheitert aus der heutigen Sicht, denn so vieles scheint nach den Maßstäben des Jetzt und Hier schlicht (und glücklicherweise) unvorstellbar. Die Familie, also ihre Mutter, ihre Tante, ihre Großmutter, sie selbst, galten jedem als Feind
„to our neighbors, to the police, to the janitors, to the passers-by, to every resident of our courtyard of any age. We were not allowed to use the shared bathroom, to wash our clothes, and we didn’t have soap anyway. At the age of 9 I was unfamiliar with shoes, with handkerchiefs, with combs; I did not know what school or discipline was.“ (S.67f.)
Zahlreiche Familienmitglieder verschwanden im Mahlwerk der stalinistischen Verfolgung oder in Massengräbern des deutschen Vormarsches: „Her end was terrible: she, her mother, and her little son were buried alive, along with other Ukrainian Jews, by the advancing Nazis.“ (S.7)
Mit dem Bombenkrieg 1941 wurde die nun kleine Familie von Moskau nach Kuibyschew (seit 1991 wieder Samara) evakuiert und blieb dort vorerst hängen. Ljudmila Petruschewskajas Mutter hatte das Moskauer Literaturinstitut jung und schwanger verlassen, also ihr Studium unterbrochen. Durch eine Verkettung glücklicher Umstände erhielt sie sechs Jahre später eine Zulassung, steckte aber in Kuibyschew fest. Reisen waren nicht ohne Weiteres möglich. Rein zufällig bot sich jedoch, so Ljudmila Petruschewskaja, auf dem Heimweg vom Markt die Möglichkeit in der Lokomotive eines Zuges nach Moskau mitzureisen. Zum Zimmer und zu ihrer Familie konnte sie vor der Abfahrt nicht mehr und verschwand so im Sommerkleid und mit einer Flasche Speiseöl für vier Jahre aus dem Leben ihrer Tochter und aus dem Kosmos des Elends von Kuibyschew in ein Moskauer Studium, in dem Armut und Hunger treue Alltagsbegleiter blieben.
In Kuibyschew gab es weder Schuhe noch ausreichend Lebensmittel insbesondere für die Volksfeinde. Mangels Schuhwerk schwand insbesondere im Winter die Möglichkeit zum Schulbesuch und Ljudmila erinnert sich, wie sie sehnsüchtig durchs Fenster einem Mädchen nachblickte, das durch den Schnee zur Schule stapfte. Spielzeug war ein unerreichbarer Traum und oft war es bereits ein Wunder, wenn das Mädchen nicht Opfer der Alltagsgewalt ihrer Zeit wurde. Wenige Stunde mit einer streunenden Katze, die das Mädchen zu Silvester in der Kammer erlebte, prägten sich als kaum fassbares Glück ein. Manches in den Geschichten haben tatsächlich einen Hauch des Märchenhaften. Eine plötzliche Wendung zur Rettung tritt freilich nirgends in Prinzengestalt durch die Tür. Ljudmila Petruschewskaja rettete sich selbst durch einen zähen Kampf unter den Bedingungen der jeweiligen Gegenwart und die sollten noch lange Zeit hart bleiben.

Eine Ansichtskarte aus Schiguljowsk. / Es ist gar nicht mal so weit – schon gar nicht für russische Verhältnisse, von Samara / ehemals Kuibyschew nach Schiguljowsk. Allerdings existierte Schiguljowsk in den 1940er Jahren noch gar nicht in der Stadtform, die es heute hat, sondern wurde erst nach dem Ausbau der Ölindustrie entwickelt. Das verringert die Zahl der Gründe, in den 1940er Jahren an diesen Ort zu fahren zusätzlich und auch so lässt sich keine direkte Verbindung der Stadt mit Ljudmila Petruschewskaja ermitteln. Selbst in der auf der Ansichtskarte aus dem Jahr 1979 gezeigten Kinderbibliothek war sie bestenfalls in einer Zeitschrift präsent, wozu man freilich die Bestandsinformationen aus dieser Zeit benötigte und das wäre jetzt etwas zu viel der Recherche. Ljudmila Petruschewskaja hatte zu diesem Zeitpunkt gerade den Juri-Norstein-Trickfilm Die Geschichte der Geschichten (Сказка сказок) geschrieben, den man sich nach der Lektüre ihres Erinnerungsbuches durchaus noch einmal anschauen könnte. Ihr Durchbruch als Autorin stand noch bevor. Neben dem nicht ganz von der vor ihm liegenden Kinderzeitschrift (oder dem Fotografen) begeisterten Mädchen in der Bibliothek zeigt die Ansichtskarte die Kinderpoliklinik in der Friedensstraße (улица Мира) von Shiguljowsk, die sich, wie Google Streetview vermittelt, seit dem Zeitpunkt der Aufnahme kaum verändert hat.
Eine Besonderheit der Konstellation in der Biografie der Autorin, die sich möglicherweise als Rettungsmittel erwies, lag in der Tatsache, dass Ljudmila Petruschewskaja aus einer Ahnenreihe der damals so genannten Intelligenz stammte. Ihre Großväter waren Akademiker, ihre Großmutter wurde von Wladimir Majakowski umschwärmt. Das Mädchen Ljudmila kannte zwar kaum Klassenzimmer von innen, konnte aber früh gut und schnell lesen. Die immerhin 5000 Bände umfassende Bibliothek ihres Großvaters mütterlicherseits, dem aus Gnade und Akademie gefallenen Sprachwissenschaftler Nikolai Yakovlev, blieb ihr allerdings verschlossen:
„In the entire library I could read only one book: The Description of the of the Land of Kamchatka by Stephan Krasheninnikov. It had the sour smell of old paper. The other 4,997 volumes were in foreign languages: for example, the complete works of Goethe illustrated with Gustave Doré’s nightmarish figures with horns.“ (S.78)
Eines der Bücher, eine besondere Ausgabe des Eugen Onegin, verschwand eines Tages heimlich zu einem Buchhändler, u.a. um Ljudmila von einer Nasennebenhöhlenentzündung zu befreien. Zwar war ihre Mutter fast naturgemäß und in jedem Fall als Studentin eine begeisterte Leserin:
„she consumed mountains of books (she was majoring in literary studies) and took literature so seriously that simple reading for pleasure she considered a sacrilege.“ (S.5 f)
Wer allerdings so viel aufgeben musste, um überhaupt zu überleben, hängt am Ende vielleicht auch nicht so sehr an einer einzelnen Ausgabe, auch wenn diese einst General Alexei Petrowitsch Jermolow gehörte. Oder doch? Später, in den 1950ern, als sich die Situation halbwegs stabilisiert hatte und das Mädchen Ljudmila in der Oberschule eine weitere Prägung in Richtung Literatur durch den von ihm vergötterten und von Ljudmila Petruschewskaja in einem Kapitel des Buches zutiefst gewürdigten Lehrer Aleksandr A. Plastinin („Sanych“) erhielt, setzte bei ihrer Mutter ein deutliches Kompensationshandeln ein:
„Mama kept buying books maniacally – her entire family library had perished during the arrests – and I kept reading it.“ (S.128f.)
Und gleich darauf folgt die Würdigung der öffentlichen Bibliothek nicht nur als Lese- sondern auch als Zufluchtsort. Und als einer der Bildung obendrein:
„After school I always went to the library instead of home, where nothing good awaited me. The librarians took advantage of my addiction, and for every two books I requested, they forced me to read at least one on the school curriculum.“ (S.129)
Auf diese Weise hatte die Schülerin auch Maxim Gorkis Die Mutter gelesen, auf unorthodoxe Weise interpretiert und das Eis zu dem für sie sehr wichtigen Lehrer gebrochen. Auch hier: Die Verkettung von Umständen, ein prinzipielles Lebensthema der Schriftstellerin und natürlich waren es auch Zufälle, die sie zum Journalismus und damit weiter in Richtung dessen transportierten, was sie heute ist. Aber da sich die Bibliothek mit einer einzigen weiteren Erwähnung aus der Universitätszeit bereits wieder aus dem Erinnerungsbuch verabschiedet hat, soll dazu hier nichts weiter verraten werden. Denn zweifellos ist The Girl form the Metropol Hotel eine eindeutige Lektüreempfehlung wert. Die Kindheit der Ljudmila Petruschewskaja ist – in der Schilderung – schrecklich und märchenhaft zugleich (inklusive böser Stiefmutter), wobei das Schreckliche sich auf die unausweichlich furchtbaren und unmenschlichen Folgen aller Versuche einer totalitären Ordnung der Gesellschaft bezieht und das Märchenhafte auf diese sonderbare Kraft der Kindheit, die es offenbar schaffen kann, noch dem größten Elend Momente des Zaubers abzugewinnen.
(Berlin, 04.03.2017)
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In Hanns Cibulkas Swantow.
Ein Sonntagstext von Ben Kaden (@bkaden)
I
Im März 1989 schrieb jemand mit dem schönen nordischen Namen Olaf mutmaßlich im Uckermärkischen Templin – es findet sich die Abkürzung Tpl neben dem Datum – die erste Zeile eines der bekanntesten Lieder der DDR-Popmusik in einem schmalen Band aus der Kleinen Edition des Mitteldeutschen Verlags. „Einmal wissen dieses bleibt für immer“, popularisiert durch „Am Fenster“ der Band City, formuliert von Hildegard Maria Rauchfuß, erstveröffentlicht 1970 in dem heute schwer vergriffenen Band „Versuch es mit der kleinen Liebe“. Die Lyrikerin war bekannt für singbare und Singeklub taugliche Texte und durfte einmal gemeinsam im Auftrag des Rat des Bezirkes Leipzig mit dem Komponisten Peter Herrmann eine Kantate zu Ehren Karl Liebknechts erarbeiten. So war kurz vor ihrem Band eine Schallplatte der heute trotz Stiftung weitgehend versunkenen Schlagercombo Fred Frohberg und das Ensemble 67 mit einigen Vertonungen ihrer Texte durch die Presswerke von Amiga gegangen. „Versuch es mit der kleinen Liebe“ war beim Henschelverlag in der Kabarettabteilung untergekommen und wurde von Erika Baarmann illustriert. Im Jahr nach Erscheinen intonierte der Pionierchor Böhlen bei den 13. Arbeiterfestspielen zur Freude der Berichterstatterin des Neuen Deutschland „ein Loblied gleichsam auf die arbeitenden Menschen unserer Republik und das kostbare, verpflichtende Vertrauen der Kinder zu ihnen.“ (vgl. Pehlivanian, 1971) Die Amiga-Single von „Am Fenster“ erschien 1977, ergänzt um das zutiefst nostalgische Lied „Mein alter Freund“ und ebenso die westdeutsche Pressung bei Telefunken. Die Produktion von City war, wie auch bei ein paar anderen Gruppen, die bei der gefeierten Vorstellung von „Am Fenster“ auf der „Rhythmus 77“ im Berliner Palast der Republik aufspielten (und auch solchen die fernblieben – die Puhdys tourten gerade durch Bulgarien, dem Heimatland von City-Mitglied und Am-Fenster-Arrangeur Georgi Gogow.) buchstäblich ein Exportschlager auch ins nichtsozialistische Ausland. In Griechenland beispielsweise erreichte die Schallplatte den Status einer goldenen. Das lag nicht unbedingt nur am Text, sondern mutmaßlich weitaus mehr an der überaus stimmigen Komposition, die sich unmittelbar einprägt und zwar so, dass sie sofort erklingt, wenn man die Worte liest, hier handschriftlich in ein Exemplar der vierten Auflage von Hanns Cibulkas Swantow eingewidmet, direkt unter die Mottos, die Cibulka von Goethe und Hugo von Hofmannsthal für sein Buch wählte, was Hildegard Maria Rauchfuß sicher gefreut hätte.

Einmal wissen – dieses ist für immer!? Nun ja. Für den Aufenthalt des Buches im Regal der beschenkten Person galt dies offenbar nicht. Aber vielleicht wird das Bild ja alsbald vom Crawler des Internet-Archives eingesammelt. Und dann ist zumindest die Erinnerung an die Verknüpfung von Olaf und Swantow für eine kleine digitale Ewigkeit archiviert. Für immer ist das auch nicht. Aber immerhin.
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In Jonathan Franzens „Purity“.
Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)
(Achtung: enthält Spoiler.)
zu: Jonathan Franzen (2015): Purity: a novel. [First Picador International Mass Market Edition: August 2016] New York: Picador.
„Franzen reveals moments of absolute genius.“ notierte das Library Journal 2015 über Purity. Wir haben mit der Lektüre ein wenig gebraucht, räumen das Buch jetzt aber endlich vom Nachttisch und schließen uns nur bedingt der amerikanischen Begutachtungskultur des unbegrenzten Superlativs an. Bevor wir die Zuschreibung „Genie“ verwenden, muss nämlich doch noch einiges mehr an Finesse durchblitzen als es bei diesem zugegeben gut lesbaren und in jedem Fall vom Autor schwer erarbeiteten Zusammenbiegen von Archetypen der Gegenwart und ihrem Kampf darum, gute Menschen zu sein, geschieht. Man spürt eben doch zu oft die nicht-genialische Mühe, genug glaubwürdiges Plotgewebe über die nicht übermäßig originelle Grundkonstellation der Figuren zu werfen. Dass die als bitterarm eingeführte Hauptfigur – Achtung Spoiler – am Ende das zeitgenössische Geldwertäquivalent zu einem Königreich von einem Anwalt namens Navarre – Ach Pamplona! – de facto überreicht bekommt und einen Traumprinz mit einem zitronenliebenden Hund namens Choco dazu, ist beispielsweise doch mindestens ein Grad zu kitschig.
Auch die andere Hauptfigur, ein charismatischer Internetleaker mit ostdeutscher Dissidenzvergangenheit, dessen Widerborstigkeit gegenüber dem DDR naturgemäß persönliche Gründe hat und zwar in Rebellion gegen die tief in den Nomenklatura verankerten Eltern (hier geht jemand etwas sehr offensichtlich in ein anderes Blau), lässt die Fäden, an denen der Franzen’sche Bilderreigen aufgehängt wird, etwas sehr scheinen. Aber in jedem Fall und wie auch erwartet sind viele Aspekte und Settings mit größtmöglicher Präzision recherchiert. Damit hat er vielen deutschen Massennarrativen über das Ende der DDR wie zum Beispiel der unsäglichen Stasi-Seifenoper Weissensee einiges voraus.
