LIBREAS.Library Ideas

LIBREAS Call for Papers #26 Bibliotheken __ abseits / ausserhalb der Bibliothek

Posted in LIBREAS Call for Papers by libreas on 12. Mai 2014

Kurzfassung

Es gibt unbestreitbar und gut beobachtbar einen Trend zu Bibliotheken und bibliotheksähnlichen Phänomenen, die wenig bis gar nichts mit der Institution Bibliothek zu tun haben. Subkulturen, Protestgemeinschaften aber auch einfach buchaffine Nachbarschaften, Tourismusbüros und sogar Kommunen etablieren niedrigschwellige, oft sehr stark auf spezifische Bestände orientierte Varianten der Literaturversorgung. Die Ausgabe 26 von LIBREAS möchte den Ursachen für diesen Trend nachgehen. Und der Frage, was daraus folgt, dass die etablierten Bibliotheken sich nicht nur auf der digitalen Seite, sondern auch in der analogen Welt mit Alternativen konfrontiert sehen?

Eine ausführliche Einführung in das Thema sowie eine Reihe von möglichen Fragen zur Bearbeitung entnehmen Sie bitte der Langfassung.

Der Einsendeschluss für Beiträge ist der 30.10.2014. Die Kontaktadresse lautet redaktion@libreas.eu.

Zines of the Zone / Berlin, 2014

Herzlich, einfach, temporär – ist das die eigentliche Bibliothek der Zukunft? Die fahrende Konzeptbibliothek der Zines of the Zone fand im April 2014 in der Urban Spree Gallery an der Warschauer Straße in Berlin jedenfalls punktgenau ihre Zielgruppe. Und sogar Skateboardfahren durfte man zwischen den Regalen. (Foto: Ben Kaden / 17.04.2014, weitere Fotos im LIBREAS-Tumblr)

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Niemand braucht die Bibliothek als Raum, meint Alexander Grossmann.

Posted in LIBREAS.Debatte by Ben on 19. Februar 2014

Am Sonntag veröffentlichte der Tagesspiegel einen Leserbrief seines Lesers Alexander Grossmanns (online seit 18.02.2014), der sich gegen einen Neubau für die Berliner Zentral- und Landesbibliothek ausspricht und dies mit der These begründet, dass heute niemand mehr die Bibliothek in gebauter Form benötigt. Eine Tiefenlektüre des Leserbriefes zeigt, dass die Argumentation erhebliche Defizite besitzt.

von Ben Kaden (@bkaden)

Während die Leserkommentare im Webangebot des Tagesspiegels – wie übrigens bei den meisten Presse-Online-Auftritten allgemein – im Normalfall vor allem einen ernüchternden bis Entsetzen hervorrufenden Einblick in die Niederungen menschlicher Kommunikationen bieten, enthalten die redaktionell vorgefilterten Lesebriefspalten in den Druckausgaben ab und an doch einen Stichpunkt, der eine Debatte inhaltlich weiterzubringen verspricht.

Wenn sich nun, wie am Sonntag (16.02.2014, S. 16) im Tagesspiegel, auch noch ein Leserbrief zum geplanten Neubau der Zentral- und Landesbibliothek in Berlin mit der Überschrift „Virtuelle Bücherei Berlin“ (online unter dem zugespitzterem „Kein Mensch braucht die Landesbibliothek“)  findet, der zudem von einem Professor Doktor aus dem bildungsbürgerlich weitgehend als gehobenen zu bezeichnenden Berlin-Frohnau geschrieben wurde, wobei sich dieser Professor auch noch als Professor für Verlagswirtschaft nach kurzer Websuche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als Professor an einer Fakultät Medien entpuppt, dann sind die Erwartungen an eine substantielle Erweiterung der Debatte nicht unerheblich.

Nach der Lektüre des Briefes zeigt sich, dass Alexander Grossmann argumentativ ein bisschen auf den Spuren von Kathrin Passig wandelt und wieder einmal alle Klischees auf den Tisch legt, die sich gemeinhin einstellen, wenn man aus einer bestimmten Warte heraus den eigenen Lebensstil extrapoliert und Einsichten aus der praktischen Bibliotheksnutzung (sogar ein Blick auf die Bibliothekswissenschaft sollte für einen Professor im Medienbereich nicht unbedingt als unzumutbar gelten) ausblendet.

Was den Artikel allerdings heraushebt, ist, dass ihn eigentlich nichts heraushebt, sondern dass er vielmehr in seiner argumentativen Durchschnittlich- und Oberflächlichkeit alles bündelt, was die Misere des Diskurses um Aktualität und Zukunft des Bibliothekswesens kennzeichnet, die einem regelmäßig auch auf Podien begegnet. Die vier Reiter dieses Corsos sind: Digital ist die Gegenwart, Digital ist mein Leben, Digital ist die Zukunft, Digital ist innovativ. Dagegen wäre nichts einzuwenden, außer dass so eine Position 2014 ein bisschen altbacken wirkt. Es stört nur, wenn diese Sichtweise als alternativlose Zustandsbeschreibung der wirklichen Welt aufgeboten wird. Nebenher trotten außerdem die Grundannahmen, dass alle Bibliotheken im Prinzip gleich sind und ihre Hauptaufgabe in der Zugänglichmachung von Information bestehen. Was selbstverständlich zu simpel ist. Aber weiß das jeder, der den Tagesspiegel (oder ZEITonline) liest?

Möglicherweise ist es daher sinnvoll, den Leserbrief nicht einfach in die Altpapierentsorgung zu geben, sondern etwas zu sezieren, um an diesem Beispiel zu verstehen, wie solche Argumentationsführungen gestrickt sind und welches Argument mit welchem Gehalt eingesetzt wird.

1. Die Gegenwart ist digital, die Bibliothek als Ort ist es nicht.

Es gibt sicherlich eine Reihe von Gründen, die man gegen den geplanten Neubau der ZLB anführen könnte. (Es gibt auch einige dafür.) Alexander Grossmann hat leider nur zwei schlechte Gründe parat:

a) ist der Neubau ein sündteures Prestigeprojekt der SPD und vor allem von Klaus Wowereit.
b) braucht heute niemand mehr ein Bibliotheksgebäude.

Den ersten Aspekt müssen wir nicht weiter reflektieren. Es ist klar: Prestigeprojekten haftet ja immer etwas Negatives, auch wenn am Ende mitunter ikonische bis mittelmäßige Architektur (Fernsehturm, Stadtschloß) dabei entsteht. Wer Prestigeprojekt in den Raum wirft, diskreditiert das Projekt, zumal sich der Nachweis, es handele sich um keines, bei Großprojekten kaum führen lässt. Und vielleicht hat er ja auch Recht. Immerhin galten Bibliotheken lange Zeit als prestigeträchtig.

Das ist nun aber überholt, meint Alexander Grossmann wenigstens implizit. Und darüber müssen wir aus Sicht der Bibliothekswissenschaft reflektieren. Denn gerade für uns wäre relevant, warum man heute keinen Bibliotheksneubau mehr braucht.

Der erste Grund Alexander Grossmanns ist: die Gegenwart. Wir leben im 21. Jahrhundert und daher „in Zeiten von Facebook, Cloud oder „Big Data“. Jeder Diskursbeobachter weiß natürlich, dass die Formulierung „in Zeiten von“ mit großer Vorsicht zu behandeln ist, denn in der Regel leitet sie einen sinnarmen Allgemeinplatz ein, (man denke nur an das berühmte „in Zeiten leerer Kassen“) dessen einziger Zweck ist, mit gebremster intellektueller Anstrengung die eigene Position zu rechtfertigen. Dass die kategorial querschießende Aufzählung von vermeintlichen Kernkennzeichen der informationellen Gegenwart kein wirkliches Gewicht trägt, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die Funktion ist hier schlicht, dass der durchschnittliche Zeitungsleser, den es zu überzeugen gilt, etwas serviert bekommt, das hochaktuell klingt, dass er schon aus der Tagesschau kennt und in dem er also ankern kann.

Dass Facebook wenig mit Bibliotheken zu tun hat, die Cloud möglicherweise doch und schließlich Big Data etwas für Marktforschung, Überwachung und bestimmte Zweige der Wissenschaft ist, braucht hier nicht ausgeführt werden. Die Botschaft ist nämlich allein: Wir sind in der Gegenwart. Die nächste, man ahnt es, wird lauten: Bibliotheken sind in der Vergangenheit. Jedenfalls, wenn sie nicht digital daherkommen. Denn die Bibliothek ist, so Alexander Grossemann:

„Eine Räumlichkeit, die ihren Anspruch überwiegend aus überkommenden Notwendigkeiten ableitet […]“

Der Autor weiß, dass er die Überkommenheit begründen muss und definiert die Rolle der Bibliothek. Und zwar als eine „[…] primär der Sammlung und Aufbewahrung von Büchern oder Zeitschriften sowie der Verfügbarmachung von Literatur – zentral – an einer Stelle.“

Der Einschub „primär“ zeigt, dass er sich eine kleine Pforte offen lassen möchte, falls doch jemand meint: Moment! Das ist doch aber nicht alles. „Primär“ impliziert jedoch zugleich, dass es der Kern ist und wenn der modert, ist auch der Rest eigentlich unrettbar. Das muss so sein, denn sonst ginge das Argument ja nicht auf. Dass unterschiedliche Bibliothekstypen mit unterschiedlichen Aufgaben und Funktionszuschnitten existieren, wird nicht berücksichtigt. Vor diesem Netz sind alle Bibliotheken gleich.

So wie in der wissenschaftlichen Informationsversorgung werden aus der Perspektive von Alexander Grossmann auch öffentliche Bibliotheken durch das – Schlagwort – Internet obsolet. Denn die Literaturversorgung erfolgt heute über dieses Medium:

„Literatur und Inhalte sind heute fast überwiegend elektronisch verfügbar, können und sollten damit auch – dezentral – den Lesern und Nutzern bereitgestellt werden.“

Was noch nicht digitalisiert ist, darf noch irgendwo rumliegen, bis es an der Reihe ist:

„Für die Fälle älterer Werke, wo das trotz großangelegter Digitalisierungsmaßnahmen bisher noch nicht möglich ist gibt es ausreichend Lagerplatz in den vorhandenen Bauwerken.“

Pingelige Zeitgenossen könnten hier mit der Aussage dazwischen harken, dass man für diese Werke nicht nur einen Lagerplatz, sondern auch einen Zugangsraum benötigte. Das ließe sich aber leicht entkräften (Archvilesessäälchen, Digitalisierung-on-Demand).

Die Kostenstrukturen der „großangelegten Digitalisierungsmaßnahmen“ und mehr noch deren Folgekosten von Langzeitarchivierung und -verfügbarkeit braucht man an dieser Stelle noch nicht bedenken. Denn auch ein Bibliotheksbau wirft ja Folgekosten auf und rein analog zu sein, geht tatsächlich nicht mehr. Dass die Zentral- und Landesbibliothek Berlin bereits jetzt digitale Dienste anbietet, dürfte beim Blick auf die Webseite erkennbar sein. Dass der Bereich nahezu beliebig erweitert werden könnte, ist auch mit geringer Fantasie vorstellbar.

