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Raum_SHIFT Informationswissenschaft 2013: Rückschau auf die dritte frei<tag>-Unkonferenz

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Verein by Ben on 23. März 2013

Das 13th International Symposium of Information Science (ISI 2013) wird möglicherweise als die am wenigsten betwitterte Konferenz (#isi2013) des Jahres in der Statistik unter der Rubrik Sonstiges auftauchen. Und auch der an dieses Mutterschiff des Fachdiskurses angedockte Unkonferenz raum:shift information science (#frei13) litt ein wenig unter der nur schwankenden bis vollständig abgetauchten konferenzbegleitenden W-LAN-Verbindung. Dass ein lokaler Mitarbeiter der Fachhochschule Potsdam auf Nachfrage schulterzuckend entgegnete, was man denn wolle, so sei das nun mal in Institutionen mit geschlossenem Netz, tropfte etwas Wermut in die ansonsten doch sehr gelöste Stimmung dieses Freitags. Jemand anderes meinte zweckoptimistisch, dass es doch ganz gut sein, wenn sich die TeilnehmerInnen auf die Gespräche und nicht auf das Begleitrauschen im WWW konzentrierten.

Nachdem wir uns von dem Gedanken verabschiedet hatten, die Unkonferenz in einer Art Livecasting möglichst umfassend digital zu begleiten, erwies sich das als womöglich sogar günstigere Konstellation. (Dennoch hätte man selbstverständlich gern die Wahl.) Einzig die Nachbereitung ist nun für uns ein bisschen aufwändiger, da nur die schnellen Handmitschriften und die verteilten Gedächtnisse bleiben.

Die vier Sitzungen

1. Theoriebildung in der Informationswissenschaft sowie – anschließend an die Abschlussdiskussion der ISI – Informationswissenschaft im Abschwung,

2. Computer jenseits der Papiermetaphern – wie kann digitale Kommunikationstechnologie nach dem Abschied vom Ordnerverfahren aussehen,

3. vom Sinn und Unsinn der Innovation – was bewirken Begriff und Idee des Neugeschöpften in der Entwicklung der Bibliotheken,

4. die ideale Konferenz – wie kann ein zeitgemäßer Fachaustausch noch organisiert

brachten abgesehen vom handlichen vierten Thema mit den zahlreichen Ideen, mit denen man das Prinzip von Konferenzen wie der ISI in der Tat ein bisschen schärfer und kommunikativer aufbügeln könnte, hauptsächlich Dialog und Verständigung.Beides vollzog sich angenehm inkludierend, denn sachgemäß sind bei einer Unkonferenz alle Stimmen und Positionen gleich.

Bei der Üppigkeit des ersten Themas schienen sie sogar gleich klein und dass Studierende des Faches nach der Sitzung äußerten, sie würden verwirrter denn je auf ihre disziplinäre Heimat blicken, bestätigt leider, dass die Informationswissenschaft nicht als Denkkollektiv mit festen Bezugspunkten (bzw. einem verbindenden Mindset) existiert, sondern weitgehend als Omnibusbegriff, fast beliebig einparkbar zwischen Ausdrücken wie Bibliothekswissenschaft, Informationswissenschaften, Bibliotheks- und Informationswissenschaft oder auch Library and Information Science. Dass sich die Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (DGI) die Informationswissenschaft womöglich demnächst zugunsten einer Formulierung, die irgendetwas mit „Wissen“ enthält, aus dem Namen streichen möchte, ist sicher auch kein sonderlich stärkendes Signal. In einer Welt, in der man auch einen Master in Domotronik ablegen kann, besteht aber eigentlich kein Grund, die Informationswissenschaft elementar zu hinterfragen. Eher umgedreht würde ein Schuh daraus, mit dem man in Richtung neuer Relevanz marschieren könnte: durch eine aktive Auseinandersetzung mit eben dem Mindset, zusammensteckbar aus Gegenstand, Methoden und Modellen. Es muss nicht einmal unbedingt Konsens das Ziel sein. Ein gesunder und von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Wahrnehmung geprägter Dissens würde vorerst für die deutsche Informationswissenschaft schon einen guten Schritt darstellen. Vielleicht ist das Fach (bzw. sind seine VertreterInnen) an dieser Stelle auch einen Tick zu wenig offensiv und selbstbewusst, was eventuell auch erklärte, weshalb man sich von Nachfragen, externen Vorwürfen und generellen Unsicherheiten so furchtbar schnell bedroht zu fühlen scheint. Dabei ist Unsicherheit eigentlich erst das Movens um Wissenschaft zu betreiben.

Wie bereits auf der Sitzung geäußert, sei diesem irritierten (wissenschaftlichen) Nachwuchs als Quintessenz der Aufruf zur Eigenverantwortung und zum aktiven Eingreifen auf den Weg gegeben. Die Informationswissenschaft ist, man spürt es auf Veranstaltungen wie dieser in Potsdam besonders intensiv, ein soziales Gebilde und gerade seine ungenügende übergreifende Stabilität sollte Anlass genug sein, selbst Formen der Gestaltung zu suchen und /oder die etablierten VertreterInnen des Fachs, die sich das Label Informationswissenschaft anheften, mit diesem Label ernst zu nehmen, und einen entsprechenden Zukunftsdialog einzufordern. Bedroht sind ja weniger die Karrieren der derzeitigen Großkopfeten des Faches, sondern die derer, die derzeit grundständig überlegen müssen, ob ihnen die Informationswissenschaft überhaupt eine Perspektive bieten kann.

Der papierlose Computer ist eine Form der digitalen Datenverarbeitung bzw. der digital vermittelten Kommunikation, die sich von all den Metaphern, die uns in den Verzeichnisstrukturen und Word-PDF-u.ä.-Dateien begegnen, befreit. Die Gutenberg-Galaxis wirft aktuell mit diesen Simulakren des Papierfasernen ihre Schatten in einen Organisationsraum für Inhalte und Aussagen, in dem dies wenigstens strukturell überflüssig bis anachronistisch wirkt. Eigentlich steht aber nichts Geringeres als die Auflösung des Dokuments an. Paperless Computing setzt auf tag-basierte Strukturen und Relationen, die sich im stetigen Fluss befinden und in Applikationen wie der Google-Brille, elektronischem Geld und selbstorganisierenden Kühlschränken (a) einerseits unmittelbar an der Schnittstelle zwischen Real- und Digitalwelt als direkte Naht wirken und (b) andererseits viel stärker auf konkrete Prozesse als auf die Erzeugung bleibender Dokumente ausgerichtet sind.

Innovation ist ein Schlagwort und manchmal sogar ein Totschlagwort, das seit einer Weile nicht ganz selten aus strategischen Gründen eingesetzt werden dürfte. Eine interessante Frage ist, zu welchem Zeitpunkt der Umschlag von sehr auf Beständigkeit setzenden bibliothekskulturellen Diskursen hin zu bisweilen wie aufgescheucht wirkenden innovationssüchtigen Transformationsbestrebungen erfolgte. Der Ausdruck „Innovation“ ist im deutschen Sprachschatz erst seit etwa 1960er Jahren zu finden (vgl. diese N-Gram-Analyse). Im Bibliothekswesen schlug er mutmaßlich erst später ein. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass dort die Idee der Innovation, also der Erneuerung und Überarbeitung bestimmter Bereiche in den Bibliotheken, nicht bereits vorher existierte. Daher sind die Verwendung des Ausdrucks „Innovation“ und die Fixierung auf die Idee der „Neuheit“ in der Annäherung an das Problem zu unterscheiden.

Karsten Schuldts Anstoß in diesem Weblog und auf der Unkonferenz eröffnet naheliegend zunächst eine diskurskritische Auseinandersetzung. Darüber hinaus entstehen organisationssoziologische Fragen (Wie ist das Konzept der Innovation in der Organisationskultur verankert? Wie sollte es verankert sein?), Fragen der Innovationsfolgenabschätzung (Was geht bei einem Automatisierungsschritt oder einem Auslagern von Aufgaben verloren?) , Fragen der Benutzungsforschung (Welche Innovationen wollen die NutzerInnen? Welche nicht?) sowie übergeordnet die Frage, inwieweit Innovation als Konzept im Bibliothekswesen zureichend reflektiert ist und wo das Wort möglicherweise nur blind bis opportunistisch verwendet wird, um Aktualität vorzuspiegeln und dem Zeitgeist Genüge zu tun. Dass die Rolle der Instanz, die Innovationskritik übt (im Sinne einer differenzierenden Analyse von Innovationen, der Idee und der Verwendung des Begriffs), weniger den von erfolgreichen Projektanträgen Abhängigen zukommt und mehr einer möglichst unabhängigen Bibliotheks- und Informationswissenschaft, scheint unvermeidlich. Dass die Disziplin dieser nachkommt bzw. sich dieser überhaupt annimmt, ist dagegen bisher nur sehr selten erkennbar.

Erfreulicherweise erfüllte das Konzept der Unkonferenz frei<tag> in gewisser Weile bereits einige der Empfehlungen, die die Sitzung zur „idealen Konferenz“ formulierte. Pecha-Kucha-Präsentationen als schwungvoll-sanfter Druck zur Dynamik in Präsentationen vermögen vielleicht zusätzlich Frische ins Format zu bringen. Netzvermittelte Begleitformen wie direktes Feedback über Twitter scheinen in richtiger Dosierung sehr wünschenswert zu sein, setzen aber ein leicht zugängliches und stabiles W-LAN voraus. Die altbekannte Einsicht, dass das wirklich Interessante an solchen Veranstaltungen in den Zwischenräumen, also den Pausengesprächen, den Nachdiskussionen beim Mittagessen und der Ideensammlung bei der Zigarette (das gibt es nach wie vor) oder dem Tee entsteht, drückt sich in dem Wunsch nach mehr Freiräumen für spontane soziale Interaktion aus. Die „ideale Konferenz“ ist demnach eine, bei der Kommunikations- und Interaktionsformen sehr vielfältig sind und Workshops, Keynotes und Poster genauso umfassen, wie Gesprächsecken und Web-Streams. Sehr nachvollziehbar ist der Anspruch, dass die Vorträge in erster Linie das Publikum in seiner gesamten Bandbreite interessieren sollten und nicht hauptsächlich das sicher wohlmeinende Programmkomittee. Deshalb könnte wenigstens ein Teil der Einreichungen in einem Open Review-Verfahren abgestimmt werden. Dass warme Jahreszeiten bevorzugt und Schnee im März abgelehnt werden, überrascht kaum, lässt sich praktisch jedoch nur sehr bedingt berücksichtigen.

Wir von LIBREAS halten für uns fest, dass das Prinzip der Unkonferenz funktioniert und sich vielleicht sogar besonders dazu eignet, den sich auf Veranstaltungen wie des ISI zwangsläufig anstauenden Bedarf nach vertiefender Kommunikation in produktive Kanäle zu leiten. Der Wunsch nach einer nächsten frei<tag>-Konferenz war deutlich vernehmbar und gerade als Verein mit dem Ziel der Förderung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Kommunikation sehen wir uns hier in der Verantwortung. Wann und wie genau wir dieser Rechnung tragen, werden wir in den kommenden Wochen beraten und wie immer zeitnah in diesem Weblog kommunizieren.

Für dieses Mal danken wir sehr herzlich allen TeilnehmerInnen an der Unkonferenz frei<tag> 2013 und freuen uns über die wiederholte Erkenntnis, dass man allein per Kommunikation das Ziel eines raum:shift der Informationswissenschaft, also einer aktivierenden Bewegung in einem dem Rahmen angemessenen Umfang erreichen kann.

Wir danken zudem dem Organisationsteam der ISI 2013 für die Möglichkeit, uns derart unkompliziert in den Fluss des Symposiums integrieren zu können.

frei-tag 2013 Session Informationswissenschaft

Als Tafel- und Wandbild: Die Dokumentation der frei-tag 2013 Session Informationswissenschaft.

Ben Kaden (@bkaden) /  23.03.2013

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (0): … und los!

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by libreas on 22. März 2013

“Librarianship may not hope to develop on the immediate future a professional science equally effective for selecting from its recruits those who are really intellectually competent for the professional guidance of the library. But it may expect, at least, to become more nearly able to do this successfully than it had been in the past. And, certainly, when it has generalized and systematized its professional knowledge it will for the first time be able to distinguish between those who are fitted to carry on effective investigations and those who are clearly not. An ability to count and even that of computing a probable error are not the only qualifications which will be required if the more pressing problems of librarianship are to be solved.”