Für die Reihe „Die Bibliothek in der Literatur“ lässt sich aus Purity allerdings nur wenig fischen. Es gibt eine Stelle, in der Andreas Wolf, der ehemalige Posterboy der Berliner Bürgerrechtsbewegung und mittlerweile aufstrebende Nachwuchsleaker („he’d been in the headlines for breaking the news of German computer sales to Saddam Hussein“), kurz nach 9/11 einen fragwürdigen Kontaktmann treffen möchte. Als einzigen sicheren Ort fällt ihm eine Bibliothek ein. Nämlich die des Amerika-Hauses am Bahnhof Zoologischer Garten. Allerdings weniger aus bibliothekarischen Gründen:
„Andreas agreed to meet the caller at the Amerika Haus library, where security was heavy.“ (S.610)
Was ihn erwartete, war allerdings eher harmlos: „There was a briefcase in front of him on the library table.“
Der mysteriöse Anrufer stellte sich als Andreas‘ biologischer Vater heraus, einst Kommilitone und Liebhaber seiner mit einer Parteigröße verheirateten Mutter, der folgerichtig im Stasi-Gefängnis und in der Alkoholabhängigkeit enden musste und auch nach der Wende ein Leben näher an der Armut als nach seinen Fähigkeiten zu führen gezwungen ist. Er hat einen zweiten Sohn, der schwerbehindert ist. Da seine Frau unlängst starb, muss dieser nun in einer Pflegeeinrichtung betreut werden. Die Rente reicht nicht und um Geld zu bekommen, möchte er nun ein Erinnerungsbuch mit dem sehr un-DDR-igen Titel „The Crime of Love“ veröffentlichen, erhält aber nur Absagen. Andreas soll ihm jetzt mit seinem Einfluss helfen. Dieser tut dies widerwillig, gibt ihm vorher aber noch eine Schaufel Demütigung mit:
„It was hearbreaking to see old Ossis trying to ape the thinking of Wessis, trying to master the lingo of capitalist self-promotion. „I met my son a second time, at the Amerika Haus library,“ Andreas said. „This meeting itself could be the coda to your book.“ (S.613)
Als Coca-Koda dieses Handlungsfadens steht das Buch freilich zwölf Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und damit ist der echte Vater aus Purity denn auch verschwunden.
Es gibt nur noch ein zweites Auftauchen einer Bibliothek in Purity. Zwei weitere Hauptfiguren, die sich, Spoiler!, als die Eltern des Mädchens namens Purity herausstellen, haben sich gerade in State College, Pennsylvania kennen und lieben gelernt. Sie, Anabel, die Milliardärstochter und Veganerin macht Kunst und sucht die maximale moralische Reinheit. Er, Tom, gibt ein Campusblatt heraus, spielt Bro und versucht mehr oder weniger in seiner Maskulintätsblase damit zurecht zu kommen, dass er noch jungfräulich ist. Sie, schwer von ihrer Familie geschädigt, hat dagegen wilde Zeiten hinter sich, kann jedoch mittlerweile nur noch zum Höhepunkt gelangen, wenn gerade Vollmond herrscht. Er, dessen herzensguter Vater die bettelarme Mutter einst aus der Vormauer-DDR und einem Missbrauchsumfeld in die USA gerettet hat, kann eigentlich immer und weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Naturgemäß finden sich die beiden Außenseiter nach einem spielerischen Auf-und-ab.

Über der Cloud: die reine Leere? Für den Autor von Freedom soll diese Freiheit nun nicht nur nicht grenzenlos sein. Sondern sie wird eher ersetzt durch ein äußerst komplexes Netzwerk von Schuld, Moral, ein bisschen Sühne und vor allem der Grenze zwischen Wissen (Einsicht) und Nicht-Wissen (Unsicherheit). Wobei die Bibliothek, sofern sie sich nicht in Richtung der Snowden-Commons entwickelt, kaum noch das Medium ist, in dem diese Fragen verhandelt werden. Sondern bestenfalls Ort der verzweifelten Übergabe von Papier.
Die Bibliothek findet nun an der Stelle eine Erwähnung, an der der von Anabel abgrundtief gehasste Milliardärsvater die Bühne betritt:
„She went to the Free Library every weekday afternoon, because we’d decided it was healthy to be apart for some hours and she didn’t want to wait for me at home like a housewife.“ (S.495)
An einem dieser freien Bibliotheksnachmittage ruft Vater David an, gelangt ungeplant an Tom und erfährt, dass seine Tochter einen Freund hat, was ihn auch, grober Idealtyp volle Kraft voraus, deshalb erfreut, weil er nun die helfende Hand eines Mannes an seinen derangierten Nachwuchs gelegt sieht:
„Are you black?“ he said. „Handicapped? Criminal? Drug addict?“ „Ah, no.“ „Interesting. I’ll tell you another secret: I like you already.“ (ebd.)
So grob also sind die Pinsel, die Franzen für seine Figuren nutzt, was sich jedoch nach der Fernbeobachtung der USA im ernüchternden Wahljahr 2016 als bedauerlich glaubwürdig erweist. Sympathiepunkte sammeln in dieser Welt nur sehr wenige.
Es fällt generell auf, wie wenig die Bibliothek im Buch auffällt, zumal weite Strecken in einem akademischen Milieu spielen. Aber die Zeit und die auch die Medienkultur eilt offenbar Richtung online, was an einer Stelle sehr schön deutlich wird. Pip alias Purity trifft einen alternden, missmutigen und nach einem Motorradunfall gelähmten Spitzenschriftsteller in dessen Haus und dieser eröffnet das Gespräch mit einem Fragedreiklang:
„Are you a reader, Pip? Do you read books? Is the sight of so many books in a room at all frightening to you?“ (S.263)
Pip darauf eher höflich-schmallippig „I like books.“ Und sie bestätigt dem traurigen Grantler auf dessen Offensive hin, dass sie auch „Eating Animals“ gelesen hat, worauf dieser noch einmal kurz in den Raum stöhnt „So many Jonathans. A plague of literary Johnathans.“ (S.264)
Das zeigt zwei Dinge. Nämlich einerseits, welch ein ausgeglichen-sanfter Selbstironiker Franzen ist. Und zweitens, dass diese alten Dialoge der jungen hübschen Frauen mit alten Kulturpatriarchen auch lange nach Ibsen noch gepflegt werden (vgl. u.a. diesen Tweet), junge Frauen jedoch mittlerweile selbstbewusster sein dürfen. Oder besser: aufmüpfiger in situ.
Denn die Pip-Linie des Buches sind ja gerade ihre Selbstzweifel und die damit verbundenen rites de passage. Die Figur ist hochintelligent und tief verunsichert. Und sie ist durch und durch digitalkompetent, denn sie wurde im bolivianischen Shangri-La der Digitalaufklärung, also im Dschungel-Camp des mittlerweile von Regierungen aus aller Welt gesuchten Star-Leakers Andreas Wolf, zur Spitzen-Internet-Rechercheurin ausgebildet. Nach einem eigentlich vielversprechenden Einstieg in den Non-Profit-Journalismus, der aus dramaturgischen Gründen inszeniert und beendet wurde, landet sie nach der große Schleife der Identitätssuche hinter dem Tresen eines Cafés und in der Westküstenwohngemeinschaft, an der das Buch begann und ist damit gar nicht mal unzufrieden. Es gibt, wie oben angedeutet, natürlich noch einen Twist Richtung Wohlstands- und also Erlösungsversprechen, der hier aber nicht mehr referiert werden soll.
Aus einer medientheoretischen Sicht stellt man, so vielleicht ein Fazit, am Beispiel von Purity beruhigt fest, dass auch die Gegenwartsliteratur engagiert Fragen nach dem Verhältnis von Leak, Leak-Vermittlung und Leak-Folgenabschätzung erörtert. Die moralischen Herausforderungen der Gegenwart sind eben zu großen Teilen digital geprägt und es ist ein gutes Zeichen, wenn sie mittlerweile ausführlich auch in der traditionellen erzählenden Literatur verhandelt werden. Das führt vermutlich unvermeidlich zu feuilletonistischen Einsichten wie:
„The aim of the Internet and its associated technologies was to „liberate“ humanity from the tasks – making things, learning things, remembering things – that had previously given meaning to life and thus had constituted life. Now it seemed as if the only task that meant anything was search-engine optimization.“ (S. 631)
Wer solche, nun ja, Küchentischmedienphilosophie in Kauf zu nehmen bereit ist, wird mit Purity vor allem aus literarischer Sicht sicher besser bedient, als mit dem schrecklichen „I hate the Internet“ des Jarett Kobek. Und wenn man wie wir Literatur auch als Zeitspeicher begreift, dann darf man Purity als unbedingt für den Langzeitkanon geeignet einordnen. Es ist sicher in keiner Hinsicht Avantgarde. Aber es ist ein wuchtiges und grundsolides Epochengemälde, in dem, wie wir lesen konnten, Buch und mehr noch Bibliothek nur noch ein stilles Echo am Rande sein dürfen.
(Berlin, 04.12.2016)
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: Der postsozialistische Tanz um die Kraft des Buches bei Mikhail Elizarov.
Eine Notiz zu
Mikhail Elizarov: The Librarian. London: Pushkin Press, 2015. (Informationen zum Titel beim Verlag)
von Ben Kaden (@bkaden)
Spuren der Institution Bibliothek in der Literatur sind bekanntlich ein beliebtes Nebenthema wenigstens von Teilen der LIBREAS-Redaktion. Dass wir dann auch mit Freuden die dieses Frühjahr publizierte Übersetzung (durch Andrew Bromfield) von Mikhail Elizarovs nicht unumstrittenen aber umso populäreren Romans The Librarian [Библиотекарь. Москва : Ad Marginem, 2007] einem Close Reading unterziehen, versteht sich von selbst. Allzu bibliothekarisch ist das von erheblicher und sonderbar archaischer Brutalität und nicht wenig Wahnwitz geprägte Geschehen um den „Bibliothekar“ Aleksei nicht. Umso konsequenter geht es jedoch in diesem so und so fantastischen Roman um Bücher und die in diesen wie auch immer codierte Macht. (more…)
Die Bibliothek in der Literatur. Reed Gračevs Disput über das Glück.
von Ben Kaden (@bkaden)
I
Es gibt auf dem deutschen Buchmarkt (und vermutlich muss man sagen: in der deutschen Buchkultur) vermutlich nichts, was die russische Literatur so wunderbar entfaltete wie die Zusammenarbeit der Friedenauer Presse mit dem Übersetzer Peter Urban. Hätte es sie nicht gegeben, fehlten uns nicht nur fantastische Ausgaben im Regal. Wir wüssten vermutlich auch sehr wenig über Daniil Charms und so gut wie nichts über Leonid Dobyčin (vgl. auch hier) und schon gar nichts über Reed Gračev (Рид Грачев). Dessen Texte in der jüngst erschienenen Zusammenstellung zu einem Band mit dem denkbar schlichten Titel „Tomaten“ wird das letzte Produkt dieser wunderbaren Kooperation sein, denn Peter Urban starb im Dezember 2013.
Die Übersetzungen zu Gračev, der auch in Russland gerade erst ein wenig wieder entdeckt wird, erarbeitete Peter Urban bereits schwer erkrankt, wie die Herausgeberin des Bändchens, Brigitte van Kann, in ihrem Nachwork ausführt, das zugleich mutmaßlich der erste deutschsprachige Text über Gračev und dessen Biographie sein dürfte. Das schmale und wie bei der Friedenauer Presse üblich haptisch hochwertig broschierte Bändchen enthält nun mit der Erzählung „Disput über das Glück“ einen der wunderbarsten Texte mit Bibliotheksbezug, die uns dieser Literaturherbst hinblättert.

Das Glück ist tomatenrot, ein wenig angestoßen und eventuell auch etwas traurig. So jedenfalls könnte man einen Beitrag zu einem entsprechenden Disput als These formulieren und zwar exakt deshalb, weil sich Glück hier auf das Empfinden bezieht, das einen umfängt, wenn man die wunderbare und hier sichtbar durch entsprechenden Gebrauch gezeichnete Ausgabe der Tomaten hinter sich (=gelesen) und vor sich (=nach dem Lesen) liegen hat.
Wie auch in den anderen Erzählungen geschieht in der 1961 (im Original: Диспут о счастье) erstpublizierten mehr Betrachtung als Kurzgeschichte auf den ersten Blick gar nicht so viel: einer Bibliothek vermutlich im Puschkin-Lyzeum von Zarskoje Selo (im daneben liegenden Katharinenpark beschäftigt sich der Wind mit dem Bewegen der Bäume, über dem Schulgebäude beschäftigt sich ein Flugzeug mit dem Steigflug) treffen ein Dutzend Senioren und eine unbestimmte, kleine Zahl Soldaten aufeinander, um sich zu erläutern, was das ist, dieses Glück. Die Gastgeberin ist die Bibliothekarin und ihr gegenüber tritt eine weitere Frau als Gegenfigur auf, die „in einer strengen Jacke“ und mit „ernstem Blick“ zunächst die Rolle einer Beobachterin übernimmt und zugleich bei der Bibliothekarin ein Kreisen eines eigenen Glückskonzeptes anregt. Zwei vereinzelte Personen stehen zwei Gruppen – den Alten und den Jungen – gegenüber, begleiten deren Glücksvorstellungen ohne jedoch selbst in den Disput einzugreifen und ohne sich diesen Glücksentwürfen anzuschließen.
Das Glück der Bibliothekarin ist nichts, auf das man zustrebt. Es ist vielmehr – die „bleiche Sonne vor dem Fenster“, das „Rauschen der Bäume im Park“, die „Soldaten mit ihren rosigen Gesichtern und den Schiffchen auf den Knien“ – ein ganz tiefes bescheidenes Daseinsglück, eine Einsicht die sie durchaus gern mit den Anwesenden und der Fremden in der Ecke teilen würde. Sie meint jedoch „es sei besser nichts zu sagen, denn man könnte sie missverstehen, und die unbekannte Frau hätte womöglich ihre eigenen Vorstellungen vom Glück und ihr könnte missfallen, was die Bibliothekarin dachte.“
Die Anwesenheit des undurchschaubaren Beobachters verhindert die Aussage: Wo man missverstanden oder Missfallen erregen kann, da sollte man also schweigen. Oder, wie zu Flucht oder Tarnung, darüber hinweg sprechen, „[u]nd die Bibliothekarin sagte die üblichen Worte, die Bibliothekare zu sagen haben, wenn sie Dispute über das Glück eröffnen.“
Wobei dies erstaunlicherweise in der Gegenwart so selten vorkommt, dass man als am „üblichen“ ein Sekunde länger als eben üblich hängen bleibt und zu meinen versteht, wohin Reed Gračev seine Bibliothekarin und damit uns lenkt. Hilfreicher ist es womöglich sogar noch, wenn man weiß, dass Dispute über das Glück in der Lyrik des eben in Zarksoje Selo geborenen Sohn Anna Achmatova vorkommen. Lew Nikolajewitsch Gumiljows Leben war in Stalins Sowjetunion zwar typisch aber völlig fernab von dem, was man landläufig als glücklich bezeichnen würde: früher Verlust des Vaters durch politische Gewalt, mehrfacher Ausschluss vom Studium, Verbannung nach Norilsk, Weltkriegsteilnehmer, denkbar hohe Hürden für die wissenschaftliche Arbeit, zeitweise Zuflucht im Bibliothekarsberuf, wieder Lagerhaft, wobei er dort immerhin das Glück hatte, wenigstens zeitweise in die vergleichsweise erträgliche Rolle des Bibliothekars der Lagerbibliothek zu gelangen. Insofern war, wie für viele Intellektuelle und intellektuelle Dissidenten seiner Zeit die Bibliothek ein zentraler Ort und bereits in seiner Kindheit häufiger Gast in der Stadtbibliothek seiner Kindheitsstadt Beschezk. Das Gedicht „Disput über das Glück“ ist, soweit ich sehen kann, nicht exakt datiert, entstand aber vor 1940, denn da hatte es seine Kommilitonin an der Leningrader Universität, Tatiana Stanyukovich, schon im Notizbuch. Gumilev vereinigt in seinem Disput-Gedicht acht Glückskonzepte, die Dschinghis-Kahn bei einigen seines Heeresführer abfragt und zusammenfasst. Am Anfang steht dort ein Falke und am Ende ein Dolch und zwischendurch liest man von Pferden und Mädchen, also all dem, was bedeutsam war, für die Männer der Inneren Mongolei. Glück ist überall Entwurf. Die Realität ist Verlust und Bedrohung und eventuell: Hoffnung.