Es gibt unbestreitbar einen Wandel von Datenträgern und Distributionskanälen von analogen zu digitalen Strukturen – jedoch in unterschiedlich radikaler Ausführung. Große Teile der Wissenschaftskommunikation sind mittlerweile allround-digitalisiert. Der Absatz im Buchhandel zeigt zugleich, dass analoge Medien (Print) bisher nicht im vergleichbaren Umfang verschwunden sind. Möglicherweise existiert ein Unterschied zwischen dem Rezipieren-Müssen (Wissenschaft) und dem Rezipieren-Wollen.

2. Mein Verhalten ist mein Maßstab.

Aus der diskursanalytischen Sicht ist der nächste Argumentationsschritt aber interessanter. Alexander Grossmann grundiert seine Einschätzung der omnidigitalen Welt und der Obsoleszenz von Bibliotheken in seiner eigenen Expertise:

„Anders kann man es leider kaum empfinden, gerade als jemand, der selbst früher regelmäßig Bibliotheken besucht und genutzt hat, als Wissenschaftler, Verlagsfachmann und Privatperson.“

Der Subtext: Es ist gar kein Urteil mehr notwendig, die Empfindung allein ist schon stark genug um diese Doppelthese zu belegen. Freilich ist es nicht die Empfindung eines Außenstehenden. Die dreifache Rollenbenennung verleiht der Expertise Plastizität: Als Wissenschaftler verfügt Alexander Grossmann, wenn er will, über die analytische Draufsicht und könnte vermutlich systematisch herleiten, warum es so und nicht anders ist. Als Verlagsfachmann verfügt er über eine realweltliche professionelle Erfahrung und weiß, wie der Markt sich entwickelt. Als Privatperson ist er schließlich auch Kunde, Nutzer, Leser und er weiß daher wie Kunden, Nutzer, Leser ticken. Er ist also zugleich einer von uns, von diesen und von jenen und in dieser Dreierkombination gehört er zu einer Gruppe von Wenigen, was seiner Stimme ein besonderes Gewicht verleiht.

In der Schlussfolgerung – und vielleicht auch im Blick auf die Leserschaft des Tagesspiegels – betritt dann nur der empfindende Privatmann die argumentative Bühne:

„Seit mehr als zehn Jahren suche ich selbst keine Bibliothek mehr auf, sondern beschaffe mir sämtliche Literatur über das Internet. Wie denn sonst?“

Ich mach es (nicht) und ich bin das beste Beispiel – das ist nun wirklich der gewöhnlichste Hebel in jeder Debatte und eine oft ziemlich tölpelhafte Übernahme aus der amerikanischen Diskurspraxis, die das Anekdotische als perfekten Türöffner kultivierte. Auch dort generalisieren die B-Klassigen und den Akteuren gern mal auf dieser Basis. Die A-Klassigen wissen freilich eine gewisse selbstironische Distanz einzustreuen, die bei der Übersetzung des Stilmittels in deutsche Anwendungszusammenhänge bisweilen auf der Strecke bleibt. So auch hier. Alexander Grossmann zeigt an keiner Stelle, dass man auch aus einem anderen Kreis als seinem auf die Angelegenheit schauen könnte.

Die Erfahrung der Bibliotheken sagt dagegen, dass berufstätige Männer mit Mitte vierzig ohnehin Bibliotheken vergleichsweise selten besuchen. Über die Gründe kann man mutmaßen, aber dass man in diesem Alter im Normalfall einen ausfüllenden Arbeitstag und drum herum eine Familie hat und der Bibliotheksbesuch darüber in der Priorisierung des Alltags deutlich zurückrutscht, ist wenigstens denkbar. (Wobei laut der Nichtnutzungsstudie des dbv die Anwesenheit von Kindern die Bibliotheksnutzung eher begünstigt, Berufstätigkeit, Männlichkeit und „bezieht seine Bücher vergleichsweise häufig über das Internet“ dagegen oft mit Nichtnutzung einhergehen.)

Wenn man dann etwas lesen will, ist es selbstverständlich praktisch, sich das dorthin zu holen, wo man gerade steckt. Das liegt aber nicht an der prinzipiellen oder gar normativen Superiorität des Digitalen. Sondern daran, dass es sich in einem bestimmten Zusammenhang als handlich erweist. Die Digitalkultur zeigt zudem, wie einfach es ist, all das schön verpackt als Zukunftsversprechen zu verkaufen, aber eigentlich nur als Produkt, aus dem sich Abhängigkeiten ergeben, die selbstverständlich nicht mitkommuniziert werden. Das nun ein wenig abgehangene Medium des E-Books zeigt besonders deutlich: Wir lesen damit nicht unbedingt besser. Wir lesen nur anders. Und haben weniger Probleme, wenn wir umziehen. Innovationsdiskurse sind dann, wenn sie mit sozialen Diskursen verkoppelt werden, bekanntlich dahingehend problematisch, dass die vermeintliche Überlegenheit einer Innovation nicht zuletzt eine vermeintliche soziale Überlegenheit derer signalisiert, die diese Innovation einsetzen (oder zu dieser Zugang haben). Der dahinterstehende Profilierungs- und Durchsetzungswillen ist ohne Zweifel ein exzellentes Triebmittel für kulturelle Dynamiken. Aber selten das beste Instrument für eine Balance der Interessen.

3. Die kommenden Generationen wollen es nicht anders.

Was Alexander Grossmann eigentlich, abseits eines Neins zum ZLB-Neubau vermitteln möchte, lässt sich aus seinem Leserbrief schwer ableiten. In jedem Fall dürfte er kaum Sympathien für den derzeit regierenden Berliner Bürgermeister hegen. Wie überflüssig ihm die Bibliothek als Ort allgemein und die ZLB speziell wirklich sind, verwischt dahinter.

Deutlich wird in jedem Fall, dass er die nicht über den realen Bibliotheksraum, sondern über das Internet (welche Quellen er wie benutzt, lässt er offen) stattfindende Informationsnutzung als Standard empfindet. („Wie denn sonst?“)

Nebenbei soll die Bibliotheksnichtmehrnutzung „seit zehn Jahren“, die durchaus auch biografisch begründet sein könnte, in der Argumentationskette unterstreichen, wie die Bibliothek in ihrer Funktion als Informationszugangsvermittler an Bedeutung verlor. Nur: Auch 2004 war das nicht unbedingt die größte Neuigkeit, jedenfalls im wissenschaftlichen Bibliothekswesen. Und heute ist der eigentliche Diskurs schon längst über die eindimensionale e-Only-Fixierung hinaus. Affirmative Zukunftsverkündungen, wie man sie noch von der so genannten Bibliothek 2.0 erinnert, wurden durch weitaus nüchternere und pragmatischere Detailüberlegungen und -lösungen abgelöst und spätestens seit dem irrsinnigen Bibliothekshype um Second Life, weiß die Branche, dass so mancher Zug, der schwerelose Virtualität und Zukunft verspricht, geradewegs auf ein Abstellgleis rangiert. Können wir jemandem Expertise zu sprechen, der diese Effekte völlig ausblendet?

Nichts gegen „Facebook, Cloud und Big Data“. Aber man diskutiert längst darüber, wie man Blasenbildung und Monopolisierung (bzw. neue Zentralisierung) unterlaufen kann. Ein Bezug beispielsweise zu Open Access hätte Alexander Grossmanns Argumentation deutlich mehr Kraft verliehen.

Ein Urteil über den Stand des Bibliothekswesens und der tatsächlichen Bibliotheksnutzung auf der Grundlage einer Erfahrungslücke von zehn Jahren fällen zu wollen, nimmt ihm dagegen erheblich Wind aus den Segeln. Nun schreibt Alexander Grossmann zugegeben einen Leserbrief und keinen Fachartikel. Er muss nicht sachlich argumentieren, sondern kann seine Abneigung gegen die Lokalpolitik anhand des Symbols der Bibliothek ungebremst ausleben. Doch stände ihm hier, wenigstens aus seiner Beiposition als Wissenschaftler, wenn er sich schon darauf beruft, gut an, dass er die Bruchstellen für seinen Argumentationsverlauf erkennt. Schließlich muss man ihm doch unterstellen dürfen, dass er sein Publikum überzeugen will.

Der vermeintliche Beleg, dass „die jüngere Generation es noch drastischer sehen und urteilen“ wird, ist ein weiteres Beispiel, warum das nicht unbedingt funktionieren wird. „Es“ meint die reine digitale Informationsversorgung. Drastischer als Alexander Grossmanns apodiktisches „Wie denn sonst?“ geht es eigentlich nicht. Andererseits ist die obskure Kohorte „nachfolgende Generation“ im Diskurs immer dann zur Stelle, wenn man auf die Zukunft verweist. Der Trick des Einsatzes dieser abstrakter Figur erkennt man sofort: Man kommt nicht daran vorbei, dass die vermeintliche Rückständigkeit zwar faktisch (noch) da (Bibliotheken als Ort werden heute benutzt) ist. Man kann aber trotzdem – für die Zukunft braucht es keine Belege – behaupten, dass sich das demographisch erledigen wird. Und falls nicht, wird sich niemand an den Leserbrief erinnern. Es sei denn, das Internet vergisst nichts.

Dass die ungeschickterweise so genannten Digital Natives und ihre Nachfolgegenerationen geschlossen einen Bogen um (gebaute) Bibliotheken machen, lässt sich freilich weder statistisch noch beim Blick in eine beliebige öffentliche Bibliothek belegen und scheint auch für die kommenden Jahre kaum wahrscheinlich. Die Aussage, bestimmte Geburtsjahrgänge seien automatisch auf den Touchscreen fixiert, ist nachweislich eine unsinnige Schematisierung, auch wenn ein paar Minuten in der Straßenbahn kurz nach Schulschluss einen anderen Eindruck vermitteln. Die angesagten jungen Menschen, bzw. im Mittelschulalter, profilieren sich natürlich über ihre Smartphones wie es diejenigen ein halbes Jahrhundert vor ihnen über Kofferradios versuchten. Nur treiben sie damit, so tägliche Feldbeobachtung, eher nichts, was in Konkurrenz zur Bibliothek steht.

4. Wir müssen in Innovation investieren und sparen dabei.

Die Nutzungspraxis der Bibliotheken ist auch ein bisschen vielschichtiger, als es Alexander Grossmanns Zugänglichmachungsszenario impliziert. Die Gleichsetzung Bibliothek=Informationszugang war ja auch schon bei Kathrin Passig der zentrale Trugschluss und man staunt, wie vehement er wiederholt wird.

Im Brief Alexander Grossmanns wird eine solche Position in einer Nebenbemerkung besonders deutlich:

„Warum wird nicht nur ein Bruchteil der Gelder, die jetzt für die Wowereit-Bibliothek geopfert werden sollen und an anderen Stellen, zum Beispiel für soziale Projekte, Schulen oder Kultur jetzt schon fehlen, für ein innovativeres Konzept eingesetzt?“

Er unterschlägt oder übersieht völlig, dass eine öffentliche Bibliothek naturgemäß ein sozialer Ort, ein Ort der Bildung und ein kulturelles Phänomen ist und in der Praxis sehr viele Bibliotheksangebote genau in dieser Richtung wirken.

