LIBREAS.Library Ideas

CfP #44: Grassroots Open Access

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 4. Mai 2023

Im Oktober 2003, vor etwa zwanzig Jahren, wurde mit der “Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen” ein Grundlagentext der Open-Access-Bewegung publiziert. Eine Unterzeichnung der Erklärung entsprach und entspricht seitdem, auf gewisse Weise, einem performativen Bekenntnis zu Open Access.

Open Access hat sich in diesen zwanzig Jahren als Thema vom Rand des Progressiven zur allgegenwärtigen Publikationsform und damit  auch zum institutionalisierten Arbeitsfeld in Bibliotheken, Wissenschaftseinrichtungen, bei Forschungsförderern und Wissenschaftsverlagen sowie der Forschungspolitik etabliert. Wir stehen heute an einem Punkt, an dem nationale und föderale Open-Access-Strategien erlassen wurden, Policies von Förderern und Hochschulen die Publikation von Texten und Forschungsdaten nach den FAIR- und CARE-Prinzipien vorschreiben und Read-and-Publish-Verträge auf nationaler Ebene zum Normalfall geworden sind. Ressourcen wurden mobilisiert und Infrastrukturen gebaut ‒ angefangen von Repositorien über Open-Access-Transformationsverträge für, unter anderem, den Zugriff auf große Journalportfolios, bis hin zu Personalstellen und Systemen, um die Compliance mit Open-Access-Vorgaben der  Wissenschaftsorganisationen und Förderer sowie die Einhaltung von Vertragsklauseln zu überprüfen. Open Access ist, in gewisser Weise und immer mit noch unerschlossenen Potenzialen, zum Normalfall im Wissenschaftsbetrieb geworden. Zu einem Normalfall, der allein im DACH-Raum jährlich hunderte Millionen Euro und Franken kostet ‒ für Lizenzen, für Personalstunden, für Hard- und Software. Er ist ein Industriezweig geworden ‒ einer, der polemisch als “Big OA” bezeichnet werden kann.

Zurückblickend auf die Berliner Erklärung und die Atmosphäre, in der diese und weitere Erklärungen verfasst wurden, kommen auch schnell Zweifel auf. Ist es wirklich das, was Open Access sein sollte? Wenn in der Erklärung geschrieben wird: “Die Vision von einer umfassenden und frei zugänglichen Repräsentation des Wissens lässt sich nur realisieren, wenn sich das Internet der Zukunft durch Nachhaltigkeit, Interaktivität und Transparenz auszeichnet. Inhalte und Software müssen offen zugänglich und kompatibel sein.” ‒ Ist diese Vision dann in der heutigen Realität von Big OA umgesetzt? Schauen wir zurück, welche Projekte in der Wissenschaftskommunikation damals, 2003, als mögliche Vorbilder galten ‒ arXiv, von Forschenden selbst betriebene Homepages, erste elektronische Zeitschriften, die von Forschenden oder Künstler*innen mehr oder minder privat betrieben wurden ‒ ist ein Unterschied schnell ersichtlich. Wir müssen, als Beispiel, die programmatischen Sätze aus dem ersten Editorial der First Monday ‒ einer der ersten dieser Zeitschriften ‒ zitieren, um an einen ganz anderen Geist erinnert zu werden:

“Information, equivalent to millions of printed pages, appears in one form or another on the Internet. Much of it is interesting, valuable, fascinating, intriguing, educational and humorous. Some of this digital information is arrogant, foolish and stupid. What’s the solution?

An information oasis, where contributions are read, meditated upon, edited, re-written before posting to the Internet and its many users. That’s the basic idea of ‘First Monday.’ A place where you can find contributions about the Internet from experts and colleagues around the world. A place where the ‘First Monday’ editors work their way through the Internet to find interesting and timely articles for you.”