II
Was war nun Glück für den jungen Reed Vite, dessen ungewöhnlicher wirklicher Vorname – er bekam noch einen Iosifovič dazu – unschwer erkennbar einen Faden zu dem Journalisten und Kommunisten John Reed zieht, dem 1919 in den USA die Anklage wegen Hochverrats drohte, vor der er nach Moskau flüchtete und es ist einer dieser eigenwilligen Züge der Weltgeschichte, dass sie ihre Motive immer wieder wiederholt, wenngleich Edwards Snowden nun wirklich kein Kommunist ist. Reed starb jung (mit 33) an Typhus im Land seiner Ideale und bevor er die Garstigkeiten Stalins (der immerhin Reeds Beschreibung der Oktoberrevolution Ten Days That Shook the World verbieten ließ, weil er seine eigene Rolle darin zu wenig gewürdigt sah und Trotzkis zu sehr) erleben konnte und wurde in einem Ehrengrab an der Kremlmauer beigesetzt. Gračev wurde deutlich älter und starb nach herben Erfahrungen des Breschnew-, Spät- und Postsozialismus‘. Jemand hat seinen Grabstein fotografiert und ins Internet gestellt.
Reed Vite verlor beide Eltern bei der Blockade Leningrads und durchlief eine Kindheit in Waisenhäusern und in der, mehr oder weniger, Obhut von Verwandten. Die Elternlosigkeit und die Sehnsucht nach seinen Wurzeln werden später Zentralmotive seiner Geschichten. Er galt als äußerst talentiert, versuchte sich an einer Übersetzung von Camus Der Fremde und übertrug Saint-Exupery ins Russische bevor er ab 1959 nach Abschluss seines Journalismusstudiums bis in die späten 1960er Jahre eine konzentrierte und innerhalb der Leningrader Literaturlandschaft sehr nachhaltig wirkende, unumstritten großartige Prosa schrieb. In Erinnerung an seine Mutter, die Journalistin Mauli Arsenjevna Vite, die ihre Artikel mit dem Nachnamen ihres Vaters unterzeichnete, nannte er sich Gračev. Irgendwann in den frühen 1960ern entstand ein Foto, dass ihn mit Andrej Bitov, Aleksandr Kushner und Jakov Gordin zeigt – die frühe nachstalinistische Sowjetunion in Leningrad schien nicht der schlechteste Startpunkt für einen jungen Schriftsteller gewesen zu sein, was auch Brigitte van Kann in ihrem Nachwort zu Tomaten betont. Für das Publizieren wäre Moskau besser gewesen. Leningrad hatte dafür die Gorozhane (Die Urbanisten), das Café Saigon am Newski Prospekt, eine wildere Samisdat-Kultur und eine Institution namens LITO, eine offizielle aber vergleichsweise wenig reglementierte lokalen Schriftstellervereinigung, in der sich Gračev engagierte und die zunächst als Sprungbrett zu funktionieren schien. Er galt bald weithin als einer der literarischen Hoffnungsträger seiner Generation. An dieser Stelle hatte er zugleich, was vermutlich niemand ahnte, den Höhepunkt seiner Schriftstellerlaufbahn bereits erreicht.
Dass seine Wirkung weitgehend auf seinen engeren Kreis, oft dem um Lidiya Ginzburg , der sich in Gračevs Wohnung in der Scheljabow Straße traf, begrenzt blieb, lag nicht an die Qualität der Texte – wie die nun auch auf Deutsch vorliegende Sammlung eindrücklich unterstreicht. Sondern daran, dass er kaum gedruckt wurde. Ein Manuskript lag seit 1962 beim Verlag, ein Vertrag war unterschrieben und er hoffte darauf, publiziert zu werden. Aber in der zweiten Hälfte der 1960er bricht die Perspektive allmählich. Krankheit und Armut sind die beiden Koordinaten, in denen er sich gefangen sieht. Die Publikationsmöglichkeiten schwinden in der sich wieder straffenden Kulturpolitik der Sowjetunion weiter. Er verbringt Zeiten in psychiatrischen Kliniken. Dass ihm Joseph Brodsky 1967 bescheinigte, der beste russischsprachige Schriftsteller dieser Zeit zu sein, half nicht. Im selben Jahr erscheint ein massiv zusammengekürztes Prosabändchen, was Gračev, wie Bitov und Gordin in der Rückschau berichteten, keinesfalls als Glück, sondern als reine Demütigung empfand. Gde tvoi dom? – Wo bist Du zu Hause? war der Titel, es gab ein graues Holzschnittcover und eine Auflage von immerhin 30.000. Die Geschichte vom Disput über das Glück ist darin nicht enthalten, wohl aber das auch in Tomaten übersetzte Meisterstück der Suche nach Heimat oder Ankunft „Der Zahn tut weh“. In den 1990ern wird er erstmals umfassend gedruckt, aber es kommt zu spät. Ausgerechnet 1994, in dem Jahr, in dem sein Werk erscheint, verliert er seine Wohnung und ist zeitweilig obdachlos. Er wird entführt und verliert ein Bein. Am 01. November 2004 stirbt er in St. Petersburg. Die wenigen Fakten, die sich über sein Leben zusammentragen lassen, verweisen nirgends auf Glück. Aber vielleicht liegt es doch irgendwo verborgen und möglicherweise zeigt sich in der Bibliothekarin aus Zarskoje Selo, immerhin erschaffen von Gračev, doch eine Ahnung davon.
III
Der Disput in der Bibliothek am Katharinenpark ist genau genommen keiner, denn die RentnerInnen erkennen trotz aller unterschiedlichen Annäherungen an das Thema, „das sie alle glücklich waren oder glücklich gewesen waren, und als sie das erfuhren, bekamen die alten Frauen und Männer einen rosigen Hauch im Gesicht und sahen von fern den Jungen ähnlich.“ Am Anfang steht in der Retrospektive aufs Glück die Arbeit, dann folgt die Freundlichkeit (eines Mediziners) und schließlich die Distanz zu den Spießbürgern, was sicher alles bedeutsam war in der Sowjetunion von 1960. Das Glück ist, alles in allem, allen dasselbe.
Die Soldaten tragen zur Diskussion nichts bei, halten geduldig äußerlich die Fassung und streben innerlich zum Kino, also, wenn man so will und wenn es gut läuft, zur Perfomativität des Glücks. Wobei es gar keine Alternative zu geben scheint: „Vor allem lächelten sie. Und wer nicht lächelte – lachte. Und wer nicht lachte – sang.“ Das Glück ist, alles in allem, allen dasselbe.
Die Frau (die Fremde) in der Ecke bleibt undurchschaubar, fast bedrohlich. Ihre Jacke ist erst „streng“, dann „seriös“, dann „düster“, dann „schwarz“ und schließlich „unansehnlich“. Sie durchläuft eine kleine Karriere vom Ernsten zum Schäbigen und zwar in den Augen der irritierten und nach außen hin ebenfalls ganz teilnahmslos wirkenden Bibliothekarin, die erst zum Fenster in die „rote“, also sinkende, nicht mehr „bleiche“, also etwa zwei Stunden früher hoch stehende, Sonne sah und dann – Klammer zu – „die üblichen Worte [sagte], die Bibliothekare sagen, wenn sie Dispute über das Glück beenden.“ Wie bewusst die Formulierung „den Disput beenden“, also mit einem Machtwort schließen, gewählt ist, mag man vermutlich erst in Rückgriff auf das Original entscheiden. Die Frau mit der Jacke hört sich an, was über das Glück gesagt wird, macht sich Notizen, schaut streng auf die, die reden und verschwindet, ohne etwas jenseits der Strenge über sich und ihre Interessen erkennbar werden zu lassen. Auf einmal ist sie aus dem Blick. Die Besucher des Disputs verabschieden sich und auch die Bibliothekarin ist frei. Alle gehen ihrer Wege, auf die Straße.
Die Besucher erfreuen sich nun und dort am sichtbaren Gegenwartsglück der „fortschrittlichen Sowjetjugend“, das sie jeweils aus ihrer Perspektive und für sich immer richtig ausdeuteten. Die jungen Menschen selbst „waren einfach jung, waren einfach schön und waren trunken vor Glück. Sie gingen einfach ins Kino.“
Auch die Bibliothekarin sieht all dies und das Glück der Jugend, diesem Idealalter des Sozialismus und würde sich, wenn sie könnte, womöglich sogar einreihen, ins Kino gehen und lächeln. Es geht nicht.
„Aber sie war nicht mehr jung und wusste was Glück ist. Deshalb beschloss sie, es niemandem zu sagen.“
Ihr Glück ist so sinnlich wie vergänglich. Was die Bibliothekarin eingangs über das Glück denkt, wiederholt sich. Es sind die rauschenden Bäume, die sinkende Sonne, es ist auch, vielleicht, das ungefilterte, auch unwissende Glück der Anderen (das Lächeln, das Lachen, das Singen) und das steigende Flugzeug. Es steigt über die gesamte Geschichte. Am Ende dreht es sich weiter durch den Himmel „zu einer rostbraunen Wolke“ hinauf. Das ist eigentlich alles.
(19.10.2014)
Quellen
Reed Gračev (2014) Tomaten. Acht Erzählungen. Aus dem Russ. übers. von Peter Urban. Hrsg. und mit einem Nachw. von Brigitte van Kann. Berlin: Friedenauer Presse (Seite zum Buch beim Verlag)
Рид Грачев [Reed Gračev] (1967) Где твой дом : Рассказы. Москва Ленинград : Сов. писатель, 1967
Carol Ueland (1999) Unknown Figure in a Wintry Landscape: Reid Grachev and Leningrad Literature of the Sixties. The Slavic and East European Journal. Vol. 43, No. 2, S. 361.-369. DOI: 10.2307/309550
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In einer Weihnachts-Kindheitserinnerung bei Nicolas Nabokov.
Ben Kaden / @bkaden
Vladimir Nabokov stammt nachweislich (als Nachweis dient die eigentlich immer opportune Tiefenlektüre des Kanons, den er uns hinterlassen hat) aus einem kulturellen Umfeld, in der die Praxis des Lesens, das Medium Buch und die Bibliothek nicht gerade gering im Kurs standen. Es ist davon auszugehen, dass die ausreichende Versorgung der Kinder mit Druckwerken um 1900 für die Oberschicht in Sankt Petersburg so üblich war wie lange Sommer auf dem Lande. Während Vladimir Nabokov von letzteren Ferienspielen die Liebe zur Schmetterlingskunde mitnahm, spielte die Präsenz des Gedruckten in den jeweiligen Land- und Stadtsitzen sicher keine unerhebliche Rolle, um aus ihm einen der famosesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden zu lassen, wenngleich solche Mutmaßungen müßig sind. Denn ebenso war es das (wohl sehr erfüllte) Frühlingserwachen mit Walentina „Maschenka“ Schulgina, die ihn zu flammenden Frühdichtungen inspirierte, weshalb die (verlorene) Liebe ebenso wie (oder gar mehr noch als) die väterliche Hausbibliothek als Basisgranulat für die Hinwendung zur Literatur anzuerkennen ist.
Sein vier Jahre jüngerer Cousin Nicolas, der ebenfalls in einer Lebenswelt heranwuchs, in der goldene Löffel im Mund der Kinder wahrscheinlich keine Metapher waren, Landgüter wie Askania-Nova zum Familienbesitz zählten und man später die Gelegenheit hatte, darüber zu trauern, dass der Duft Trèfle Incarnat (und nicht etwa: Cuir de Russie) des Pariser Parfümeurs Maison Piver nicht mehr hergestellt wird, fand dagegen etwas, nicht minder Musisches. In seinen Memoiren reist er nach bestem Wissen und Erinnern verschriftlichend seine Biographie entlang, die 1975 unter dem Titel Bagázh. Memoirs of a Russian cosmopolitan. (New York: Atheneum) erschien.
Wobei der Bezug auf die Bagage zumindest hinsichtlich seines Onkels auch die zweite Bedeutung neben den „persenningbedeckte[n] Berge[n]“ in „Hotelhallen, Eisenbahnwaggons, auf Landauern“ einlöste. Denn Friedrich (von Falz-Fein), Gutsbesitzer zu Neu-Askanien hielt wenig von schöngeistigen (und anderen) Zerstreuungen:
„Für Onkel Friedrich waren Religion, Philosophie und ganz besonders Romane ein unnötiger Ballast, gut für Faulpelze und indolente Frauen. Er sprach gern von wissenschaftlichen Entdeckungen, von Zoologie, Botanik und angewandten Wissenschaften und von allem, was, wenn auch nur entfernt, mit Askania zu tun hatte. Aber auch über Geschichte und Politik konnte er reden, wenn seine Zuhörer intelligent und imstande waren, mit ihm zu diskutieren.“ (Nabokov, S.96)
Es handelte sich also offenbar um einen ganz normalen progressiven Patriarchen seiner Zeit. Nicolas Nabokov ließ sich davon allerdings weniger auf die Schiene der Natur schieben, sondern verlor sein Herz zielstrebig an die Musik. Dass er sich selbstironisch in die Kiste der Menschen einordnete, die die zweite Bedeutung von Bagage (sprich: Baggasche) gemeinhein betrifft, darf ausgeschlossen werden. Das Wortspiel, das seinem berühmteren Vetter so leichthändig in die entstehende Weltliteratur floss, ist die Sache Nicolas Nabokovs, wenigstens bei seiner Rückschau, nicht.
