LIBREAS.Library Ideas

Berlin – Ecke Queen Street. Eine Ansichtskarte.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 18. November 2018

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

Eine kleine überraschende Ergänzung unserer im LIBREAS.Tumblr – viel zu wenig – gepflegten Serie Berliner Bibliotheken fand sich unlängst in einem Ordner mit älteren Ansichtskarten und das ist naturgemäß zu schön, um nicht auch hier verzeichnet zu werden. Wie bei solchen Fundstücken üblich, sind die Wege, die sie über die Jahre – in diesem Fall immerhin schmale 111 davon – nahm, kaum rekonstruierbar. Ausgenommen von dieser Einsicht ist die erste Etappe, da es zum postalischen Gebrauch gehört, in solche Kommunikationsträger auch entsprechende Metadaten einzuschreiben – also Adresse, Datierung und Poststempel. Dadurch wird es uns möglich, sie auch heute noch eine Lektüre zu unterziehen, die freilich verwaschen bleiben muss. Denn zahlreiche Rahmenangaben für die Analysekette Wer-was-wann-wie-wo-warum? sind nicht ermittelbar und werden es mutmaßlich nie mehr sein.

Ansichtskarte - Berlin, Ontario, Public Library

King Edward schaut wie auf diese Bibliothek: Eine Ansichtskarte aus Berlin, Ontario.

Was wir unschwer sehen: Eine Madame Verret aus Quebec – und zwar Quebec City bzw. besser noch Ville de Québec entschied sich, diese Karte aus dem Sortiment des so jungen wie nach einem Brand mit Totalverlust im Jahr 1904 gebeutelten Druckhauses Warwick Brothers & Rutter, Ltd. aus Toronto zu nutzen, um einem Jules Bellard zu schreiben, in die Kleinstadt Argentan (Orne), das Textilhistoriker*innen möglicherweise wegen seiner Spitze bekannt ist, dem so genannten Dentelle-d’Argentan-Muster, kräftig, floral, robust, ein Favorit von Louis XV und danach bald weitgehend vergessen, außer in Argentan natürlich, wo heute im Museum ausführlich an diese ruhmreiche Facette der Stadtgeschichte erinnert wird.

Nach Argentan also reiste die Karte, in die Hausnummer 4 der rue [de la] Chaussee, in der sich heute ein Fachgeschäft für Mobiltelefonie befindet, nur indirekt ein Gruß und mit dem ausdrücklichen Zweck offenbar der Übermittlung der Postanschrift von Madame Verret an diesen Jules. Wer Madame Verret schreiben wollte, der schrieb an die 172 rue Richelieu in Quebec Can., vermutlich angesichts der Lage im Quartier Faubourg Saint-Jean bereits zu dieser Zeit keine schlechte Adresse und heute Standort eines wuchtigen Appartementhauses jüngeren Baujahrs und damit für die Rekonstruktion der sozio-postalischen Spuren eine Sackgasse namens Tandem – Condos sur Cor.

Der Bezug von Madame Verret zur Carnegie gestifteten öffentlichen Bibliothek in Berlin, Ontario bleibt dagegen wie heute die Rue Richelieu 172 weitgehend im Schatten und möglicherweise ist in diesem auch gar nicht übermäßig viel zu entdecken. Es könnte auch schlicht eine Motivwahl aus Zeitgeist gewesen sein. Die Bibliothek in Berlin war nämlich ein Schmuckstück ihrer Zeit, noch sehr jung – im Januar 1904 als eine von elf ihrer Art in der Region eröffnet – und besonders üppig mit Mitteln in Höhe von 24.500 $ durch eben die Carnegie Foundation gefördert.

Interessanterweise stellte man aber 1907 fest, dass der Bau für den Bibliotheksbetrieb wenig optimal war. Sie schien schnell zu klein für eine aufstrebende Kommune mit 10.000, bald 15.000 Einwohnern. Und war vor allem zu feucht, so dass der Keller nicht für Bibliothekszwecke nutzbar war. Es blieb offenbar aus gutem Grund der erste und der letzte Bibliotheksbau des in Mannheim, Warterloo County geborenen Architekten Charles Knechtel (1869-1951), der glücklicherweise den Abriss des Gebäudes im Jahr 1963 nicht mehr erleben musste, wohl aber die Schmach einer Art Rettungsumbaus. James Bertram, Privatsekretär von Andrew Carnegie, äußerte sich in einem Brief an den Ontario Inspector of Public Libraries, Walter R. Nursey, später, als Charles Knechtel längst mit der Planung von Schulen, Kirchen und Fabriken anderswo befasst war, mit einer bemerkenswert brutale Einschätzung zum Gebäude:

“[T]he Berlin bilding [sic] is one of the most short sighted planned bildings of which I have ever seen the plans. It is cut in small areas and the balcony feature could only have been introduced under the belief that money was no object as it is absolutely unnecessary and entails expenditure of money without any return whatever.” (zitiert nach Beckman, Landmead, Black, 1984, S. 52)

Nachvollziehbar frustriert mit den Vorgängen in Berlin blockte James Bertram eine ganze Weile resolut alle Anfragen des Berlin Library Boards nach weiteren Zuschüssen für eine Neugestaltung und Erweiterung des Gebäudes ab, bis er dann schließlich doch durch die regelmäßigen Anfragen von W.H. Breithaupt, Vorsitzender des Library Board Building Committee, erweicht genug war, um nochmals 12.900 $ bereitzustellen, möglicherweise besonders motiviert durch die Tatsache, dass auch die Stadt Berlin eine erhebliche Summe beisteuerte. Im Februar 1916 wurde, verzögert auch in diesem Berlin durch den Ersten Weltkrieg, die umgebaute und erheblich erweiterte Bibliothek, jetzt mit einer Kinderbibliothek und trockenem Keller, wieder eröffnet. Auch James Bertram zeigte sich nun zufrieden. Im gleichen Jahr, auch eine Folge des Ersten Weltkriegs, benannte man Berlin in Kitchener um, als Würdigung des gerade vor den Orkney Inseln mit 736 weiteren Menschen mit der HMS Hampshire nach deutschem Minenschlag ertrunkenen britischen Feldmarschalls Lord Horatio Kitchener, der unter anderem für die Strategie der “verbrannten Erde” und das Konzept der Konzentrationslager berühmt geworden war. Parallel wurde übrigens in Australien das Gebäckstück namens “Berliner”, das wir in Berlin Pfannkuchen nennen, in Kitchener Bun umgetauft und zum Beispiel auch die Siedlung Friedensthal, South Australia in Black Hill, alles kurios und zugleich eine Erinnerung daran, wie sehr zeitpolitische Symbolentscheidungen auch in der Vergangenheit häufig grotesk und furchtbar waren.