Würde er in der ZLB-Debatte argumentieren, dass man, statt auf teure Vorzeigearchitektur zu setzen, lieber Mittel in Stadtteilbibliotheken und -dienste investieren sollte, wäre sein Beitrag zur Debatte unbedingt berücksichtigenswert.

Das Soziale, die Bildung und die Kulturarbeit taugen bei ihm allerdings nur für eine Unterstreichung der vermeintlichen Unverschämtheit der „Wowereit-Bibliothek“, der er zudem von vornherein jeglichen funktionalen Nutzen, den selbst ein Prunkbau besäße, abspricht.

Das „innovativere Konzept“ wäre bei Alexander Grossmann also eine digitale Bibliothek („virtuelle Landesbibliothek“), die zweckgemäß den Funktionsrahmen einer öffentlichen Bibliothek voll abbilden müsste. Wer nun allein schon um die Rechteproblematik bei der elektronischen Informationsversorgung weiß – und Alexander Grossmann müsste dies als Verlagsexperte auch vor Augen haben – erkennt leicht, wie unrealistisch es ist, dass sich ein virtuelles Äquivalent zu einem öffentlichen Bibliothekssystem leicht und kostengünstig („für einen Bruchteil der Gelder“) umsetzen lässt. Die Deutsche Digitale Bibliothek arbeitet mit so einem Bruchtteil-Budget und niemand, der sie kennt, würde behaupten, dass sie  derzeit mehr als ein nettes Add-on zum Stöbern und Entdecken von Digitalisaten sein kann. Jetzt muss man auch die Kostenstrukturen der „großangelegten Digitalisierungsmaßnahmen“ und mehr noch deren Folgekosten von Langzeitarchivierung und -verfügbarkeit und zudem die der Lizenzierung berücksichtigen. Eine derartige Forderung nach Umschichtung der Mittel müsste also wenigstens etwas mehr Tiefenschärfe erhalten, bevor sie in die Debatte geworfen wird. Es sei denn, sie gilt einzig als grobklotziges Argument gegen einen ZLB-Neubau bzw. Klaus Wowereit.

Alexander Grossmann argumentiert nicht nur gegen die Neubaupläne, sondern generell gegen nicht-digitale Bibliotheken und muss sich auch daran messen lassen. Entsprechend kann man ihm angesichts der harten These, die er vertritt, durchaus vorwerfen, dass er zu seinem „innovativeren“ Vorschlag nicht zugleich mögliche Probleme der Umsetzung thematisiert. Ohnedies wird er kaum jemand anderen überzeugen, als die Teile der Zeitungsleserschaft, die sich von der unbelegten und so unbelegbaren Behauptung „der Leser sitzt ohnehin woanders: zu Hause, im Café, in der Schule, unterwegs…“ ansprechen lässt. Für das Zeitungslesen mag das sogar stimmen. (Manch einer liest sie sogar in der Bibliothek.) Das „ohnehin“ unterstellt gleichwohl eine Selbstverständlichkeit, die vernachlässigt, dass Lesekulturen sehr vielschichtig sind. Auch hier bedient er ein nicht sonderlich originelles Abziehbild aus Leitmediennarrativen um eine Digitale Bohème und mobile Gesellschaft.

Wer zehn Jahre nicht in einer Bibliothek war, weiß wahrscheinlich nicht, dass es nicht wenige Leser gibt, die nach wie vor in dieser sitzen. Und von Frohnau aus gesehen ist es vielleicht auch nicht ganz einfach, zu erkennen, dass es auch Zielgruppen, die zu Hause nicht optimale Lese- und Lernumgebungen vorfinden, für die die Berliner W-LAN-Kaffeehaus-Kultur keine Alternative ist (der Lärmpegel im Sankt Oberholz ist zur Latte-Rush-Hour schon mächtig laut, im Reinhard’s im Kempinski sieht man es auch nicht allzu gern, wenn man den Laptop und einen Stapel Notizen auf den Tisch räumt, um es über fünf Stunden bei einer Tasse Milchkaffee zu belassen). Die Schule schließlich ist auch heute trotz aller digitaler Offensiven (glücklicherweise) kein Ort, an dem man permanent auf den Bildschirm starrt. Die Handydisplays unter der Bank werden erfahrungsgemäß höchst selten dazu genutzt, digitale Bibliotheksinhalte abzurufen und ob die Virtuelle ZLB Jappy-tauglich wäre, müsste auch noch ermittelt werden.

Dass man in der S- und U-Bahn, also „unterwegs“, wenn man Glück hat, halbwegs konzentriert lesen kann (man bekommt sogar häufig Lektüre am Platz angeboten und 70 Cent gehen an den Verkäufer) ist nicht widerlegbar. Aber auch hier ist noch zu ermitteln, ob sich die Investition „in Konzepte, Software, Datenbanken und Nutzerinterfaces“ wirksam zeigt. Dass der Datentarif für eine brauchbare mobile Nutzung pro Anschluss schnell dreißig Euro beträgt und für einen nicht geringen Teil der Berliner Bevölkerung eine Zugangshürde darstellt sieht Alexander Grossmann, wie auch viele andere, die in seiner Linie argumentieren, nicht.

Der Bezugsrahmen, den der Diskurs Alexander Grossmanns absteckt, ist bei wohlwollendem Lesen sicher eher an die mehr oder weniger virtuelle Idealkultur der Netzwirtschaft und einiger Digitaleliten anschließbar als an die soziale Realität Berlins. Es ist der Diskurs einer hochgebildeten, global orientierten Mittelschicht, die irgendetwas zwischen materieller oder ideeller Entfaltung sucht und gewohnt ist, just-in-time ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Da diese entsprechende Zugangs- und Kommunikationskompetenzen besitzt, erzeugt sie eine vergleichsweise hohe Sichtbarkeit, tappt zugleich aber auch gern in die Falle, ihre Wahrnehmung der Welt zu extrapolieren und zum Maßstab zu erheben. Sehr viel Leben und Lesen spielen sich nach wie vor offline ab und es ist weder absehbar noch machbar noch wünschenswert, dass sich das ändert.

Die Idee der öffentlichen Bibliotheken ist, allgemeine, vielfältige und niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zu schaffen. Die Idee einer „virtuellen Landesbibliothek“ zieht dagegen unsichtbare Mauern in die Stadt Berlin. Ob der ZLB-Neubau in der geplanten Form die beste Lösung ist, kann sicher diskutiert werden. Dass öffentliche Bibliotheken aber mehr sein sollten, als Webportale für die Smartphone-Kultur, sollte außer Frage stehen.

(Berlin, 17.02.2014)

Die Bibliothek als Sackgasse. Zum Berufsbild, wie es Yahoo!-Education sieht.

Posted in LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 9. Dezember 2013

Ein Kommentar von Ben Kaden / @bkaden

Die Sterne für den Bibliotheksberuf stehen schlecht. Jedenfalls wenn man der Arbeitsmarktastrologie des Education-Portals von Yahoo! glaubt. Dort wurde in einem – undatierten, offenbar wohl neueren – Artikel der Beruf des Bibliothekars / der Bibliothekarin zu einem von fünf Sackgassen-Jobs erklärt. Das mag für eine neuere Arbeitswelt ganz zutreffend sein, in der es pragmatisch mehr um persönlichen Aufstieg und weniger um Identifikation mit dem jeweiligen Tätigkeitsfeld geht und in der man passend von Jobs und nicht Professions schreibt. Wie jeder weiß, ist der Unterschied zwischen beiden Konzepten erheblich. Die Profession bezieht sich auf die Ausbildung, die Qualifikation und eigentlich auch die Identifikation mit einem bestimmten Zuschnitt von Arbeit. Also:

Profession […] a vocation requiring knowledge of some department of learning or science. (dictionary.com)

Ein Job bezieht sich wahlweise auf die konkrete Anstellung oder die konkrete Tätigkeit und lässt den Qualifikationsaspekt irgendwo im Dunklen:

Job […] a piece of work, especially a specific task done as part of the routine of one’s occupation or for an agreed price (dictionary.com)

Geht es bei der Profession um eine individuelle Einstellung zur Sache, spielen beim Job die konkreten Arbeitsabläufe, die individuelle Einstellung als Sache und offensichtlich auch der Preis dafür eine Rolle.

"Profession" vs. "Job" - im Google-NGram-Viewer

„Profession“ vs. „Job“ – im Google-NGram-Viewer

Die NGram-Analyse im Google-Books-Korpus offenbart eine steile Karriere des Wortes „job“ und ein Feststecken bzw. leichtes Absinken der Verwendung des Wortes „profession“. Besonders aussagekräftig ist der Kurvenvergleich jedoch nur dahingehend, dass er zeigt, wie seit dem frühen 20. Jahrhundert sehr gern und oft der Ausdruck Job verwendet wird. In welchem Kontext müsste man jetzt inhaltlich durchdringen.

Die Yahoo!-Autorin Andrea Duchon bewegt sich in ihrer Wortwahl vermutlich auch nicht allzu tief in der semantischen Differenzierung der Konzepte sondern mehr im Zeitgeist des einfachen und klaren Schlagworts bzw. noch wahrscheinlicher in der Bedeutung: Anstellungsverhältnisse. Ein Indikator dafür ist, dass sich die kleine Passage exakt so liest, wie Welterklärungstexte für Dummies gemeinhin verfasst sind:

„Librarians probably play a huge part in your childhood memories, but with a U.S. Department of Labor-projected job growth rate of only 7 percent from 2010 to 2020, it’s likely that „memory“ could be the only role left for librarians to play.“

Andrea Duchon eröffnet mit einer Nostalgisierung und bestimmt damit bereits die Rolle, die ihrer Meinung nach für die Bibliothekare bleibt. Denn die Wachstumsrate bei den Stellen beträgt nur sieben Prozent, wobei unklar bleibt, wie rasant eigentlich ein Stellenangebot wachsen muss, um zur Skyway-Job zu werden.

Sie beruft sich nachfolgend auf die Prognosekompetenz der Karriereberaterin Wendy Nolin, die eine aufbruchsfreudige Firma namens Change Agent Careers betreibt. In aller Offenheit beschreibt diese auf ihrer Webseite ihren eigenen Ausbruch aus einem „Career Spin Cycle“ und das sollte man schon einmal lesen, um einschätzen zu können, vor welchem Hintergrund die Aussagen zum an die Wand laufenden Bibliothekarsberuf getroffen werden.

Why Avoid It: Nolin says that this is a dying occupation simply because information now is so readily devoured using technology.

Hier findet sich fast erwartbar das reduktionistische Verständnis der Rolle von Bibliotheken, wie es unlängst ähnlich von Kathrin Passig in die Debatte katapultiert wurde. Bibliothek und Bibliotheksarbeit wird dabei mit Informationsversorgung gleichgesetzt. Allerdings war bereits das Aufkommen des Dokumentationswesens ein Schritt, der die Bibliotheken hinsichtlich dieser Rolle methodisch und technologisch ziemlich altbacken aussehen lies. Interessanterweise, aber eigentlich folgerichtig, ist dieses Praxis weitgehend in anderen Praxen aufgegangen oder – wie klanglos wie ihr Weltverband, die International Federation for Information and Documentation (FID) – verschwunden, während die Bibliotheken nach wie vor trotz allem auf recht hohem Niveau existieren.