Pierce Butler: An Introduction to Library Science. The University of Chicago Press: 1933 [zitiert nach der First Phoenix Edition, 1961, S. 113, vgl. auch LIBREAS.Tumblr)

Heute ist es endlich soweit – die dritte Auflage der frei<tag>-Unkonferenz startet in wenigen Stunden am frühen Nachmittag etwa gegen 14 Uhr, Ankommen und erster (bilateraler) Gedankenaustausch wird ab 13 Uhr möglich sein. Ohne viele weitere Worte zu verlieren – die Countdownbeiträge der letzten vier Wochen mit ihren Anregungen sprechen ja für sich – soll es an dieser Stelle – neben ein paar Gedanken von Butler zum Schluss und zum Anfang zugleich  – um die letzten praktischen Dinge gehen; wo steht denn genau das „raum : shift [information science]“, wie kommt man hin:

Vom Potsdamer Hauptbahnhof aus ist die Veranstaltung am besten mit den Tram-Linien 92 oder 96 zu erreichen. Ohne umzusteigen genießt man die 15 minütige Fahrt unter anderem durch die Potsdamer Innenstadt bis zur Haltestellte Campus Fachhochschule. Dort angekommen, überqueren Sie die Straße und betreten das aus Ihrer Sicht links gelegene Hauptgebäude, wo unter anderem die Campus-Bibliothek untergebracht ist. Nachdem Sie das Foyer betreten haben halten Sie sich rechts – ignorieren Sie gegebenfalls die zur Nutzung einladende Treppe – in Richtung Bibliothek und kommen Sie in den Kleinen Hörsaal rechts vom Bibliothekseingang. Willkommen!

Es tut sich was auf am Horizint ... - Es wird höchste Zeit. Auf zum [raum : shift [information science] nach Potsdam zum FH-Campus Pappelallee!

Es tut sich was auf am Horizont … – Es wird höchste Zeit. Auf zur frei<tag>13, raum : shift [information science] nach Potsdam zum FH-Campus Pappelallee!

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It’s the frei<tag> 2013 Countdown (1): ISI does it. Wie gut, das wird sich bis zum Freitag zeigen.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by szepanski on 21. März 2013

von Christoph Szepanski

Der Monat März bietet für Informations- und Bibliothekswissenschaftler sowie für die Masse derer, die eventuell bloß etwas entfernter mit diesem Fach zu tun haben fast traditionell eine Menge Gelegenheiten, um a) Inspiration auf Tagungen zu sammeln und b) die für die TeilnehmerInnen oftmals fremde Stadt zu erkunden. (Jedenfalls wenn sie am Anfang ihrer Karriere stehen. Irgendwann kennt man Leipzig und die anderen Rotationsorte der Konferenzen doch.) So nutzten auch wir von LIBREAS die reichlichen Gelegenheiten, die der März so bot und noch bietet und folgten den Einladungen zu den Veranstaltungen gern, wie beispielsweise die Beiträge zur Berliner Inetbib-Tagungdem Leipziger Bibliothekstag oder selbst die in Übersee stattfindende iConference belegen. Die (DIE!) Karte war selbstredend immer mit dabei – so auch heute am ersten Tag der Potsdamer ISI2013.

Ob sich Potsdam in der zwölften Kalenderwoche des Jahres 2013 wirklich zu einer Art Mekka der Informationswissenschaft aufschwingen kann, bleibt noch abzuwarten. Und es liegt nicht allein beim Veranstalter. Bekanntlich lebt eine Konferenz vor allem von denen, die sie aktiv nutzen und ihre Wirkung lässt sich erst im Nachhinein am messbaren Niederschlag in den Fachdebatten und im Handeln der Aktiven feststellen. Verlässliche Aussagen über die Qualität eines Gegenstandes lassen sich also nur aus einigem Abstand formulieren. Obwohl noch nicht der ganz große Revolutionsgeist die Konferenz erschütterte, bin ich nach Ablauf des ersten Veranstaltungstages durchaus guten Mutes. Zumal die LIBREAS-Veranstaltung frei13 ja erst am Freitag kommt (wichtig: hier nochmal der Hinweis auf das Planungspad und die Möglichkeit zur Teilnehmerbekundung).

Die Veranstaltungsreihe des Internationalen Symposiums für Informationswissenschaft (ISI) gibt es seit 1990, was zwangsläufig zur Folge hat, das sie die gesamte Entfaltung des WWW mitbegleiten konnte (in Potsdam ist sie das erste Mal). Potsdam erscheint uns auf jeden Fall als ein geeignetes Pflaster, was informationswissenschaftliche Belange angeht (nicht zufällig fand deshalb dort auch die frei12 statt). 

Die Abfolge der ISI-Mottos ist webhistorisch allerdings leider weniger aufschlussreich, als man es sich erhoffen würde. In der Regel wirken sie wie hart erkämpfte Resultate aus langen Sitzungen und daher denkbar unkonkret. Gewisse Trendbegriffe wie Wissensmanagement tauchen mal auf, um dann wieder zu versinken. Die wirtschaftliche Bedeutung von Information rutscht mal auf die Agenda, mal die Technologie und mal – vielleicht etwas zu selten – die politische bzw. soziale Dimension. Anwendungen dominieren, so auch 2013. Das muss man nicht überbewerten, denn zwangsläufig sind die Mottos vor allem Container. Das handfeste Frachtgut darin müssen wir als informationswissenschaftliche Community schon selbst zusammenstellen. Und die Programmkommission muss quasi als Zollbehörde des fachlichen Denkens auch noch einwilligen. Dass dies nicht unbedingt immer zur allumfassenden Zufriedenheit geschieht, wissen wir auch. Aber so läuft das Spiel traditionell und zwar seit 1990. Als Erinnerung hier die Liste der Headlines über den ISI:

1990 (Konstanz): Pragmatische Aspekte beim Entwurf und Betrieb von Informationssystemen

1991 (Ilmenau): Wissensbasierte Informationssysteme und Informationsmanagement

1992 (Saarbrücken): Mensch und Maschine – Informationelle Schnittstellen der Kommunikation

1994 (Graz): Mehrwert von Information – Professionalisierung der Informationsarbeit

1996 (Berlin): Herausforderungen an die Informationswissenschaft: Informationsverdichtung, -bewertung und Information filtering

1998 (Prag): Knowledge Management and Information Technology

2000: (Darmstadt): Informationskompetenz: Basiskompetenz in der Informationswissenschaft

2002 (Regensburg): Information und Flexibilität

2004 (Chur): Information zwischen Kultur und Marktwirtschaft

2007 (Köln): Open Innovation – neue Perspektiven im Kontext von Information und Wissen

2009 (Konstanz): Information – Droge, Ware oder Commons? Wertschöpfungs- und Transformationsprozesse in den Informationsmärkten

2011 (Hildesheim): Information und Wissen: global, sozial und frei?

2013 (Potsdam): Informationswissenschaft zwischen virtueller Infrastruktur und materiellen Lebenswelt

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Bereits am Wochenende war unser raum:shift im dort noch sonnigen Potsdam gelandet. Apple Maps wollte uns jedoch zu einer anderen frei<tag> führen…

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Auf der Zielgeraden: ISI2013 in Potsdam.

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Sponsoren und Partner der ISI2013. Mit dabei: der LIBREAS.Verein mit seiner frei<tag>.

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Die Erstversorgung kurz nach der recht fixen Anmeldeprozedur. Proceedings-Band und Kaffee dürfen natürlich nicht fehlen.

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„Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie läßt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“ – Oscar Wilde in „Die Seele und der Sozialismus des Menschen“, S.35. Diogenes.

Abschließend meine Eindrücke in Kurzform:

Man spricht weiterhin über den Nutzer, aber nun immerhin auch im Rahmen von Use Cases (so zumindest im zweiten Teil der Doktorandenpräsentationen). Es gibt ausreichend Pausen für Gespräche, die befürchtete preußische Pünktlichkeit im Hinblick auf den Beginn von Veranstaltungen, blieb lobenswerterweise aus. Highlights des ersten Tages waren für mich die Interface-Session im Allgemeinen, d.h. insbesondere der Vortrag von Isabella Hastreiter et al., die einige Unterschiede im Annotationsverhalten digitaler und analoger Texte herausfanden, sowie der Vortrag von Samaneh Beheshti-Kashi, die einen Vergleich der Glaubwürdigkeit von (Online-)Medien anstellte. Zentrale Erkenntnis von Hastreiter et al. war, dass das vom Papier her gewohnte Unterstreichen im digitalen Szenario wesentlich seltener eingesetzt, dafür aber bei Letzterem das farbliche Hervorheben gern genutzt wird (oft auch, weil es die einzige zweckmäßige Form für Annotationen im Digitalen bietet). Ferner sind die Möglichkeiten der Annotation innerhalb digitalisierter Texte gegenüber dem Analogen oftmals limitiert. Einkreisen oder gar die verschiedentliche farbliche Hervorhebung bieten die wenigsten Programme an. Nichtzuletzt liegt hier wohl das Phänomen einiger User begründet, lieber das Internet auszudrucken, als am Bildschirm mit dem bevorzugten Programm(en) zu arbeiten, so jedenfalls meine These zu diesem Vortrag (das spielt zumindest eine nicht ungewichtige Rolle). Baheshti-Kashi et al. fanden in ihrer Untersuchung heraus, dass Nachrichtenartikel traditioneller Medien (z.B. Tageszeitungen, hier: Rheinische Post) eine höhere Glaubwürdigkeit erlangen als Social Media (Nachrichten-)Artikel – zumindest bei denjenigen, die nur Internet gucken, anstatt es zu benutzen. Auch was die Glaubwürdigkeit von Social Media im Allgemeinen betrifft, so liegt diese deutlich hinter den etablierten Medien zurück, insbesondere bei den Faktoren „Professionalität“ und „Seriosität“. Interessant hierzu sicherlich dieser Einwand von Baheshti-Kashi: wer Nutzer von Web 2.0 Anwendungen ist gewichtet die Medien hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit entgegengesetzt anders, als die Gruppe der Nicht-(Web 2.0)-Nutzer: hier liegt Social Media vor TV und Presse (was wohl nichts anders heißt, als das man nur seiner eigenen Community bzw. Filterblase vertraut und sicher spielt bei der einen Seite der Nutzermedaille wohl auch die Angst vor dem Fremden eine nicht ungewichtige Rolle).

Potsdam, den 21.03.2013

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (2): Raum:Shift – Informationswissenschaft und Ihr Umfeld

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by szepanski on 20. März 2013

von Ulf Preuß

Eine Behauptung: Die Informationswissenschaft existiert, weil sich ein exklusiver Bedarf nach ihr entwickelt hat. Veränderungen in der Umgebung reflektieren sich mittelbar oder unmittelbar in den Herangehensweisen oder Schwerpunkten in denen die Informationswissenschaft agiert und reagiert.

Ein (nicht mehr ultraneuer) Umgebungsparameter ist die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft. Der Hang zu einer immer höheren Vernetzung von Informationsquellen, zum (vermeintlichen) Wohl der Allgemeinheit, setzt unsere Wissenschaftsdisziplin vor stetig neuen Herausforderungen, zum Beispiel im Feld der Entwicklung von informationswissenschaftlichen Methoden zur semantischen Verknüpfung der vernetzten Informationsmittel und -objekte. Anbei die Frage, ob denn die Entwicklung semantischer Werkzeuge und/oder die Entwicklung von neuen Herangehensweisen zur Generierung von digitalen und verlässlichen semantischen Ankern ein Handlungsfeld der Informationswissenschaft ist? Mit Anker ist hierbei ein zum Beispiel normierter bzw. ein eineindeutiger Wert gemeint. Hierbei sind die kooperativ entstandenen Normdaten in bspw. der GND eine Ausgangsquelle, welche durchaus ein höheres Potenzial besäße, wenn es gelingt Projekte zur Verbesserung der Datenqualität – etwa durch Kooperationen zur gezielteren Nutzung der Potenziale der Spezialbibliotheken – auf den Weg zu bringen. Auch die Frage nach der Etablierung von Wegen zur Nutzung von user-generated Content für den Bereich der digitalen „Anker“ bleibt dabei aktuell.