In dem sehr schön durchkoloriert ansetzenden (die TLS-Rezensentin Gabriele Annan schrieb einst von „ultra nostalgia“, Annan, 1976), ziemlich blass ausklingenden und insgesamt oft leider etwas schludrig übersetzten Erinnerungsbuch (aus deutsch. Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975) beschreibt er, wie er zu seiner Passion fand (u.a. durch die Tradition der Salonmusik), die ihn übrigens. stärker mit Vladimirs Bruder Sergej, der im Januar 1945 im Konzentrationslager Neuengamme starb, verband. Der gemeinsame Nenner hieß Verdi, während Nicolas Nabokov Sergejs Begeisterung für Wagner wenig nachvollziehen konnte.
Wobei es ihn trotz (oder wegen) der Musik ab und an in die Bibliothek zog. So schildert er in einer Nebenbemerkung zum Winter 1914 im nun auch im Stadtnamen de-germanifizierten vor- und nachmaligen Sankt Petersburg:
„Viele Geschäfte in Petrograd hatten Schilder aushängen: »Es wird gebeten, nicht Deutsch zu sprechen.« Ein solches Schild hing auch, in deutscher Sprache, in der Deutschen Abteilung der Petrograder öffentlichen Bibliothek.“ (S.112)
Das Gebäude hatte er schon zuvor als Achtjähriger entdeckt, als er im September 1911 mit einem Teil der Familie in das betrübliche Sankt Petersburg umzog:
„Das »Palmyra des Nordens« schien ungastlich und die Fahrt im Landauer endlos. Endlich, nach vielem Rumpeln und Kurven, erreichten wir eine breite Avenue. Sie war besser erleuchtet, einige menschliche Schatten huschten über die Bürgersteige. »Dies ist der Newskij Prospekt«, sagte P.S., »und dort«, er zeigte auf ein graues Gebäude, »ist die berühmte öffentliche Bibliothek, deren Direkter [sic!] Krylow war.« Er bekam keine Antwort. Ob »berühmt« oder nicht, keiner von uns fand daran Interesse. Wir waren unausgeschlafen und brummig, nichts konnte uns gleichgültiger sein, als wer der Direktor der berühmten Bibliothek gewesen war.“ (S.98)
Es bestand auch keine Eile, lag der neue Familienwohnsitz am Fontanka-Ufer (Hausnummer 25) nur zwei Straßen entfernt. Die (wahrscheinlich nur temporäre) Ignoranz Iwan Krylow gegenüber überrascht dagegen, zählten dessen Fabeln doch zur Standardlektüre der Kinder dieser Zeit und Nicolas Nabokov beschreibt, wie auf Gut Prokowskoje, dem Besitz seines Stiefvaters, in einer Art Kinderzimmerinszenierung die Fabel „Die Libelle und die Ameise“ aufgeführt wurde, wobei Nicolas die Libelle spielte. (S.37f.) (Vladimir Nabokov zählte Krylov übrigens ausdrücklich zu den Autoren, denen er in seiner berühmten Entgegnung an seine Kritiker (1966) seine „very special and very subjective admiration“ ausspricht. (S. 89))
In den Nabokov-Falz-Fein’schen Kreisen war es freilich nicht nötig, das Haus zu verlassen, um eine Bibliothek zu besuchen. Denn wie in den Kindheits- und manchen literarischen Welten Vladimir Nabokovs war ein Bibliotheksraum anscheinend fester Bestandteil eines jeden Nabokov-bewohnten Hauses, so beispielsweise auch auf dem großmütterlichen Gut in Preobrashenka:
„Wir stürmten durch die Bibliothek, das danebenliegende fumoir, einen großen Rauchsalon mit glattem Parkett, zum Haupteingang. Dort wartete ein linejka genanntes Ding auf uns – eine russische Mischform aus einer englischen Brigg und einem amerikanischen Wagen. Wir stiegen ein und fuhren einige Meilen durch die Steppe zu einem Pflaumen- und Pfirsischgarten, der am Ufer des Liman lag. An dieser flachen Bucht stiegen wir aus und gingen ans Wasser hinunter.“ (S. 77)
So konnte sie auch sein, die Kindheit in der Welt von Gestern.Im Sommer durcheilte man die Bibliothek allerdings offenbar ohne Halt, weil bereits die Kutsche zum Jodbad wartete. Im Winter jedoch verhielten sich die Dinge anders und in einem der schöneren Kapitelchen des Erinnerungsbuches in Nicolas Nabokovs beschreibt dieser ein Weihnachtsfest auf Schloss Lubcza (Любча) über der Memel, in dem er nicht nur 1903 geboren wurde, sondern in dem es eine Bibliothek sogar mit eigenem Bibliothekar gab:
„Moissej Jossifowitsch dessen Nachnamen ich nie gewußt habe, war unser Buchbinder, unser Bibliothekar und gelegentlich unser Vorleser von biblischen Geschichten. Er war ein hochgewachsener, bleicher Mann, mit einem silbernen Haarschopf, einem Tolstoi-Bart, einem pergamentenen Gesicht mit hellen blauen Augen und einer geraden griechischen Nase. Er war, wie ich später erfuhr, der zadik (Älteste) der chassidischen Gemeinde unseres Dorfes. Er las im Singsang eines Tenorinos, und wenn er sprach, war seine Stimme nur wenig mehr als ein Geflüster. Er trug einen schwarzen Gehrock und zog von Zeit zu Zeit aus seiner Hose Kandiszuckerstückchen, deren Einwickelpapier leicht nach Hering roch. Es war etwas Freundliches, beinahe Heiligmäßiges an ihm, und ich mochte ihn immer lieber und freute mich auf seine wöchentlichen Besuche in der Bibliothek.“ (S.56)
Glücklicherweise scheint die Aufmerksamkeit für das Detail und die Möglichkeit, dies auch Jahrzehnte später derart fein aufgeschlüsselt abrufen zu können, ein Basismerkmal wahlweise erfüllter und sorgenfreier Kindheiten oder einfach der Nabokovs zu sein. Und so erfahren wir einiges über die Rolle der Bibliothek und des Bibliothekars auf einem Schloss der russischen Aristokratie am Vorabend des ersten Weltkriegs. Der tiefreligiöse Moissej Jossifowitsch betreute also den Bestand und führte das Bestandsverzeichnis. Wenn er zu seinem Wochentermin ins Schloss kam
„[…] brachte [er] ein paar frischgebundene Bücher und nahm einige broschierte (meist aus der Tauchnitz-Edition) wieder mit. Den Titel jeden Buches, den Namen des Verfassers und das Erscheinungsjahr trug er in ein großes, schwarzes Kontobuch ein, das er zu diesem Zweck in vier Teile aufgegliedert hatte, Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Auf die Titelseite hatte er in schönen Lettern das Wort »Katalog« gemalt.“
Die Erschließung erfolgt offenbar einfach und zielgerichtet orientiert an den vier Leitsprachen der damaligen Bildungswelt. Die Erwerbungspolitik war freilich unsystematisch:
„Die »Bibliothek« [in dieser zeitigen Erinnerung offensichtlich noch von einer richtigen Bibliothek zu differenzieren] war ein rechteckiger Raum mit Regalen aus heller Eiche. In seiner Mitte stand ein mit grünem Fries belegter Tisch mit Stühlen herum. Er war mit Zeitungen und Zeitschriften bedeckt. Die Regale enthielten nichts Wertvolles, mit Ausnahme vielleicht einiger Bücher über Jagd, einiger zoologischer und speziell ornithologischer Werke, ferner Bände von »Klassikern« in verschiedenen Sprachen. Der größte Teil bestand aus Büchern, die jemand jemandem geschenkt oder einer der Gäste liegen gelassen hatte, aber alles – dank der Tätigkeit von Moissej Jossifowitsch – ungeachtet seines Wertes oder Inhalts, schön gebunden und nach Größe und Farbe geordnet.“ (S.57)
Bei der Aufstellung verfuhr er entsprechend so, wie wann es gemeinhin mit überschaubareren Sammlung und/oder bei räumlichen Optimierungszwang gern vornimmt: raumsparend und farbharmonisch.

Wer Weihnachten 2013 in Deutschland Eis und Schnee finden wollte, musste entweder hoch hinaus oder in die Literatur reisen. Da wir die erste Variante wählten, erscheint dieser Beitrag erst nachweihnachtlich. Andererseits gehen wir davon aus, dass unsere LeserInnen in dieser besonderen Woche des Jahres ohnehin andere Dinge unternimmt, als auf Updates im LIBREAS-Weblog zu warten. Insofern halten wir die Verzögerung für verzeihlich.
Dass sich Nicolas Nabokov so präzise an die Bibliothek erinnert, in der er als Vierjähriger den jüdischen Bibliothekar bestaunte („am Ende des Tages verabschiedete er sich mit »a git‘ Nocht«“, ebd.) liegt möglicherweise auch daran, dass der Raum eine zentrale Position in der Erinnerung an das Weihnachtsfest 1908 einnahm. Nicolas‘ Mutter war, es ist fast wie ein Filmplot, an diesem Tag in Vilnius, wo sie operiert werden musste.
„Die Operation schloß Chloroform ein – ein Wort, das mich erzittern ließ – und eine Menge bedeutender Ärzte.“ (ebd.)
Da die Behandlung also einen unsicheren Ausgang besaß, setzte man die Kinder des Hauses zum Warten in die Bibliothek und teilte ihnen mit, dass die Situation alles, was über den religiösen Kern des Weihnachtsfestes hinausreiche, ausschloss. Dieser Ausschluss beinhaltete sowohl den Christbaum wie auch die Geschenke.
„So saßen wir denn in der Bibliothek an dem Tisch mit dem grünen Fries [hier also liegt der Erinnerungsanker!], zappelten auf unseren Stühlen herum und hörten uns alle möglichen Geschichten an, die mit der Geburt Jesu zu tun hatten. [die Erinnerung an die Geschichten ist beachtenswerterweise deutlich unschärfer als die an den Raum] Wir lebten seit einigen Wochen in Fasten, und zwar griechisch-orthodoxen, die Eier, Milch, Sahne und Butter ausschlossen und Fisch nur an Sonntagen erlaubten. Der letzte Tag der Fasten, der Heilige Abend, ist der Höhepunkt, an dem man überhaupt nichts mehr essen darf, bis der erste Stern, der von Bethlehem aufgegangen ist. Nach der Chistversper in der Kirche sollte es, wegen Mutters Zustand, nur das rituelle Gericht, eine Gerstengrütze ohne Butter oder Milch und ein Kompott aus Backobst geben, Gerichte, die an die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten erinnern. Nach diesem rituellen Mahl würden wir dann zu Bett gehen und für die Gesundheit unserer Mutter beten.“ (S.58)
So saßen die Kinder mit Mossej Jossifowitsch im Bibliothekszimmer, der ihnen nur Teile des Alten Testaments und keinerlei Zerstreuungsfähiges vortrug und warteten auf den Stern. Allerdings schneite es. Das Weihnachtswunder brach anders in die gedrückte Stimmung und zwar dank der Kommunikationstechnologie dieser Zeit:
„Tante Karolina stob mit einem vor Freude strahlenden Gesicht und roten Augen ins Zimmer. Sie konnte kaum sprechen. In ihrer Hand hielt sie ein Telegramm und winkte uns damit zu. Wir flogen hin zu ihr und umarmten sie. M.J. nahm das Telegramm und las es laut vor: »Lidotschka erfolgreich operiert. Sie ist außer Gefahr. Gott segne Dich und die Kinder.“ (ebd.)
Wie auch im richtigen Leben üblich, flacht das Wundersame dieses Weihnachten in der Schilderung Nabokovs an dieser Stelle viel zu schnell ab (seinem Vetter Vladimir wäre das wahrscheinlich nicht passiert) und er koppelt an diesen emotionalen Expresszug bedauerlicherweise sofort den sorglosen Vortortbahnwaggon des kommenden Jahres. Weihnachten 1909 erhält er von Mossej Jossifowitsch an einem klaren 24.Dezember in der Bibliothek eine Einführung in die Astronomie, da ihm der Hausbibliothekar erklärt, dass der Stern von Bethlehem gar kein Stern sondern die Venus ist und in der Bibliothek erwarten die Kinder – ohne Lesungen, wie Nicolas Nabokov ausdrücklich vermerkt – die Bescherung:
„Die »wenigen Minuten« schienen eine Ewigkeit. Endlich hörten wir Schritte die Treppe herunterkommen, und Butler Alexej und Kutscher Anton in ihren Festtagslivreen öffneten beide Flügel der Bibliothekstür. Pjotr Sigismundowitsch führte die ungeordnete Herde treppauf in den ersten Stock vor den erstrahlenden Baum.“ (S.62)
Nach dem Weinachtssingen – „Wir haspelten die Lieder schnell undcon scioltezza herunter. Selbst »Stille Nacht« klang mehr wie ein Walzer als der Schmachtfetzen, der es ist.“ S.63 – ging es an die „jeweiligen Geschenktische[..]“ und ein Puppenspieler spielte den Kindern „vor der drapierten Tür der Bibliothek“ ein wenig betörendes Stück vor. Glücklicherweise bekam jedes Kind dann noch ein Shetlandpony als Dreingabe:
„Das war sicher die bemerkenswerteste aller Überraschungen des Tages. Es war das Fasten, das langweilige Vorlesen und die Strapazen des Puppenspiels wert.“ (S.64)
Und auch wenn dies ein wenig garstig und undankbar gegenüber erscheint, so birgt dieses handliche Kapitel vielleicht sogar unbewusst das Spektrum dessen, was ein Weihnachtsabend ganz allgemein so an Stimmungsschwankungen für Kinder enthält (wenn auch heute mehr ohne Fasten und zugleich meist mit etwas bescheidenerem Geschenkeniveau). Weitere Häppchen Bibliothek enthalten die Memoiren Nicolas Nabokovs leider nicht. Spätere Weihnachten feierte er zum Beispiel bei den Stravinskys in Hollywood. (vgl. S.337f.) Und irgendwann tuckert auch der Reiz solcher Anekdoten, zum Dutzendpack verschnürt, in die stille Nacht hinaus und verhallt so nach und nach. Dass die TLS-Rezensentin 1976 bis zum Schluss eine Anekdotenkette eines „virtuoso racounteur really grooving“ (Annan, 1976) las, deutet darauf hin, dass diese über eine Gabe verfügt, die mir nicht gegeben ist: Die Schleife zwischen den Cousins und wie sie jeweils im Vergleich ihre Erinnerung sprechen lassen zu ignorieren.