Die nun Kitchener Public Library erfüllte jedenfalls ihren Zweck bis in die 1960er Jahre. Mittlerweile war die Bevölkerung der Stadt auf über 70.000 angewachsen und entsprechend willkommen war der ganz in der Nähe von Kitcheners wichtigsten Architekten dieser Jahre, nämlich Carl Rieder, entworfene flache und sehr moderne Neubau der Main Library an der Queen Street, der im Mai 1962 eröffnet wurde. Für die Kunst am Bau beauftragte man den Maler Jack Bechtel mit einem Wandbild, das zu seiner vielleicht bekanntesten Arbeit werden sollte. Die fast vier mal zehn Meter große in erdigen Tönen gestaltete Darstellung für den Lesesaal zeigt, zum Lichte empor, das Streben des Menschen nach Wissen, heißt passend auch “Enlightenment” und entstand 1963 in der bereits eröffneten Bibliothek und zwar etappenweise in den Nachtstunden.

Den Knechtel-Bau, der wahrscheinlich nie so genannt wurde, ebnete man kurz darauf ein und irgendwann später erwuchs an seiner Stelle ein brutalistische Züge tragendes Gebäude namens The Commerce House Office Tower. Die Berliner Bibliothek blieb die einzige der elf Carnegie-Bibliotheken in der Region Waterloo, die abgerissen wurde. Allerdings verschwand im benachbarten Guelph 1964/65 ein auf den ersten Fassadenblick noch deutlich eindrucksvollerer Carnegie-Bibliotheksbau (von William Frye Colwill).

Mittlerweile verschob sich erwartungsgemäß der Blick auf das bibiotheksarchitektonische Erbe des Andrew Carnegie soweit, dass so gut wie verbliebenen Häuser im Focus des Denkmalschutzes stehen. Für Berlin-Kitchener kommt das zu spät. Aber da Madame Verret sich im September 1907 entschied, ihre Adresse auf eine Bibliotheksansichtskarte von Warwick Bros & Rutter zu schreiben, deren Programm allein die Public Library von Berlin mindestens vier Mal aufwies, und möglicherweise sogar unterfrankiert ins Vorkriegseuropa zu schicken (eine portohistorische Prüfung steht noch an) bleibt sie uns als Berlin Public Library zumindest per Bildzeugnis erhalten.

(Berlin, 18.11.2018)

Literatur

Beckman, Margaret; Landmead, Stephen; Black, John: The Best Gift: A Record of the Carnegie Libraries in Ontario. Toronto, London: Durndurn Press, 1984

Eine kurze Geschichte zu einem bibliothekarischen Phantomschmerz

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 3. Juli 2017

Zu: Helga Schwarz (2017). Das Deutsche Bibliotheksinstitut: Im Spannungsfeld zwischen Auftrag und politischem Interesse. Berlin: Simon verlag für Bibliothekswissen, 2017 [2018]

von Karsten Schuldt

Die Autorin des Buches, welches hier besprochen werden soll, hat aktuell relativ viele Auftritte in der Presse, da sie ihre Promotion – die in dem Buch vorgelegt wird – mit 81 Jahren abgeschlossen hat (zum Beispiel hier, hier, hier). Das ist auch beachtlich und eine symphatische Human Interest Story. Vor allem zeigt ihre Lebensgeschichte (erst Bibliothekarin, dann Programmiererin für Bibliotheken, Firmeninhaberin für Bibliothekssoftware und jetzt Doktorin der Bibliothekswissenschaft) ein ungebrochenes Interesse am Bibliothekswesen, dass zu bewundern ist.

In dieser Besprechung soll es allerdings nicht um diese Leistung, sondern vorrangig um ihr Buch gehen, dass als Übersicht eine Forschungslücke schliesst, die das Bibliothekswesen, wenn es an der eigenen Entwicklung wirklich interessiert wäre, schon längst hätte schliessen müssen (und können), aber gleichzeitig auch einige Kritik verdient.

 

I.

Ihr Buch umfasst die gesamte Geschichte des Deutschen Bibliotheksinstituts (dbi), einer Einrichtung, die denen, die noch nicht so lange im Bibliothekswesen sind, gerne einmal als der Glanz alter Zeiten vorgehalten wird. Früher hätte es das Institut gegeben, dann (2000) war es weg und seitdem scheint es irgendwie nicht mehr so gut zu sein im Bibliothekswesen. (Der Rezensent gehört zu denen, die nach 2000 im Bibliothekswesen ankamen und damit das dbi auch nicht mehr live erlebt, sondern nur davon gehört haben. Vielleicht hat das seine Meinung vom Buch auch geprägt.)

Dabei war die Geschichte es dbi erstaunlich kurz. Offiziell gegründet – selbstverständlich mit Vorlauf und Vorläufereinrichtungen – 1978, 2000 geschlossen und bis 2003 abgewickelt, existierte es gerade einmal 25 Jahre (drei davon in Auflösung) und hatte zum Beispiel auch nur einen Direktor und eine Direktorin. So viel Zeit hatte es also gar nicht, um Einfluss zu entwickeln.

Gegründet wurde es mit den folgenden Vorgaben:

„Das Institut erforscht, entwickelt und vermittelt bibliothekarische Methoden und Techniken mit dem Ziel der Analyse, Entwicklung, Normierung und Einführung bibliothekarischer Systeme und Verfahren.“ §2 des Gesetz über das Deutsche Bibliotheksinstitut vom 22. Mai 1978

Zeitlebens scheint es aber auch andere Ziele und Begehrlichkeiten von Bibliotheken und bibliothekarischen Verbänden gegeben zu haben. Das Buch deutet diese an, aber – dies eine Kritik, die weiter unten nochmal ausgeführt wird – es wird nicht richtig klar, welche Ziele das genau waren. Während seiner Existenz übernahm es Arbeiten an Systematiken, unterhielt Kommission (die später in den dbv übergingen, wo sie auch „herkamen“, und die Grundlage dessen heutiger Kommissionen / Fachkommission darstellten), gab Publikationen heraus (zum Beispiel die Zeitschrift schulbibliothek aktuell oder die Reihe dbi-materialien, welche aber nach Angabe des Buches oft Studien anderen Einrichtungen und nicht des dbi publizierte) und betrieb Datenbanken, zum Beispiel die Zeitschriftendatenbank und bauten (das wird mehrfach betont) subito auf (jetzt bekanntlich von einem Verein getragen). Auch nach dem Lesen des Buches wird aber über solche Aufzählungen hinaus nicht so genau klar, was das Institut tatsächlich tat oder hätte tun sollen. Gleichzeitig war es gross, zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte es über 100 Angestellte.

Nach dem Aufbau war es in den 1980er Jahren aktiv, dann geriet es in den Strudel der Veränderungen in der Wissenschafts- und Kulturpolitik nach der Wende in der DDR und der Vereinigung von BRD und DDR. Ende der 1990er wurde es dann abgewickelt.

Diese Geschichte ist das Thema des Buches. Die Autorin orientiert sich dabei auf die institutionelle Sicht. Es geht in ihrer Geschichte um Gesetze, politische Entscheidungen, Verordnungen, Evaluationsverfahren, Lobbyversuche. Dabei hat sie – wie es bei einer Promotion dieser Art zu erwarten ist – intensiv in Archiven gearbeitet und Interviews mit Beteiligten geführt. Was man aber nicht erwarten darf – obwohl es sich anböte – sind Angaben über die inhaltliche Arbeit des Instituts und seiner Wirkung (oder auch Nicht-Wirkung) auf Bibliotheken. Das wird alles nur angerissen und in Stichworten abgehandelt.1

 

II.