Besteht aus der stetigen Veränderung der Umgebung(en) eine automatisch konsequente Verbreiterung der informationswissenschaftlichen Handlungsfelder? Resultieren daraus gar stetig neue Arbeitsfelder der informationswissenschaftlichen Community? Allein die unterschiedlichen Bezeichnungen und Inhalte der verschiedenen informationswissenschaftlichen Studiengänge im deutschsprachigen Raum legen diesen Verdacht nahe. Hier ein paar Beispiele: HTW Chur – Business Administration Major Information Science (Master of Science) mit den Modulen General Management, Management & Recht (MR), Arbeits- und Forschungsmethodik (AFM) und Informationswissenschaft (IW) oder FH Potsdam – Master Informationswissenschaften mit den Profilen Records Management und Digitale Archivierung (RM/DA) sowie Wissenstransfer und Projektkoordination (WT/PK) – jedoch als Master of Arts kategorisiert. Hierbei sei auf den Unterschied in der Singular/Plural Bezeichnung der eigenen Fachdisziplin(en) hingewiesen, was die Komplexität hier allein schon bei der Benennung der eigenen Disziplin, also das Selbstverständnis, dokumentiert.

Werden eigentlich „alte“ Themengebiete als genügend erforscht und abgehandelt real in „Rente“ geschickt? Wenn nicht, können sich unter einer Bezeichnung quasi unendlich viele Forschungs- und Handlungs- oder Berufsfelder einer Profession verbergen ohne in der Realität eigentlich schon wieder in einer benachbarten oder völlig neuen Disziplin zu sein?

Ab wann „darf“ eine Wissenschaft das Interesse an einer vermeintlich neuen Entwicklung / eines neuen Themas verlieren – mit Bezug auf das eigene Verständnis in Relation zu den anderen wissenschaftlichen Disziplinen? Kann eine solche Erkenntnis eventuell sogar aus der Bibliometrie gezogen werden (jüngst auch als Thema auf der ISKO behandelt)? Vorausgesetzt es existiert ein Eigenverständnis, was allein aus den endlosen Diskussionen um die Deutung der Begriffe Information, Dokument, Bibliothek etc. meines Erachtens als nicht trivialen Fakt angesehen werden kann.

Wie viel Informationswissenschaft steckt beispielsweise noch in Bibliotheken und vice versa? Oder anders gefragt, welche anderen wissenschaftlichen Disziplinen prägen das Handeln der Bibliotheken von Heute, ggf. mehr als die Informationswissenschaft?

Mit einem kurzen Rückblick auf den Beitrag von Karsten Schuldt „Die deutsche Perspektive“ möchte ich diese Deutschlandsicht um eine zeitliche Komponente erweitern. Insbesondere die Verschiebungen auf der geopolitischen Ebene führten immer wieder zu gravierenden Veränderungen in den Denkansätzen und Methoden. Nimmt man beispielsweise die Region Berlin-Brandenburg in der die freitag13 stattfindet, sieht man allein bei einem Blick auf die Landkarte die Veränderung von Räumen und Denkansätzen. Eine heutige Betrachtung der informationswissenschaftlichen Ansätze lässt sich für eine Region wie Berlin-Brandenburg eben nicht allein in einem deutschen Kontext denken, da viele Informationen und Bibliotheksbestände hier sehr fraktal und international (in z.B. Polen) verteilt sind, sondern bietet gerade deswegen eine ideale Grundlage für eine freiheitlich demokratische Herangehensweise an.

Freit2013

Die Region Berlin-Brandenburg als Spiegelbild der stetigen Veränderung von (Denk)Räumen. Vom sumpfigen Urwald, über eine Mark Brandenburg zur Festigung der politisch-religiösen Ansprüche, über die Zentralregion des preußisch-deutschen Staatenbundes (Deutsches Reich), über die Schaltzentrale der NS-Diktatur, über die Schaltzentrale der SED-Diktatur hin zu einer Region mit zwei Bundesländern als Teil der Bundesrepublik Deutschland und als Teil des europäischen Gemeinschaftsgedankens. Nicht zu vergessen die heutige nationalen und internationalen Nachbarregionen.

 Potsdam, 20.03.2013

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (3): Von Innovation und Neuheit

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 19. März 2013

Karsten Schuldt

I

Desletztens schlug ich einigen Organisatorinnen und Organisatoren der InetBib-Tagung vor, die nächste dieser Veranstaltungen im Vatikan stattfinden zu lassen (der ja auch eine sehr schöne Bibliothek haben soll), inklusive Social Event auf dem Petersplatz und unter dem Motto Veränderung ist nicht immer gut.

Das Motto, erdacht vor der Wahl des neuen Papstes, aber hier gerne wiederholt, kann gerne als Meinungsäusserung dazu gedeutet werden, wie niedrig von mir die Veränderungsfähigkeit der katholischen Kirche (die mir allerdings, zugegeben, persönlich einigermassen egal ist) unter einem vielleicht locker auftretenden neuen Oberhaupt, welches aber dennoch erklärter Gegner sozialer Bewegungen und der Befreiungstheologie ist, eingeschätzt wird. Aber darum ging es mir bei diesem Vorschlag gar nicht. (Auch nicht um den persönlichen Wunsch, einmal endlich Rom zu sehen.) Es ging mir darum, einen Stoppschild zu errichten. Keine Barriere, über die nicht geschritten werden darf, aber ein Stopp, dass beachtet werden sollte, bevor die Fahrt weitergeht.

Gerade auf bibliothekarischen Konferenzen und in bibliothekarischen Publikationen ist es Usus geworden, „innovativ“, „neu“, „zum ersten Mal“ und ähnliche Bewertungen als Qualitätsmerkmal zu verstehen. Der Bibliothekskongress in der letzten Woche war, noch mehr als InetBib-Tagung, geprägt von Vorträgen und Postern, die genau so agierten: „Neue Angebote für ABC“, „Innovative Dienstleistungen für XYZ“. In Hamburg wird im April zum Beispiel eine „Veranstaltung Innovationsmanagement für Bibliotheken“ (vgl. http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html) stattfinden, welche wie folgt angekündigt wird:

Durch Innovationen entstehen neue Service für unsere Kundschaft. Wie man zu innovativen Ideen kommt, wie man das Ganze steuert und wie man dabei die Kundschaft selbst in die Ideenfindung mit einbezieht und was wir von Unternehmen dabei lernen können – das erfahren Sie am 22. und 23.04.2013 in Hamburg. (http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html)

Unter anderem wird bei dieser Veranstaltung ein Kreativitätsworkshop (wohlgemerkt für bibliothekarisches Personal, nicht für Künstlerinnen und Künstler) angeboten, dessen Abstract wie folgt lautet:

Lernen Sie in dem Workshop verschiedene Kreativitätstechniken kennen und wenden Sie diese in praktischen Übungen an. Damit sind Sie für Ihre eigenen innovativen Ideen bestens gerüstet. (http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html)

II

Ohne Frage: Die ganzen Vorträge und Poster, die Veranstaltung in Hamburg und so weiter sind im besten Wissen und Gewissen erstellt, gehalten, geplant. Vielleicht drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass einige Kolleginnen und Kollegen einfach Altbekanntes mit ein paar hippen Schlagworten aufbrezeln würden; ich denke (und hoffe) aber, dies ist nur ein Eindruck. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass die Häufung solcher Begrifflichkeiten wie „innovativ“ und „neu“ Ergebniss eines bestimmten Denkens ist.

In diesem Denken erscheint es sinnvoll, dass Bibliotheken sich ständig neu erfinden, ständig irgendetwas ausprobieren müssten und so weiter. Nur: Mir scheint, dass die Rationalität hinter dieser Vorstellung immer weniger hinterfragt wird. Gleichzeitig scheint mir, dass das Drängen auf Innovation zu oft zwei andere Punkte unterschlägt: Nämlich die Geschichte bibliothekarischer Angebote, so dass immer wieder Angebote, die schon mehrfach erprobt wurden und zu denen Erfahrungen vorliegen, neu erfunden werden (Was nicht so schlimm ist, wie es vielleicht klingt. Das ist zwar am Ende Doppelarbeit, aber es gibt wirklich Schlimmeres, die GEZ zum Beispiel.) sowie die Frage, ob die Nutzerinnen und Nutzer (oder halt die ganzen Stakeholder, wie auch immer die definiert werden) überhaupt nach „Innvoation“ und „Neu“ verlangen und nicht viel eher nach sinnvoll, einfach und funktionierend.

Modern wäre, so beschloss vor einigen Jahren die Pestalozzi-Bibliothek in Zürich, sei ein Gebäude mit viel sichtbarem Beton, grossen Fenstern, klaren und klar abgetrennten Flächen aus einfachen Materialien. Zudem hätte es hell zu sein: Hellergrauer Stein, helles Holz, viel Weiss, knallige Farben. Ist das modern? Vielleicht. Sehr viele Neubauten und Umbauten von Bibliotheken, von Schulen und Hochschulen sehen in den letzten Jahren so aus; auch Bahnhöfe und öffentliche Gebäude folgen diesen Vorgaben. Deswegen, so ein Problem, sehen sie sich immer mehr immer ähnlicher. Steht man im Treppenhaus des Grimmzentrums der Humboldt-Universität sieht es dort genauso aus wie im Treppenhaus der Hauptgebäudes der HTW Chur und wie in den Gebäuden des neuen Campus der FH Potsdam. Auch dieses Bild der Pestalozzi-Bibliothek lässt höchstens durch die Verwendung des Begriffs Velo aufhorchen. In Berlin nutzt man dieses Wort nicht. Aber ist das ein Gebäude in Zürich, ist es eines in Freiburg? Sichtbar ist das nicht. Zudem stellt sich die interessante Frage: Ist das eigentlich sinnvoll? Wollen die Menschen das? Lässt sich Bibliothek besser Bibliothek sein in solchen Gebäuden? Nutzt das moderne? Wenn ja, dann wäre die Langeweile vielleicht (vielleicht!) zu rechtfertigen.

Modern wäre, so beschloss vor einigen Jahren die Pestalozzi-Bibliothek in Zürich, ein Gebäude mit viel sichtbarem Beton, grossen Fenstern, klaren und klar abgetrennten Flächen aus einfachen Materialien. Zudem hätte es hell zu sein: Hellergrauer Stein, helles Holz, viel Weiss, knallige Farben. Ist das modern? Vielleicht. Sehr viele Neubauten und Umbauten von Bibliotheken, von Schulen und Hochschulen sehen in den letzten Jahren so aus; auch Bahnhöfe und öffentliche Gebäude folgen diesen Vorgaben. Deswegen, so ein Problem, sehen sie sich immer mehr immer ähnlicher. Steht man im Treppenhaus des Grimmzentrums der Humboldt-Universität sieht es dort genauso aus wie im Treppenhaus der Hauptgebäudes der HTW Chur und wie in den Gebäuden des neuen Campus der FH Potsdam. Auch dieses Bild der Pestalozzi-Bibliothek lässt höchstens durch die Verwendung des Begriffs Velo aufhorchen. In Berlin nutzt man dieses Wort nicht. Aber ist das ein Gebäude in Zürich, ist es eines in Freiburg? Sichtbar ist das nicht. Zudem stellt sich die interessante Frage: Ist das eigentlich sinnvoll? Wollen die Menschen das? Lässt sich Bibliothek besser Bibliothek sein in solchen Gebäuden? Nutzt das moderne? Wenn ja, dann wäre die Langeweile vielleicht (vielleicht!) zu rechtfertigen. Ansonsten sollte die Architektur endlich wieder einmal anders werden.

III

Eine der unausgesprochenen Grundannahmen des „Innovation“-Denkens ist, dass es bislang in den Bibliotheken nicht innovativ genug zugegangen wäre. Das ist so nicht richtig. Auch in den Jahrzehnten zuvor gab es selbstverständlich immer wieder Versuche, Bibliotheken modern und zeitgemäss zu gestalten, sich an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer, der Gesellschaft, der Wissenschaft und so weiter zu orientieren. Gerne wird bei Vorträgen zu „Innovationsthemen“ der Eindruck erweckt, dass die Bibliotheken bis dato recht unbeweglich gewesen seien und „erst jetzt“, „gerade erst“, „erst in den letzten Jahren“ angefangen hätten, sich zu verändern.