Wenn man also jetzt zwischen den Jahren ein Buch von nur einem Nabokov zu lesen schafft, dann sollte man sich unbedingt gegen dieses nicht uninteressante, aber eben nur auf den ersten Seiten überhaupt mitreißende Selbstandenken von Nicholas entscheiden und lieber für eines aus dem Repertoire seines Cousins. Selbst die Weihnachtserzählung des 29-Jährigen Vladimir, veröffentlicht am ersten Weihnachtsfeiertag vor 85 Jahren in der Berliner Emigrantenzeitschrift Rul, ist literarisch deutlich satter. (Nabokov, 1999) Bereits im Januar 1925 erschien in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben von Rul (und fünfzig Jahre später in The New Yorker) die herzzerbrechende andere Weihnachtsgeschichte, an dessen Ende nicht unbedingt nur der Atlasspinner an der Wand des Landhaus einen „glazy eyespot“ aufweist. (Nabokov, 1976) Oder aufwies, wie Tatyana Tolstaya in ihrer Besprechung der Kurzgeschichte für die Los Angeles Times andeutete:
„Both the theme and the message of the story were appropriate for the Christmas issue of the paper, and the marvelous description of the Russian winter probably provoked cruel attacks of nostalgia in Russian exiles pining away in the rotten January of Western Europe.“ (Tolstaya, 1996)
Berlin, Dezember 2013
Gabriele Annan (1976) Under the apple trees. In: Times Literary Supplement. 22 Oct. 1976: S. 1326.
Nicolas Nabokov (1975) Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975
Vladimir Nabokov (1966) Nabokovs Reply [Leserbrief] In: Encounter. Februar 1966, S. 80-89
Vladimir Nabokov (1976/1925) Christmas. In: ders. (1976) Details of a Sunset and Other Stories. London: Weidenfeld and Nicolson. S.151-162
Vladimir Nabokov (1999/ 1928) Eine Weihnachtserzählung. In: ders. (1999) Der neue Nachbar. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. S. 166-175
Tatyana Tolstaya (1996) A Phoenix From the Russian Snow: The perennial warmth of Vladimir Nabokov’s magical stories. In: Los Angeles Times, 04.02.1996. Online: http://articles.latimes.com/1996-02-04/books/bk-32004_1_vladimir-nabokov
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In Vladimir Nabokovs Glory.
von Ben Kaden
Vladimir Nabokovs kleiner, wundersamer Roman Glory (Originaltitel: Подвиг, Deutsch: Die Mutprobe), geschrieben auf Russisch in den frühen 1930er Jahren in Berlin, ist genau genommen ein Buch der Postkarten und Briefe, denn diese Formen interpersonaler Medien ziehen vielfältig, beziehungsprägend und somit entscheidend Schicksalsfäden zwischen den Protagonisten. Das Zitat:
„In the mornings she would wait for the postman just as avidly as during her son’s years at Cambridge, and now, when a letter came for Martin (and it was not often), in an office envelope, addressed in a spidery hand and bearing a Berlin postmark, she felt the keenest joy and, snatching the letter, hurried to his room.“ (Nabokov, 2006, S.105)
mag hier als Beispiel andeuten, wie sehr das Buch eigentlich ein „Briefroman“ ist. (Ein wenig ausführlicher hatte ich mich in dieser Randbetrachtung damit auseinandergesetzt, Kaden, 2009.)
Bibliotheksbezüge sind in Glory dagegen außerordentlich rar, was auf den ersten Blick ein wenig verwundert, da ein Handlungsschwerpunkt in der durchaus detailliert beschriebenen Universitätskultur von Cambridge liegt, wohin die Hauptfigur, Martin Edelweiss, zum jungen Nabokov nicht nur in der Wahl der Hochschulstadt durchaus biografische Parallelen aufweisend, statt wie zunächst nach Genf zum Studium der russischen Literatur und zur Nebenkarriere als Meistertorwart des Trinity-Fußballteams zog. Letztlich scheint ihm das zweite wichtiger gewesen zu sein. In seinen – Speak, Memory – Erinnerungen an seine eigen Zeit in Cambridge vermerkt Nabobov nicht nur die eher sparsamen wissenschaftlichen Ambitionen:
„Scholastically, I might as well have gone up to the Inst. M.M. of Tirana.“ (Nabokov, 1989, S.268)
sondern sehr offen und mit Nachdruck:
„Not once in my three years in Cambridge – repeat: not once – did I visit the University Library, or even bother to locate it (I know its new place now), or find out if there existed a college library where books might be borrowed for reading in one’s digs.“ (ebd.)
Was er im Nachgang möglicherweise auch deshalb bedauerlich gefunden haben könnte, da der Bibliotheksdirektor zu Nabokovs Zeit in Cambridge (1919-1922) nicht nur seine letzten Dienst- und zugleich Lebensjahre (so war es einmal: Man blieb bis zum Ende im Beruf.) verbrachte, sondern eben dieser Francis Jenkinson seine erwartbare buchwissenschaftliche Hingabe offensichtlich mit einer entomologischen zu koppeln verstand (so war es einmal: Multidisziplinarität war auch individuell üblich.).
Der zunächst ebenfalls zoologisch (bzw. ichthyologisch) bemühte Student Vladimir Nabokov (vgl. Boyd, 1999, S. 280) veröffentlichte immerhin relativ früh in seiner Studienzeit, also in diesen Jahren, seine erste englischsprachige Arbeit und zwar in der Zeitschrift The Entomologist: „A Few Notes on Crimean Lepidoptera“ (Vol. 58, Iss. Jan 1920, S. 29-33). Naturgemäß blieb auch das Krim’sche Märchen des Teenagers Martin nicht ohne entomologische Spuren. („The crickets kept crepitating […]“, Nabokov, 2006, S. 16) Wobei das schönste diesmal lepidopterologische Detail im Kapitel 21 aufflattert, in dem Martin, soeben einen alpinen Fels hinabgestürzt, auf einem bücherregalbreiten („A width of a bookshelf underfoot […]“) Gesims über dem Abhang steht und weder vor noch zurück kann:
„He experienced faintness, dizziness, sickening fear, yet at the same time he observed […] the entirely black butterfly that fluttered by with enviable casualness like a quiet little devil and began to rise along the rock face; …“ (Nabokov, 2006, S.70)
Kehrt man vom Geröll jenseits der Baumgrenze zur Bibliothek zurück – und Martin kehrt immerhin bald nach diesem Erlebnis nach Cambridge zurück – ist angesichts der bekundeten Bibliotheksignoranz Nabokovs ein Detail bemerkenswert. Im 16. Kapitel fragt ihn nämlich Sonia Zilanov, seine zu dieser Zeit in London lebende Sehnsuchtsperson und jüngere Tochter der russischen Familie, die ihn, als Bekannte seiner Mutter (der Vater, Mihail Platonovich, übersandte ihr einst den Brief mit Nachricht vom Tod ihres Mannes), in England in Empfang nehmen sollte, was in Folge Martins plötzlichem Aufeinandertreffen mit einem Freudenmädchen namens Bess vor einem Londoner Schmuckgeschäft und dann in einem Hotelzimmer erst im zweiten Anlauf und erst im Kapitel 12 (statt 11) gelang, bei einem Besuch im Universitätsstädtchen:
„And what’s that pinkish house over there?“
Erstaunlicherweise muss Martin auf der kleinen steinernen Brücke über die gemütlich fließende Cam nicht überlegen, sondern antwortet unverzüglich:
„That’s the library building …“ (Nabokov, 2006, S.55)
Genauer will es zehn Seiten später Sonias Vater Vater bei einem weiteren Besuch wissen und auch diesmal könnte Martin wenig gleichgültiger sein:
„[W]hen he encountered Sonia, he instantly had the sensation that he stood in relief against a dark background. The same thing had happened on her last visit to Cambridge (she had com with her father, who had tormented him with questions about the age of various colleges and the number of books in the Library, while she and Darwin [sein bester Freund und Sonias für Martin sehr schmerzliche Tändelei] kept quietly laughing about somehting or other) […]“ (Nabokov, 2006, S. 65)
Die beiden anderen Anspielungen auf Bibliotheken in Glory haben einen Berliner Hintergrund. Die Zilanovs sind mittlerweile in die russische Emigrations-Metropole Berlin gezogen – 1923 gab es in Berlin ca. 360.000 (!) Asylanträge russischer Flüchtlinge – und in der Tat war Berlin in diesen Jahren der intellektuelle Hotspot russischer Kultur wahrscheinlich weltweit (es erschienen 1923 allein 39 russische Zeitschriftentitel in Berlin (auch Mihail Platonovich Zilanov arbeitet nun dort als Redakteur einer Wochenzeitung) und es gab 86 russische Verlage und Buchhandlungen, vgl. Urban, 2003, S. 11 und 17) und ein großer Teil von Nabokovs russischer Prosa ist von diesen Eindrücken wundervoll durchtränkt, was seine Werke auch zu einzigartigen Zeitdokumenten dieser Jahre macht.
Über Sonia gelangt Martin nun in einen dieser zeittypischen Kreise russische Schriftsteller, die sich in diesem Fall um den mittelmäßigen aber umso selbstsichereren Stepan Bubnov (der schließlich mit Sonias Hilfe Martins Träumereien plagiiert) gruppieren, wobei Martin bewusst wird, dass er, was das literarische Zeitgeistwissen betrifft, das sich durchaus auch in Emigrantenkreisen stabil in Bezug zu den in Petrograd und Moskau publizierten Neuerscheinungen zusammenfügte, nicht mithalten kann. Zum Status des farblosen Beobachters verurteilt, von Sonia mitleidig belächelt, versucht er mittels Parforce-Lektüre aufzuschließen:
„In compensation, shamed by the backwardness of his erudition, he devoted every hour of rain to reading, and very soon became familiar with that special smell, the smell of prison libraries, which emanated from Soviet literature.“ (S.114)
Mit realen Gefängnisbüchereien und deren Duft hat das freilich wenig zu tun. Vielmehr sprüht Nabokov hier eine treffende Metapher für die unter kontrollierten Bedingungen und auf bestimmte Ziele vorsortierte bzw. geschriebene Literatur in den Raum (allerdings noch vor der Hochzeit des Sozialistischen Realismus), welche, wenn man die Schraube der Deutung noch einen Tick weiter drehen möchte, wie eine Bibliothek dem Kollektiv (hier: dem eingesperrten) übergeben wird.
Was Nabokov an dieser Stelle recht frühzeitig meinte, wird u.a. in einem Interview aus dem Jahr 1965 mit Robert Huges für das New Yorker Bildungsfernsehen Thirteen bestätigt :
„Die Sowjetliteratur… Nun , in der ersten Phase nach der bolschewistischen Revolution, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, konnte man zwischen den gräßlichen Platitüden der Sowjetpropaganda noch die verlöschende Stimme einer älteren Kultur ausmachen. Der primitive und platte Geist zwangsverordneter Politik […] bringt nur primitive und platte Kunst hervor. Das gilt zumal für die ’sozialistisch-realistische‘ und ‚proletarische‘ Literatur, wie sie im sowjetischen Polizeistaat gefördert wurde. Die Gorillas in Schaftstiefeln haben dort Schritt für Schritt das echte Schriftstellertalent, das Ausnahmeindividuum, das fragile Genie ausgerottet.“ (Nabokov, 1993. S. 98f.)
Der monolinguale und etwa ein Jahrzehnt ältere Bubnov faszinierte Martin, den der Nabokov’sche Weitblick zu diesem Zeitpunkt des Romans noch nicht ereilt hatte, zunächst sehr und mit großer Freude begleitete er diesen als eine Art Übersetzungsfamulus:
„Bubnov knew no language other than Russian, so that when he had to go to the State Library for his research and Martin happened to be free, he willingly took him along. Martin’s command of German being mediocre, he was glad when a text chanced to be in French, English, or, better still, Italian. True, he knew that language even less than German, but particularly prized his scant knowledge […]“ (Nabokov, 2006 S.115)
Mit der Erkenntnis, dass die Staatsbibliothek zu Berlin offensichtlich auch für die russischen Emigranten im Berlin der frühen 1920er Jahre ein wichtiger Anlaufpunkt war, dürfte allerdings die schöne Traube Glory hinsichtlich bibliothekarischer Bezüge bereits nahezu vollständig ausgepresst sein. Unter der motivischen Saftpresse des Eisenbahnwesens, beispielsweise, wäre die gloriose Rebe sicher weitaus ergiebiger und vielleicht sogar, wie man bei Andrej Bitow (1996) nachlesen kann, zum Thema Glauben. Und natürlich auch zur üblichen Grausamkeit verschmähter Liebe und unverstandener Träume. Aber hier geht es um die Bibliothek in der Literatur und die zwei, drei unvermeidlichen Schleifen, die sich wie von selbst dazuflochten, mögen da als Blick über den thematischen Rand reichen. Und vielleicht als Dreingabe noch eine kleine Ernüchterung aus der wohlvertrauten Mitte Berlins:
„The toy shops on the once elegant Friedrichstraße had thinned out and lost their sparkle, and the locomotives in their windows looked smaller and shabbiert. The pavement of this street had been torn up, and shirt-sleeved workmen were drilling, and digging deep smoky holes, so that you had to pick your way over planking, and sometimes even across loose sand. In the Panopticon of Waxworks on Unter den Linden the man in a shroud, energetically climbing out of his grave, and the Iron Maiden, that instrument of strong and hard torture, had lost their ghoulish charm.“ (Nabokov, 2006, S.110)
Dass diese Zeilen nahezu passgenau auf die Gegenwart geworfen werden könnten – es gibt ein blasses Madame Tussauds Unter den Linden und (nach Berliner Verhältnissen) nicht allzu weit davon wie in Ergänzung mit dem Berlin Dungeon ein weiteres Gruselkabinettstückchen sogar inklusive einer „Alten Bibliothek„, Baustellen wie beschrieben markieren den Kreuzungspunkt der benannten Straßen und nicht mehr viele Spielwarenläden gibt es auch heute noch in der Friedrichstraße – lässt nämlich Nabokovs Glory im Wechselspiel mit dem heutigen Berlin in einer fast verstörenden Überzeitlichkeit erstrahlen.
(Berlin, 11.08.2013)
Literatur
Andrej Bitow (1996) Die Unsterblichkeit eines Mückenstichs: Ein Russe liest Nabokov. In: DU: Die Zeitschrift der Kultur. Heft 6 , 1996, S. 44,45,106
Brian Boyd (1999) Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899-1940. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Ben Kaden (2009): Nabokov, Benjamin und Sharapova – einige philatelistische Marginalien. In: postiques.wordpress.com / http://postiques.wordpress.com/2009/12/09/nabokov-benjamin-und-sharapova-ein-paar-philatelistische-marginalien/
Vladimir Nabokov (1920) A Few Notes on Crimean Lepidoptera. In: The Entomologist. Vol. 58, Iss. Jan 1920, S. 29-33
Vladimir Nabokov (1989) Speak, Memory. New York: Vintage.