(Valauskas, Dyson, Ghosh, 1996)

Sicher: Der Eindruck, dass ein sich von den Wurzeln weg und hin zu komplexen Institutionalisierungen entwickeltes Feld sich von ebendiesen Wurzeln mitunter bis zur Selbstverleugnung entfernt, betrifft Open Access nicht exklusiv. Eher ist dies die Norm. Ebenso die Dynamik: Schon die Geschichte der Informations- und Publikationsmärkte ist von einer Dialektik der Institutionalisierung in immer größeren Verlagen und Unternehmen auf der einen Seite und Gegenbewegungen (Gründung kleiner Verlage, Verlage mit explizit nicht gewinnorientierten Betriebsmodellen, Selbstpublikationen und Fanzines) geprägt. Neben beispielsweise Penguin Random House und Bastei Lübbe gibt es immer auch den Antje Kunstmann Verlag, Guggolz oder den Verlag Grasswurzelrevolution. Neben den gedruckten Büchern mit ISBN gibt es, in guten Buchhandlungen, immer auch Fanzines und selbstverlegte Werke. Parallel zu der reputationsorientierten und Pfadabhängigkeiten aufbauenden Web-of-Science-Welt, gibt es weltweit vernetzte Linked-Open-Data-Initiativen und Social-Media-Plattformen, die praktizierte offene Wissenschaft in allen disziplinären und gesellschaftlichen Kontexten sichtbar machen.

Was uns in der Ausgabe #44 interessiert, sind diese Gegenbewegungen im Bereich des Open Access. Nicht Big OA, sondern das Gegenteil ‒ small OA oder, wie wir es nennen wollen, Grassroots OA. Modelle, mit denen vielleicht eher Forschende selbst oder Bibliotheken und andere Gedächtnisinstitutionen die offene Publikation von Wissen und Daten als Diskussionen in die Hand nehmen wollen. Projekte, die nicht auf große Gewinnmargen aus sind, sondern idealistisch auf die Verbreitung und Ordnung von Information und Wissen. Anwendungen, die vielleicht auch unter der Hand der etablierten Modelle laufen, und deshalb in Bibliotheken ‒ deren Arbeitsstrukturen mehr und mehr auf das Funktionieren im Rahmen von “Big OA” orientiert sind ‒ praktisch nicht mehr auftauchen.

Wir denken zum Beispiel an Berichte aus der Realität von kleinen Diamond-Open-Access-Journalen, von scholar-led Publikationsformen wie Blogjournalen und alternativen offenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich eben nicht mehr als Zeitschriften oder Bücher bezeichnen. Wir denken an Berichte von Forschenden, die an den Strukturen der etablierten Wissenschaftskommunikation vorbei offen Wissen verbreiten ‒ in Podcasts, in Videos oder anderen Darbietungsformen. Wir denken aber auch an Berichte von Publikationen, die sich in gewisser Weise “am Rand” des Wissenschaftsbetriebes befinden, beispielsweise in praxisorientierten Feldern (wie der Bibliothekswissenschaft) und deshalb im Rahmen von Big OA weitgehend übergangen werden.

Selbstverständlich interessieren uns aber auch kritische Beiträge zur Politik und Struktur des Open-Access-Feldes. Wie kam es dazu, dass wir heute von Big OA reden können und müssen? Was ist mit all den Ansätzen zur Veränderung des Feldes der wissenschaftlichen Kommunikation passiert, die sich in den vergangenen 20 Jahren (nicht) etabliert haben?

LIBREAS. Library Ideas lädt für ihre Ausgabe #44 zur Einreichung von Beiträgen ein, die Entwicklungen am Rand, unterhalb oder auch gegen die jetzt etablierten Strukturen beleuchten. Sie sollen Möglichkeiten aufzeigen, Open Access auch anders, besser, vielleicht auch politisch und moralisch vertretbarer zu organisieren.

Die Form der Beiträge ist dabei offen. Gerne diskutiert die Redaktion im Vorfeld von Einreichungen auch Ideen. Deadline ist der 30.09.2023. Weitere Angaben zu Einreichungen (unter anderem Formalia und Stil, Umgang mit begleitenden Materialien, zur redaktionellen Bearbeitung) finden sich in den “Autor*innenhinweisen” von LIBREAS. Library Ideas.

Voller Interesse, Ihre / eure

Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Göttingen, Hannover, Lausanne, München, Potsdam, Zürich)


Literatur

Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen (2003). https://openaccess.mpg.de/68053/Berliner_Erklaerung_dt_Version_07-2006.pdf


Valauskas, Edward J. ; Dyson, Esther ; Ghosh, Rishab Aiyer (1996). Editors‘ Introduction. In: First Monday 1 (1996) 1, https://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/464/385