Dem ist nicht so. Beziehungsweise: Das gleiche Bild findet sich schon seit Jahrzehnten. Innovation beginnt offenbar immer in den gerade vergangenen fünf Jahren und nicht schon zuvor. Ärgerlich dabei ist nicht einmal so sehr, dass das dargestellte Bild historisch falsch ist. Das ist vor allem unhöflich vorhergehenden Generationen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren gegenüber. Schlimmer finde ich, dass wir hier Lernmöglichkeiten für Bibliotheken vorübergehen lassen: Vieles wurde schon ausprobierte, funktionierte mehr oder weniger (denn Innovationen funktionieren nie so wie gedacht, sondern immer mehr oder weniger), einiges transformierte sich in gängige bibliothekarische Praxis, vieles verschwand wieder. Aber: Fast immer klang es am Anfang ganz vielversprechend.

Würden wir das wahrnehmen, könnten wir zum Beispiel mehr darüber wissen:

  • Wie die Integration neuer Praxen in den bibliothekarische Praxis funktioniert oder nicht funktioniert.
  • Welche Versprechen offenbar zu gross sind, um in Bibliotheken angenommen zu werden.
  • Was Nutzerinnen und Nutzer sich immer wünschen, egal was man ihnen „gibt“. Was die Gesellschaft immer will. Oder auch: Ob und wie sich die Wünsche der Stakeholder und der Nutzerinnen und Nutzer überhaupt verändern. (Ein Beispiel: In fast allen Umfragen unter Nutzerinnen und Nutzern, egal welcher Methodik, werden heute als Ergebniss längere Öffnungszeiten gewünscht. War das schon immer so? Ist das ein neuer Wunsch? Wird das zurückgehen? Haben die tatsächlichen Öffnungszeiten von Bibliotheken überhaupt einen Einfluss auf diesen Wunsch?)
  • Wie die Veränderungen und Innovationen in Bibliotheken mit den Veränderungen der Gesellschaft zusammenhängen. Es gibt ja in bibliothekarischen Kreisen die Vorstellung, die Bibliothek würde von aussen als verstaubt und als etwas hinter der Zeit herhinkend angesehen und genau jetzt (wobei das jetzt immer neu das gerade seiende Jetzt ist) wäre die Zeit und die Möglichkeit, dies zu ändern. War auch das schon immer so? Haben Bibliotheken nicht auch in den 1960er Jahren und in den 1880er Jahren versucht, dagegen vorzugehen? Ist das überhaupt machbar und sinnvoll? Hat vor allem die Veränderung der Bibliotheken oder die Veränderungen der Gesellschaft Anteil an dieser Vorstellung?
  • Wir könnten schauen, was wirklich neu und anders ist und was sich nur so nennt.

Die ständige Rede von Innovation und Neuheit überdeckt diese historische Realität. Sicherlich hat das Gründe: Es wird – wohl nicht ganz zu Unrecht – angenommen, dass Vorträge, Texte und Poster mit diesem Gestus mehr Aufmekrsamkeit erregen und mit höherer Wahrscheinlichkeit irgendwo angenommen werden; ausserdem ist die Projektförderung heute darauf angelegt, nur Neues zu fördern (was nicht neu sein muss, die Mittelgebenden müssen nur glauben, es sei neu). Eine Frage allerdings ist, ob wir als Bibliothekswesen nicht auch Lern- und Entwicklungschancen vergeben, wenn wir diese Diskursfiguren nutzen.

IV

Ein Grund, warum die Diskursfigur Neu und Innovativ im zeitgenössischen Bibliothekswesen so gut funktioniert, ist auch die damit verbundene Behauptung, die Nutzerinnen und Nutzer würden es verlangen und, falls sie es nicht bekämen, nicht mehr in die Bibliothek kommen. Mehr noch: Immer wieder wird behauptet, mehr Nutzerinnen und Nutzer gewinnen zu können.

Wir sollten uns fragen, ob das wirklich stimmt.

Erstens: Nehmen unsere Nutzerinnen und Nutzer überhaupt wahr, was wir uns gegenseitig als innovativ beschreiben? Und wenn ja: Reagieren sie darauf positiv? Ich möchte das bezweifeln. Innovativ sind Bibliotheken ja immer wieder im Bezug auf sich und andere Bibliotheken, nicht im Bezug auf die Gesellschaft und die technischen etc. Möglichkeiten. Oder anders: Sie hängen am Ende doch oft hinterher. Neue Technologien sind oft schon durchgesetzt, bevor Bibliotheken sie nutzen; Bildungskonzepte sind in Schulen und Museen oft schon Alltag, bevor sie in Bibliotheken ankommen; Marketing- und Entscheidungshilfekonzepte sind oft schon ein alter Hut in der Werbe- und Beratungsbranche, wenn sie in Bibliotheken auftauchen. (Stichwort: SWOT-Analysen) Da sollten wir uns nicht gegenseitig irgendetwas vormachen.

Nur: Auch das ist so schlimm wieder nicht. Was sollte denn der Grund sein, dass Bibliotheken immer die innovativsten Einrichtungen sein sollten? Sicherlich: Wenn Öffentliche Bibliotheken wirklich sozial Schwache erreichten, dann wäre das vielleicht – wenn Innovation wirklich immer auch am Sinnvollsten wäre – ein Beitrag zur Sozialen Gerechtigkeit, weil dann Sozial Schwache früher von Innovationen profitieren könnten als, zum Beispiel, der Hipster in Neukölln. Real aber kennt der Hipster in Neukölln schon alles, bevor es im bibliothekarischen Diskurs überhaupt ankommt. Zumal: Wie soll eigentlich der Nutzer und die Nutzerin entscheiden, ob etwas in der Bibliothek innovativ ist? Die Lesen ja weder BuB noch Arbido noch Büchereiperspektiven.

Zweitens: Ist Innovation eigentlich für die Nutzerinnen und Nutzer eine sinnvolle Kategorie? Ich würde argumentieren, dass die Nutzerinnen und Nutzer von Bibliotheken gar nicht das Neueste wollen, sie wollen vielmehr etwas, was in ihren aktuellen Arbeits-, Lern- und Freizeitgestaltungen Sinn macht. Dazu gehören auch mal neue Dinge, aber halt nicht nur. Das WLAN in Bibliotheken hat sich nicht durchgesetzt, weil es innovativ war (war es ja auch nicht, weil es zumeist weit vorher Cafés mit WLAN gab, bevor Bibliotheken ihres einrichteten), sondern weil es sinnvoll war. Die Fernleihe für Artikel mag im Hintergrund immer wieder neu organisiert werden, die Nutzerinnen und Nutzer wollen aber nur schnellst möglich an die Artikel, die sie benötigen. Bibliothekscafés sind nicht der Renner, weil sie neu wären (auch hier sind sie es gar nicht so sehr, wie es vielleicht erscheint), sondern weil sie im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr Sinn machen und für viele Aktivitäten netter sind als „einfache“ Bibliotheken. Und so weiter. Wenn wir wirklich, wie das auch behauptet wird, die Nutzerinnen und Nutzer oder auch die Stakeholder von Bibliotheken, in den Fokus nehmen wollen (übrigens auch etwas, was nicht so neu ist, wie es scheint), dann sollten wir auch mehr genau das in den Blick nehmen: Sinn, nicht Hippness.

Sicherlich gibt es Menschen, die durch Neues und Hippes ein-, zweimal interessiert werden. Aber das sind einige Menschen mit einem bestimmten Mindset. Wichtiger ist es, für möglichst viele Menschen etwas zu schaffen oder einzurichten, dass für sie im Alltag sinnvoll ist. Das ist eine andere Bewertungskategorie.

V

Weiterhin: Als ich das Motto „Veränderung ist nicht immer gut“ vorschlug, war dies selbstverständlich ein wenig Provokation. Aber auch Spiegelung des Denkens eines Teil des bibliothekarischen Personals.

Je länger je mehr Innovationen, Neuerungen etc. hat man gesehen, wenn man Jahre, gar Jahrzehnte in Bibliotheken arbeitet. Und immer wieder werden Neuerungen als etwas Besseres, Sinnvolleres gepriesen. Es baut sich aber, so hört man, beim Personal aber irgendwann einmal die Vermutung auf, dass die Innovationen nur noch der Innovation halber betrieben würden, nicht weil das, was davor war, wirklich nicht funktionierte oder weil das, was neu kommt, wirklich besser wäre. Oder anders: Wenn es falsch gemacht wird, wenn die Enttäuschungen über fehlgeschlagene Innovationen wachsen und wenn das Gefühl entsteht, dass mit Innovationen Dinge verändert werden, die einer Veränderung gar nicht bedürften, besteht jedesmal um so mehr die Gefahr, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare „abstumpfen“. Auch das ist nicht überraschend. In Schulen ist das zum Beispiel nicht anders. Nicht alle Menschen wollen ständig etwas verändern.

Leicht ist es, ein solches Denken und Verhalten als altmodisch und rückständig zu diskreditieren. Manchmal ist es das auch. Nur nicht immer. Gerade dann, wenn nicht mehr viel darüber nachgedacht wird, warum etwas erneuert werden muss, entstehen auch Gefahren. Sehr sichtbar ist das bei Studierenden im Bibliotheksbereich. Diese haben oft den verständlichen Wunsch, Neues zu entwerfen, Innovatives auszuprobieren. Und viele Hochschulen erfüllen Ihnen den Wunsch, preisen in den Selbstdarstellungen dies sogar als Besonderheit Ihrer Ausbildung an. (Wobei man sich immer fragen kann, was daran noch besonders ist, wenn es in Leipzig und Köln nicht anders getan wird, als in Stuttgart und Hamburg, in Berlin und Potsdam und Köln und Sondershausen und München und Darmstadt und Chur und Hannover.) Nur, was bei solchen Praxisprojekten schnell auf der Strecke bleibt, ist die sinnvolle Analyse des Bestehenden im Sinn von „was funktioniert wieso?“. Es wird – eine Grundvoraussetzung des Diskurses Innovation – vorausgesetzt, dass das, was ist, unvollständig und zumindest in Teilen unmodern wäre und erneuert, teilweise neu erfunden werden muss. Und so kommt es, dass zuerst Dinge mehrfach neu erfunden werden (Wie oft, zum Beispiel, wurde jetzt schon vorgeschlagen, kleine Bibliotheken in den Öffentlichen Personennahverkehr zu integrieren? Wie oft wurde es in unterschiedlichen Ländern und Städten umgesetzt und dann beim nächsten Mal ignoriert?) und zudem das, was vorgeschlagen wird, nicht angenommen wird. Das muss nicht daran liegen, dass die Projekte der Studierenden schlecht wären. Es heisst nur oft, dass das, was vorgeschlagen wird, für die Bibliotheken nicht als sinnvoll erscheint. (Gleichwohl muss man fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, für Innovatives Projekten in der Länge von ein bis zwei Semestern anzulegen. Ist das wirklich eine passende Zeitspanne?)

Und man muss auch das Verstehen: Ist man als Bibliothekarin zum Beispiel seit Jahrzehnten damit beschäftigt, Schulklassen in die Nutzung der Bibliothek einzuführen und hört dann zum dritten Mal in fünf Jahren von „neuen, innovativen Konzepten nur Schulung von Schülerinnen und Schülern“ – was soll man dann davon halten? Insbesondere, wenn diese Konzepte oft nicht mal so recht wissen scheinen, wie diese Schulungen bislang abgehalten werden, sondern einfach davon ausgehen, dass sie unmodern wären.

Erstaunlich ist, dass man von solchen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren wenig hört in der bibliothekarischen Presse, auf den Bibliothekstagungen. Beziehungsweise: Selbstverständlich ist es nicht erstaunlich. Wir, als Bibliothekswesen, haben unsere Presse, unsere Konferenzen so entwickelt, dass dort angenommen, gedruckt und präsentiert fast nur noch das wird, was neu erscheint. Nicht das Kritik unwillkommen wäre, aber sie sollte schon etwas ganz Neues versprechen. Wo nun sollte das Personal, dass von den Podien herunter mehr oder mindern als veraltet dargestellt wird, überhaupt die Stimme erheben und fragen, was eigentlich so sinnvoll sein soll an bestimmten innovativen Projekten, was so falsch sein soll an bestimmten bisherigen bibliothekarischen Praktiken?