Leider hat die Autorin – entgegen ihrer Aussage im Vorwort, als Unbeteiligte einen objektiven Blick auf diese Geschichte zu haben – doch die Tendenz, ohne weitere Quellen (die vielleicht in der eingereichten Fassung der Promotion vorhanden waren und erst für den Verlagsdruck entfernt wurden) eigene Meinungen zu vertreten, teilweise sogar dem dbi, dem ehemaligen Direktor, ungenannten Angestellten des dbi oder auch den Bibliotheken und bibliothekarischen Verbänden, Vorwürfe zu machen. Dies wird insbesondere in den Fazits der einzelnen Kapitel – die ansonsten sehr hilfreich sind – deutlich.

Hinzu kommt die Tendenz, die Quellen nicht quellenkritisch zu verwenden, sondern – wenn es in die Argumentation passt – für die Wahrheit zu nehmen, teilweise auch „aufzuleveln“. So wird der Bericht von einer Konferenz, den Claudia Lux lieferte, zu einer „Studie“ erklärt, welche Claudia Lux durchgeführt hätte. Als ausländische Stimmen zur Schliessung wird mit Jean-Marie Reding gleich mehrfach ein Kollege aus Luxemburg zitiert, welcher bis heute sehr engagiert dem luxemburgischen Bibliotheksverband vorsteht, auf jeder bibliothekarischen Konferenz in Deutschland und der Schweiz vertreten ist und immer eine dezidierte Meinung hat – und mit diesem Wissen und dieser Aktivität gerade nicht irgendeine „ausländische bibliothekarische“ Stimme ist. Schwarz tut aber so, als wäre seine Meinung repräsentativ für die Reaktionen aus dem Ausland.

Sie hat eine Meinung zum dbi und versucht diese zu untermauern. Für eine Promotion oder einen objektive Geschichte ist das nicht angebracht und auch tatsächlich der grösste Kritikpunkt, der in dieser Rezension anzubringen ist. Es ist bleibt eine subjektive Darstellung, wenn sie auch ausführlich (auf institutioneller Ebene) ist und auf reichem Quellenmaterial, dass durch die Publikation ja in den Diskurs eingeführt wird und jetzt von anderen genutzt werden kann, basiert.

 

III.

Die Autorin setzt auch dazu an, zu erklären, wieso das dbi wieder geschlossen wurde. Es wird dazu wohl immer mehrere Deutung geben, aber laut dem Buch scheint es ein Zusammenspiel aus Animositäten innerhalb des dbi, einen schwachen Chef – wobei nicht ganz klar wird, ob die Autorin dies auch der Person selber vorwirft oder nur der Konstruktion des dbi, bei dem der Leiter keine richtige Weisungsbefugnis aber gleichzeitig mit dem Kuratorium eine übergeordnete Aufsichtsinstitution hatte – und einer Änderung der Wissenschaftspolitik, die von den Bibliotheken und bibliothekarischen Verbänden übersehen worden sei, gegeben zu haben. Das wird aber nicht nachgewiesen.

Vielmehr hat die Autorin gerade im zweiten Teil des Buches, der dem Ende des dbi gewidmet ist, die Tendenz, die Geschichte als Politikroman zu schreiben, wo einzelne Beamtinnen und Beamte der Verwaltungen, einzelne Politikerinnen und Politiker sowie Bundesländer Interessen hätten (die nicht so richtig erklärt, sondern als gegeben vorausgesetzt werden), welche dann gegeneinander intrigieren und dabei das dbi schliessen. Einen solchen Roman könnte man auch für den Anfang schreiben, aber das unterbleibt. Vielmehr hat die Autorin die Angewohnheit, im zweiten Teil ständig und ohne grösseren Kontext die Beteiligten an allen möglichen Kommissionen und Verwaltungen aufzuzählen, mit Namen und Funktion, während die Beteiligten im dbi bis auf den Direktorin und die spätere Direktorin fast immer ungenannt bleiben. (Genannt werden noch die Angestellten der Bibliothekarischen Arbeitsstelle, die aber gar nicht zum dbi gehörte, obwohl sie im Buch viel Platz eingeräumt bekommt.) Selbst dann, wenn einzelnen Personen im dbi Vorwürfe gemacht werden, bleiben sie ungenannt. Es scheint, als wäre die Politik Schuld und müsste deshalb benannt werden.

Dabei ist die Situation aus Sicht des Rezensenten recht einfach, wenn sie auch für das Personal des dbi damals persönlich destruktiv war: Das dbi wurde in der Gründungswelle von Bildungs- und Kultureinrichtungen in den 1970er Jahren gegründet und zwar in Berlin, weil Berlin – so das Buch – versuchte, sich als Zentrum des bibliothekarischen Einrichtungen zu etablieren.2 In einem politischen Akt wurde die Finanzierung für das Institut – wie für viele andere Einrichtungen dieser Gründungswelle – durch einen Eintrag auf der „Blauen Liste“ – die Einrichtungen umfasste, welche von Bund und Ländern gemeinsam gefördert wurden – gesichert. 1989 änderte sich diese Lage, einmal durch die Wende und ein anderer Mal durch die Änderung der Wissenschafts- und Kulturpolitik, die sich nun verstärkt am neoliberalen Denken orientierten. Berlin fokussierte sich darauf, Hauptstadt zu werden, die Förderung wurde von Infrastruktur auf Projektförderung umgestellt, mit der Abwicklung von Einrichtungen der DDR bildete sich eine Kultur der Abwicklungen aus, die auch auf Einrichtungen ausserhalb der DDR ausgriff.

Inhaltlicher Grund für die Schliessung des dbi war eine Evaluation durch den Wissenschaftsrat, der die Blaue Liste – jetzt die Leibniz-Gemeinschaft – zu einer Liste von Forschungseinrichtungen umbauen wollte. Die Evaluation stellte, neben anderem Lob und anderen Schwächen, fest, dass das dbi keine Forschungseinrichtung sei und empfahl die Schliessung. Die deutschen Bibliotheken scheinen dies – so zumindest die Reaktionen, von denen die Autorin berichtet – nicht so verstanden zu haben, sondern als Angriff auf die bibliothekarische Arbeit. Schwarz betont, dass sich vor allem Öffentliche Bibliotheken diese Vorstellung zu eigen gemacht hätten, während sie grossen Wissenschaftlichen Bibliotheken vorwirft, auch darauf geschaut zu haben, Projekte des dbi übernehmen zu können. Das könnte aber auch nur heissen, dass Wissenschaftliche Bibliotheken schon früher die Kultur der Projektförderung kennengelernt hatten und deshalb sahen, dass das dbi nicht weiterzuführen wäre.