Alarmierender ist dagegen die zweite Aussage Wendy Nolins:

„Plus, she says that federal funding for new libraries is basically non-existent, and job growth is expected to follow suit.“

Verfolgt man die Diskurse zur Zukunft des Bibliothekswesens in den USA, dann bekommt man wirklich den Eindruck, das Public-Library-System befände sich in der Krise. Noch vor 15 Jahren schien es undenkbar, dass im Mutterland des öffentlichen Bibliothekswesens Einrichtungen gekürzt oder geschlossen werden. (Man beachte das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der ALA auf diesen Postern.) Zu diesem Zeitpunkt galt das Bibliothekswesen der USA als Vorbild, Vorreiter und Garten Eden. Jedenfalls im deutschen Bibliothekswesen, dem man Ende der 1990er Jahre dann auch noch seinen zentralen Think-Tank, das DBI, geschlossen hat. Ein Schließungsgrund, den die Gutachter des Wissenschaftsrates peinlicherweise ins Spiel brachten, war die „zu intensive Betreuung der Öffentlichen Bibliotheken“ (vgl. hier). Dieses Beispiel bringt noch einmal in Erinnerung, dass Finanzierungsentscheidungen nicht immer aus überzeugenden oder sogar objektiv tragbaren Einschätzungen heraus gefällt werden. Sondern häufig schwer durchschaubar einmal so oder so ausfallen und nicht selten abhängig davon sind, wer gerade für solche Entscheidungen zeichnungsberechtigt ist.

Erfahrungsgemäß sind ein bereitwilliges Aufspringen auf „Trending Topics“ und das eifrige Klammern an das jeweilige Vokabular der Zeit bestenfalls kurzfristig hilfreich, um die eigene Position bündig zu vermitteln und die entscheidungsbefugten Kürzer oder Förderer zu beeindrucken. Oft zeigt sich dagegen darin nur, dass man mit Mühe den Trends der Anderen hinterhastet, wo an eigentlich eigene setzen sollte. Die interessante Entwicklungskurve des Konzeptes der so genannten Bibliothek 2.0 enthält dafür eine ganze Reihe von Beispielen. Mit der aktuellen Argumentation von Wendy Nolin, Kathrin Passig und anderen, die die Bibliothek als Papierverleihhaus für obsolet und die Arbeit in der Bibliothek zwangsläufig als berufliche Sackgasse deklarieren, irrlichtert man sogar in die Zeit vor 2003 zurück. Dabei liegt aber eigentlich das Kerngeschäft der Bibliotheken just in der Interaktivität, in der grundsätzlichen Remix-Praxis, die sich sowohl durch das Kuratieren wie auch das Rezipieren von Inhalten in der Bibliothek vollzieht und schließlich in dem Aspekt der Kommunikation und Wissensbildung, was weit über das Abrufen von Fakten und Information hinausgeht. Wäre man nicht unbedingt so radikal den Verheißungskünstlern des Library-2.0-Marktes hinterhergeeilt, sondern hätte in Rekurs auf diesen schon vor dem Medium Weblog existierenden Anspruch, dass eine Bibliothek mehr als ein Datenbank-Analogon sein muss, ernst genommen, stände die Bibliothek heute vielleicht noch ganz anders da. Und auch der Diskurs nach innen, der häufig an Mentalitätsklippen brach, die den Eindruck vermittelten, manche Bibliothekare sehnten sich in die klösterliche Übersichtlichkeit der Kettenbuchbänke zurück, wäre womöglich ein Stück weit produktiver verlaufen.

Wenn Förderer, Karriereberater, Netzaktivisten und Publizisten dieses prinzipielle Mehr-als-Information nicht sehen, liegt das Versäumnis indes nicht unbedingt nur bei ihnen (den Vorwurf des Kurzschlussfolgerung müssen sie dennoch aushalten). Sondern auch beim Bibliothekswesen selbst, das sich viel zu oft anstandslos in Buzzwordfeuerwerken, durchsichtigem Techno-Mimikry und öffentlich präsentierten Selbstzweifeln wälzt. Vielleicht zeigt sich darin zugleich auch ein anderes Problem, das uns wieder zur Yahoo!-Berufsanalyse zurückführt: Die Menschen, die in das Bibliothekswesen streben, sind seit je eher nicht die strahlkräftigen, kampfeslustigen und ehrgeizigen Karrieristen. Sondern häufig sympathische, idealistische und bescheidene Personen, die unerschütterlich daran glauben, dass schon gut ist, was sie machen und entsprechend wertgeschätzt wird. (Ein paar karrierebesessene Quertreiber und Egozentriker entdeckt man freilich auch. Die wechseln allerdings meist so schnell sie können auf die Seite des Geschäfts, auf der man deutlich mehr verdienen kann. Und dann gibt es selbstverständlich noch die Verbitterten, die eigentlich etwas Anderes in ihrem Leben machen wollten, aber vom Schicksal im Restraum Bibliothek geparkt und niemals wieder abgeholt wurden. Dies sind gemeinhin die schwierigsten Fälle.) Entsprechend sind die Bibliotheken natürlich ein vergleichsweise leichtes Ziel nicht zuletzt dann, wenn es um Ressourcenverteilungen bzw. -kürzungen geht. Was dem Bibliothekswesen aus meiner Sicht tatsächlich und mehr als technisches Know-How fehlt, ist eine Kultur des sowohl soliden als auch souveränen Widerspruchs. Eben weil die Akteure dieses Berufsfelds in der Regel gar nicht so viel Wert auf rasante Karrierekurven legen, für die gefälliges Verhalten erforderlich ist, könnten sie doch eigentlich weitaus risikofreudiger nach außen gehen, wagen und am Ende vielleicht sogar etwas gewinnen.

(Berlin, 09.12.2013)

Über Kathrin Passigs Bibliotheksbild und was wir daraus lernen können.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 4. November 2013

Ein Kommentar von Ben Kaden / @bkaden

Kathrin Passig wird offensichtlich gern und regelmäßig als Impulsgeberin zur Diskussionen über die Zukunft der Bibliotheken eingeladen, vielleicht gerade, weil sie von sich zu berichten weiß: „Ich bin nicht so vertraut mit den internen Diskussionen der Bibliotheksbranche.“
Aktuell berichtet sie in ihrer Kolumne für die ZEIT von einer offenbar für sie wenig erfreulichen Konversation mit Frank Simon-Ritz, Bibliotheksdirektor und Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands. Die Veranstaltung lief unter der wohl alliterarisierend gemeinten Überschrift Apps und Auratisierung: Ein Gespräch zur Zukunft der Bibliothek und anscheinend, wie häufig bei solchen Sitzungen auf Messepodien, ziemlich ins Leere.

Allerdings wurde ich leider nicht Zeuge dieser Dreiviertelstunde, da ich meinen Wochenbedarf an Prognosediskussion bereits weitgehend in meiner eigenen Diskussionsrunde zum Social Reading gestillt hatte, die ebenfalls, vorsichtig formuliert, eher ergebnisoffen endete.

Lieber überzeugte ich mich etwa zeitgleich in den Hallen davon, dass Print wenigstens als Printmarkt so agil wie selten zuvor ist. Es erstaunt im Herbst 2013 tatsächlich, in welcher materialen und handwerklichen Güte auch Parallelausgaben zu den E-Books, deren Absatz mittlerweile sogar im Mutterland des elektronischen Lesens seine Sättigung erreicht zu haben scheint, in Deutschland produziert ver- und gekauft werden. Belege dafür, dass Kathrin Passigs bereits an anderer Stelle gezeigte Papierfeindlichkeit ansteckend ist, fanden sich keine. Auch die Hysterie der Verlagswelt angesichts des Über-Mediums E-Book scheint nicht mehr akut, seit sie gemerkt haben, dass Hardcover trotz allem ganz gut geht, besonders, wenn man sich beim Einband und Satzbild mal etwas einfallen lässt.

Aber vielleicht ist es ja auch eine Ausnahmeort und man trifft dort ohnehin nur Leute, die besonders druckaffin sind, so wie man in einer Bibliothek meist eben nur Bibliotheksnutzer trifft. Das sind in öffentlichen Bibliotheken in Deutschland wahrscheinlich irgendetwas um die 30 Prozent der Gesamtbevölkerung, was aus meiner Sicht kein allzu niedriger Wert ist. Aber wahrscheinlich keiner, der in Kathrin Passigs digitalen Paralleluniversium allzu bedeutsam wäre:

„Es ist schön, dass es öffentliche Orte gibt, die so vielfältige Nutzungsmöglichkeiten eröffnen wie Bibliotheken, ohne dass man im Gegenzug auch nur einen Kaffee bestellen müsste. Aber in einem Paralleluniversum, in dem öffentliche Bibliotheken nie eingeführt worden sind, dürfte es heute schwerfallen, plausible Gründe für die Einführung solcher Einrichtungen zu benennen. Dass gerade allenthalben prestigeträchtige Megabibliotheken neu gebaut werden, ist kein Gegenargument, denn dahinter stehen etablierte Argumentations- und Finanzierungsstrukturen. Die Steuerzahler des Paralleluniversums würden fragen, ob man nicht stattdessen direkt Coworkingspaces, Veranstaltungsorte, Digitalisierungsprojekte oder eine private Internet-Grundversorgung für Bedürftige fördern und die großen Gebäude mit dem Papier weglassen könnte.“

Nun ist es sehr schwer, mit der abstrakten Pflaume „die Steuerzahler des Paralleluniversums … würden fragen“ argumentativ zu spekulieren. Denn die Steuerzahler sind schon in unserem Universum ein ziemlich heterogener Haufen. Obendrein dürfte die Größe „Steuerzahler“ anders als beim Großflughafen BER, beim Thema Bibliotheken vom eingefleischten Bibliothekshasser bis zum spendablen Bibliotheksliebhaber alle Schattierungen dessen aufweisen, wie man zu solchen Themen stehen kann. In einem Paralleluniversum mag das anders sein. Aber möglicherweise käme man in diesem auf die kuriose Idee, die Co-Workingspaces und öffentlichen Veranstaltungsorte mit Räumen zu flankieren, in denen ein Zugang zu Medien möglich ist.

II

Ernster als die aus irgendeinem persönlichen Anstoß resultierende Abneigung gegen Papier ist in Kathrin Passigs Kolumne die Kritik an der häufig tatsächlich zu beobachtenden Hilflosigkeit bibliothekarischer Selbstlegitimationsversuche zu bewerten. Es ist natürlich grotesk, dass  sich eine Institution mit ziemlich guten Durchsatz (etwa 470 Millionen verliehene Medien / Jahr) überhaupt permanent als bedeutsam präsentieren und rechtfertigen muss. Es ist sicher fürchterlich erschöpfend, wenn man dies ständig zudem gegenüber Kleinkämmerer, Papierfeinde und Digitalideologen zu tun verpflichtet ist Aber dies ist wohl die Realität. Vielleicht würde der kritische Steuerzahler eines Paralleluniversums aber fragen, wie teuer die Volkswirtschaft eigentlich die in permanente Evaluation und stetiges Reporting eingebundenen Ressourcen zu stehen kommt.