VI

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dies ist kein Plädoyer für die Vergangenheit oder das Aufhalten von Fortschritt. Es ist ein Plädoyer für das Überdenken unserer Entwicklungsdiskurse und unserer in den Diskursfiguren situierten Denkweisen. Ganz klar ist:

  • Das die Zukunft viel spannender und besser sein wird und sein soll, als das Jetzige und dass wir – als Bibliothekswesen und als Menschheit – dies auch anstreben sollten.
  • Dass das Ausprobieren von neuen Dingen, neuen Technologien, neuen Konzepten gut ist, Spass macht und unbedingt getan werden muss. Aber: Nicht als reiner Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund der Sinnhaftigkeit für Bibliotheken, für Nutzerinnen und Nutzer, für die Gesellschaft.
  • Das man weder zu kleinen noch zu grossen Respekt vor der Geschichte der Institution Bibliothek und dem in Bibliotheken vorhandenem Wissen über die Möglichkeiten bibliothekarischer Praktiken haben darf. Weder darf man Dinge aufrechterhalten, weil sie Tradition haben (Traditionen sind kein sinnhafter Grund für irgendetwas) noch darf man sie, schon gar nicht mit einem groben und ungenauen Pinselstrich, einfach als veraltet und falsch abqualifizieren. Wir müssen genauer schauen, was wie und wieso funktioniert oder nicht. Es mag Dinge geben, die sind erstmal „fertig“ und müssen nicht erneuert werden.
  • Innovation ist kein Wert per se, sondern nur dann sinnvoll, wenn etwas in einer Organisation nicht (mehr) funktioniert oder aber neu tatsächlich besser geht. Die Diskursfigur „innovativ und neu“ verdeckt dies zu oft.

VII

Wer über die Zukunft nachdenken will, muss die tatsächlichen Entwicklungen und Entwicklungsverläufe beachten. So ist ein Blick in die Vergangenheit auch immer nur sinnvoll, wenn nicht nur wahrgenommen wird, was geworden ist, sondern auch, was hätte werden können. Jede Entscheidung, jede Innovation oder Nicht-Innovation ist immer auch ein Verwerfen von Möglichkeiten, die auch hätten gewählt werden können. Die Geschichte der Bibliothek ist unter anderem eine Geschichte von vergangenen Zukünften der Bibliothek. Sich dies zu verdeutlichen macht die Verantwortung, die man hat, wenn man Zukunft entwirft, wenn man innovative Dienstleistungen vorschlägt oder eine spezifische Interpretation einer bestimmten Umfragen favorisiert, klarer. Wir spielen nicht nur mit der Zukunft und dem Bibliothekswesen, wenn wir Entwicklungen vorhersagen; wir treffen vielmehr Aussagen, die Relevanz entwickeln können und andere mögliche Zukünfte verhindern.

Gleichwohl ist die Zukunft immer geiler als die Gegenwart oder gar die Vergangenheit. Veränderung ist nicht immer gut, was ich als Motto-Vorschlag für die nächste Inetbib-Tagung aufrecht erhalten möchte, ist dann vor allem eine Aufforderung Innezuhalten und zu Fragen: Was machen wir hier eigentlich immer wieder, wenn wir ständig von Neuem reden? Reden wir dann vielleicht gerade nicht von Dingen, die wichtiger sein könnten, als ob etwas neu oder nicht neu ist? Deckt der Diskurs zu Innovation und Neuheit nicht andere Fragen zu? (Hat man eigentlich noch Zeit, über die Frage der gesellschaftlichen Rolle von Bibliotheken nachzudenken, wenn man ständig Innovatives schaffen muss?)

Berlin, März 2013

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (4): Rien ne va plus!

Posted in LIBREAS.Visualisierung by libreas on 18. März 2013

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Seit Inetbib’s Bet on Open Access and Open Science während des Sektempfangs bei der 12. InetBib-Tagung in Berlin sind nun schon zwei Wochen ins Land gegangen. Viele weitere Wochen werden folgen, bis wir in frühestens einem Jahr wissen, wer durch Wissen, Intuition oder Glück auf den richtigen Wettausgang gesetzt hat. Die präsentierte Auswertung zur Verteilung der Jetons auf die Felder des Wetttisches visualisiert das Wett-, bzw. “Setz”-Verhalten der teilnehmenden Expertinnen und Experten.

Heatmap of Open Access Bet

Folgende Ergebnisse stechen heraus:

– Die meisten Jetons wurden darauf gesetzt, dass es binnen der nächsten 18 Monate mindestens 50 Open-Access-Repositorien und -Publikationsdienste gibt, die DINI-zertifiziert sind. Dieses Vertrauen in DINI und die Verbreitung des Zertifikats ist beachtlich.

– Viel Vertrauen wird auch der GND entgegengebracht, denn die zweitmeisten Jetons wurden darauf gesetzt, dass Wikidata erst nach 18 Monaten oder später (also evtl. nie) die GND ablösen wird.

– Die aktuelle Frage, wann ein Zweitveröffentlichungsrecht vom Bundestag verabschiedet wird, zeigt wie weit die Meinungen darüber auseinander gehen. Es wurde doppelt so häufig darauf gesetzt, dass dieses lang ersehnte Gesetz von unseren Volksvertretern erst irgendwann nach 18 Monaten verabschiedet wird, als dass es binnen der nächsten 12 Monate kommt. Oder wie es Thomas Hartmann (MPDL) in seinem Vortrag auf der Inetbib-Tagung auf den Punkt brachte: Entweder dieses Gesetz ist bis zur parlamentarischen Sommerpause bis Anfang Juli 2013 umgesetzt oder weitere Jahre werden vergehen, bis ein Zweitveröffentlichungsrecht Realität wird.

Egal, wie die Wetten ausgehen, das Spiel hat durch die Einsätze und die sich daraus ergebenden Expertenprognosen eine interessante Diskussionsbasis für die zukünftige Entwicklung von Open Access und Open Science geliefert. Wir dürfen gespannt sein, welche Prognosen und Hoffnungen sich (nicht) erfüllen werden.

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (5): Druckkultur und Affenpfote

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 17. März 2013

von Ben Kaden

Trivia, Ephemera und Obskura – so könnten sie heißen, die drei Parzen von Büchern, deren Schicksal es ist, nach bestenfalls einem kurzen Aufblühen in tiefe Vergessenheit zu verschwinden. Und die Druckgeschichte war bekanntlich ausgefüllt von Exemplaren dieser Art, die entweder furchtbar speziell waren, deren Inhalt außerordentlich schnell überholt schien oder die aus Blickwinkeln auf die Welt blickten, die man vorsichtig mit dem Attribut schräg versehen darf. Wer solche Bücher daheim hat, fühlt sich nicht selten in einem Zwiespalt: Einerseits kann man mit ihnen wenig anfangen und will sie genauso wenig jemandem zumuten. Weder als Spende an eine Bibliothek, als Angebot für ein Allerweltsantiquariat und nicht einmal für die „Zu Verschenken“-Kiste im Treppenhaus scheinen sie geeignet. Aber zum Schreddern will man sie auch nicht geben, und zwar nicht nur, weil in unserer Kultur eine grundsätzliche Hemmung gegen die Vernichtung von Büchern und sei es zum Zwecke des Recycling gegeben zu sein scheint. (vgl. dazu auch diesen Beitrag) Sondern auch, weil man sich irgendwie für diese Randstücke des Buch gewordenen Geisteslebens auch aus einer Fürsorgerolle heraus verantwortlich fühlt. Eventuell hält man das letzte Exemplar seiner Art in den Händen und wer möchte schon das Aussterben einer noch so abseitigen Idee verantworten?

I

In Toronto existiert, wie die aktuelle Ausgabe des Style Magazine der International Herald Tribune (Rubrik: Men’s Fashion) an diesem Wochenende berichtet, “a most unusual bookshop”, der sich als Pilgerort (der Inhaber spricht von einer “church of print”) für Liebhaber dieser Art von derart verschütteter bzw. von Verschüttung bedrohter Literatur anbietet. Folgt man der Darstellung des Artikels, dann könnte dieser Laden namens The Monkey’s Paw zugleich ein Vorbote dessen sein, was die Buchkultur des 21. Jahrhunderts auszeichnet: Das Staunen. Genauer: das Staunen über das Vergangene. Nichts spricht hier dafür, dass das Buch noch ein Medium für gegenwärtige Inhalte sein könnte. Die Autorin des Reports aus dem Antiquariat der Zukunft zitiert den Inhaber Stephen Fowler mit der aus der Praxis destillierten Einsicht: „The only way to sell books in the 21st century is as artifacts.”

Neben der Deutung des Buches als Spur in die Welt von Gestern zweigen im denkbaren Interpretationsgewölle zum Wort artifact allerdings auch die allgemeinere Besinnung auf den Wert der materialen und materiellen Besonderheiten von Druckwerken und die Frage nach einer Aktualisierbarkeit des Mediums ab, wie sie die durchaus in diversen experimentellen Richtungen florierende, gen Kleinauflagen oder sogar Unikatkulturen gerichtete “Buch als Objekt”-Bewegung anstrebt. Wenn das Buch als Informationsträger keine Rolle mehr spielt, eignet es sich eventuell doch als Wunderkammerobjekt der kommenden Jahrhunderte, als ästhetische Freude allgemein oder – im beschriebenen Kontext wohl am ausgeprägtesten – als ironisches Spiel mit den Irr- und Nebenwegen vergangener Versuche, die Welt zu fassen.

Stephen Fowler, der bereits mit der Namensgebung seines Geschäfts eine Verbindung zu obskuren oder heute obskur scheinenden Teilen der westlichen Kultur herstellt, betreibt sein Sortiment irgendwie auch als kulturarchäologisches Unterfangen. Es ist nicht nur, vermutlich sogar eher weniger gegenkanonisch. Es ist ein Handeln mit Büchern aus der möglichst größten Abseitigkeit. Die Ausgeschlossenen (und zwar auch aus Bibliotheksbeständen), die Abgeschobenen und längst Überlebten und die am Rande, die man nahezu notwendig übersieht, sind sein Metier. Er nennt es B.A.M.A.: beautiful, arcane, macabre, absurd (und deutlich wird es an den präsentierten Beispielen im Blog zum Shop).

„[T]he more specific the nonfiction book, the better. A general survey of British history is not an interesting book. A history of transportation in England: better. A monograph on Elizabethan toll roads in Kent? That’s a Monkey’s Paw book.”

Damit schwimmt man unvermeidlich in einem gewissen Hipster-Zeitgeist und nicht umsonst zählt Stephen Fowler „these 26-year-old downtown Toronto kids – they’ve actually literally never been to a bookshop” zu seinem Publikum. Es sind Leute, die nicht wirklich Bücher lesen, aber bereits über Bücher an sich staunen können und eventuell sogar über die Tatsache, dass es Menschen gibt, für die diese Form der Mediennutzung alltäglich war. (Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story-Welt (Zitate dazu hier) scheint gar nicht so weit entfernt und wer die aktuellen amerikanischen Großstadtreflektionen über das Phänomen Online-Dating liest, der kann diesen Eindruck noch viel weniger von der Bettkante des Gegenwartsanalyse stoßen – aber das ist ein anderes Thema.) Der Laden unter dem Zeichen der Affenpfote ist aber weniger die museale Aufarbeitung der Erscheinungsform Buchhandlung als ihre postmoderne Überzeichnung.

raum:shift Wissenschaftswissenschaft

„Es gibt jetzt in der Welt etwa tausend Forschungsorganisationen, die sich auf die Prognostik von Wissenschaft und Forschung spezialisiert haben.“ (G.M. Dobrow, 1970. S.59) Dank der Umschlaggestaltung durch niemand Geringeren als Manfred Bofinger ist G.M. Dobrows Buch Aktuelle Probleme der Wissenschaftswissenschaft (Berlin: Dietz Verlag, 1970) ein geeigneter Kandidat für Menschen, die auch gern in Geschäften wie The Monkey’s Paw nach à la B.A.M.A.-Titeln stöbern. Inhaltlich ist die sowjetische Wissenschaftsprosa der ausklingenden und fortschrittsbesessenen 1960er Jahre streckenweise schwer genießbar. Andererseits dürften viele der heute entstehenden wissenschaftspolitischen Programmpapiere in 50 Jahren kaum mehr Lektürefreude bringen. Da sie aber keine Umschläge von Manfred Bofinger mehr bekommen und sowieso kaum noch eine offizielle Druckfassung erhalten, geschweige denn, dass sie in die Verlagsauslieferung gelangen, liegen die Dinge ohnehin anders. Das Thema selbst – die Wissenschaftswissenschaft als „wissenschaftliche Theorie für die Leitung der Wissenschaft“ – wird übrigens derzeit weitreichend im Rahmen der Entwicklung digitalen Wissenschaftsinfrastrukturen ziemlich aktuell – wenn auch unter anderem Namen und vor allem nicht mehr im Dienste des Sozialismus.