Was in dieser Geschichte fehlt, scheinen zwei Dinge zu sein: Zum einen scheint es, als wäre das dbi immer nur das Ergebnis einer politischen Entscheidung gewesen, und zwar nicht vom Bund, sondern einem Bundesland, dass eine Nische zu besetzen suchte. Wenn das stimmt, wäre es nur logisch, dass – als diese Nische unnötig wurde, weil Berlin Hauptstadt war – das dbi nicht weiter gefördert wurde. Zum anderen scheint die Schliessung des dbi gerade nicht spezifisch gegen Bibliotheken gerichtet gewesen zu sein, sondern liest sich auch im Nachhinein so, als wäre sie ein später Teil der ganzen Abwicklung von Einrichtungen in den fünf neuen Bundesländern und Berlin gewesen, die in den Mitte bis Ende der 90er Jahre die Berliner Politik bestimmten, nur dass es beim dbi auch Auswirkungen auf Bibliotheken im restlichen Deutschland hatte. Aber abgewickelt wurde damals ständig irgendetwas. Man hätte diesen Kontext darstellen können, dann wäre auch diskutierbar geworden, ob und wie hier das dbi herausstach oder gerade nicht herausstach.

Dies wurde von den bibliothekarischen Verbänden und Bibliotheken, die sich äusserten, nicht so gesehen. Diese schrieben gegen die Abwicklung an und behaupteten eine besondere Wichtigkeit des dbi; eine Position, die Schwarz übernimmt, auch wenn sie den Verbänden vorwirft, damals die geänderte Zeit nicht gesehen zu haben. Aber so, wie sie es darstellt, scheinen die Veränderungen generell gegen das dbi gerichtet gewesen zu sein. Es wird im Buch ständig eine Klage wiederholt – dass eine frühere Evaluation die Fokussierung auf Öffentliche Bibliotheken gefordert hätte und dann später genau dieser Fokus negativ gewertet wurde – die wohl in den späten 1990er im Bibliothekswesen regelmässig wiederholt wurde, und angedeutet, dass diese spezifisch unfair gewesen wäre. Im grösseren Kontext scheint dies aber nur die gängige Variante der damaligen Schliessungspraxen von Einrichtungen gewesen zu sein.3

Der Rezensent würde die Situation eher dahin gehend interpretieren, dass das dbi von Anfang an schwach angebunden und mit einem unmöglichen Auftrag versehen war – oder anders: dass das Ende eigentlich schon bei der Gründung angelegt war.

 

IV.

Es wäre zu erwarten, dass eine Arbeit, wie sie die Autorin vorlegte, mit ihren rund 400 Seiten plus Anhängen, auch vermittelt, was das dbi eigentlich genau getan hat und wozu es – so die Behauptung aus der Bibliotheksszene am Ende des dbi – unverzichtbar gewesen sei. Das wird aber überhaupt nicht klar. Schwarz nennt zwar eine Anzahl an Arbeitsgebieten, aber das verbleibt auf einer ganz oberflächlichen Ebene.

Ein Beispiel: Die Autorin sieht die Arbeit im Anschluss an die Wende als den eigentlich Höhepunkt des dbi an, welches zahllosen Bibliotheken in der DDR, dann in den fünf neuen Bundesländern, Beratungen geboten hätte, damit diese ihre neuen Herausforderungen meistern könnten. Aber wie sah das den genau aus? Schwarz erwähnt Weiterbildungsveranstaltungen und persönliche Beratung. Nur: Welche Weiterbildung? Wie? Was waren die Themen? Was waren die Effekte? Wie sinnvoll war das wirklich? (Insbesondere während der Streichungswellen der frühen 90er Jahre.) Und was heisst persönliche Beratung? Ist da jemand durch die Lande gefahren und hat in den Bibliotheken Händchen gehalten? Software erklärt? Den Buchhandel? Gab es einen Telefon-Hotline? Darüber schweigt sich Schwarz aus, obwohl sie diese Beratung mehrfach betont. Und so steht es praktisch mit der gesamten Arbeit des dbi. Was haben all die Angestellten dort getan?Was wurde mit dem Rechner gemacht? Was war die Aufgabe der Datenbanken? (Schwarz nennt zum Beispiel regelmässig die Zeitschriftendatenbank, die Bibliothekarinnen und Bibliothekaren bekannt ist, aber anderen potentiellen Leserinnen und Lesern ihres Buches unbekannt sein dürfte.) Das ist auch nach dem Buch überhaupt nicht klar (und somit kann man auch mit dem zeitlichen Abstand zur Schliessung nichts mehr aus dieser Arbeit lernen). Es bleibt bei oberflächlichen Andeutungen.

Das gilt aber auch dann, wenn das dbi kritisiert wird (oder Kritiken zitiert werden). Gerade der Begriff „innovativ“ – im Sinne von „das dbi war nicht innovativ genug“ – wird im Buch oft angeführt, ohne das ersichtlich wird, was heissen soll. Teilweise scheint es – weil die Autorin mehrfach betont, dass das dbi gerade in den letzten Jahren seines Bestehens veraltete Hardware genutzt hätte und nicht sofort im Internet aktiv war – als hätte es mehr Software und Hardware haben und einsetzen sollen (und wohl auch Bibliotheken anbieten). Aber ist das schon „innovativ“? Ist das nicht gerade eine so verkürzte Vorstellung, dass es schon wieder zum Sujet wird? Teilweise scheint die Autorin vorauszusetzen, als wüssten alle Lesenden, was eigentlich die Aufgaben des dbi gewesen wären; aber das stimmt ja (wie schon mehrfach gesagt) nicht.

Grundsätzlich ist es berechtigt, eine Untersuchung, wie sie Schwarz unternommen hat, auf die institutionellen Vorgänge zu fokussieren. Es hätte aber dargestellt werden müssen, dass dies der Fokus; die Kritik ist hier hauptsächlich, dass genau dies unterblieb und mit dem Buch der Eindruck vermittelt, als würde eine Gesamtgeschichte des dbi versucht.

Ein Ergebnis diese oberflächlichen Darstellung ist allerdings, auch weil wir in einer Zeit leben, in der das dbi schon seit bald 15 Jahren nicht mehr existiert und das deutsche Bibliothekswesen trotzdem nicht zusammengebrochen ist (ganz abgesehen davon, dass andere Bibliothekswesen nie ein solches Institut hatten), als wären die ganzen Unterstützungsaussagen, die am Ende aus dem Bibliothekswesen für das dbi abgegeben wurden, nur das gewesen – Unterstützung in letzter Minute, ohne wirklichen Realitätsgehalt. Es wäre vielleicht nicht die Aufgabe der Autorin, aber von anderen gewesen, wirklich zu begründen, wozu das dbi nötig gewesen war (und vielleicht wieder wäre) – und nicht zu versuchen, nur die richtigen Floskeln anzubringen.

 

V.