Kathrin Passig geht es jedoch, so glaube ich, gar nicht so sehr um die Kostenrechnung. Möglicherweise hat sie einfach Freude daran, die Bibliotheken zu necken, in dem sie in den renommiertesten Medien des Landes verkündet, dass die Bibliotheken „kaum noch eine Existenzberechtigung“ haben, wenn sie sich nicht bald wandeln. Das wenig spezifizierte „Wohin“ ist in diesem bekannten Schwarzmalbild vermutlich irgendeine digitale Form. Interessanter ist allerdings das „Warum“ und zwar das Warum in der Frage, warum sich Kathrin Passig so eifrig auf das Thema stürzt. Offen gesagt erscheint mir die Vehemenz, mit der sie stabil und seit Jahren für eine Welt in E-Only missioniert, schwer nachvollziehbar. Von mir aus mag sie sogar Recht haben. Aber warum muss man 2013 noch so kämpfen, als stände man noch immer den bornierten Fortschrittsverweigerern des Jahres 1997 gegenüber, denen die Virtualität digitaler Kommunikation in keiner Form greifbar wird und die deshalb alles ablehnen, was binär anmutet. (So etwas gab es auch in Bibliotheken in dieser Zeit und die wahren Helden sind die Enthusiasten, die in zermürbenden Diskussionen abseits der Öffentlichkeit für ein freies W-Lan im Lesesaal und ähnliche Innovationen stritten.) Auf mich jedenfalls, der ich Vielfalt, Offenheit und die gleichzeitige Existenz von mehr als einer Wahrheit gerade durch Aufenthalte in Bibliotheken, die wunderschön all die Irrtümer und Glaubenskämpfe der Menschheitsgeschichte nachvollziehbar vorhalten, kennen lernen durfte, wirkt diese Selbstüberhöhung mit heftig artikulierten Anspruch auf Deutungshoheit irgendeiner Zukunft nicht wenig unzeitgemäß. Aber vielleicht bin ich es ja auch selbst.

III

Wenn es um die Alltagslegitimation der Bibliotheken geht, die eigentlich ein wenig mehr umfasst, als die Frage, wie digital die Bibliothek der Gegenwart mit ihren Diensten sein will, stehen die handelnden Akteure natürlich unter dem Zwang der Machtstrukturen. Es erklärt aber dennoch nicht, warum man sich auf dem enthobenen Parkett der Buchmesse wieder auf die völlig zu Recht kritisierte und objektiv hanebüchene Argumentationslinie, die (physische) Bibliothek sei doch irgendwie besser als das Internet, einlässt. Sie ist es nicht und wo sie es behauptet, hat sie bereits verloren. Jedenfalls wenn es um Information und Informationsversorgung geht. (Das Bildungsargument greift dagegen nur bei denjenigen, die auch denken, dass MOOCs die Universität als Begegnungsort ersetzen können – ich bin gespannt wann, immer unter dem Argument des Sparenmüssens, die Debatte um die Notwendigkeit der Universität als Ort ausbricht…)

Digitaltechnologie eignet sich fraglos hervorragend für eine bestimmte Art der Informationsnutzung, auch für eine bestimmte Art der Serendipity sowie für eine bestimmte Art der Kommunikation. Mutmaßlich niemand in der Wissenschaft möchte heute bei der Recherche auf die Volltextsuche oder multidimensionales Browsing verzichten. Ich kann  ohne Probleme in einer Stunde eine Anzahl von Publikationen einem Screening unterziehen und meist als irrelevant aussortieren, für die ich in vordigitaler Zeit wahrscheinlich zwei Wochen allein zur Beschaffung gebraucht hätte. Das Internet bietet uns die die beste und umfänglichste Informationsinfrastruktur, die die Menschheit für explizite Informationsprozesse jemals hatte. Die digitalen Sozialen Netzwerke schaffen es sogar, unser Sozialleben in maschinenlesbare Information zu verwandeln, in Graphen zu visualisieren und uns in einen permanenten Prozess der Selbstoptimierung zu führen – jedenfalls wenn wir wollen. Die Frage ist nun, ob wir es wollen.

Meine Erfahrungswerte mit Menschen verschiedenster Couleur ist, dass den meisten diese Debatten auch um das E-Book oder das Printbook herzlich egal sind. Viele verstehen die Debatte überhaupt nicht. Die Trägheit der Käufer ist sicher genauso ein Hemmschuh auf der Rutschbahn von Kathrin Passigs These eines „Untergang alles Papierenen“ wie die Hipster-Entscheidung, E-Reader, Smartphone und Buch gleichberechtigt neben dem Bett liegen zu haben.

Mir wird nicht klar, was Kathrin Passig als Argument gegen Bibliotheken vorschwebt, wenn sie schreibt:

„Bibliotheken sind dann niedrigschwellig, wenn man in ihrer Nähe wohnt, nicht in seiner Mobilität eingeschränkt ist, lesen kann, generell damit vertraut gemacht worden ist, dass eine Bibliothek nicht beißt und sich in einem Umfeld bewegt, in dem das Aufsuchen solcher Orte nicht als albern gilt.“

Im Umkehrschluß bedeutet dies nämlich, dass die Bibliothek für den überwiegenden Teil der Menschen in Deutschland mehr oder weniger niedrigschwellig ist. Für alle anderen gab es einmal so etwas wie Soziale Bibliotheksarbeit. Warum also ausgerechnet die Digitaltechnologie für die Masse niedrigschwelliger sein soll, erklärt sie eigentlich auch nicht, wo sie meint:

„Das Internet ist dann niedrigschwellig, wenn man Zugang zu einem internetfähigen Gerät hat und nicht glaubt, dass das Internet seine Nutzer ausraubt und verdirbt. „

Jedoch ist der Zugang genau genommen nicht zum „symbolischen Preis“, wie es in Kathrin Passigs Welt der Fall ist, zu haben, sondern kostet schnell dreißig bis fünfzig Euro im Monat (+ Hardware), was für viele Menschen schwerer zu stemmen ist, als die Busfahrkarte zur Stadt- oder Universitätsbibliothek, in der man bei guter Führung auch ohne Gebühr den Freihandbereich benutzen darf. Allerdings hat die Digitalwirtschaft seit je diese Zielgruppen nicht im Blick. Insgesamt blendet Kathrin Passig in ihrer Frankfurter Kolumne aus, dass das Internet wie wir es heute kennen, vor allem ein Wirtschaftsraum ist, in dem vielleicht noch ein paar Nischen des offenen Webs der 1990er übrig sind, dass generell aber keine Schnittmenge mit dem im Kern nach wie vor am Gemeinwohl orientierten Grundversorgungsauftrag öffentlicher Bibliotheken besitzt. Das letztere diese besondere Rolle für die Gesellschaft häufig selbst kaum mehr reflektieren und das Thema auch nirgends auf der Agenda der Fachkommunikation auftaucht, macht die Sache natürlich nicht besser. „Apps und Aura“ haben naturgemäß mehr Sexappeal und sind auf dem Jahrmarkt Buchmesse zwischen Wolfgang Joop und Boris Becker bestimmt am richtigen Ort. Der Bibliotheksalltag sollte aber vielschichtiger sein. Und er ist es auch.

IV

Für die saturierte Mittelschicht, aus der sich die bundesrepublikanische Bevölkerung nach wie vor weithin zusammenfügt, dürften fünfzig Euro Zugangskosten im Monat vielleicht kein symbolischer aber doch ein überschaubarer Preis sein. Entsprechend ist es mittlerweile für weite Teile der Gesellschaft so normal, ein Touchscreen-Telefon zu haben, wie man im Bad einen Wasserhahn erwartet. Und natürlich liest man permanent auf den Displays, nämlich die Social-Media-Streams und ab und an eine Kolumne auf ZEIT online. Der einstige Statusgewinn, denn man mit solcher Technologie erzielen konnte, ist dagegen mittlerweile weitgehend verloren. Sie sind inzwischen Werkzeuge und darin für die meisten so faszinierend wie eine Elektrolokomotive. Alle anderen lesen, je nach Präferenz, das LOK Magazin oder Macworld.

Überraschend ist, dass das Vorhandensein heimischer Breitbandzugänge ebenso wenig wie frühere Medienkonkurrenten so viele Menschen nicht davon abhält, doch ab und an in die Bibliothek zu gehen. (Oder eine Computerzeitschrift in der Papierausgabe zu kaufen.) In Universitätsbibliotheken sind es häufig sogar ein bisschen zu viele. Will man also die Bibliothek und ihre Attraktivität beleuchten, braucht man eigentlich nur fragen, warum sie in die „Papiermuseen“ (Kathrin Passig) streben. Dann weiß man auch, was man an Eigenschaften erhalten muss, damit sie wieder kommen.

Man muss sich, so denke ich, aus Sicht der Bibliotheken gar nicht so sehr in dieses Binärschema der Diskursmühle einspannen lassen, das eine kleine Gruppe von Menschen, die bestimmte Technologien lieb(t)en und durchsetzen woll(t)en, in ihrem digitalen Revolutionskampf bis zur Mainstreamifizierung der re:publica entwickelten und heute auch bereits aus Tradition weiterpflegen und dessen Kern lautet: Entweder wir oder ihr. Aber besser wir.

Es geht hier nicht darum, wer Recht hat oder sich durchsetzt. So laut und wichtig die Stimme von Kathrin Passig ist – sie wird nicht maßgeblich darüber entscheiden, wie die Menschen lesen. Denn die meisten Menschen lesen nicht einmal sie. Wir tun es und zwar gern und hoffen auf Anregung. Es ist richtig, solch radikale und wie die meisten radikalen Positionen, anscheinend nur bedingt auf Eigenaktualisierung und Dauerreflexion gerichteten Ansätze, zur Kenntnis zu nehmen. Man sollte sich nur nicht von ihren Prognosen verrückt machen lassen. Zumal Kathrin Passig selbst einmal sagte:

„Ich glaube nicht, dass es das Qualitätskriterium für einen Gedanken ist, dass er auch in 300 Jahren noch richtig sein muss. Ich glaube, man kann sehr gute Ideen haben, die genau von jetzt bis nächsten Sommer richtig sind und danach nicht mehr. „

Derzeit jedenfalls blühen wenigstens im Publikationsbereich beide Kulturen, die des Materials und die des Digitalen, ganz gedeihlich miteinander.

V

Ein Hauptdefizit der Diskussion ist schließlich, wie sich die Vertreter des Bibliothekswesens auf den Aspekt, etwas besser oder billiger vermitteln zu können (oder müssen), festnageln lassen. Denn darum geht es in Bibliotheken idealerweise nur sehr am Rand. Bibliotheken sind, wie das Internet auch, Räume der Möglichkeit, jedoch im besten Fall nicht von Markt- und Renditeerwartungen getrieben. Sie stehen daher auch außer Konkurrenz. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Radikalkuren in das Bibliothekswesen brachte zwar einigen Beratern und einer Handvoll Akteuren aus der Bibliotheksbranche ein bisschen was, gab dem Bibliothekswesen selbst jedoch weniger Impulse, die es wirklich verwerten konnte. Wer hart kalkulieren und jede Ausgabe begründen muss, wird eben nicht flexibler und kann auch nicht gut experimentieren – also genau die Fertigkeiten entwickeln, die der Digitalkultur (und der Digitalwirtschaft) einst die entscheidenden Schübe gaben. Was das Bibliothekswesen wahrscheinlich viel stärker als eine vermeintliche Liebe zum Papier hemmt, ist die Kombination von umfassender Abrechnungsbürokratie und absoluter Zeitgeistigkeitserwartung.