Vladimir Nabokov (1993) Deutliche Worte. Reinbek beim Hamburg: Rowohlt
Vladimir Nabokov (2006) Glory. London: Penguin.
Thomas Urban (2003) Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre. Berlin: Nicolaische Buchhandlung
In weiter Ferne und nah. Über Dekonstruktion, Digitalkultur und Digital Humanities
Ein Blick in aktuelle Diskurse.
von Ben Kaden / @bkaden
„So einen wie ihn wird es im digitalen Zeitalter nicht mehr geben.“
beendet der Verleger Michael Krüger seinen Nachruf auf Henning Ritter in der Mittwochsausgabe der NZZ (Michael Krüger: Leser, Sammler und Privatgelehrter. Henning Ritter – eine Erinnerung. In: nzz.ch, 25.06.2013) und lässt damit den Leser anders berührt zurück, als es ein Nachruf gemeinhin zur Wirkung hat. Denn in gewisser Weise spricht er damit der Gegenwart, die wenig definiert als von Digitalem dominiert gekennzeichnet wird, die Möglichkeit ab, eine intellektuelle Kultur hervorzubringen, für die Henning Ritter stand. Das klingt nahezu resignativ und ist aus dem tiefem Empfinden des Verlusts auch erklärbar. Die traurige Einsicht ist zudem Lichtjahre von dem Furor entfernt, der der Debatte um eine Lücke zwischen Netz und Denkkultur noch vor wenigen Jahren mit Aufsätzen wie dem über den Hass (!) auf Intellektuelle im Internet von Adam Soboczynski kurzzeitig beigegeben wurde. (Adam Soboczynski: Das Netz als Feind. In: Die ZEIT, 20.05.2009) Ich weiß nicht, ob das Netz mittlerweile als Freund verstanden wird. In jedem Fall haben sich drei Auslegungen durchgesetzt: das Netz als Medium (nüchtern-funktional), das Netz als Marktplatz und das Netz als sozialer Wirkungsraum.
Dass das Netz auch als Austragungsort intellektueller Diskurse geeignet ist, merkt man dagegen in Deutschland weniger, einfach weil die spärlichen Gegenstücke zu dem nahezu Überfluss der entsprechenden Magazinkultur im englischsprachigen Weltenkreis, die längst medial eine e– und p-Hybridkultur ist und vom New Yorker über The Point bis zur White Review reicht, kaum im Netz präsent sind. Vielleicht gibt es auch tatsächlich zu wenige (junge) Intellektuelle dieses Kalibers in Deutschland. (Einige reiben sich auf irights.info am denkbar undankbaren Themenfeld des Urheberrechts auf und manchmal rutscht bei perlentaucher.de etwas ins Blog, was in diese Richtung weist.) Und sicher hat dieses Defizit eine Reihe von Gründen. Das wir mittlerweile digitale Medienformen in unseren Alltag eingebettet haben, dürfte jedoch kaum die Ursache sein.
Dass sich die intellektuelle Kultur einer jeweiligen Gegenwart von der der Gegenwarten davor und danach unterscheidet, liegt darüber hinaus bereits offensichtlich in der Verfasstheit von Kultur begründet. Das digitale Zeitalter wird auch keinen Giordano Bruno hervorbringen (höchstens eine Giordano-Bruno-Stiftung) und keinen Walter Benjamin (höchstens einen Walter-Benjamin-Platz) und keinen Pjotr Kropotkin (höchstens noch ein unpassend eingeworfenes Zitat eines Oberschlaumeiers im politikwissenschaftlichen Proseminar). Aber „Postkarten mit aufgeklebten Zeichnungen oder vermischten Nachrichten, Briefe, die aus nichts als Zitaten bestanden“ zu versenden – das geschieht noch. Und zwar tatsächlich im Postkarten- und Briefformat und auch beispielsweise bei Tumblr, das diese Kulturpraxis des Collagierens, die an anderer Stelle selbst als Niedergang der abendländischen Kultur gesehen wurde, nahezu entfesselt erlebbar macht.
Auch intellektuelle Bohemiens gibt es erfahrungsgemäß und jedenfalls in Berlin nicht zu knapp. Nur sitzen sie – einige Jungfeuilletonisten ausgeklammert – nicht mehr bei «Lutter & Wegner», wohl aber manchmal im Verlagsprogramm bei der edition unseld und ansonsten, wenn sie noch etwas progressiver sind, doppelt exkludiert (freiwillig und weil die Verkaufskalkulatoren diesem Denken neben der Spur keinen Markt zusprechen) vom herkömmlichen Verlagsestablishment in ihren eigenen Diskursräumen (oft mehr Kammern). Und sogar den „unabhängigen Privatgelehrten, der mit einer gewissen boshaften Verachtung auf die akademischen Koryphäen herabblickt[…]“, findet man auf beliebigen Parties der Digital Boheme fast im Rudel. Die Zeiten, dass man Avantgarde war, wenn man sich von biederen Funktionswissenschaftlerei in den Hochschulen abgrenzte, waren schon vorbei, bevor man E-Mails schrieb. Der Hipsterismus hat aus dieser Einstellung sogar fast ein Freizeitutensil gemacht. Dass progressives Denken und Hochschulkarriere keine kausale Verknüpfung eingehen, sondern eher zufällig zusammenfinden, weiß mittlerweile auch jeder, sind das Universitäts- wie auch Wissenschaftssystem als rationaler Funktionskorpus doch geradezu naturgemäß darauf zugeschnitten, Denken zu normieren und in recht schmalen Kanälen zu führen.
Die Melancholie des Hanser-Verlagschefs Michael Krüger ist zweifellos nachvollziehbar. Neutral gesprochen wäre der Ausstiegssatz völlig zutreffend und selbstevident. Die Versuchung der Verklärung der persönlich verlebten Zeit als der besten aller möglichen Daseinsvarianten bedrängt sicher irgendwann fast jeden. Und einmal wird sicher eine Koryphäe der digitalen Geisteskultur einen ähnlichen Satz voller Trauer über einen Netzintellektuellen schreiben. Man darf ihm allerdings wünschen, dass er den Satz ohne Benennung der Nachfolgezeitrechnung (also ohne das dann aktuelle „digitale Zeitalter“) verfasst. Denn wie wahrer wäre die Aussage, wenn sie schlicht: „So einen wie ihn wird es nicht mehr geben.“ Oder besser noch: „Es gibt ihn nicht mehr.“ hieße. Große Persönlichkeiten, zu denen Henning Ritter, Homme de Lettres und Mensch als Mensch, zweifellos zählte, brauchen keine vergleichende Wie-Verortung im Zeitlauf.
II
Womöglich wird der „Methodenfreak“ (Süddeutsche Zeitung) Franco Moretti in diesem „einmal“ der Rückschau als eine Leitfigur der Geisteswissenschaften im Zeitalter ihrer digitalen Re-Evozierbarkeit gelten. Lothar Müller widmet dem Vorzeige-Digital-Humanist aus Stanford bereits heute im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch einen satten Sechsspalter (Lothar Müller: Ein Methodenfreak. In: Süddeutsche Zeitung, 26.06.2013, S. 14) mit einer eindrucksvollen Porträtaufnahme aus der Kamera der mit ihren Aufnahmen der deutschen Fußballnationalmannschaft ziemlich bekannt gewordenen Regina Schmeken. In der Bildrepräsentation spielt der Literaturwissenschaftler also bereits in einer oberen Liga. Isolde Ohlbaum dagegen, von der das zentrale Nachruffoto von Henning Ritter stammt (u. a. Dienstag im FAZ-Feuilleton), kennt man eher von ihren Aufnahmen von Alberto Moravia, Susan Sontag und Elias Canetti. Der Kulturbruch scheint sich bis ins Lichtbild einzuschreiben.
Franco Moretti, der ursprünglich (und „am liebsten“) theoretischer Physiker werden wollte, bricht nun tatsächlich und vielleicht noch stärker als jede These vom Tod der Autorenschaft in die stabile Kultur der Literaturanalyse ein, in dem er das Close Reading mit seiner quantitative Lektürepraxis, vorsichtig formuliert, in Frage stellt.
Lange Zeit war die Nahlektüre bereits aus praktischen Gründen die einzig gangbare wirkliche gründliche Auseinandersetzung mit Text. Denn angesichts der seit je immensen Mengen an Publiziertem, führte ein intellektuelles Mitteldistanzlesen meist nur zu – oft sehr eindrucksvollem – Querschnittswissen, was für das Kamingespräch hervorragend, für die harte wissenschaftliche Diskursführung aber zu oberflächlich ist. Die minutiöse Kenntnis weniger Texte und dazugehöriger Kontexte galt lange als edles Ziel der deutenden Textdisziplinen – wenngleich die minutiöse Kenntnis vieler Texte besser gewesen wäre, in einem normalen Wissenschaftsberufsleben aber einfach nicht realisierbar. Daher Kanonisierung, daher Beschränkung auf die Schlüsseltexte und Leitfiguren. Daher gern auch noch das dritte Buch über Achim (z.B. von Arnim).
III
Digitale Literaturwissenschaft bedeutet nun, sich der Stärken der Rechentechnik (= der automatischen Prozessierung großer Datenmengen) zu bedienen, um auf dieser Grundlage – sie nennen es „Distant Reading“ – das Phänomen Literatur strukturell, idealerweise als Gesamtgeschehen, zu erfassen, zu erschließen und (zunächst) interpretierbar zu machen. Die Manipulierbarkeit – vielleicht als „distant writing“ – wäre als Zugabe im Digitalen problemlos denkbar. Moretti trägt damit die naturwissenschaftliche Idee des verlässlichen Modells in die Beschäftigung mit Literatur:
„Ich bin auf Modelle aus […] auf die Analyse von Strukturen. Was ich am ‚close reading‘ nicht mag, ist das in den meisten Varianten anzutreffende Wohlbehagen an der unendlichen Multiplikation von Interpretationen, zum Beispiel der ‚deconstruction‘, wo die Leute umso glücklicher sind, je mehr Widersprüche sie in einem Text entdecken. Diese Beschränkung auf die immer reichere Interpretation einzelner Werke hat mich noch nie gereizt.“
So Moretti, der damit selbstredend auch eine völlige Ausblendung des Zwecks der Dekonstruktion vornimmt, die sich ausdrücklich und aus gutem Grund gegen die Reduktion der Welt auf allgemeine Regeln und hin zur Anerkennung bzw. der Untersuchung des Spezifischen wendet. Diesen Ansatz auf Wohlbehagen und Glücklichsein zu reduzieren, zeigt vor allem, wie tief die Gräben zwischen den Schulen in den USA sein müssen. Wer sich nämlich an einem dekonstruktiven Lesen versucht hat, weiß, wie unbehaglich und zwangsläufig unbefriedigend diese unendliche Kärrnerarbeit in der stetigen Verschiebung des Sinns sein muss. Mit einer modellorientierten Wissenschaftsauffassung, vermutlich sogar mit einer auf Erkenntnis (statt Verständnis) und Kontrolle (statt Anerkennung) gerichteten Wissenschaft lässt sich die Dekonstruktion kaum in Einklang bringen. Diese Art von Auseinandersetzung mit Text produziert kein sicheres Wissen, sondern im Gegenteil, wenn man so will, bewusst verunsicherndes. Das mag sie so unbequem und auch kaum leicht verwertbar machen.
IV
Was Moretti macht, wenn er Textmassen quantitativ und statistisch auswertet, entspricht prinzipiell den digitalökonomischen Datenanalysen, die man, wie wir mittlerweile wissen, auch zur geheimdienstlichen Terrorabwehr verwenden kann. Sein Konzept – er nennt es Quantitativen Formalismus – dient gleichfalls zur Strukturerschließung des Dokumentierten, also des Empirischen, wobei sich systematisch Abweichungen isolieren lassen, die man dann bei Bedarf qualitativ durchleuchten kann. Damit gewinnt man fraglos eine solidere Basis für die Auseinandersetzung mit Texten in ihrer Gesamtheit (so sie in ihrer Gesamtheit digitalisiert und Teil des Korpus sind). Man erfährt bei der richtigen Analyse viel über die syntaktischen, mitunter auch konzeptionellen Relationen zwischen Textprodukten bzw. Äußerungen. Man kann Querverbindungen und Referenzen isolieren und nachverfolgen. Bisweilen deckt man auch Plagiarismus auf und Doppelschöpfungen. Es lassen sich Aussagen über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Texten treffen (zum Beispiel über das Mapping mit Ausleihstatistiken öffentlicher Bibliotheken). Aus vielen Perspektiven können wir zu den Gegenständen der Literaturwissenschaft so exakt wie noch nie in der Wissenschaftsgeschichte Aussagen treffen, Schlüsse und Querverbindungen ziehen und Einsichten vorbereiten. Wir sind in der Lage, aus einer Art Vogelperspektive ein riesiges Feld der Literatur zu betrachten und zugleich zu übersehen.
Allerdings, und das ist der Unterschied zwischen einem guten Close Reading und dem besten vorstellbaren Distanzlesen, bleibt die Literatur aus dem Korb dieses Heißluftballons unvermeidlich unbegreiflich. Wir können nicht gut mit unserer Wahrnehmung zugleich über den Dingen und in den Dingen sein. Im besten Fall können wir also in einer Kombination von close und distant Morettis Draufsichtverfahren als Drohne benutzen, um – je nach Erkenntnis- und Handlungsinteresse – den Zugriff zu präzisieren. In dieser Hinsicht sind statistische Zugänge eine grandiose Erweiterung des wissenschaftlichen Möglichen. Die Dekonstruktion könnte sich des Quantitativen Formalismus sogar ganz gut bedienen, wenn es darum geht, etablierte Perspektiven der Dekonstruktion zu verschieben. Als Alternative wäre das Verfahren der statistisch erschlossenen Vollempirie dagegen offensichtlich untauglich, da es schlicht etwas ganz anderes in den Blick nimmt, als die Praxis der Nähe.
V
„ ‚Persönlichkeit‘ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient“, schreibt Max Weber, Morettis Idol, und dies reproduziert kaum verschleiert eine religiöse Bindung in die Wissenschaft, die hiermit die Sache zum Gottesersatz erhebt. Die Identität der Wissenschaftlerpersönlichkeit ergibt sich allein aus dem Dienst am Objekt. Mit Aufklärung hat die sich daraus leider bis heute oft ableitende Empiriefrömmelei jedoch wenig zu tun. Ein Dogma kämpft hier nur gegen das andere und für wirklich Intellektuelle war dieses Preisboxen um die Wahrheit noch nie ein besonders attraktives Spektakel, zumal sie meist nur von den billigen Plätzen zusehen durften. Nun wäre eine post-sachliche, also konsequent entdogmatisierte Wissenschaft nicht mehr Wissenschaft wie wir sie kennen, schätzen und als sinnvoll erachten. Sondern vielleicht systematisierte Intellektualität. Oder eben das, was man im besten Sinne meinte, als man Humanities eben nicht als Sciences konzipierte.