Das Buch schliesst, wie schon gesagt (und wie die Autorin auch in ihren Gesprächen mit der Presse immer wieder betont), eine Lücke. Das dbi war einen Einrichtung des Bibliothekswesens, die zumindest im Nachhinein als wichtig verstanden wurde. Es ist richtig, dass diese Geschichte jetzt zumindest grundsätzlich dargestellt ist und die grundsätzlichen Quellenbestände für eine weitere Geschichtsschreibung aufgearbeitet und benannt wurden. Dass sich das Buch durch seinen Fokus auf die institutionelle Geschichte stellenweise eher träge liest, ist ihm nicht vorzuwerfen. Die Aufgabe einen Promotion ist es nicht zu unterhalten, sondern eine wissenschaftlich solide Arbeit vorzulegen.

Kritisch anzumerken bleibt die Tendenz der Autorin, ständig eigene Einschätzungen anzubringen, insbesondere, wenn diese auf Quellen aufzubauen scheinen, die nicht genannt sind. Wer hofft, durch die Aufarbeitung dieser Geschichte Argumente für ein neues dbi zu finden, wird aber enttäuscht sein. Es nicht nur nicht klar, welche Arbeit das dbi geleistet hat oder heute leisten könnte. Es wird auch klar, dass schon die Einrichtung und dann auch die Abwicklung eigentlich nichts mit den Interessen von Bibliotheken und bibliothekarischen Verbänden zu tun hatten, sondern mit politischen Entscheidung in spezifischen politischen Situationen. Mit der Verstärkung des Föderalismus in Deutschland, spätestens mit der Föderalismusreform 2006, und der Etablierung eines neoliberalen Verständnisses von Wissenschafts- und Kulturförderung, ist es unwahrscheinlich geworden, dass eine solche politische Situation in näherer Zukunft wieder eintreten wird. Und selbst dann sollte die Geschichte des dbi – aber auch anderer Projekte – eher eine Warnung davor sein, für den Aufbau bibliothekarischer Infrastrukturen auf solche politischen Möglichkeiten zu setzen – diese Situationen sind irgendwann vorbei und damit auch die Unterstützung für solche Infrastrukturen. (Bei Bauten ist das anders, die sind dann faktisch da, auch wenn die politische Situation sich ändert.)

Zu bemerken ist, dass nicht nur die Geschichte des dbi weiterhin viele blinden Flecken hat, sondern das andere Einrichtungen, die das Bibliothekswesen prägen, ähnliche institutionelle Geschichten verdienen würden, weil so klar würde, wie sie überhaupt in ihre jetzige Position geraten sind. Zu denken wäre an die grossen Firmen im Bibliotheksbereich (zum Beispiel die ekz), die bibliothekarischen Verbände, die wenigen Verlage, in denen bibliothekarische und bibliothekswissenschafliche Literatur erscheint und vor allem die schon länger laufenden Zeitschriften des Bibliothekswesens. Helga Schwarz hat anhand des dbi gezeigt, dass solche Geschichten möglich sind.

 

Fussnoten

1 Und genau hier scheint es einen Unterschied zwischen denen zu geben, die das dbi in den 1980ern noch in voller Arbeit erlebt haben und denen, die erst später dazu kamen. Vielleicht musste man Bibliothekarinnen und Bibliothekaren in den 1980er Jahren – zumindest in der BRD und West-Berlin – nicht erklären, was das dbi macht. Vielleicht hatten alle eine Meinung dazu. Heute wäre gerade das interessant.

2 In der Argumentation des Buches ist diese Behauptung auch eine Schwachstelle, da nicht gezeigt wird, wie Berlin dieser Ziel sonst noch verfolgt hat. Das Institut für Bibliothekswissenschaft an der Freien Universität wird gar nicht erwähnt, auch andere Einrichtungen nicht. So scheint es, als wäre dieses „Interesse“ Berlins mit der Gründung des dbi schon wieder erloschen zu sein.

Eventuell ist das auch die persönliche Geschichte des Rezensenten, der in der gleichen Zeit, als das dbi geschlossen wurde, in der Berliner Kinder- und Jugendpolitik erlebt hat, wie Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nur deshalb geschlossen wurde, weil von einem Jahr zum anderen 50% der Fördersumme gestrichen wurden, ohne weitere Begründung. Und das einige Jahre lang, zumeist mit viel kürzerer Frist zwischen Mitteilung der Streichung und der tatsächlichen Schliessung (zumeist, ohne das das Personal, wie es beim dbi passierte, in den Stellenüberhang des Landes Berlin übernommen wurde). Mit diesem Hintergrund scheint die Schliessung des dbi, die sich immerhin fünf Jahre hinzog, bei aller persönlichen Tragik für die Betroffenen, dann wieder wie ein Luxus.

Eine Fleissarbeit zur Geschichte der Öffentlichen Bibliotheken in Québec

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 27. Juni 2017

von Karsten Schuldt

Zu: Séguin, François: D’obscurantisme et de lumières. La bibliothèque publique au Québec des origines au 21e siècle. (Histoire et politique. Cahiers du Québec) Montréal: Edition Hurtubise, 2016

Das hier besprochene Buch sieht nach einem arbeitsreichen Kraftakt aus: Auf etwas weniger als 600 Seiten (plus Anhänge) wird die Geschichte der Öffentlichen Bibliotheken in Québec, Kanada, dargestellt. Diese Geschichte, beginnend im frühen 17. Jahrhundert, geht eigentlich nur bis in die 1990er und nicht, wie im Titel angekündigt ins 21. Jahrhundert. Aber auch das alleine war gewiss eine immense Fleissarbeit, die in den zahllosen Zitaten und Angaben aus den entlegensten Quellen, die im Buch angeführt sind, sichtbar wird. Dennoch ist am Buch einiges an grundsätzlicher Kritik zu leisten. Am Ende ist es Bibliotheksgeschichte, wie sie besser nicht mehr sein sollte.

Eine impressive Sammlung

Zuvor zu den positiven Seiten. Das Buch ist umfangreich, ohne jede Frage. Es geht grundsätzlich chronologisch vor und bindet die Geschichte der Öffentlichen Bibliothek eng an die Geschichte der Kolonie und späteren Provinz Québec (anfänglich Nouvelle-France), auch wenn diese allgemeinere Geschichte nur dann angesprochen wird, wenn es unbedingt notwendig scheint. Ansonsten wird sie vorausgesetzt.

Das Buch schreibt die Geschichte anhand unterschiedlicher Bibliothekstypen, beginnend mit frühen Privatbibliotheken, Subskriptions-Bibliotheken (bibliothèques publiques de souscription) und kommerziellen Leihbibliotheken, Lesesälen etc. (bibliothèques commerciales de prêt, cabines de lecture) über Bibliotheken von Ausbildungseinrichtungen (mit und ohne politischen Anspruch), Public libraries nach US-amerikanischem Vorbild (erst als private Gründungen, dann die Übernahme durch Gemeinden) und aktuellere Entwicklungen hin zu Öffentlichen Bibliotheken als allgemein zugängliche, öffentliche getragene Einrichtungen. Die Masse des versammelten Materials und auch der Publikationsort in den „Cahiers du Quèbec“ vermitteln den Eindruck, dass hier die definitive Sammlung und Interpretation dieser Geschichte vorgelegt würde.