Das Bibliotheken sich gerade nicht rechnen müssen, ist (war?) übrigens ein zentrales Argument für diese Einrichtungen und ihre Rolle in einer auf Inklusion gerichteten Gesellschaft, was unbedingt einschließt, dass sie einen solchen freien und offenen Raum auch so weit wie möglich in das Internet ausdehnen. Wer kann wirklich abschätzen, welche Effekte konkrete Erfahrungen mit öffentlichen (digitalen) Bibliotheken auf welchen ihrer Nutzer und mit welcher Langzeitwirkung haben? Es gibt zwar immer ein paar gesellschaftliche Leuchtturmfiguren, die als Kinder gern in Bibliotheken herumstöberten und darin die Grundlage ihres kulturellen Aufstiegs sehen. Es gibt zugleich genügend Erfolgsgeschichten in jungen Jahren sozial marginalisierter Outsider, die aus der Garage jeweils eine Technologie in die Welt brachten, der sich auf einmal ein Großteil der informationell engagierten Welt unterwerfen wollten. Beides ist nicht sehr repräsentativ.

Es existieren nämlich Millionen von ehemaligen Bibliotheksnutzern, die irgendwann ein ganz überschaubares Leben als Berufskraftfahrer oder Sachbearbeiter führten. Und zehntausende Nerds, die nicht zu Milliardären wurden, sondern als Brotprogrammierer Verkaufsplattformen am Laufen halten. Wahrscheinlich wollen die wenigstens Menschen Teil einer Wissenschaftsgesellschaft sein, in der sie ständig gehalten sind, informationelle Höchstleistungen zu erbringen. Sondern einen handhabbaren Lebensalltag. Ihnen gefällt vielleicht gerade das begrenzte Maß an Serendipity, das eine Freihandaufstellung oder sogar ihr Regal zuhause bereithält. Vielleicht mögen sie also Bibliotheken vor allem dann, wenn sie sich dort irgendwie ihren Bedürfnissen gemäß mit Medien oder auch nur der Kontemplation auseinander setzen können und nicht, wenn ihnen permanent Bildungs- und Aufstiegs- und Aktivitätsnotwendigkeiten aufgedrängt werden. Bibliotheken sollten wahrscheinlich beide Dimensionen, die Streuung und die Konzentration anbieten. Nicht selten tun sie es de facto auch. Dass man zur Konzentration im Internet schwer ein Gegenstück im WWW findet, wäre mir allerdings als Argument in der Auseinandersetzung, wer was besser kann, der Apfel Internet oder die Birne Bibliothek, ein bisschen zu preiswert.

Interessanter sind für mich nämlich zwei damit zusammenhängende Grundfehler, die ich in der Debatte erkenne. Einerseits modelliert man in der Regel einen auf ein sehr aktives und bewusstes Informations- und Rezeptionsverhalten ausgerichteten Menschen als Ideal. Man geht davon aus, dass der Mensche immer mehr Wissen will, quantifiziert also seine Bedürfnisse in einer vergleichsweise schlichten Form. In Bezug auf Kinderbibliotheken und Informationskompetenz strebt man bisweilen danach, genau solche Informations-Poweruser heranzuziehen. Andererseits stellt man immer den Anspruch einer Optimierung, nach technischer Höchstleistung und maximalem Durchsatz. Man reproduziert demnach Muster der Leistungsgesellschaft in eine Sphäre, in der diese gar nicht notwendig wären, eventuell sogar schädlich sind.

Obendrein betreffen beide Aspekte nur ganz bestimmte Milieus und angesichts der kognitiven Investitionen und den erstaunlicherweise nicht weniger sondern meist nur komplexer werdenden Entscheidungen, die ein Mensch in solchen Kontexten zu treffen hat, sind diese als Zielpunkte des Lebens nur noch mäßig attraktiv. Dadurch, dass fast jeder jederzeit Zugriff zu Unmassen von Daten, Informationen und Inhalten hat, wird dieser Zugang banal und die Verpflichtung zur Teilhabe an der informationellen Entfaltung fast zur Last geworden. Die großen Luxushotels dieser Tage integrieren fast alle einen Bibliotheksraum. Keines jedoch einen Computerpool. Es ist heute ein Kennzeichen der Elite, nicht permanent netzvermittelte Informationen verarbeiten zu müssen. Und ein wenig scheint mir, als sickere dieser Abstinenzgedanke schon wieder in andere soziale Schichten durch.

VI

Ich bin mir nicht sicher, ob wir bereits den Einstieg in ein postdigitale Kultur erleben, in der die digitale Vernetzung so nebenher läuft, wie es vor fünfundzwanzig Jahren das Radio und das Telefon taten. Digitale Informationsräume sind Teil der Infrastruktur, auf die wir permanent zurückgreifen, wenn wir einen Bedarf haben. Ansonsten, so vermute ich, sind die Menschen in Zukunft gar nicht unglücklich, wenn sie sie nicht mehr wahrnehmen. Die Google-Brille ist übrigens ein konkreter Schritt in dieser Richtung. Digitale Kommunikationsmedien sind damit aber völlig normal und damit auch grundsätzlich in die Bibliotheken integriert, denn die Nutzer tragen sie ja bereits am Körper.

Die Bibliotheken haben aber damit selbst wenig zu tun. Menschen, wenigstens die aus den Schichten vom Mittelstand aufwärts, gehen nicht in die Bibliothek, weil es keine Alternativen gäbe, mit denen sie ihr Informations- oder Unterhaltungsbedürfnis ansprechen und bedienen können. Sie gehen in die Bibliothek, weil bzw. wenn diese ihnen die für ihren Geschmack und ihre Stimmung passende Form anbieten. Es ist kurioserweise eine Konsumentscheidung – wie der Kauf von Zahnpaste, bei dem der konsumhedonistische Großstädter mal Dentagard, mal Aronal, mal Marvis ins Bad stellt, mal einen Film im Online-Streaming und ein anderes Mal im Kino ansieht oder heute zu Curry 36 und morgen ins Grill Royal maschiert. Dank Internetzugang und e-Commerce sind wir für alles, was digital oder im Postpaket transportabel ist, überall in Deutschland potentiell konsumhedonistische Großstädter. In jedem Fall haben wir eine Vielzahl von Optionen.

Das gilt genauso für das gedruckte Buch. Wir leben in der luxuriösen Situation, dass wir oft wählen können, in welcher Form wir einen Text lesen wollen. Wenn man sich heute die gebundene Ausgabe entscheidet, dann einfach, weil man es möchte. Solange sich diese Entscheidungen zu einem Volumen addieren, das einen Absatzmarkt mit nur minimaler Marge ergibt, wird es höchstwahrscheinlich jemanden geben, der diesen Markt auch bedient. Wer beobacht hat, was Menschen auf sich nahmen, um das furchtbar unbequeme und anachronistische Medium des Polaroid-Films nach der Einstellung der Produktion am Leben zu halten (und zwar mit Erfolg), den wird nicht überraschen, dass es außerhalb unserer kleinen fachbibliothekarischen und feuilletonistischen Diskurszirkel Millionen von Menschen gibt, die nicht aus Nutzenrationalität handeln und deshalb danach fragen, was die Bibliothek oder das Internet besser können. Sondern einfach tun, worauf sie gerade Lust haben. Daher lohnt es sich mittlerweile offenbar auch wieder, Hörbücher auf Schallplatten zu veröffentlichen.

Bei aller Liebe zum haptischen Appeal des Apple-versums. Wenn es um die Lust und also um ein erotisches Moment (in der Bedeutung von Sinnlichkeit) geht, dann haben die Bibliotheken einige Dimensionen mehr zur Verfügung als die Displays, die für die Digitalkultur wahrscheinlich auch nur eine Zwischenlösung darstellen. Da die Nutzer ohnehin ihre Tablets oder Smartphones mitbringen, reicht es fast, die Versorgung mit W-Lan und Lade-Docks sicherzustellen. Und vielleicht eine Handvoll Tablets in Reserve zu halten, falls jemand keines mitbringt. Und eine App als Marketinginstrument. So etwas mag nicht die edelste Strategie sein, an der man Bibliotheksentwicklungen ausrichten kann. Aber sie als über-funktionale, sinnliche Erlebnisräume für alle zu denken, kann sie womöglich derzeit viel zeitgemäßer und, auch das, auratischer wirken lassen, als es die ein- und abgeschliffenen Argumente aus dem Strahlenkreis der Informationsversorgung vermögen. Nebenbei könnte man dann in aller Ruhe beginnen, die eigentliche gesellschaftliche Rolle einer Bibliothek neu zu bestimmen.

04.11.2013

Zur möglichen Rolle der Bibliothek in einer nach-utopischen Netzgesellschaft.

Posted in LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 8. Juli 2013

Überlegungen von Ben Kaden  / @bkaden

I

Dass das Internet als vernetzter, überräumlicher und echtzeitlicher Kommunikationsraum von Beginn an dazu verführte, Projektionsfläche vielfältiger Gesellschaftsutopien zu werden, ist weithin bekannt. Man versprach sich, angefangen bei einer durch und durch umstrukturierten Weltgesellschaft und hin bis zu einer simplen aufklärerisch-emanzipatorischen Wirkung vieles von einer digitaltechnisch geprägten Reorganisation unseres Zusammenlebens, organisiert über ein „basisdemokratisches, hierarchiefreies und unkontrolliertes Medium“ (Tilman Baumgärtel: Das Ende der Utopien. In: Neue Zürcher Zeitung, 04.07. 2013, S. 19).

Ähnliche Versprechen galten mit Abstrichen auch für das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft, stand doch der Leitstern der Digitalen Bibliothek über dem Firmament dessen, was sie sich als zukünftige Gestade und Ankerplätze vorstellten. Dass das zwanzigste Jahrhundert in eine Art Wissensgesellschaft auslief und die Bibliotheken lange Zeit die zentralen Verfügungsinstanzen für systematisch erfasstes und abrufbares Wissen darstellten, hätte sie eigentlich zu den Leitakteuren dieser neuen Welt werden lassen können. Diese Erwartung löste sich bekanntlich nur bedingt ein, was eventuell wenigstens teilweise auch daran gelegen haben mag, dass sie im Selbstverständnis der Branche lange Zeit nicht übermäßig verankert war. Bibliothek und Internet blieben viele Jahre trotz aller Vorzeichen getrennte Welten mit überschaubaren Schnittmengen, allen voran der Schnittmenge des Web-OPAC. Damit blieb die Institution freilich in der Nische und vor allem auf ihre in diesem Nachweismedium erfassbaren Bestände fixiert. In digitalen Kommunikationswelten ist Bestand jedoch ein Anachronismus, zumal wenn nur der Nachweis und nicht der Inhalt direkt vermittelt wird. Das aber prägte bald das Erwartungsbild der Menschen im Netz.

