Notizen zur Bibliothekswissenschaft. Teil 1.
Bevor es in den üblichen Jahresend-Nanobreak geht, der genau genommen eine Art Millibreak ist und der die eisige Schönheit des Winters mit einem prekären Anschluss an das Internet verbindet, gibt es zum Jahresabschluss auf LIBREAS noch eine Eröffnung. In mehr oder weniger gegebener Regelmäßigkeit sollen an dieser Stelle und auch in den Ausgaben Notizen zur Bibliothekswissenschaft erscheinen. Hier die erste Folge als PDF-Download: Notizen zur Bibliothekswissenschaft.Teil 1: Das Bewahren und seine Grenzen.
Einleitung und Zusammenfassung
Die nachfolgenden Notizen stellen den ersten Teil einer Serie mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bibliothekswissenschaft dar. Ziel dieser Reihe ist eine Auseinandersetzung mit dem disziplinären Konzept der Bibliothekswissenschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Institution Bibliothek in digitalen Kontexten, also als digitale Bibliothek, definieren kann. Ich vertrete die Annahme – und dies ist zugleich die Hypothese für alle Überlegungen dieser Reihe – dass es im Zuge der Digitalisierung zu einer Art „semiotic turn“ kommt, also mit dem Verschwinden materieller Medienformen die semiotische Dimension in den Mittelpunkt rückt. Die Bibliothekswissenschaft ist in einem digitalen Umfeld nur als semiotische Disziplin denkbar.
Im ersten Teil skizziere ich das Bewahren und Vermitteln von Narrativen als Grundkonstante der Bibliothek und definiere die Bibliothek als elementaren kulturellen Funktionsträger. Desweiteren entwerfe ich in Anlehnung an eine Idee der Soziologin Elena Esposito eine daraus ableitbare mögliche Rolle der Bibliothekswissenschaft als eine Art spezifische Narratologie. Im Mittelpunkt steht die Frage, aufgrund welcher Kriterien Narrative in das Archiv Bibliothek ein- und ausgeschlossen werden.
Der Text ist als Problematisierung intendiert. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der genannten These ist prinzipiell offen. Daher ist Rückkopplung höchst willkommen.
Kulturkurven für Achtjährige: Ein kurzer Blick auf Googles Ngrammatologie
(Dieser kleine Beitrag ist der großen Maxi gewidmet, unserer wunderbaren und heute Geburtstag feierenden Redaktionskollegin. Hier ist Deine Kurve!)
„The goal is to give an 8-year-old the ability to browse cultural trends throughout history, as recorded in books“
zitiert die New York Times den Harvard Junior Fellow Erez Lieberman Aiden, der mit anderen hinter dem Google Books Ngram Viewer steht. (Patricia Cohen: In 500 Billion Words, New Window on Culture. In: nytimes.com, 16.12.2010) Die Alterszuschreibung ist dabei weniger zufällig gewählt, als der kurzsichtige Zeitungsleser möglicherweise annimmt. Das „childparenting“-Portal von About.com weist für Achtjährige (auch in Hinblick auf die anstehenden Weihnachtsfestivitäten interessant) neben dem Fahrrad auch folgende zielgruppengeeignete Objekte aus: „Science Kits, Craft Kits,…, Books…“. Und wo findet man schon mehr Bücher als bei Google Books und das auf der Kostenebene für den Gegenwert eines Internetzugangs?
Google Labs führt mit dem Ngram-Viewer in gewisser Weise „Science Kits“ und „Books“ zusammen und streut eine Prise Franco Moretti (=quantitative Literaturwissenschaft) dazu. Die Leute hinter dem Ngram-Viewer nennen die daraus resultierenden Erkenntnismethoden Culturomics und von dort dürften es nur noch wenige Schritte zu einer Culturmetrics zu nennenden aktualisierten Bibliometrie sein.
Der Ngram-Viewer zeichnet schon einmal ganz wunderbar den Verlauf der Häufigkeit des Auftretens von Zeichenketten im – so wird gesagt – 500 Milliarden Wörter starken Korpus der Google Book-Scans. Wirklich spannend wenn man Verläufe verschiedener Ausdrücke übereinander legt und damit die Tür zur Interpretation der Stellung der bezeichneten Phänomene innerhalb des Publikationsgeschehens des 20. Jahrhunderts (ins 21ste lappt der Korpus bis 2008) per Graphen öffnet.