II

Das spannende Detail liegt darin, dass die Geschäftsidee bestimmte Prinzipien der Webwelt in die Analogwelt zurücktransferiert. Das ist vielleicht das wirkliche Kennzeichen der Gestaltung unserer Lebensräume in den 2010er Jahren: Nachdem der Raum digitalen Kommunizierens eine weitgehend stabilisierte Fassung besitzt, die durchaus von Prinzipien und Metaphern aus realweltlichen Zusammenhängen geprägt war und ist, steuert nun die Digitalität in die Realwelt zurück und wir richten uns diese unter einem Firmament digitaler Meme, Bilder, Metaphern und Prinzipien neu ein. Dies schlägt sich unter anderem in der Aufstellung der Bücher nieder. Stephen Fowler erklärt:

„The experience of Web browsing makes it possible for a shop like this to exist […] The randomness of the book displays, they’re like the web – masses of unrelated information popping up next to each other, there context pretty much wiped out.”

Der Ursprungs- bzw. Entstehungskontext – so müsste die Präzisierung heißen. Denn wie im Web entsteht auch in der Verkaufsregalaufstellung eine permanente und tatsächlich arbiträre Rekontextualisierung (oder vielleicht auch nur Rekombination) der hier an physische Entitäten gebundenden Inhalte. Nun ist Regalbrowsing keine neue Sache. Aber zumeist boten Freihandaufstellungen zugleich immer auch ein sachgeordnetes Gestell. Neu ist also, dass das Browsing keinen erschließenden Ordnungssystemen mehr folgt, sondern den zufälligen Themensprung zum Prinzip erhebt. Dies ist auch für Buchhandlungen innovativ, die meist doch grob und zumindest nach Alphabet, Einbandfarbe oder Verlag ordnen. Die Aufstellung in den Regalen von Monkey’s Paw scheint dagegen jedes Ordnungsprinzip zu übergehen.

III

Dass alte und edle Vorstellungen von Vollständigkeit, dauerhafter Gültigkeit, systematischer Ordnung und der ganzen restlichen Palette dessen, was Bibliotheken als zentrale Wissensordnungsinstitutionen bis in die jüngste Zeit noch als Ideal verfolgten, hier auf der Strecke bleiben, scheint in diesem Prozess unvermeidlich. Und auch am Substitut semantischer Erschließung, bei der irgendwann Elemente in den Text selbst Navigations- und Ordnungspfade eröffnen sollen, hat man im konkreten Fall keine Interesse. Wir Bibliotheks- und Informationswissenschaftöer müssen es aber schon aufbringen, benötigen wir doch in dieser Hypertrophie des Vernetzens, Vermischens und Überkreuzens von Kulturspuren, in der alles, was Code ist, als Material gleiche Validität besitzt, neue Methoden des Umgangs sogar mit Begriffen wie Denken und Wissen und auch von kultureller Stabilität. Daher sind die Entwicklungsbemühungen zu semantischen und pragmatischen Netzen, zu Ontologien, ER-Modellen und formalen Beschreibungssprachen mehr noch aus erkenntnisphilosophischer Warte hochinteressant, als im Sinne einer wirklichen technischen Implementierung, deren Reichweite auf absehbare Zeit mehr oder weniger auf eher kleine Kreise begrenzt bleiben dürfte. Eindeutig ist für uns, dass vernetzte Wissenskulturen andere und komplexe Ordnungsverfahren benötigen, als die herkömmliche Formal- und Sacherschließung anbieten kann.

Parallel dazu entfaltet sich Kultur aber auch ganz eigenständig in quasi-evolutionären Selbstversuchsreihen und während wir darauf warten, dass bei Europeana der semantischen Knoten platzt und alles verändert, können wir die kleine Effekte der autopoietischen Verschiebungen bereits in den konkreten Wissens- und Erinnerungskulturen betrachten.

IV

Der kleine kanadische Buchladen mit seinem “iPod shuffle of Books”  – wobei das Bild des iPod shuffle in fünf Jahren für die dann 20jährigen genauso mit dem Retrolabel besetzt sein dürfte, wie  für die Kinder der 1990er der Walkman mit Bügelkopfhörer – ist einer dieser zahlreich existierenden Laborversuche, in denen Varianten für den Umgang mit Medien und Erinnerung durchgespielt werden. Das zuweilen Retromanie genannte Hereinholen möglichst antiquierter Codes, meist motiviert aus dem hohen Druck des Avantgarde-oder wenigstens Anders-ein-Wollens oder -Müssens, spielt dabei eine maßgebliche Rolle und mittlerweile wirkt Techspeak à la Library 2.0 als hoffnungslos staubfängerisch. Die Sowohl-als-Auch-Welt integriert und variiert leichthändig Touchscreen und Ledereinband. Daher eröffnet dieser Über-Remix, in dem selbst das vermeintlich Unzeitgemäßeste wieder seinen kleinen Frühling erleben könnte, eine Entwicklung, der wir, ob wir mögen oder nicht, keinesfalls echappieren.

Der Antrieb entspringt dem Drang bzw. der Pflicht zur Lücke, dem/der sich besonders die Kulturindustrien nach dem (vermeintlichen) Ende des Mainstreams verschrieben haben. Long Tail hat an dieser Stelle nichts mehr mit Relevanz zu tun, sondern mit Distinktion. Selbstverständlich ist auch dieses Bemühen in Referenzrahmen gesäumt, aus denen man nicht fallen darf. Aber die begrenzen die Spielräume nach frischen Kriterien, von denen die sie Gestaltenden zuweilen selbst gar nicht zu wissen scheinen, wie sie wirklich zu bestimmen sind. Generell erweisen sich die meisten dieser Variationen im Abgelegenen freilich als rein ästhetisch motiviert.

V

Dabei muss es aber nicht bleiben. Wenn man Bücher nicht nur nach ihrem Inhalt, sondern auch nach ihren Kontexten (Entstehungsbedingungen, Zweck, Rezeption, etc.) studiert, dann schaffen sie unter Umständen den Zugang zu einem Wissen, das in den Text- und Bildteilen gar nicht erfasst oder erfassbar ist. Folgerichtig rücken nun Phänomene ins Zentrum, die bisher vernachlässigt wurden bzw. nach alten Interpretationsmustern auch vernachlässigbar schienen.

„Traditionally, the job of a learned bookseller was to preserve the important printed documents of his culture […] But we have libraries that are the repositories of those books, and they’ve all been scanned by Google.”

Die Aussage Stephen Fowlers offenbart zugleich, wie schwierig es ist, in dieser Überkomplexität auch nur zwei Schritte neben dem eigenen Kerngebiet den Überblick zu behalten. Er dürfte zwar damit Recht haben, dass die meisten Bücher, die irgendwann einmal als bewahrenswert eingeschätzt wurden, auch von der Gedächtnisinstitution Bibliothek bewahrt werden.

Aber die Zuschreibung von Wichtigkeit änderte sich auch über die Zeit in den Bibliotheken und wer kann schon überblicken, was alles durch Weeding und Aussonderungen vor allem immer dann verlustig ging, wenn eine neue, bessere Zeit direkt vor der Tür schien, die man nicht mit übermäßig viel veraltetem Schriftgut belasten wollte. Und natürlich hat Google längst nicht alle Bücher gescannt. Nicht einmal alle wichtigen. Und schließlich bedeutet ein Scan auch nicht die Bewahrung eines Buches, sondern die digitale Dokumentation seiner Existenz und – wenn es gut läuft – seines Inhalts.

Die aufschlussreichste Stelle des Textes ist vielleicht diese:

„Fowler grabs a book off the pile on his desk: “Elixir of Life,” published in 1935. “This isn’t about the elixir of life,” he says. “This book is about preventing constipation. To a librarian, a bookseller this book was dross. But now that print is no longer the center of our culture – now that culture is on my iPhone – we can step back and really see print. And you know what? ‘Elixir of Life’ might say as much about American culture, and attitudes towards health and the body, as anything published in 1935.”

Stephen Fowler formuliert hier nicht nur eine kulturanthropologische Elementarweisheit, sondern wiederholt mit seiner “culture on my iPhone”-Attitüde leider auch eine gewisse Selbstorientierung bis Überschätzung der eigenen Rolle, die aus der europäischen Perspektive kaum nachvollziehbar ist, in Nordamerika aber erfahrungsgemäß häufig anzutreffen ist. Für die vermutlich gemeinte Arbeit des Autorenduos Dr. Jill Cossley-Batt und Dr. Irving Baird, die 1935 in der zweiten Auflage erschien (London: Python Publishing), lässt sich jedenfalls mit denkbar wenig Mühe ein Handvoll Besitznachweise in Bibliotheken finden. Der Gebrauchtbuchmarkt hält Exemplare für etwa 50 Euro bereit. Man mag sich damit noch nicht wirklich im Preissegment der „rare books“ bewegen, aber die steigende Nachfrage kombiniert mit allen zugänglichen Preisvergleichsmedien, erlaubt es Gebrauchtbuchhändlern, auch abseitige Titel halbwegs realistisch, also oft jenseits des Schnäppchenniveaus, zu taxieren. Die seltenen und kuriosen Titel sind auch dann häufig teuer, wenn sie nicht die klassischen Sammlerklientel ansprechen. (Wenngleich bei diesem Beispiel der Erwerb einer galligen Besprechung des Titels teurer ist als das Gebrauchtbuch.)Vielleicht eben genau deshalb, weil die Gruppe der nicht-klassischen Sammlerklientel, die Titel wie Dental Evidence: A Handbook for the Police gern einmal als unorthodoxes Geschenkbuch in einer popkulturellen Gemeinschaft, die sonst schon alles hat und kennt, verwendet. Wenn es en vogue ist, dann legt man sich auch so etwas als Nebenmöblierung in die Wohnstube, auch wenn man sonst nichts mit Büchern am Hut hat. Ist es passé, bleibt immer noch ein Flohmarkt am Mauerpark.

VI

Aber am Ende geht es gar nicht darum. Denn der wichtige Schritt ist, dass wir allgemein verstehen, Medien als Gesamtheit und Phänomen in ihrem Kontext zu lesen, wo wir lange gelernt haben, dass einzig der Inhalt zählt. Und, ob sich dieser für uns als temporär relevant erweist. Da es eine Qualität des Internet ist, dass auch zu marginalen Fachpublikationen viele Angaben und manchmal auch, dank Google Books, den Volltext ohne viel Mühe zu ermitteln sind, bleibt Raum, weitere Facetten einer Publikation zu betrachten und einst als irrelevant abgetane Arbeiten, neu oder wieder zu lesen. Das steht im Einklang mit dem, was The Monkey’s Paw („a glimpse of the future, a way forward for the old-fashioned bookstore in the age of the iPhone and the e-book”) exemplarisch vorführt und was die Tatsache, dass es zum Thema in der New York Times wurde, zusätzlich bestätigt: Wenigstens die westliche Kultur befindet sich derzeit und zwar dank Digitalisierung an einem Punkt, an dem die marginalsten Kulturspuren unerwartet wieder Bedeutung erlangen können.

VII

Wie dauerhaft solche Trends sind, lässt sich bekanntlich schwer prognostizieren. Es wäre verfrüht und auch falsch, das Beispiel aus dem Style Magazine der Herald Tribune zum belastbaren Vorboten einer Entwicklung zu überhöhen, die sich zum Massenphänomen ausdehnt. Für den Gebrauchtbuchmarkt gilt das sowieso: der Handel mit Raritäten und Massierungseffekte schließen sich prinzipiell aus.