Die Digital Humanities und die quantitative Literaturwissenschaft sind nicht, wie man häufig vermutet, eine Weiterentwicklung der geisteswissenschaftlicher Praxen, sondern eine neuartige Annäherung an deren Bezugspunkte. Was dann durchaus sympathisch ist, wenn nicht Max-Weber-Adepten im gleichen Zug, diese weicheren Ansätze als inferior herausstellen, weil sie davon ausgehen, dass auch Literatur vor allem empirisch ist und damit in die Irre wandern. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert sind der Literatur und der Kunst die Ansprüche der Empirie nämlich vor allem eins: gründlich suspekt. Literatur geht es – wie übrigens auch der Dekonstruktion – nicht mehr um die Spiegelung der Welt, sondern darum, sich den Spiegeln so gut es geht zu entziehen, das Bild zu biegen, um das sichtbar zu machen, was dahinter liegen könnte. Diese Art von Literatur zielt nicht auf Wahrheit und vermutlich macht sie diese für viele unheimlich und für ein paar Freunde des Close-Readings eben doch reizvoll. Wenn diese kreativ genug sind, nicht auf Wahrheitsanspruch zu lesen, gelingt es sogar, etwas Fruchtbares und Anschlussfähiges daraus abzuleiten, das keine Statistik jemals hergibt.
VI
Nun ist zu beantworten, worin dieses Fruchtbare bestehen könnte. Hinweise liefert vor allem der Blick in die Gegenwart bzw. in die etwas jüngere Vergangenheit, also in die Entfaltungszeit des Michael Krüger’schen „Digitalen Zeitalters“ (als besäße der Äonen-Bezug noch irgendeinen diskursiven Wert). Wer sich die Entfaltung der digitalen Kultur der vergangenen zwei Jahrzehnte ansieht, erkennt unschwer, dass ihr Erfolg durch die Kombination zweier Grundprinzipien begründet ist: das des Narrativen und das der Statistik. Plattformen wie Facebook sind biografischer Abbildungsraum und Sozialkartei herunteradressiert auf die kleinste kulturelle Einheit: Das Individuum. Während uns die Zahlen (Freunde, Likes, Shares, etc.) – Übernahme aus der Ökonomie – unseren Erfolg bei der sozialen Einbindung (Netzwerk) unseres Lebens präzise nachweisen, benutzen wir die Narration unserer Selbste dazu, diese Zahlen (unsere soziale Akzeptanz) zu beeinflussen. Selbstverständlich zählt im nächsten Schritt nicht nur die Quantität, sondern auch – FOAF – die Qualität unserer Kontakte.
Etwa in der Mitte dieser zwei Jahrzehnte öffentliche Netzkultur liegt eine Zäsur. Die ersten zehn Jahre etablierten den digitalen Kommunikationsraum noch weitgehend nach dem Muster der analogen Welt (massenmediale Kommunikation hier, private Kommunikation per E-Mail, Chat, P2P-Filesharing da und obendrauf noch ein paar Versandhäuser mit Online-Katalogen) wogegen mit dem sogenannten Web 2.0 die Trennwände nach und nach durchlässig wurden, so dass mittlerweile auf unseren Privatprofilen sichtbar wird, welche Zeitungsartikel wir abgerufen und welche Musiktitel wir abgespielt haben. Das Besondere als Basis der Handlungsstrukturen rückt in den Vordergrund. Wir schwanken zwischen Me-too und Me-first, letzteres mit der Chance, ganz früh im Trend zu sein und damit zu punkten (das Pyramidenspiel des Sozialprestiges) und zugleich mit dem Risiko, fehl zu gehen.
Diese relativ leicht erfass- und visualisierbare Statistik unseres Kulturverhaltens hilft uns einerseits, einen statistisch stabilisierten Überblick über unsere Nutzungsaktivitäten in äußerst komplexen Medien zu gewinnen und andererseits, dies in die Autofiktion unserer Identität einzubinden. Was wir von Max Weber also übernehmen können, ist der subjektive Sinn und das darin Eingebettete, das irreduzibel ist auch vor der Summe des einzeln Geteilten. Dieser subjektive Sinn geht, so eine Ergänzungsthese, nämlich nicht vollständig darin auf, was wir denken, was andere in unser Handeln hineinlesen sollen, sondern er wird auch permanent eigeninterpretiert und zwar vor dem Horizont unserer Selbstwahrnehmung und in Hinblick auf die Stimmigkeit unseres Eigennarrativs.
Die Explizierungsmedien für unser soziales Handeln helfen uns nun, die permanente Fortschreibung dieser Identitätserzählung so systematisch zu pflegen, wie es sonst bestenfalls mit einem penibel geführten Tagebuch möglich gewesen wäre. Das Reizvolle für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist in diesem Zusammenhang die zu beobachtende Ausweitung dokumentarischer Praxen in die Selbstverwaltung der Identität. Wo wir unser Leben, die Spuren, aus denen wir Erinnerung generieren können, expliziert aufzeichnen und damit, teilweise öffentlich sichtbar, nachprüfbar machen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir unsere Lebensgestaltung im Sinne eine dokumentierten Kontinuität und Stimmigkeit dieser Gesamtverläufe ausrichten. Dass der Sozialdruck, entstehend aus den geteilten Reise-, Konsum- und Aktivitätsbilanzen der Anderen, eine erhebliche Rolle spielt, ist unübersehbar.
Unser Web-Selbst wird so auf bestimmte Effekte hin manipuliert bzw. manipulierbar und unser, nennen wir es mal so, Offline-Selbst daran angepasst. Gerade bei Phänomenen wie dem Online-Dating entstehen erfahrungsgemäß häufig Differenzen aus dem geweckten Erwartungsbild (oder dem angenommen geweckten Erwartungsbild) und dem tatsächlich einlösbaren Offline-Original. Rein strukturell unterstützen die Plattformen die Verwandlung unserer sozialen Repräsentation in eine vermeintlich objektiv (Statistik) bewertbare Warenförmigkeit. Dies gilt also nicht nur in Hinblick auf unsere Adressierbarkeit für Werbung, sondern auch hinsichtlich des Repräsentationsdrucks auf unsere sozialen Kontakte, die uns jederzeit aus ihrem expliziten Netzwerk entfernen können, wenn wir ihnen als unpassend oder irrelevant erscheinen.
An der Schnittstelle zum professionellen Umfeld sind entsprechende Effekte noch deutlicher. Wo potentielle Arbeitgeber in den Besitz von Partyfotos und auf dieser Grundlage zu für uns realweltlich negativen Entscheidungen kommen können (eine große Debatte vor einigen Jahren), wirken diese Strukturen automatisch auf unser Verhalten zurück. Jedes aktuelle Mobiltelefon hat eine Kamera – wir können also überall fotografiert werden und müssen entsprechend überall adäquat wirken. Fast freut man sich, dass diese Spitze der Verhaltenslenkung noch nicht in Umsetzung ist und sich die Partytouristen in Berlin-Mitte nach wie vor benehmen als gäbe es weder Instagram noch ein Morgen. Und schließlich gibt es noch diejenigen, die keine Lust (mehr) auf die Nutzung dieser Verwaltungsmedien haben, denen die Gefahr der Fremdbeobachtung und / oder der Aufwand solcher Selbst(bild)kontrolle zu hoch ist. Offen ist allerdings, was wird, wenn eine virtuelle Repräsentation normativ wird, vielleicht sogar staatlich gesteuert. Wer das für absurd hält, der sollte sich einmal mit der Geschichte des Personalausweises befassen. Dann erscheint fast folgerichtig, dass früher oder später eindeutige digitale ID-Marker für unsere virtuellen Repräsentationen als notwendig eingeführt werden.
VII
Eine schöne Herleitung der generellen digitalkulturellen Entwicklung bis heute bietet in einer nahezu enzyklopädischen Form (immerhin nach dem Untergang der Enzyklopädien und damit der Vorstellung, man könne einen allgemeinen Kanon des Faktenwissens in einer geschlossenen Form abbilden) eine im Mai erschienene und noch erhältliche Sonderausgabe des zentralen Begleitmediums der Netzkultur – der Zeitschrift Wired: Wired. The first 20 years. (Interessanterweise wurde das mittlerweile zum popkulturellen Parallelmedium etablierte und weitaus anarchischere Vice Magazine fast zeitgleich gegründet. Wer die Jahrgänge dieser Publikationen bewahrt hat, dürfte für eine Genealogie der populärkulturellen Gegenwart mitsamt der dazugehörigen Kulturindustrie eine solide Forschungsgrundlage besitzen.)

Wired. Das weiße Heft, hier platziert auf einem Retro-Liegekissen. Auf der soeben erfundenen Moretti-Skala Close-Distant-Reading lautet die Leseempfehlung für diese Ausgabe: Mittel. Wer leichtgängigen kalifornischen Selbstbespiegelungsjournalismus mag, findet exakt was er erwartet, muss es also eigentlich nur überfliegen. Wer sich gern erinnern möchte, wie alles begann mit der Netzkultur, entdeckt die richtigen Schlüsselwörter (bzw. seine Madeleines wie Proustianer sagen würden). Wer sanftmütige Insiderscherze zur Ted-Talk-Präsentationspraxis sucht, bekommt Unterhaltung für die Länge von etwa 10 Tweets. Insgesamt ist die Ausgabe ein schmuckes Sammlerstück und wir werden in zehn Jahren sicherlich mit einigem Erstaunen und nicht wenig Freude an der Nostalgie wieder hineinblättern.
Diejenigen, die in den 1990ern mit der Netzkultur anbandelten, finden zudem im Jubiläumsheft eine Dokumentation einschlägiger Leitphänomene der eigenen Vergangenheit. Die Anknüpfungspunkte von A wie Angry Birds, Apps und Arab Spring über Friendster, Microsoft (sehr ausführlich), Napster (anderthalb Spalten), Trolling („But when skillful trolls do choose to converse with their critics, they poison the discussion with more over-the-top provocations masquerading as sincere statements.”, S. 160) und Wikileaks bis Z wie ZeuS sind jedenfalls vielfältig.
Ein schöner Trigger ist natürlich das Stichwort Blogs: 1998, als die meisten nutzergenerierten Inhalte noch bei Freespace-Anbietern wie Geocities oder tripod.com lagen, existierten, so erfährt man auf Seite 34, 23 Weblogs. Webweit. Ein Jahr später waren es ein paar zehntausend und der Schlüssel war eine vergleichsweise simple Webanwendung namens Blogger eines Zwei-Personen-Unternehmens namens Pyra Labs.
Diese Geschichte, genauso wie Google, das 2003 Blogger übernahm, zeigt den faszinierenden Kern der Digitalkultur. Die entscheidenden Entwicklungen waren immer durch das Engagement weniger Akteure (eine Porträtgalerie vom Präsidenten-Fotografen Platon präsentiert von Marissa Mayer bis Tim Cook all diese Lichtgestalten in Schwarz-Weiß), sehr simple Ideen, wenig langfristiger Planung und glücklicher Fügung geprägt. All diese Spuren sind so umfassend wie bei keiner anderen mächtigen Kulturentwicklung in der Menschheitsgeschichte dokumentiert. Die heutigen Big Player der Netzkultur begannen alle mit wenig mehr als vergleichsweise minimalem Budget und einer Idee. Wo man planvoll vorging und viel Geld investierte (kottke.com), ging es meist schief.
In die vom Ende der Geschichte erschöpften 1990er Jahre drang mit dem Internet eine frische Woge Zukunft und das Versprechen lautete, dass jeder, wenn er nur einen Computer und ein Modem und etwas Fantasie hatte, eine neue Welt nicht nur betreten, sondern sogar gestalten kann. (Und außerdem mit nur einer Idee sehr reich werden.) Für die Kulturindustrie wurden zu diesem Zeitpunkt die Karten neu gemischt, was viele Vertreter der etablierten Zweige weder verstanden noch überhaupt wahrnahmen. (sh. auch Sony, S. 136)
Das konnte natürlich auch scheitern, wie beispielsweise die Idee dank Hypertext nicht-lineare Narrationsformen durchzusetzen. „You can see this as a classic failure of futurism“, schreibt Steven Johnson zum entsprechenden Stichwort (S. 92), „Even those of us who actually have a grasp of longterm trends can’t predict the real consequences of those trends.” Wirkliche Webliteratur hat sich nirgends ein Publikum erobert und selbst wer nicht-lineare Texte liebt, liest seinen Danielewski (jedenfalls nach meiner Erfahrung) doch lieber als Blattwerk.
Die Übertragung des Vernetzungsprinzips auf die Reproduktion einer Verwaltungskartei für persönliche Kontakte wurde jedoch zum derzeitigen Zentralhabitat der Webpopulation. (sh. Facebook) Das man das Hauptgewicht tatsächlich auf Identität (das Gesicht) und nicht nur auf den Kontakt (ein Rolodex 2.0 hätte gewiss allein klanglich versagt) legte, ist Teil der Rezeptur.
Das weiße Wired-Heft selbst entspricht dem flockigen, anekdotengeschwängerten und niemals langweiligen Stil, der dem Web eigen ist, ist also auch ein gutes Zeitdokument journalistischer Standards der Netzkultur und lässt sich obendrein prima am Strand lesen. Idealerweise an einem mit Netzabdeckung, denn der Artikel zum Thema QR Code ist konsequent als QR Code-Verknüpfung eingedruckt. Mindestens so erstaunlich erscheint, dass die Firma 1&1 aus Montabaur auf Seite 193 eine Anzeige schaltet, deren Anmutung schon im Jahr 1993 in Wired altbacken gewirkt hätte. Aber vielleicht gerade deshalb.