Dass ist alles beeindruckend, insbesondere in seinem Detailreichtum und der tiefen Gliederung. Der Autor – in der Bibliothekswissenschaft in Forschung, Lehre und Praxis in Québec tätig – kennt seine Materie. In dem gesamten Material finden sich, selbstverständlich, zahllose Bonmots und interessanten Anmerkungen.

Nicht zuletzt – das als persönliche Nebenbemerkung –, ist das Buch als kanadisches in einem erfreulich eingängigem Französisch geschrieben, weniger umwunden und poetisierend, als es in den Texten aus Frankreich oft der Fall ist.

Kritik: Eine teleologische Geschichtsschreibung der White Settler Society

Geschichtsschreibung ist immer auch die Anordnung von Ereignissen, Daten etc. und die Auswahl davon, was dargestellt und aufgezeigt beziehungsweise gerade nicht dargestellt werden soll. Gute Geschichtsschreibung zählt dabei nicht nur Ereignisse auf, sondern bietet Struktur und zeigt gleichzeitig, wie und wo sich Geschichte auch anders hätte entwickeln können. Die Offenheit der Geschichte bleibt in ihr bestehen; es wird auch vermittelt, dass Menschen in der Lage sind, Geschichte zu bestimmen und zu machen.

Das Buch, noch mit dem Versprechen einer umfassenden Geschichte, vor dem Mitnehmen.

Eine „vorherbestimmte“ Entwicklung

Schlechte Geschichtsschreibung tut dies nicht, sie kann an vielen Punkten scheitern. Séguin scheitert daran, die Geschichte der Bibliothek in Québec als immer offene Entwicklung zu zeigen. Vielmehr geht er offensichtlich davon, dass die Öffentliche Bibliothek als allgemein zugängliche, von den Gemeinden getragene Einrichtung in der Ausprägung, wie sie heute in Québec zu finden sind, quasi das Ziel aller Entwicklung im Bibliotheksbereich sei, seit Anbeginn seiner Geschichte. Dieses Ziel sei quasi schon immer (seit dem 17. Jahrhundert) im Kern angelegt gewesen und hätte sich mit der Zeit einfach immer mehr konkretisiert. Alle vorhergehenden Formen von Bibliotheken, alle Diskussionen, alle Projekte, seien nur Vorformen, die sich quasi immer mehr zur heutigen Bibliothek entwickeln mussten, also zum Beispiel immer offener wurden. So ist das Buch strukturiert, so sind die Beispiele ausgesucht und dargestellt, so sind sie angeordnet. Es ist, um das Fremdwort zu benutzten, eine teleologische, also auf ein Ziel hin ausgerichtete, Geschichte.

Das ist, kurz gesagt, keine gute Geschichtsschreibung. Sie negiert den Gehalt älterer Diskussionen und Entwicklungen. Sie tut so, als hätte die Protagonistinnen und Protagonisten eigentlich – unbewusst – gar keine andere Wahl gehabt, als auf dieses eine Ziel (die heutige Öffentliche Bibliothek) hinzuarbeiten. So, als wenn Menschen eben doch keine richtigen Entscheidungen treffen, sondern nur dem Weltgeist folgen könnten. Deshalb übergeht das Buch auch sehr viele Fragen.

Ein Beispiel nur: Die kommerziellen Leihbibliotheken (also Unternehmen, bei denen man für eine Gebühr pro Jahr, Monat oder Ausleihe Bücher ausleihen konnte, und die – als Unternehmen – selbstverständlich auch kommerzielle Interessen verfolgten), die es sehr früh gab, die aber auch wieder eingingen, waren viel offener als spätere Bibliotheken: Wer zahlte konnte ausleihen. Punkt. Sicherlich konnte nicht jede und jeder zahlen, aber wie Alberto Martino (1990) für den deutschsprachigen Raum zeigte, waren sie für die Verbreitung des Lesens als normale Aktivität durchschnittlicher Menschen extrem wichtig. Warum also wird diese Bibliotheksform zwar erwähnt, aber im Gegensatz zu späteren Bibliotheksformen, die ihre Leserinnen und Leser mehr reglementierten und Bildungsabsichten hatten, nur als ganz frühe Vorgänger geltend gemacht? Sie existierten lange, haben also gewiss Wirkungen gehabt und präsentieren auch eine andere Möglichkeit an Entwicklung, die dass Bibliothekswesen hätte nehmen können. Aber sie passen nicht in die grosse Erzählung (die Öffentliche Bibliothek muss sich dieser Erzählung nach zur Bildungseinrichtung entwickeln), die Séguin angelegt hat.

Eine Geschichte der „grossen Männer“

Eine solche Erzählung macht es aber schwierig, die Gründe für bestimmte Entscheidungen nachzuvollziehen, die Menschen vorbrachten. Menschen tauchen bei Séguin auch – ganz in Form einer Geschichtsschreibung, von der man eigentlich dachte, sie sei untergegangen – nur als „grosse Männer“ auf, die aus der Masse herausragen und „Geschichte machen“, während andere nur folgen. Aus deren Briefen und Artikeln wird dann auch ausgiebig zitiert, aber nur aus diesen. Der Autor stellt die Entwicklung der Bibliotheken in Québec fast nur als Ideen da, die diese „grossen Männer“ hatten. Seine Geschichte ist erstaunlich kontextlos. Die Entwicklungen der Bibliotheken werden nur dann in den Kontext der Geschichte Québecs eingeordnet, wenn es unumgänglich ist. Sie waren Teil der Auseinandersetzungen um die französische und englische Sprache, zu Beginn auch zwischen Kolonialmacht und die Neu-Kolonisierten (die französisch-sprachigen) sowie der damit „verbundenen“ Kulturen, insbesondere den Ultramontanismus (die Frage, ob und wie sehr katholisch Gläubige „Papsttreu“ seien und / oder sein dürften) und den Autonomie-Bestrebungen Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts. Das wird erwähnt. Anderes wird nur vorausgesetzt. Zudem wird die Entwicklung der Bibliotheken in Québec nicht in den Kontext der bibliothekarischen Entwicklungen anderswo gesetzt, so dass es am Ende aussieht, als hätte sie sich (fast) frei von anderen Einflüssen verändert. Nur dann, wenn es nicht zu vermeiden ist (vor allem, wenn die „grossen Männer“ in ihren Texten sich explizit auf andere Beispiele – vor allem die Public Library in den USA Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts – bezogen), werden auch diese kurz erwähnt.