Vergleicht man beispielsweise die zunächst etwas konkurrierenden und mittlerweile komplementär auftretenden „Bibliothekswissenschaft“ und „Informationswissenschaft“, erhält man folgendes Bild:
Die Informationswissenschaft betritt die Bühne des Publikationswesens ziemlich genau zum Zeitpunkt der Shannon-Zäsur (Publikation der Mathematical Theory of Communication), schrammt eine Weile an der X-Achse entlang, um Mitte der 1960er Jahre abzuheben, Mitte der 1980er den Klimax zu erreichen und schließlich in ein sanftes Tal hinabzugleiten, das sich gen Millenium etwas aufhügelt.
Die Bibliothekswissenschaft saust dagegen schon 1920 mit einer gewissen Häufigkeit auf die Bühne, springt um 1930 über die 0,000010 % Marke (des Gesamtaufkommens an Wörtern), erlebt nach 1945 eine Hausse, die wahrscheinlich der Wachstumskurve des Wirtschaftswunders nicht unähnlich ist, um in den 1970er Jahren an die Decke der Darstellung zu stoßen. Danach bricht sie ein wie der Neue Markt im Herbst des Jahres 2000, kämpft sich aber interessanterweise mit dem Boom der Dot-Com-Industrien kurz davor tapfer nach oben. Was die obige Grafik verbirgt, sieht man, wenn man die Suche bis zum chronographischen Ende des Korpus (2008) erweitert: Etwa um 2002 bricht die Bibliothekswissenschaft ein und wir in Berlin wissen, was die lokalen Hochschulstrukturreformbemühungen zu diesem Zeitpunkt beabsichtigten…
Die Dokumentationswissenschaft zeitigt weniger Auf-und-Abs, hat es aber nie geschafft, auch nur die Linie der Informationswissenschaft zu tangieren.
Nun werden sich die Achtjährigen aller Altersstufen nur bedingt für die Schicksalslinien der beschrieben drei disziplinären Teile unseres Wissenschaftsblickwinkels beschäftigen. Sondern eher musikalische Phänomene vergleichen, ihre Lieblingsportarten gegeneinander aufrechnen, die Popularitätsverläufe einzelner Haustierrassen nachzeichnen oder die Beliebtheit von Schriftstellern der Gruppe 47 aneinanderlegen. Oder ermitteln, dass Heckenbraunelle und Williams Christ bei der Häufigkeit ihrer Referenzierung im letzten Jahrhundert gar nicht so weit auseinander liegen.
Weitaus mitreißender als die Parallelität von Vögeln und Birnen ist aber das, was Rückschlüsse auf den Unterschied zwischen E- und P-Welt zulässt. Beispielsweise der Vergleich dieser zwei Basisbausteine unserer Kultur:
Das deutschsprachige Google-Internet positioniert das Verhältnis dagegen aktuell so: Rot=23 Millionen Treffer, Blau=8,87 Millionen Treffer. Das harmoniert wiederum mit den Trends, die uns die Kurve für englischsprachigen Druckerzeugnisse vorzeichnen (Wobei man allerdings berücksichtigen sollte, wie stark dabei aufgrund der erweiterten Semantik im Englischen der Feminismus in diese Kurven eingeflossen sein dürfte.)
Das Potential der Ngram-Visualisierung wird vermutlich bereits anhand der wenigen angeführten Beispiele deutlich, wobei es noch aussteht, die einflussnehmenden und mitunter verzerrenden Faktoren zu ermitteln. Für retrospektive Trendanalysen bietet sich damit jedoch in jedem Fall ein wundersames Werkzeug für gesellschafts- und kulturorientierte (undbibliotheksorientierte) Wissenschaften. Und die ideale Festtagsbeschäftigung für alle, auf die diese Beschreibung des zurückgezogenen achtjährigen Kindes auch in späterem Alter noch zutrifft:
„An introverted child may enjoy some limited group activity that is balanced with independent playtime. She often likes to read or play alone.“
Für die Generation des Post-Web 2.0, also die notorischen Facebookcases muss das Angebot noch mit entsprechenden Schnittstellen ausgerüstet werden, die aus dem Ngram-Buch-Vergleich ein Gesellschaftsspiel werden lassen. Denn für diese Akteure gilt laut About.com:
„The extraverted child will not be happy playing alone for long and she revels in group activities such as sports and games.“
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: Der Porlock des Vladimir Nabokov
Der Name Porlock ist kein seltener in der Geschichte der Weltliteratur. Dabei allerdings selten ein beliebter. Dass er der Bezeichnung der bei H.G. Wells recht unfreundlich dargestellten Eloiphagen ähnlich klingt, hilft ganz und gar nicht. Dabei hieß der ungewollte Besucher Samuel Coleridges, der ihm, wie die Sage weiß den Kubla Khan verdarb, überhaupt nicht so, sondern stammte nur aus dem gleichnamigen Dörflein am Bristolkanal. Im Hypertext der Literaturgeschichte lieh der verflixte Handlungsreise allerdings seinen Namen ganz illustren Figuren. Im Hypertext des Ted Nelson’schen Xanadu störte er dagegen meines Wissens niemanden. Vielmehr tauchte er gar nicht auf.