Die Anziehung des an sich Überholten und parallel laufende Aktualisierungsbemühungen sind auf einer abstrakteren Ebene dennoch für die Auseinandersetzung mit Fragen des Bewahrens, Erschließens und Vermittelns von Kultur bedeutsame Trends. Also auch für Bibliotheken. Es zeigt sich erfahrungsgemäß recht deutlich, dass mediale Entwicklungen nicht selten mit wiederholtem und wiederholendem Blick in den Rückspiegel ablaufen und dass es hilfreich ist, das scheinbar Überholte hin und wieder darauf zu prüfen, ob es nicht gerade in seinem Überholtsein entscheidende Impulse für das gegenwärtige Handeln enthält. Oder mehr noch, ob etwas, das links liegen gelassen glaubte, nicht auf einmal rechts vorbei zieht.

VIII

Schließlich bleibt die Frage zu beantworten, weshalb die Rückorientierung für manche Medienformen (Schallplatte, Sofortbildfotografie, Buch) funktioniert und für andere (Tonbandkassette, Daguerreotypie, Tontafel) nicht. Eine systematische Antwort würde diese Betrachtung noch weiter dehnen, als sie ohnehin bereits spannt. Für diesen Zusammenhang mag der Hinweis auf den Dreiklang der unmittelbaren sinnlichen Erfahrbarkeit bei gleichzeitig hohem Ästhetisierungspotential und verhältnismäßig einfacher Benutzung als Vermutung zureichen.

Das gedruckte Buch, wenn es gut gemacht ist, erfüllt alle dieser drei Wünsche. Sein wirklicher Status ergibt sich immer neu aus der Dreiecksbeziehung zwischen der medialen Form, dem in ihm Codierten und dem Individuum, das sich mit Beidem auseinander setzt.

Lange Zeit ignorierte man angesichts der neuen digitaltechnischen Prozessierungsmöglichkeiten etwas Grundsätzliches:  Elektronische Textverarbeitung bezieht sich ausschließlich auf den Code, Bücher werden aber nie nur als Code geschrieben. Und Bücher werden wohl traditionell vorrangig aber eben nicht nur allein als Code gelesen. Die Eigenschaften des Mediums prägen die Botschaft spürbar mit.

Insofern ist die Digitalisierung gedruckter Inhalte aus einer (bibliotheks)kulturellen Perspektive zwar als Ergänzung eine wichtige Erweiterung. Als Ersatz wäre sie jedoch eine Verengung. Wie sich das so genannte Born-Digital-Werke verhält, ist uns heute wahrscheinlich buchstäblich kaum begreiflich. Eine mehrdimensionale kulturanalytische Auseinandersetzung mit dem sehr entwickelten und vergleichsweise gut durchforschbaren Medium Print könnte uns dafür immerhin wichtige Anhaltspunkte liefern. Der Übergang vom Desktop zum Notebook zum Tablet zum Phablet (vgl. hier) mit den jeweilig betonten und ermöglichen Nutzungsformen von Content, ist bereits eine Linie, mit der sich alle, die sich mit Produktion und Vermittlung von Inhalten professionell beschäftigen, auseinandersetzen müssen. Da wir unzweifelhaft in diese Gruppe gehören, ist das durchaus ein Thema für die am kommenden Freitag stattfindende Unkonferenz raum:shift Information Science.

Quelle:

Jody Rosen: An Oddly Modern Antiquarian Bookshop. In: T. International Herald Tribune Style Magazine. Spring Issue. March 16, 2013, S. 32-35. Onlinefassung via nytimes.com

(16.03.2013)

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (6): 027.7 – Belebung oder Ende der NewLIS-Debatte?

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by libreas on 16. März 2013

von Matti Stöhr

Willkommen! Mit der ersten Ausgabe und dem Themenschwerpunkt „Bibliothek 2.0 am Ende?! ist mit 027.7 Zeitschrift für Bibliothekskultur  frisch ein neues Fachblatt aus der Taufe gehoben worden, welches elektronisch nach Prinzipien des Open Access erscheint. Der Zeitschriftentitel – die DDC-Systemstelle für wissenschaftliche Hochschulbibliotheken (college and university libraries) – ist programmatisch. Aus dem Konzept:

027.7 ist eine Open Access-Zeitschrift für Bibliothekskultur mit offenem Peer-Review-Verfahren. Mit dem Begriff „Bibliothekskultur“ möchten wir das Feld weit öffnen für die Präsentation von Forschungsergebnissen, Praxisberichten und weitere Arten von Fachbeiträgen. Der thematische Fokus liegt auf dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen des deutschsprachigen Raums. Dabei fliessen auch internationale Fragestellungen mit ein. 027.7 möchte informieren, anregen und diskutieren, manchmal auch streiten. Wenn sich 027.7 als Plattform für offene Auseinandersetzungen über die Inhalte der Artikel etablieren kann, haben wir unser Ziel erreicht.

027.7 wird von Andreas Ledl, David Tréfás und Bernhard Lukas Herrlich – alle (promovierte) Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Basel – herausgegeben und redaktionell betreut. Dem Editorial ist zu entnehmen, dass das Gründungsvorhaben unabhängig von der Diskussion zur Eingliederung des Bibliotheksdiensts in das Portfolio vom Verlag de Gruyter angegangen wurde, jedoch nicht unbeeindruckt blieb von der nachfolgenden NewLIS-Debatte; dem viel diskutierten aber bis dato nicht umgesetzten Vorhabens der Gründung einer neuen bibliothekarischen OA-Zeitschrift unter dem Arbeitstitel NewLIS.  Seit dem „Diskussions- und Planungshoch“ von Juni bis September 2012, welches u.a. nach einer kleineren Diskussion auf der vergangenen frei>tag>-Unkonferenz  in einer Session auf dem Infocamp in Chur gipfelte, ist es vergleichsweise  ruhig um das Projekt geworden, aber wohl (noch?) nicht begraben. Hier verwundert etwas, das (damals) direkt Beteiligte über den Stand spekulieren. Die nahende frei<tag> 2013 böte den nächsten Anlass, um über die aktuellen Entwicklungen inkl. der Bedeutung der jüngsten Neugründung nach Perspektive Bibliothek im bibliothekarischen bzw. im bibliotheks- und informationswissenschaftliche (OA-)Zeitschriftenwesen zu diskutieren. Anknüpfungspunkte böte etwa hier Ben Kaden, der im Blogpost „Warum LIS-Zeitschriften. Und warum nicht.“ vor kurzem (erneut) Position bezogen hat.

Collage LIS-OA-Journale

Wo geht es hin mit den  – etablierten, neuen und geplanten – deutsschprachigen Open Access-Journalen im Bibliotheks- und Informationswesen?

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (7): Ex Libris

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 16. März 2013

(Anmerkung: Aufgrund widriger digitaltechnischer Probleme kann der Beitrag, der eigentlich für Freitag gedacht war, erst am heutigen Samstag erscheinen.)

zu: Emily Jacir (2012) ex libris, 2010-2012.  Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.

von Ben Kaden

Am Anfang eine Schachtel:

In einer dieser frischen Buchhandlungen mit Drang zur Nische, die man in Zentral-Berlin erstaunlicherweise bei abendlichen Wandelgängen plötzlich gern dort entdeckt, wo man gestern noch nicht einmal eine leeres Lokal wahrgenommen hatte (war es ein Schuster? Ein asiatisches Restaurant?), wobei diese rapide Vermehrung nicht nur darin ihre Ursache haben dürfte, dass, wie mir vor kurzem in der lauten Salontangotanzwelt des Clärchens Ballhaus der Vertreter eines mittelgroßen deutschen Literaturverlages eher bestätigte als mitteilte, nahezu alle aufstrebenden SchriftstellerInnen jedenfalls seines Hauses innerhalb des Berliner S-Bahnrings mindestens Zweitwohnung nehmen, was ganz eigene Probleme nach sich zieht, die Reisekosten aber kalkulierbar hält, entdeckte ich halb unter anderen Bänden versteckt nah der Kante eines Präsentationstischchens für Neuerscheinungen ein Buch von der Art, auf die man eher selten stößt, weil man von ihnen nichts weiß, sie Buchhändler eher selten von sich aus ins Sortiment nehmen, die aber dem bibliobibliothekarischen (im Gegensatz zum technobibliothekarischen) Blick ohne Umschweife ihre Relevanz offenbaren und daher auch alsbald in irgendeiner Verkaufsstatistik erscheinen.

Viele Exemplare der Dokumentation zu Emily Jacirs Ex Libris-Projekt dürften sich in dieser freilich nicht aufeinander addieren (der Amazon Verkaufsrang liegt derzeit in der Höhe „Viertelmillion“, also in einem Bereich, wo eine einzelne Bestellung gleich einen Satz um tausend Positionen nach vorn zur Folge hat) und aus bibliophiler Sicht macht das eher schlichte Büchlein wirklich nicht allzu viel her. Aber die Geschichte dahinter ist für uns unvermeidlich bemerkenswert.

Der Band spiegelt den Beitrag der Künstlerin für die dOCUMENTA (13). Dieser besteht aus Nahaufnahmen von bzw. aus Büchern, die im Palästinakrieg Ende der 1940er Jahre aus verlassenen öffentlichen Bibliotheken und vor allem aus Privathäusern in Palästina gezielt übernommen und nun zum Teil mit dem Vermerk „Abandoned Property“ (AP) in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem aufbewahrt werden. Die Bände waren, wie Gish Amit in seinem Aufsatz Ownerless Objects? (In: Jerusalem Quartely, 33 / Winter 2008) ausführt, aufgegeben. Und zwar, weil ihre Besitzer vor dem Krieg flohen. Kurt Warman, damaliger Direktor der Nationalbibliothek in Israel, reagierte schnell und forderte von  seiner Regierung, was er umgehend erteilt bekam: Die Zuständigkeit für diese zurück- und verlassenen Bestände.

Daraufhin sammelten Bibliothekare – teilweise auch als in die israelische Armee embedded librarians – geschätzt 30.000 Bände ein. Der offizielle Zweck war, wie ein Memo Kurt Warmans zeigt, die Rettung der Bücher an sich mit der Horizontlinie einer eventuellen Rückgabe an die ehemaligen Eigentümer. Daher kennzeichnete man die Exemplare in den 1950er wenn möglich mit entsprechenden Herkunftsnachweisen. In den 1960ern wurden diese Namen durch das AP-Kürzel ersetzt. Dieser Schritt überführte diesen Sonderbestand, so Gish Amit, in eine Art besitzrechtliche Zwischenlage: Er gehörte nicht zum Bibliotheksbestand und er war doch nicht mehr auf die ursprünglichen Besitzer rückführbar. Und auch sonst bleibt unklar, jedenfalls aus der Position Gish Amits, welche Motivation wo und wie und vom wem hinter den Sammelaktionen parallel zum Militäreinsatz stand. Gish Amit zitiert aus einem Memo eines Dr. Strauss, Leiter des Eastern Science Department der Nationalbibliothek, der ein ganz anderes Opportunitätsfenster aufgehen sah:

„If a substantial number of these books is given to the National Library, we would be able to dramatically expand our research opportunities. Doubtless, we have first to bring into the National Library those books that are not current lyin our possession. As for the other books, we are mainly interested in classical literature publications… examining the books that have come into our hands therefore requires library processing with exact awareness of our needs, and it should be noted that in this aspect, the Eastern Department at the National Library far surpasses similar institutions in the rest of the Near East countries that, although they are wealthy in books, are not adequately organized and do not allow the reader and the researcher the kind of work that can be done here.”

Eine Nationalbibliothek im Aufbau in einem jungen, seine Kultur erst definierenden Land bekam nun die Gelegenheit, auf einen Schlag seinen Bestand erheblich zu erweitern. In diesem Fall mit Beständen, deren Schicksal sonst weithin in den dunklen Zügen dieses Krieges gelegen hätte und daher vermutlich Zerstörung und Verlust heißen müsste. Bibliotheksethisch stellt die Situation durchaus eine Herausforderung dar und die beiden Positionen – Bewahren für spätere Rückgabe oder Übernehmen zum Zwecke der Forschung – markieren zwei Seiten derselben Plakette. Die dritte Option, Belassen, schien nachvollziehbar unannehmbar.