White Settler Society

Neben dieser, eigentlich für heutige Geschichtsschreibungen unglaublichen, Einengung fällt auch auf, dass es eigentlich nur die Geschichte der – wie ich es als kritischen Begriff aus Literatur zu Two Spirits und First Nations kenne (u.a. Driskill et al. 2011) – „White Settler Society“ erzählt wird. Séguin schildert, wenn auch wie gesagt nur kurz, Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen, die irgendwie mit Bibliotheken zu tun haben. Aber das immer mit dem Verständnis, dass es eigentlich nur zwei Gruppen gibt – mit den Sprachen französisch und englisch –, dass es halt am Anfang schon eine Kolonie gibt und die Frage nur ist, wem die „gehört“ und wie sie Provinz wird. Würde man nur Séguin lesen, man wüsste nicht, dass es in Québec First Nations gibt – die nicht nur „vorher da waren“, sondern weiterhin da sind und die zum Beispiel lange Zeit vom kanadischen Staat „integriert“ werden sollten, was hiess quasi als Gruppen verschwinden sollten, was wiederum mittels Bildung versucht wurde (Stichwort: Canadian Indian residential school system), wo zu vermuten wäre, dass Bibliotheken eine Rolle spielten – und das es andere Gruppen gibt – im Einwanderungsland Kanada, auch wenn es zeitweise nur für die Zuwanderung aus bestimmten Staaten, offen war –, die sich nicht in die Binarität französisch/englisch oder katholisch/evangelisch einteilen lassen. All das scheint für den Autor und seine Bibliotheksgeschichte nicht relevant zu sein, nicht mal – ausser ich habe es überlesen – als Anmerkung, dass es dazu nichts zu sagen gäbe. (Was so nicht sein wird.) Es ist ein unsinnig enger Blick, welcher – mal von anderen Fragen abgesehen – der Geschichte nicht gerecht werden kann. Für eine 2016 erschienenes Buch ist das ganz erstaunlich.

Ein (unbesprochenes) Detail, dass man im Buch findet, sind immer wieder Angaben zu Öffnungszeiten von Bibliotheken im 19. Jahrhundert, oft acht, neun Stunden pro Tag, fünf bis sieben Tage die Woche. Das scheint sich nicht als Tradition durchgesetzt zu haben: Hier die Öffnungszeiten der Bibliothek in Saint Édouard de Fabre, Québec (Sommer 2016). Aber auch das diskutiert Sèguin nicht, er nennt einfach nur die Öffnungszeiten älterer Bibliotheken, wenn er sie irgendwie findet.

Zuviel und zu wenig

Trotz dieser Kritik hat das Buch fast 600 Seiten, insoweit wäre es vielleicht möglich zu argumentieren, dass es nicht noch länger hätte werden sollen. Aber leider sind diese 600 Seiten durch zahllose Details erreicht worden, die wenig für das konkrete Thema liefern. Teilweise scheint es, als hätte der Autor – der offenbar auf eine über längere Zeit angesammelte, grosse Materialbasis zurückgreift – einfach alles, was er irgendwo zum Thema gefunden hat, darstellen wollen. Das macht das Buch über Längen recht langweilig, wenn zum Beispiel die Kataloge früher Bibliotheken ausgezählt und die unterschiedlichen Bestandsgruppen verglichen werden. Details, die zum einer Aussage hingeführt hätten werden müssen (Was sagt uns diese Verteilung?), aber so nur Seiten füllen. Ganz besonders auffällig ist das bei der idée fixe des Autors, ohne jeder weitere Einordnung Geldsummen zu nennen. Aber was nützt es zu wissen, dass die Mitgliedschaft in der und der Subskriptions-Bibliothek so und so viele Schilling oder Dollar gekostet hat, wenn man nicht weiss, wie das Preisniveau sonst war und mit welcher Summe das heute zu vergleichen wäre?

All diese Details machen das Buch dick und nötigen auch einen grossen Respekt vor der Arbeit, die im Buch steckt, ab. Am Ende kann so eine Sammlung aber nur Ausgangspunkt für detaillierte Studien sein, die das nötige Mehr (die Offenheit der Geschichte darstellen; zeigen, wie und wo sie sich hätte anders entwickeln können; die Geschichte nicht als reine Geschichte der White Settler Society schreiben, sondern als Geschichte diverser Gruppen, die mehr oder weniger Macht hatten; als Geschichte der vielen Menschen und nicht der paar „grossen Männer“ und so weiter) beitragen müssten.

Literatur

Driskill, Qwo-Li; Finley, Chris; Gilley, Brian Joseph; Morgensen, Scott Lauria (edit). (2011). Queer Indigenous Studies: Critical Interventions in Theory, Politics, and Literature. Tucson: The University of Arizona Press, 2011

Martino, Alberto (1990). Die deutsche Leihbibliothek: Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen; 29). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1990

Séguin, François: D’obscurantisme et de lumières. La bibliothèque publique au Québec des origines au 21e siècle. (Histoire et politique. Cahiers du Québec) Montréal: Edition Hurtubise, 2016

Bibliotheksgeschichte aktuell: Ein Blick auf Rafael Ball und Ideen zur Literaturversorgung im Jahr 1997.

Posted in LIBREAS.Debatte by Ben on 11. Februar 2016

Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)

Man ist geneigt, in Rafael Ball, den Direktor der Bibliothek der ETH Zürich, nach seinen jüngsten Äußerungen einen nur mit begrenzter Bodenhaftung ausgestatten Radikaldenker des zeitgenössischen Bibliothekswesens zu sehen. Im Prinzip folgt er jedoch, und auch das muss man anerkennen, einer bibliothekstheoretischen Ideenwelt, die einmal sehr progressiv war. (Und, wir erinnern uns, gegen massive Vorbehalte ankämpfen musste.)

Deutlich wird dies ein wenig beim Blick in die Bestände mit Ausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er verfasste für die Zeitung über einige Jahre nämlich mehr als 50 Artikel zu diversen Wissenschafts- und Bibliotheksthemen. In diesem journalistischen Schaffen lassen sich unschwer die Vorläufer dessen erkennen, was seine aktuellen Äußerungen heute motiviert. (more…)

Wie mitten im Regen. Ruth Buchanans Auseinandersetzung mit der Geschichte der Staatsbibliothek zu Berlin.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 11. Dezember 2012

zu:

Ruth Buchanan: The weather, a building. Berlin: Sternberg Press, 2012. (Seite zum Titel beim Verlag)

Als feuilletonistisches Großereignis gleich nach dem wankenden Suhrkamp-Verlag präsentiert sich heute der neue Lesesaal (bzw. die Schlüsselübergabe für selbigen) der Staatsbibliothek im Gebäude Unter den Linden. (z. B. als „Lichtkabine des Wissens“ – so Andreas Kilb in der FAZ)

Für uns ist es die Gelegenheit, einmal auf ein Buch hinzuweisen, dass ein wenig unschlüssig auf dem Schreibtisch auf Besprechung wartet. Denn aus bibliothekswissenschaftlicher Sicht lässt sich The weather, a building der von den Wurzeln neuseeländischen und von der Gegenwart Berliner Künstlerin Ruth Buchanan nicht einordnen und die dazugehörige Ausstellung Put a curve, an arch right through it in der Krome Gallery in der Potsdamer Straße haben wir leider verpasst. Im Nachhinein ist das ziemlich bedauerlich, denn ganz offenarmig tritt einem die Publikation nicht entgegen, auch wenn man natürlich sofort eine Vorstellung entwickelt, wenn man liest:

„In order for the library to truly perform, it must exceed itself, move from fixed structure to wild terrain.“

Die direkte Begegnung mit dem dazugehörigen Objekt, dass „the spilling that interrupts the library both as a spatial construct and infrastructural code“ versinnbildlicht, hätte sicher die Wahrnehmung anders geprägt, als seine Abbildung im Buch. Dennoch kann man das Buch als Impuls auch ohne Kenntnis der Ausstellung lesen. Vorausgesetzt man lässt sich wirklich darauf ein.