VIII
Weiß man nach der Lektüre der Ausgabe präziser, wo wir nach 20 Jahren Wired (bzw. 20 Jahren Netzpopulärkultur) stehen? Vielleicht so viel, wie man über die Literatur einer Literaturgattung weiß, wenn man den Brockhaus-Artikel oder einen Moretti-Aufsatz zum Thema gelesen hat. Man hat einen Überblick und ein paar separate Fakten. Aber ohne unmittelbare Erfahrung bleibt es blanke Oberfläche. Die unmittelbare Gegenwartserfahrung zeigt eine gewisse Konsolidierung der Nutzungspraxen, die dafür mit dem Alltag verschmelzen. Die Wired-Ausgabe zeigt auf, was die vergangenen 20 Jahre eigentlich verschoben haben und nun sitzen wir hier vor den Macbook-Air und finden es eigentlich ganz okay, wenn es einen kleinen Sprung im Display gibt, also eine Brechung der Fassade. Im Hypertext-Eintrag heißt es: „and in the long run the web needed the poets and philosophers almost as much as it needed the coders.“ (S. 92)
Das Verhältnis scheint mir längst gekippt zu sein. Digitale Frühaufklärer wie Jewgeni Morosow und Gegenrevolutionäre wie Jaron Lanier sind längst im Metadiskurs auf Augenhöhe und in gleicher Dauerpräsenz wie die lange dominanten Futuristen und Heilsverkünder anzutreffen. Diese Vielstimmigkeit ist keine schlechte Entwicklung. Auch dahingehend geschah in den vergangenen Jahren sehr viel auch an Reifung. Alle, die über zwanzig sind, wissen, dass zwanzig Jahre überhaupt kein langer Zeitraum sind. Hält man sich vor Augen, wie grundlegend und disruptiv die Kulturverschiebung eigentlich wirkt (das Wired-Heft deutet es nur an), dann lief es – auch vor dem Horizont des geschichtlichen Wissens um kulturelle Verwerfungen) – geradezu friedlich und naiv ab, was sicher auch das Resultat einer schnellen und ziemlich umfassenden Bemächtigung, Steuerung, Moderation und Gestaltung dieser Prozesse durch einen nun digitalen Kapitalismus ist.
Die Entfaltung der Schattenseiten der Technologie, ihre Intrusivität hat sich bisher mit dem Emanzipationspotential die Waage gehalten. Ihres dystopischen Gehalt sind wir uns bewusst (und wer Nachholbedarf hat, sollte Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story lesen).
Die Einblicke in Tempora und Prism durch Edward Snowden sind sicherlich eine nächste Zäsur und ein wichtiger Schritt zum Verständnis der Risiken eine Omnikodifizierung und Vernetzung unserer Lebenswelten. In jedem Fall zeigen sie die Notwendigkeit einer übergeordneten Gegenkontrolle zum angeordneten Monitoring unserer digitalen Handlungen. Entsprechend wichtig ist auch die Rolle der Intellektuellen und eines dekonstruierenden intellektuellen Diskurses dazu. Der muss nicht zwingend in der Wissenschaft geführt werden. Aber es würde natürlich der Wissenschaft nicht schaden, wenn sie ihn führte.
Das Fruchtbare dieses Bremsdiskurses wäre übrigens, dass die Gesellschaft beständig die gesamte Bandbreite ihrer Wertvorstellungen, Wünsche und Ängste gegenüber dem digitaltechnisch Machbaren und der Digitalkultur reflektiert, um früh und deutlich genug Einspruch erheben zu können, wenn etwas aus dem Ruder läuft und wenn neue Totalisierungstendenzen gleich welcher Art entstehen. Die Literatur schafft es, uns dafür sensibel zu halten, gerade in dem sie in der Nahlektüre berührt. Ich bin mir nicht sicher, wie die Stilanalytik des Distant Readings aus dem Stanford Literary Lab dafür einsetzbar wäre.
26.06.2013
It’s the frei<tag> 2013 Countdown (13): Zu Andrzej Stasiuks Gang in die Bibliothek.
von Ben Kaden
„Mein Vater hat nie Bücher gelesen, und meine liest er auch nicht und für meine Mutter, die es versucht, sind sie nicht das Richtige.“ – Andrzej Stasiuk / Im Gespräch: Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.03.2013, S. 40
Wie wird man einer der bedeutensten polnischen Gegenwartsschriftsteller, wenn man in Warschaus rechtsweichsligen Arbeiterviertel Grochów in den 1970er Jahren als Kind quasi zwangsproletarisierter Eltern (mit noch unmittelbaren Wurzeln im bäuerlichen Landleben) aufwächst? Möglicherweise, nein eher noch wahrscheinlich, dank der Bibliothek.
Jedenfalls lässt der winzige Erinnerungstext Der Gang in die Bibliothek von Andrzej Stasiuk, der auf Deutsch erstmals in der Ausgabe Mai / Juni 1999 der Zeitschrift Sinn und Form erschien (S. 490-494), kaum einen anderen Schluss zu. Oder vielleicht doch? Denn mehr als die Bibliothek umkreist das Rückspiegelbild die Anziehung, die von der Bibliothekarin ausgeht:
„Das Regal mit dem Buchstaben »D« befand sich ganz unten, am Boden. Nur von dort konnte man, ohne Verdacht zu erregen, die schlanken Beine der Bibliothekarin betrachten, die von einem schmalen Riemchen umspannten Knöchel und die Füße, die in zwei an kleine Särge erinnernden Holzklötzen eingesperrt waren. [..] Für dreizehnjährige Jungen sind zehn Jahre ältere Frauen immer ein Gegenstand bitterer, schmerzlicher Anbetung.”
Und dieser private Kult der Sehnsucht auf Höhe des Buchstaben Ds führte nicht allein dazu, dass der Junge einmal die Woche, d.h. in einer zeitlichen Distanz „lang genug, um der Lächerlichkeit zu entkommen, diesem Dämon pickliger Teenager”, in die an diesen Donnerstagnachmittagen kaum besuchte Stadtteilbibliothek ging. Sondern er hatte auch zur Folge, dass er sich mit Dumas, (Jan) Dobraczyński und Dostojewski abkämpfte. In der Bibliothek fand er neben dem ersten Knospen einer Erotik zugleich, dieses Frühblühen angesichts der Herausgehobenheit des Ortes offensichtlich deutlich bedingend, all das, was man gemeinhin von einer solchen Bibliothekssituation erwartet:
„Das ewig halbleere Glas Tee war das einzige Zeichen von Leben auf dem pedantisch aufgeräumten Schreibtisch.”
und
„[Der Duft ihres Parfums] mischte sich mit dem Geruch der Neueingänge, die auf dem Tischen links vom Schreibtisch lagen. Ich sah die Bücher von weitem und wußte, wie sie rochen: streng, angenehm und sinnlich.”
Weder die Frau allein noch die Bibliothek allein lassen sich als Stufen zum elementaren Dasein in der Schrift isoliert anführen. Es ist die intensive Erfahrung ihrer Wechselwirkung, also der Bibliothekarin als Bezugsperson und des Bibliotheksraums als Kapelle der Begegnung. So ist sinnlich auch der Faden, an dem Andrzej Stasiuk das von ihm gezeichneten Bibliotheksbild wunderbar anknüpft.
„Das einzige Geräusch war das leise Aufsetzen des Teeglases auf der Untertasse. Jede halbe Minute hörte man ein zartes, gedämpftes Ticken. Das war die Bibliotheksuhr.”
Sehen, riechen, hören und die Summe daraus: die Sehnsucht nach etwas, das sich in einem kurzen, still und hoffnungslos begehrenden Seitenblick auf den „honigfarbenen Nasenflügel, der sich von der sanft gerundeten Linie der im Schatten liegenden Wange abhob” fängt.

Tier und Bibliothek. Irgendwann im Leben gerät man bei guter Führung an einen Punkt, an dem ein bequemes Lesesofa, eine sanftmütige Katze und zwei Regalmeter als relevant erfahrene Bücher ausreichen, um einen ruhig und gelassen in einem Samstagabend zu verankern. Wenn man dann noch nebenbei ein paar Zeilen für den frei<tag>-Countdown schreiben kann, scheint es fast unvorstellbar, dass die Welt nicht Ordnung sein könnte. Natürlich liegt die Betonung auf „scheinen”. Aber warum sollte man nicht einmal das Bild des Idylle für eine Weile als wahr annehmen. Die Brüche kommen schon von selbst wieder.
Über Nacht war das alles vorbei und die Wange wurde, wenn man so will, zur Backe. Die Bibliothekarin „hatte einen Polizisten geheiratet” und die Bibliothek verlassen. Als Ersatz bezog keine neue Beauté den Schreibtisch hinter der Ausleihe, sondern
„eine außergewöhnlich magere, sommersprossige, häßliche junge Frau. Ihr Haar hatte die Farbe der Reihe »Weltliteratur der Gegenwart«. […] Sie trug Kordhosen und Halbschuhe mit flachem Absatz. Ihre auf dem Schreibtisch ruhenden Hände ragten aus kurzen Ärmeln des engen Pullis und erinnerten an die Kautschukskelette im Biologieraum.”
Und dennoch: Es ging ebenso von ihr ein Zauber aus.
„Wie früher bekam ich weiche Knie, wenn ich auf dem plattgetretenen Weg quer über den Rasen ging, und die Überwindung der schartigen Treppe war ein Akt, in dem sich Wille, Mut und Verlangen paarten.”
Die Poesie der neuen Bibliothekarin waren nicht zarte Fußknöchel oder ein weich geschwungener Nasenrücken. Sie verzauberte – ebenfalls ganz ungewollt – in dem sie andauernd weltentrückt las und dabei gänzlich die Ordnung des zuvor sorgsamst sortierten Schreibtisches verwundersam vernachlässigte:
„Da saß sie mit gesenktem Kopf, zwei Strähnen ihres Mäusehaars berührten das aufgeschlagene Buch, und ringsum herrschte ein Durcheinander von Büroklammern, farbigen Filzstifen, Lesekarten und Zetteln. Aus der vollgestopften Handtasche fielen Kämmchen, Taschentücher, Lippenstifte, Puderdöschen, Nagelfeilen – die ganze Palette einer Kosmetik, die gegen das Aussehen der Bibliothekarin völlig machtlos war.”
Gegensätzlicher könnten die beiden Sehnsuchtsfrauen des jungen Bibliotheksbesuchers nicht auftreten. Tatsächlich aber vollzieht sich für den Jungen eine Art Elevation vom Schein zum Sein:
„Denn jetzt war es nicht mehr die Schönheit der Bibliothekarin, die mich verwirrte; jetzt ging es um mehr – um ihre Seele.”
Während ihn das Fräulein »D« sinnenhaft in Wallung versetzte, bestimmt mit der Ewiglesenden ein intellektuelles Moment die Bibliotheksbesuche. Genauer: Die Angst, als Simpel entlarvt zu werden, denn eigenartigerweise entstand in der Wechselwahrnehmung des üppigen Bibliotheksbestands und der sichtbaren Lesewut der spindeldürren Bibliothekarin der Eindruck,
„sie kenne aller Bücher der Welt, ihren Inhalt und ihren Wert, und meine Ignoranz, mein schlechter Geschmack, meine Gewöhnlichkeit kämen früher oder später ans Tageslicht.”
Was er daher sucht, ist eine Anerkennung, die sich dank einer raffinierten Auswahl von auszuleihenden Titeln einstellen soll. Also paradoxerweise gerade darin, dass er eine Vorspiegelung konstruiert. Doch die extravaganten Kombinationen blieben wirkungslos:
„Daß die Berührung von Meister Eckhart mit den Gesängen des Maldoror nicht in Flammen aufging, daß das Gemisch aus dem ersten Band des »Kapitals« und der »Göttlichen Komödie« nicht explodierte, daß ich mir nicht die Finger verbrannte an dem mit einer gelben Scheibe Baudelaire belegten Brötchen aus den zwei Bänden der »Anna Karenina« …”
Das hatte seinen Grund und der ist so naheliegend wie sympathisch. Und womöglich gar typisch. Dennoch erweist sich die aus dieser spezifischen Konstellation aus tiefstem Jungenherzen erwachsene Überhöhung
„Wenn man es nicht aus häretischer, sondern aus orthodoxer Sicht betrachtet, wiederholen alle Bibliothekarinnen Evas Geste: Sie reichen jungen Männern die Frucht vom Baum der Erkenntnis.”
in all ihrem offensichtlichen Irrtum auf ihre Art doch als wahr. Denn genau dies geschah im Fall des autofiktionalen Andrzej: Die buchgewordenen Zeugnisse menschlicher Erkenntnis erhielt er zuerst aus den Händen einer Frau.
Die Verbindung von Erotik und und Buch, „das Gefühl, daß Weiblichkeit und trennbar mit Lektüre verbunden ist”, markiert unvermeidlich einen Pfad aus „Fast-Stadt” Grochów (vgl. FAZ) hinein in eine tiefe, lebendige, suchende, volle literarische Existenz. Wer diesen Zauber nie erlebte, wird es nicht nachvollziehen können. Wer es erlebt, bleibt darin daheim. Der Gang in die Bibliothek lässt sich zweifellos als Geschichte einer Art ersten, prägenden Liebe lesen.
Vielleicht also ist es auch deshalb notwendig, öffentliche Bibliotheken, besetzt mit Stereotypen so oder so verkörpernden Bibliothekarinnen, zu erhalten, um wenigstens ab und an einen Vertreter dieser schwierigen Kohorte halbstarker Frühpubertierender in eine Bahn zu lenken, die dieses andere, das betont empfindsame, das Welt an- und be-deutende Leben in Sprache und Sehnsucht zu ihrer Grundlage nimmt und damit eine der wichtigeren Facetten des sinnbezogenen menschlichen Lebens auch in den jeweils nachkommenden Generationen erhält. Dann fällt es auch nicht ins Gewicht, dass die maushaarige Sophia im Grunde ihrer Seele doch nichts anderes pflegte, als eine schnöde Krimisucht.
„Bibliotheken, in denen Männer arbeiten, haben etwas von Behördern an sich. Man tritt ein, um eine konkrete Sache zu erledigen, und geht wieder.”
schreibt Andrzej Stasiuk. Wie wünsche ich mir jetzt, auf eine Erinnerung einer Frau zu stoßen, die genau diese Aussage von Grund auf erschüttert.
(09.03.2013)
These: Die New Left ist Schuld am beklagenswerten Zustand der bibliothekarischen Literaturberatung
von Karsten Schuldt
Zu: Dilveko, Juris ; Magowan, Candice F.C. / Readers‘ Advisory Service in North American Public Libraries, 1870-2005. Jefferson, North Carolina ; London : McFarland, 2007.
Readers‘ Advisory Service in North American Public Libraries, 1870-2005 scheint auf den ersten Blick eine historische Studie über ein spezifisches Bibliotheksthema darzustellen. Realistisch betrachtet ist es aber eine in weiten Strecken unerfreuliche Ausbreitung eines einzigen ideologischen Arguments, nämlich dass die heutige Situation (beziehungsweise die Situation im Jahr 2007) der Literaturberatung in US-amerikanischen Public Libraries beklagenswert sei und die Schuld dafür bei der New Left der 1960er und 1970er Jahre zu verorteten ist. Oder mit anderen Worten: Das Buch ist ein politische Polemik aus der nordamerikanischen Rechten, welche sich allerdings nicht so sehr gegen die Linke, sondern gegen den vorgeblichen Werteverfall in Bibliotheken und Kultureinrichtungen richtet. (Zu vermerken ist, dass die beiden AutorInnen an der Universität Toronto und nicht in den USA angestellt sind beziehungsweise waren. Sie argumentieren aber, als wären sie vor allem Teil des US-amerikanischen Diskurses.) (more…)
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