Briefmarke Mount Scopus

„Tomorrow never comes until its too late“ – Wir popkulturellen Kinder der 1990er+ kennen die beatmusikalische Aufarbeitung des Sechstagekriegs zumeist nur dank der außerordentlich eingängigen Wiederverwertung des Stücks durch DJ Shadow (Six Days. (Single-CD) MCA Records, 2002). Entsprechend läuft die zitierte und von Shadow dramaturgisch perfekt reinszenierte Zeile des Kehrreims unwillkürlich los und in Schleife, wenn nur irgendwo der Bezug zum Berg Skopus auftaucht. Denn der Sechstagekrieg führte zur Wiedereröffnung des Universitätscampus auf eben dieser Jerusalemer Höhe, dessen Fünfzigjähriges Bestehen durch die gezeigte Sonderbriefmarke, die am 14. Januar 1975 an die israelischen Postschalter gelangte, Würdigung erfuhr. Die National- und Universitätsbibliothek befindet sich jedoch auf einem anderen Campus in Jerusalem. Sie stand zwar auch einmal im Zentrum einer Briefmarkenemission (am 17.09.1992 und damit pünktlich zum ראש השנה), jedoch liegt mir ausgerechnet dieser Satz mit drei Werten genauso wenig vor, wie das biblionumismatische Glanzstück der zum gleichen Anlass ausgegebenen Münze. Daher bleibt für heute nur diese bibliophilatelistische Halbgarheit als Notlösung.

Die 1970 in Bethlehem geborene Künstlerin Emily Jacir, die generell die Geschichte der Palästinenser in die Mitte ihrer Arbeiten rückt, interessierte sich in der Arbeit Ex Libris für die Spuren, die von den ursprünglichen Besitzern in den Exemplaren blieben. Bemerkenswert ist die Annäherung auch aus medial-transformativer Sicht: Bei Besuchen der Nationalbibliothek in Jerusalem fotografierte sie die Markierungen, Einschreibungen und auch Verletzungen des Materials mit der Kamera ihres Mobiltelefons, um diese Aufnahmen später für die Präsentation und den Begleitband drucken zu lassen. Für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema griff Emily Jacir zudem die library-processing-Perspektive des Dr. Strauss als Ausgangspunkt wieder auf: Sie sichtete den Freihandbestand nach AP-Titeln, um anhand der vorgefunden Exemplare die Fragen:

„Which books were deemed unimportant and insignificant and not worth collecting or preserving? Which ones were discarded? … Which books bypassed the “AP” designation and became part of the library’s general collections?” (S. 6)

zu reflektieren. Angesichts des Status der Arbeit als Teil der dOCUMENTA (13) schlug sie schließlich den Bogen zu den im September 1941 im Kasseler Fridericianum im britischen Bombardement verbrannten Bestände der Hessischen Landesbibliothek – übrigens auch Referenzpunkt der Documenta-Arbeit What Dust Will Rise des Künstlers Michael Rakowitz, der aus Steinen aus Bamiyan Bücher nachmeißeln ließ, die während der Bombenflüge im II. Weltkrieg in Kassel verloren gingen.

Das Faszinierende an dieser und an Emily Jacirs Arbeit ist, welche Aura das gegenständliche Medium Buch, das sich derzeit erklärtermaßen durch die digitale Verwandlung in Dateien dematerialisiert, gerade auch in seinem Verloren-Gehen und Versetzt-Werden auffaltet. Das Bändchen Ex Libris selbst trägt, wie erwähnt, zugegeben nicht viel dazu bei und bietet auch keine direkten Antworten. Aber die kleine Sammlung von Fotografien der Namenszüge, Papiereinrisse, handschriftlichen Zueignungen, Stempelspuren und auch Fotografien weckt eine andere Assoziation: die einer erratischen Spurensicherung. Wir können nicht nur in den Büchern, wie können auch die Bücher selbst als Manifestationen von (vergangener) Existenz und Geschichte lesen. Jedes Exlibris verweist darauf, dass ein konkreter Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt dieses Buch in den Händen hielt, aufschlug und vielleicht nicht ganz selten in dieser Handlung ein kleines Stück in seiner individuellen Biografie verändert wurde.

Uns bleibt als Überlegung – gesetzt den Fall das Buch als Medium verschwindet auf breiter Front, was angesichts der sprießenden Buchhandlungskultur wenigstens in Berlin vollends absurd erscheint, aber sicher weiß man es ja nie – ob es für den kostbaren Eigensinn der Materialisierung von Leben, Wissen und Wissenwollen im realweltlichen Medium Buch irgendein Gegenstück in digitalen Medienräumen geben kann (oder ob wir eines programmieren müssen). Und im Anschluss, was dies für die Erinnerungskulturen und die Bibliotheken als gern selbsterklärtes Gedächtnis der Menschheit bedeutet? Zwei nur scheinbar unscheinbare Fragen surren also dazu als Nachhut auch des Lebens, das wir gelebt haben werden, durch den Raum: Wie werden wir uns erinnern? Und: Wie wollen wir uns erinnern? Letztlich müssen wir zudem aus professioneller Verpflichtung  ergänzend mit uns abklären, welche Rolle die Institution Bibliothek auch aus, wenn man so will, erinnerungsethischer Sicht, dabei spielen kann?

Am Ende eine Biegung:

Die Katze Erinnerung / raum:shift

Die Katze Erinnerung: Angeblich gibt es Parallelen zwischen dem liebsten Begleittier der Johnsonianer und dem der Bibliothekare. Die gezeigte Aufnahme soll genau darauf hinweisen und außerdem fügt sie auch sonst allerlei allegorisches Potential (das zerkratzte Parkett, die Höhlengleichnis-artige Ausplustern des Schattenschwanzes, die geometrisch exakte Rahmung und die beide Bezugspunkte dieses Textes) nicht ungeschickt zueinander.

(15.03.2013)

It’s the frei<tag> 2013 Countdown (8): smart und vernetzt – die Techniktrends des Jahres

Posted in LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 14. März 2013

von Manuela Schulz

Wir schauen gern und dank unserer Profession auch notwendig über den Tellerrand oder nach links und rechts und rundherum. Zum Beispiel auf die technischen Sprünge, die da kommen werden oder auch nur sollen. In der nicht mehr ganz taufrischen, aber dahingehend trotz aller Beschleunigungsgesesellschaft noch aktuellen Februar-Ausgabe 6 der c’t bereiten uns Axel Kannenberg und Kollegen auf die technischen Trends in 2013 vor:

  • Wearable Computing
  • Plattformübergreifende Software
  • Das vernetzte Auto
  • Tod des Passworts
  • 4K-Displays
  • (Kein) Ende des PCs
  • Mobile Payment

Was wie Science Fiction anmutet oder an James Bond-Filme denken lässt, soll dieses Jahr marktfähig werden: Wearable computing. Damit nicht nur Smartphones den Technikmarkt bevölkern, gibt es nun auch Smartwatches.  Körpermessgeräte, die mit ihren Sensoren verschiedenste Körperaktivitäten messen können, bereichern die Produktpalette ebenfalls.  Es geht also um Rechenleistung als Accessoire, hauptsächlich mit dem Zweck der Eigenbeobachtung für den Menschen in seiner Umwelt. Vielleicht auch – man denke an Google Glass – zur direkten Interaktion zwischen Realität, Digitalität und Identität, die mehr denn je zur Kopfsache wird. Parallel wird so eine physiobiografische Dauerdokumentation möglich. Damit dürften auch neue Herausforderungen für den Datenschutz entstehen. (mehr dazu: c’t 2013, Heft 6, S. 87)

Auch die Vernetzung der Software wird, dem Beitrag nach, fortschreiten. Alles fließt und zwar zusammen. Das ist folgerichtig, denn sind wir mobil digital erschlossen unterwegs, müssen unsere Daten auch flüssig und permanent in der Cloud prozessier- und vor allem abrufbar machen. Bereits jetzt kann man „Dropbox-, Skype- und Evernote-Clients […]  für Android und iOS ebenso wie für Mac OS X und  […] Windows 8“ verwenden. „Apps werden leistungsfähiger und komplexer – Desktop-Software wird entkompliziert.“ (c’t 2013, Heft 6, S. 88) Falls es in absehbarer Zukunft außerhalb der Büroarbeitswelt überhaupt noch Desktops geben wird. (mehr dazu: c’t 2013, Heft 6, S. 88)

freitag 2013 Vase

Ein Schatten liegt auf dem raum:shift Information Sciene. Ist es der Schatten der Digitalisierung? Wohl kaum. Eine andere Welt als die digitale scheint längst nicht mehr vorstellbar. Und daher nehmen wir die Glanzpunkte auch der nicht-digitalen Welt vorwiegend google-glasiert wahr und werden demnächst unserer Brille sagen: „Cool. Take a photo of this. And share it with my circles.“ In diesem Fall war es allerdings noch USB-Kabel-übermittelte Handarbeit.

Eine spannende Entwicklung und für Bibliotheken nicht zwangsläufig erfreuliche vollzieht sich bei den Lizenzmodellen. Wir kennen es seit mehreren Jahren von Geschäftsmodellen der großen Wissenschaftsverlage: Es wird nicht mehr gekauft, sondern nur noch lizenziert. Wir erwerben demnach kein dauerhaftes Nutzungsrecht – wie es mit dem Eigentumsrecht am physischen Datenträger fast immer verbunden war – sondern ausschließlich Zugriffsrechte, die eine Nutzung unter den Lizenzbedingungen mitunter auch nur temporär zulassen. Man könnte auch sagen: lizenzierte Inhalte sind Bibliotheksinhalte in der Cloud. (mehr zum Thema Lizenzen in der c’t 2013, Heft 6, S. 88)

Für diejenigen, die eine Vielzahl von „mit Klein-und Großschreibung, Sonderzeichen und Ziffern“-Passwörtern pflegen (müssen), kommt 2013 eventuell Erleichterung: Das Konzept Passwort habe sich längst überlebt. Auch an dieser Stelle wird das persönlicher, in dem Sinne, dass der Log-In der Zukunft nicht passwort-, sondern identitätsbasiert erfolgen wird. Zwei Konzepten werden derzeit gute Chancen zur Durchsetzung zugeschrieben: „Identity Federation“ und „Zwei-Faktor-Authentifizierung“ (bzw. Two- oder Multi-Factor-Identificationm TFA, 2FA). Auch OpenID, das Anmelden mit einem Google- oder anderem Konto bei Webdiensten. (mehr dazu: c’t 2013, Heft 6, S. 92)

Die Steigerungsformen übersteigern sich wieder mal selbst, diesmal bei der Displayauflösung für Fernseher und Monitore: Full HD soll von Ultra HD (3840 x 2160 Pixel) abgelöst werden. (mehr dazu: c’t 2013, Heft 6, S. 94) Wir wollen gar uns gar nicht vorstellen, wie uns so etwas wie das „Jenke-Experiment“ in dieser Kristallklarheit entgegenpixelt.

Die Gerätehersteller sind naturgemäß kreativ: Kaufte man sich vor ein paar Jahren, in diesen seligen Zeiten, als drei Digitalgeräte ausreichten, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen nur einen PC, das Notebook und das Handy, steht man nun vor der Entscheidung PC, Notebook, Netbook, Smartphone (und vielleicht ein zweites für die Arbeit), Tablet, E-Book-Reader mit seinen produktiven und konsumierenden Tätigkeiten auszubalancieren, um sich optimal mit Informations- und Kommunikationstechnik auszustatten. Die Teilhabe an der informatisierten Gesellschaft erfordert diesbezüglich viel Differenzierungswissen und genügend Mehrfachsteckdosen. Dieses Jahr soll auch das „Phablet“ dazu kommen. Während Tablets und Smartphones das Notebook ein Stück weit ablösen und die Tendenz zum mobilen Agieren unterstützen, nähert sich das Smartphone mit seiner Größe an das Tablet an und das ist damit ein „Phablet“. Vielleicht reduziert sich dann doch irgendwie die Zahl der Ladekabel wieder. Aber das hofft man ja jedes Mal. (mehr zum Thema: c’t 2013, Heft 6, S. 96)

Welche Folgen diese Entwicklungen für die Informations- und Bibliotheksbranche haben könnten, ist vielleicht Thema bei der diesjährigen frei<tag>.