Der Schritt zur umfassenden Überformung der Gesellschaft mit digitalen Mitteln war selbstverständlich unvermeidlich, denn natürlich poppte das Internet nicht als plötzliche Überraschung in die Lebenswelten, sondern fasste nur eine ganze Reihe von vorlaufenden Technologietrends (Datenbanken, BTX, Desktop-Publishing, Telefonie, Digitalisierung, Personalcomputer, etc.) zu einer Struktur zusammen. Die Richtung der Entwicklung war mehr oder weniger längst vorbestimmt. Der wirkliche Durchbruch zum Omnimedium gelang durch ein paar vergleichsweise kleine Lückenschlüsse und die Durchsetzung von Benutzungsoberflächen, die das Technische hinter das Inhaltliche zurückdrängten und es so für die riesige Masse derer attraktiv machte, die keinerlei größeren technischen Interessen hatten, sich wohl aber für die (vermeintliche) Leichtigkeit des digital vermittelten Kommunizierens (und später auch Einkaufens) anfällig zeigten.

Diese Leichtigkeit drückte denn auch den utopischen Kern aus. Jeder kann an etwas aktiv teilhaben, was vormals nur passiv zur Verfügung stand. Lange wurde (und an manchen Stellen wird es noch immer) das Internet immer als Kontrast- oder Gegenmedium zu bis dato vorherrschenden Kommunikationsformen verstanden. Der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel erinnert in seiner jüngst im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckten Rückschau auf die Utopien der frühen und mittleren Netzgesellschaft sehr anschaulich daran, dass das WWW anfangs zunächst von, nun ja, Randfiguren geprägt war, also Akteuren, denen Zugang zu und aktive Nutzung von etablierten Medienstrukturen nur begrenzt möglich waren. Oder die, mit welcher Motivation auch immer, kein Interesse an der mühsamen Einpassung in diese hatten. Sie erkämpften eine eigene Form der Medienmacht und Diskurshoheit dadurch, dass sie nicht – wie sonst bei Revolutionen üblich – bestehende Räume und Kanäle eroberten – sondern die Entwicklung eigener (Alternativ-)Strukturen forcierten, die schließlich so erfolgreich wurden, dass sie diejenigen, von denen sie sich bisher ausgeschlossen fühlten, schlicht für obsolet erklären konnten. Die, deren Herz chronisch für die Underdogs schlägt, hegten dafür heftige Sympathien. Genutzt hat es wenig. Denn heute sehen wir, dass diese anarchistischen morgenluftigen Vorstellungen tatsächlich utopisch, bestenfalls ein Interregnum blieben. Was Aspekte wie Mitmenschlichkeit, Chancengleichheit und Autonomie angeht, sind wir, wie wir heute erkennen, eher nicht vorangekommen.

II

Die Technologie, so schien es, gab es her: Mit vergleichsweise geringem realweltlichem Aufwand konnte man einen nahezu unbegrenzten Kommunikationsraum ausgestalten. Die Zäune für das Handeln zog der Code und auch der war durchaus flexibel. Solange das Web eine Nische blieb und in der herkömmlichen Lebenswelt nur dadurch spürbar wurde, dass man die Memos in der Firma durch E-Mails ersetzte, war die ganze Angelegenheit so entspannt, von solcher Leichtigkeit geprägt, wie man es von kalifornischen Träumereien erwartet. Das große Säbelrasseln ergab sich auch nicht so sehr im Traum der Autonomie und einem offeneren Miteinander, wie ihn beispielsweise der im Artikel zitierte Howard Rheingold hegte, wenn er schrieb:

„Da wir einander nicht sehen können, können wir auch keine Vorurteile über andere bilden, bevor wir gelesen haben, was sie mitteilen wollen, Rassenzugehörigkeit, Geschlecht, Alter, nationale Abstammung und die äussere Erscheinung werden nur bekannt, wenn jemand diese Merkmale angeben will.“ (zitiert nach Baumgärtel, 2013)

Selbst wenn solche Aussagen bereits damals von einer kaum fassbaren Reflexionsarmut geprägt zu sein schienen, so waren sie doch wenigstens freundlich und welcher sich an den Rand gedrängt fühlende Intellektuelle träumt nicht davon, Teil einer anderen „Community of Minds“ zu sein. Idealerweise in leitender Position.

Die Probleme traten auf, als das WWW wirklich ein mächtiges und andere Kommunikations- und Medienformen unkontrolliert verdrängendes Phänomen wurde. Das erste für viele sehr deutliche Signal war mutmaßlich die Napsterisisierung des Musikkonsums. So schwenkte die Debatte spätestens in den 2000-Jahren mehr und mehr in selbstgerechte Urteile zum Überholtsein alter Medien um, die gegen Kulturverfallsthesen, Verteufelungen und Bedrohungsszenarien jeder Färbung gefeuert wurden (bzw. umgekehrt) und auf den entsprechenden Podien nicht selten in für Außenstehende eher peinlich wirkende Deutungskämpfe und kleinkarierte Rechthabereien mündeten.

Richtig heiß und paradox liefen die Debatten, als die Schlacht auf der herunter bipolarisierten Grundebene (Digital=Zukunft+erstrebenswert vs. Analog=Geschichte+zu überwinden) absehbar gewonnen war und Google und Apple und andere erfolgreich die Monopolisierungen, der die frühe Netzgemeinde gerade durch digitale Alternativen entgehen oder auch etwas entgegensetzen wollte, reproduziert hatten. Netzgesellschaftliche Topoi waren vergleichsweise weiche Ziele für Polemiken, wo im harten Kern schlicht die kommende Verteilung der Tortenstücke der Digitalökonomie zwischen alten, absteigenden und neuen, aufstrebenden Akteuren ausgefochten aber selten an sich hinterfragt wurde. Letztlich führt sogar die Frage nach Closed oder Open Access vor allem zu einer volkswirtschaftlichem Abwägung, die mögliche informationsethische Argumente deutlich überlagert.

III

Parallel und vielleicht auch müde vom jahrelangen Ringen bzw. Selbstdefinieren und/oder verführt durch – wie auch Tilman Baumgärtel erwähnt – klassische Etablierungsmöglichkeiten „als populäre und gutbezahlte Konferenzredner und Unternehmensberater“ versanken viele der einstigen Digitalrevolutionäre schließlich mehr oder weniger vollständig in einer Apple-ästhetisierten Welt der Nabelschau, in der Utopien, so scheint es heute, einzig technisch-funktional als „The Next Big Thing“ überlebten. Die übergeordnete Provokation blieb nicht selten als Grundgeste erhalten – aber immer auch irgendwie als Produkt und ein bisschen austauschbar.

Das Bibliothekswesen schloss weitgehend erst zu diesem Zeitpunkt auf, übernahm teilweise schnell die Phraseologik der 2.0-Sprache, in der es von Anfang an nur um Geschäftsmodelle, also Marktstrukturierung ging, die aber die Emanzipationsmetapher als voran geschobene Brechstange dazu benötigte, sich so zu immunisieren, dass sie jede Kritik sofort als reaktionär abwehren konnte.

Auf der anderen Seite kämpften ein paar Protagonisten mit noch stumpferen Waffen um die Beibehaltung eines vordigitalen Stands. Die Berliner Bibliothekswissenschaft war in dieser Zeit, auch das gehört zur jüngeren deutschen Bibliotheksgeschichte, derart in Selbsterhaltungs- und Neuausrichtungsbemühungen derangiert, dass sie selbst den bibliothekarischen Fachdebatten zum Thema kaum Impulse geben konnte. Es blieb am Abend eines Tages zumeist nur Affirmation, nicht selten mit einer Prise Servilität.

Mit der Durchsetzung des WWW als Konsumraum reduzierte sich der utopische Gehalt auf den Zentralwert des immer guten „Neuen“ und eine Rhetorik der vorreitenden Andersheit, die auch dann noch werbewirksames Verführungsmittel war, als die große Masse längst mitstrudelte. Der Schlüssel des Erfolges liegt möglicherweise in der permanenten technischen und gestalterischen Optimierung und/oder Variation der Endgeräte, was durch neue Produktzyklen immer zugleich Fortschritt signalisierte, wo man eigentlich nur das Display etwas breiter zog. Auch mit rein konsumistischer Hingabe konnte man sich lange Zeit als Teil einer aufbrechenden Zukunftsgesellschaft fühlen.

Fast unvermeidlich wurden in die Diskurse zur Aufgabe der Bibliotheken darauf nachjustiert. Konsum (bzw. Erlebnis) und die Herstellung der Anschlussfähigkeit an den Arbeitsmarkt (hier als Bildung verstanden) wurden die windschnittigen Pole, zwischen denen sich Bibliotheksarbeit im frühen 21. Jahrhundert zu entfalten hatte. Das Mittel wurde das, was alle(s) bewegte: Technologie. Die Freude am Aufbau neuer Infrastrukturen war unzerbrechlich und wo es Risse gab, wurden diese mit der Annahme, dass Bibliotheken garantiert aussterben, wenn sie nicht sofort aktiv werden, grob gekittet, wo man vielleicht ein bisschen mehr hätte kittlern sollen.

IV

Die Legitimationspflicht liegt bekanntlich selten auf Seiten der Revolutionäre und eventuelle Grundsatzfragen kann man immer zunächst hinter der Dringlichkeit des Augenblicks und später dann hinter den Erfolg vermeldenden Tatsachen vergraben. Wenn es nur neu ist und die Scheinobjektivität der Nutzungsstatistik eine Art Erfolg vermeldet, dann erübrigt sich meist jede weitere Analyse. Nicht nur, aber vor allem die Geschichte zeigt freilich, wie nachteilig sich eine Verlagerung von Richtungsentscheidungen auf das Maß der Masse (gern instrumentalisiert für die Interessen einer Elite) auswirken kann.

Das Problem auch der bibliothekswissenschaftlichen Diskurse war lange, dass es zwischen unwissender Ablehnung und nicht viel mehr wissender Affirmation so gut wie keine theoretisch grundierte Reflexionsarbeit geschweige eine aufklärte Kritik der Entwicklungen gab, die eine andere Annäherung und eine möglicherweise stärkere an übergeordneten Werten fundierte Innovationslenkung nach sich hätte ziehen können.

Nach wie vor werden vorwiegend externe Trends (oft ein bisschen unsystematisch) aufgegriffen, die, sofern möglich, die Grundlage einer bibliothekarischen Selbstoptimierung bieten. Eine gestaltende Rückbindung an die Gesellschaft findet dagegen nur äußerst eingeschränkt statt, wobei man sich gern auf eine mittelbare Wirkung beruft.