Cover Ruth Buchanan "The weather, a building"

Schlechte Witterungs- und Ausstattungsbedingungen verhinderten ein schöneres Coverfoto von Ruth Buchanans Künstlerbuch. Wir bitten um Nachsicht.

Ruth Buchanan thematisiert in ihrer Arbeit das Verhältnis von Räumen und Narrativen und zwar in diesem Fall konkret anhand der Entwicklung des Riesenschiffes Staatsbibliothek zu Berlin seit August 1939. Drei Ereignisse (oder auch: Motive) bilden die Eckpunkte der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand:  a) die Evakuierung und damit Zerstreuung der Bestände aus dem Haus Unter den Linden während des zweiten Weltkriegs, b) das Provisorium zur Zusammenführung von Teilen der Bestände in einer Traglufthalle am Westberliner Kemperplatz (heute Standort der Philharmonie), die bei einem Herbststurm im November 1972 „zerriß wie ein Taschentuch“ (B.Z.) und 500.000 Bände auf einmal unter freien Himmel stellte, bevor sie dann im Reichstagsgebäude ein wetterfesteres Provisorium fanden. Und schließlich c) die Wassertropfeninstallation von Günther Uecker im Scharoun-Bau am Potsdamer Platz.

Die Berliner Staatsbibliothek ist insofern zeithistorisch herausragend interessant, da die Einrichtung selbst zu einem einmaligen Symbol historischer Verwerfungen wurde. Die Geschichte unterlief in ihrem Fall sehr drastisch das Grundanliegen der Bibliotheken, wie man es wenigstens im 20. Jahrhundert noch verstand: die nachweisende und damit stabilisierende Sammlung, Erschließung und Verfügbarhaltung von Druckwerken als Zeugnisse menschlichen Denkens und Schaffens. Durch das dokumentierende Bewahren an einem festen Ort sollte eine Kultur ein festes Rückgrat aus Text und Bild erhalten, also ihre dauerhafte und vorgeordnete Grundierung.

Die Geschichte freilich unterlief dieses Ziel erst durch den Bombenkrieg, dann durch die deutsche Teilung und schließlich auch durch so etwas Unerwartetes wie das Wetter und ließ die bewundernswert um dieses Ideal kämpfenden Bibliothekare mitunter mit buchstäblich im Regen zurück. Folgerichtig ist es das Motiv des Wassers, bekanntlich mehr noch als Feuer Hauptfeind aller Printbestände, das Element, welches die drei Eckpunkte in dieser Arbeit Ruth Buchanans verbindet. In den 1940ern und im November 1972 ging es darum, die Bestände ganz unmittelbar zu retten und im Anschluss zu reorganisieren. Den Angelpunkt des Buches bildet diesbezüglich sehr anschaulich der auf Deutsch und in englischer Übersetzung abgedruckte Text Ekkehart Verspers Von der Traglufthalle ins Reichstagsgebäude: Ein Bericht über die Wiederaufstellung von 500.000 Bänden aus den Mitteilungen der Staatsbibliothek Berlin (1973). Günther Ueckers Wasserwerk wurde dagegen schnell wieder der Hahn abgedreht und die Becken mit all ihrem allegorischen Impetus blieben trockene Form.

Der neue Lesesaal im Haus I Unter den Linden schließt diese Sammlungsstreuung und Zeit der Provisorien in gewisser Weise sehr spektakulär (hoffentlich) endgültig ab und verzichtet dabei auf ewigkeitsorientierte Wasserspiele zugunsten einer nicht mehr ganz tagesaktuellen Pressearbeit namens „Noch Fragen?“ des Objektkünstlers Olaf Metzel, die offensichtlich in Popularität bei Mitarbeitern, Feuilleton und prospektivem Publikum auf einer Höhe mit Ueckers trockengelegter Tropfinstallation schwimmt.  Ob die Staatsbibliothek und ihre Bestände nun für die „Unendlichkeit der Zeit“, die Ueckers Skulptur greifbar machen wollte, ihre Fassung als wetterfeste „Camera Clara des Wissens“ (Andreas Kilb) gefunden haben, bleibt angesichts der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Weltläufe unentschieden. Die Webseite der Staatsbibliothek vermerkt zu der Arbeit im Lesesaal im Scharoun-Schiff jedenfalls: „Aufgrund des raschen Verkalkungsprozesses ließ sich jedoch Ueckers Planung nie vollständig umsetzen.“ Und Ruth Buchanans großes Thema ist ja, wie Ian White im Nachwort zu The weather, a building ausführt, ausgerechnet die Allegorie.

Lieber halten wir uns an den feierlichen Ausblick, das Andreas Kilb zum neuen Lesesaal im FAZ-Feuilleton formuliert:

„Berlin hat jetzt zwei Hochaltäre des Lesens, Max Dudlers Grimm-Zentrum an der Stadtbahntrasse und den Würfel von HG Merz. Der eine setzt ganz auf die Suggestion des Buchkastens, in dem man sich als Glied einer weltumspannenden Gemeinde geborgen fühlen kann. Der andere stemmt den Kasten himmelan, auf dass die Erleuchtung durch die Schrift niemals ende. Als Leser wird man hier wie dort glücklich.“

Wenn dann, so die Hoffnung, im Lesesaal etwas tropft, sind es hoffentlich nur die Tränen des Lektüreglücks.

(bk, 11.12.2012)

Bibliographie als Utopie. Zu einer Position aus dem Jahr 1896.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 27. August 2012

Zu:

Frank Campbell: The Bibliography of the Future. (In: Peter R. Frank (1978): Von der systematischen Bibliographie zur Dokumentation. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (Wege der Forschung; Bd. 144), S.124-142 / Original: Frank Campbell: The Theory of National and International Bibliography. London, Library bureau, 1896. Sec. II. No. 3, S. 243-259

Ben Kaden

I

Sowohl die Unkonferenz frei<tag> 2012 wie auch die LIBREAS Summer School in diesem Jahr ließen für uns in guter wissenschaftlicher Sitte mehr offene Fragen als schlüssige Antworten zurück. Das ist nur zu begrüßen, sind doch Fragen seit den Urzeiten exzellente Sensibilisierungselemente der systematischen Erkenntnisfindung.

Dass Fragen neu auftreten bedeutet jedoch nicht zugleich, dass sie auch wirklich neu sind. Meist reicht ein kurzer Blick in die Geschichte des Faches, um sich dessen zu vergewissern. Als Beispiel mögen heute Frank Campbells 1896er Überlegungen zur Bibliografie der Zukunft (wohlgemerkt: der Zukunft des Jahres 1896) dienen. (more…)