Gekonnt hätte er es vielleicht, denn glaubt man Vladimir Nabokov und seinen Vane Sisters, deren kurzgeschichtliche Eröffnung ebenso sehr gut zur aktuellen Witterung passt, wie ihre versteckte Botschaft, wühlte ein Bibliothekar dieses Namens tief und quer durch Bücher auf der Suche nach ganz bestimmten Störbuchstaben. Nabokov selbst wollte die sprichwörtliche „Person from Porlock“ sogar einmal zum Titelgeber eines seiner Bücher machen, entschied sich aber für die raffiniertere Variante Bend Sinister. In Lolita verarbeitet er allerdings „A.Person, Porlock, England“ in Gestalt einer Quilty’schen Kammerzote („trite poke“), die jedoch weniger flach ist, als man meint. Ein Lektor namens Person, aber ohne Porlock, sollte später in Transparent Things aufgrund einer leichten räumlichen Verwirrung in einem Schweizer Hotel a) einer Armande und b) einer Rauchgasvergiftung erliegen.
Für uns ist selbstredend der mit Cynthia Vane halbbefreundete Bibliothekar von Belang, treibt er doch mit seiner Leidenschaft die Idee der textverliebten Schrulligkeit auf eine eigenwillige Spitze:
„Speaking of old men, one should add that sometimes these posthumous auspices and interventions were in the nature of parody. Cynthia had been on friendly termes with an eccentric librarian called Porlock who in the last years of his dusty life had been engaged in examining old books for miraculous misprints such as the substitution of l for the second h in the word „hither“.“ (Vladimir Nabokov: The Vane Sisters. In: Ders.; Collected Stories. London: Penguin, 1997. S. 626)
Obwohl fast jede Nabokov’sche Wendung das Potential hat, Begeisterung auszulösen, ist es gerade das Klischeehafte des „dusty life“, das hier den entscheidenden Stich setzt und uns vollkommen für den alten Herren einnimmt.
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In einem Jugendtagebuch von Salvador Dalí
Trotz der zwangsläufigen Anpassung an den Arbeitsalltag der Digital Workforce in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft und -praxis, in der ein konzentriertes Close Reading zugegeben oft mit den Anforderungen des termindurchwobenen Arbeitsalltages kollidiert, gelingt es uns doch noch ab und an in einem Papierbuch auf eine schöne Stelle zu stoßen, die die Bibliothek in fremden Kontexten und aus anderen Augen gesehen wiedergibt.
Auf unserer Facebook-Seite haben wir daher irgendwann begonnen, ausgewählte Exzerptstellen aus unseren Aufschreibbüchlein ins Internet zu tippen, in der Hoffnung, dass sich über die Jahre eine schönen Zitatensammlung ergibt. Dabei handelt es sich durchweg um dekontextualisierte Passagen, die, wie es bei Fundstücken üblich ist, im Idealfall eine eigene, neue Bedeutungskonstruktion anregen.
Da Facebook die Eingabemöglichkeiten jedoch auf Kurzzitat-Länge begrenzt (ca. 450 Zeichen) und bereits die oben stehenden zwei Sätze diese Hürde locker nehmen, nutzen wir nun eben diese Plattform und ergänzen eine neue Rubrik.
Den Anfang macht ein kleines Zitat aus einem Tagebuchheft des damals 15-jährigen Salvador Dalí, der von einem Ereignis an seinem Gymnasium in Figueres (Katalonien) berichtet:
„Samstag, 22. November [1919] … Man zieht unsere Moral in Zweifel! Jedes Mädchen wurde bei der Ankunft von Pedellen in die Bibliothek gebracht. Die Mädchen haben laustark protestiert. Sie haben uns wissen lassen, daß sie uns schrecklich vermissen und wir sie aus diesem Gefängnis befreien sollen.“
(Aus: Dalí, Salvador: Aufzeichnungen eines werdenden Genies. Tagebücher 1919-1920. München: Schirmer/Mosel, 2004. S. 36)
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