Dabei enthalten das Konzept der Bibliothek wie auch seine realweltliche Ausprägung ziemlich viel von dem, was es braucht, um unter Nutzung digitaler Technologien, tatsächlich ein Stück weit utopischer, d.h. gezielt an, wenn man so will, humanistischen Werten orientiert, gesellschaftsprägend zu wirken. Die Utopie für die Bibliotheken wäre etwas kleiner, weniger disruptiv gerichtet, als die Vorstellungen beispielsweise von Timothy Leary oder Howard Rheingold. In ihr ginge es eigentlich nur um das die forcierte Schaffung eines Bewusstseins, das zu einer kritischen und hinterfragenden Auseinandersetzung mit den scheinbar selbstverständlichen wirtschaftlichen und politischen Rahmungen der Lebenswelt befähigt. Die Bibliothek wäre in gewisser Weise in der permanenten Opposition, ein Raum, um ein „Es könnte und kann auch anders sein“ zu denken. Man könnte es eigentlich Aufklärung nennen.

V

Der Zeitpunkt könnte für eine entsprechend aktivere Positionierung richtiger nicht sein. Nach Edward Snowden gibt es offensichtlich ein interessantes Erwachen, das möglicherweise im Rückblick mehr von einer Zäsur haben wird, als wir heute ahnen. Dass die Reaktionskette auch in der Politik eher emotional (erst Überraschung, dann Empörung) ausfällt, zeigt, wie notwendig ein differenzierendes und abgeklärtes Bewusstsein in dieser Richtung wäre.

Was die aktuelle Debatte eigentlich nur offenbart, ist, dass die klassischen, vordigitalen Machtverhältnisse wieder- bzw. im Web ebenfalls hergestellt sind. Der scheinbare Alternativraum wurde ganz klassisch erobert. Das WWW ist heute ein Marktplatz und zugleich eine ausgezeichnete Kontrollbasis, wobei die dahinterliegenden Prozesse der Marktakteure und der staatlichen Kontrolle fast auf identische Weise funktionieren, wie Tilman Baumgärtel unterstreicht:

„Das Geschäftsmodell von Google basiert im Grunde auf einem Data-Mining, das demjenigen, das die NSA betreibt, vergleichbar ist. Der Unterschied ist lediglich, dass die NSA Terrorverdächtige identifizieren will, während Google sein gesammeltes Wissen über seine Nutzer analysiert, um ihnen auf sie geschnittene Werbebotschaften zu präsentieren.“

Das ist kein Ende der Utopie, sondern eine wenig überraschende, aber geschickt vollzogene Gegenrevolution. Das erhoffte Shangri-La wurde ganz traditionell kolonialisiert. Die harmlose politischen Spätrudimente der digitalen Aufbruchseuphorien (mustergültig: die Piratenpartei) zeigen, wie wenig es braucht, um solche Bewegungen zu marginalisieren.

Letztlich, so eine Erkenntnis mutmaßlich bereits der Steinzeitpsychologie, wollen die Menschen vor allem etwas, was bequem ist und sie ansonsten nicht weiter fordert. So haben sich alte Macht- und Kontrollprinzipien nach wenigen Jahren der Überforderung und Verwirrung nicht nur mit den neuen Strukturen arrangiert, sondern sie nahezu kampflos übernommen. Die meisten neuen Milliardäre dieser Wirtschaft – und das unterscheidet sie erstaunlicherweise kaum von den Oligarchen des Russlands der 1990er Jahre – sind die, die sich besonders opportun verhielten und reibungslos dem sie umgebenden Normensystem (in diesem Fall des Spätkapitalismus) fügten. Ihr revolutionäres Anderssein reduziert sich auf popkulturelle Effekte, eine an Don’t be evil-Nullsätzen ausgerichteten Geschäftsethik und dass sie frech in Billiglohnländern gefertigte Sneaker dort tragen, wo man früher schon in braunen Oxfords schief angeschaut wurde. Man kann ihnen das gar nicht vorwerfen: Keiner dieser Akteure hatte jemals etwas anderes im Sinn, als eine in der Regel genial einfache Idee zur Optimierung einer sozialen Praxis (Informationssuche, Gespräch, Selbstinszenierung) zu entfalten. Weltverbesserung fängt hier im ganz Kleinen und Praktischen an. Und endet auch dort. Allerdings sind die Konsequenzen gewaltig.

VI

Was wir nun sehen – obwohl man es sich, wie Tilman Baumgärtel anmerkt, „eigentlich schon in den Tagen der Morgenröte des Netzes denken“ konnte – ist eine Art Daten-Totalitarismus. Die NSA benutzt zur Krönung, wie wir erfahren, Open-Source-Programme, lange das Königsbeispiel des freien, altruistisch gerichteten und kollaborativen Geistes der neuen Netzkultur. Die türkische Polizei vervollständigt derweil ihre Festnahmelisten anhand von Web 2.0-Profilen.

Dass wohlmeinende Vorkämpfer den Boden für äußerst unsympathische und am Ende menschenfeindliche Regime bereitet haben (bzw. dass die in der Regel einen Hauch weniger idealistischen unter den Vorkämpfern in dieser schließlich auch mitwirkend aufgingen), ist freilich für die Menschheitsgeschichte sehr gewöhnlich. Neu ist die offensichtliche Totalisierbarkeit einer Daten-Macht, die uns in Hinblick auf unsere Kommunikationen, also auf unsere Sozialität und damit unsere Einbettung in der Welt, regulierbarer macht als jemals zuvor. Es besteht eine ziemlich direkte technologische Linie von der Volltextsuche über die semantische Analyse zum Geospacing zur Exekution per Drohne. Dafür, dass wir, d.h. also auch die Bibliotheken und die Bibliothekswissenschaft, das wissen, kämpfen wir mit ziemlich soften Bandagen. Nicht einmal zu einer Diskussion über die datenpolitische Rolle, die das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft übernehmen könnte, kam es bisher.

Es ist verständlich, dass man sich nicht unnötig außerhalb des Kerngeschäfts exponieren möchte (man wird angreifbar) und dass man genauso wenig das Bedürfnis verspürt, außerhalb des Funktionsrahmens, dem die Gesellschaft einem zugesteht, Verantwortung zu übernehmen (man ist ohnehin schon voll ausgelastet). Eigensicherung, so der Eindruck, geht vor Gestaltungswillen. Daher bleibt es oft bei unverfänglichen, ein bisschen  selbstbeweihräuchernden Wahlsprüchen wie „Wir öffnen Welten“ (Bibliothekartag 2014), in denen man alles Mögliche verpacken kann und mit denen man niemandem weh tut. Eine tatsächliche gesellschaftliche Bedeutung ergibt sich daraus freilich noch nicht automatisch. Und  durchgängig überzeugend ist diese Art von Anspruchsdenken, gegossen in nicht in jedem Fall ganz zündendes Bibliotheksmarketing, in Rückbindung an die Realität derzeitiger Wissenskulturen nur mit Einschränkung. Die benötigen die Bibliothek als Weltöffner nämlich nicht zwingend. Die Geschichte winkt dagegen derzeit mit mehr als einem Zaunpfahl dahin, wo sich Bibliotheken ihrer/unserer Zeit gemäß und wirksam nicht nur in sondern auch für eine Öffentlichkeit positionieren könnten.

(Berlin, 05. Juli 2013)

LIBREAS Call for Papers LIBREAS #24: Zukünfte

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Call for Papers by libreas on 1. Juli 2013

Update: Wir haben auf mehrfache Bitte den Redaktionsschluss bis zum 14.02.2014. verlängert. 

„Der Bibliothekar muß Kritiker und Architekt sein – Zerstörer des Veralteten und Bildner seiner eigenen Zukunft.“ (Stummvoll, 1965, 26)

„So besehen ist die Frage nach der Zukunft der Bibliothek im Kern die Frage nach der Zukunft der Druck- und Schriftkultur.“ (Gradmann, 2005, 99)

„Die Bibliothek des späten 20. Jahrhunderts, wie wir sie kennen, wird uns 2050 nicht mehr begegnen.“ (Kaden, 2006, 43)

Was ist es eigentlich, dieses Verhältnis zwischen Zukunft und Bibliothek? Ist es ein gesundes? Die Zukunft ist, seit die Moderne begonnen hat, immer gleich um die Ecke, immer Bedrohung und Verheißung zugleich, als greifbarer Fortschritt oder als möglichst zu vermeidende Apokalypse. Die Zukunft treibt Entwicklungen, man strebt ihr entgegen oder fürchtet sie. Die Zukunft war die virtuelle Sphäre des Handelns bevor wir dem Cyberspace eine www-codierte Form gaben. Sie ist motiviert aus den Unzulänglichkeiten des Heute, sie ist ein Versprechen, bisweilen auch eine Wette. Und sie ist vor allem: ungewiss und unvermeidlich.

Aus vergangenen Zukünften

Die Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen schrieb 1928 auf dem Höhepunkt des Richtungsstreits:

„Die deutsche öffentliche Bücherei steht an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer Entwicklung. Große neue sachliche Arbeitsbereiche, mit deren Bewältigung erst die volkstümliche Bücherei ganz zu sich selbst kommen wird, haben sich aus einem dreißigjährigen Arbeitsgang herauskristallisiert, zugleich aber geht die volkstümliche Bücherei im Zusammenhang mit Davesplan und Kulturabbau der Gemeinden, schweren elementaren Existenzkämpfen entgegen. Will sie die sachliche Arbeit ersprießlich leisten und die Existenzkämpfe erfolgreich bestehen, dann bedarf sie in sich selbst eines großen Maßes von Festigkeit und Einheit. Hieran fehlte es in den letzten Jahrzehnten der volksbüchereipolitische Kämpfen […].“ (Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen 1928, V)

Die Terminologie ist vielleicht eine andere, die Problemstellung leicht anders (obwohl: es geht um Geld und darum, dass alles schlechter wird), die Empfehlung ist vielleicht etwas anrüchig geworden. Aber die Struktur der Argumentation lässt sich so oft finden, wenn es um die Frage der Zukunft von Bibliotheken geht.

Gleichwohl wissen wir als Bibliothekswesen schon lange, dass es so, wie es vorhergesagt wird, nicht unbedingt kommen wird:

„Wir wissen nicht und können es auch nicht wissen, wie die Bibliothek der Zukunft aussehen wird, Prophezeien ist eine schwere und ungewisse Sache; wir können uns daher mit diesem Problem nur mit einem recht unbestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit befassen.“ (Stummvoll 1965, 1)

Nicht zuletzt wissen wir, dass das, was wir heute als drängende Frage stellen, in kurzer Zeit ein veraltetes Thema sein kann. Die Fragestellungen einer bibliothekarischen Konferenz 1977 lauteten zum Beispiel:

”1. First of all, do we want, do we need computerised information services?

2. If so, what kind of service should we have?

3. Where should it be located?

4. What will it cost?

5. Finally, how should it be paid for?“ (Fleming 1977, 3)

Heute haben wir für die meisten dieser Fragen klare Antworten.

Zugleich drängt sich, je länger je mehr, auch ein Verdruss auf, wenn es um die Frage nach der Zukunft der Bibliotheken geht: Wiederholt sich nicht einfach alles immer wieder in leicht verschobener Terminologie? Ist es nicht so, dass eher die Bibliotheken getrieben werden, statt dass sie selber ihre Zukunft bestimmen? Ist die Diskussion um die Zukunft nicht eine zeitlose und lästige Debatte? Sollten wir nicht lieber eine ewig währende Gegenwart annehmen, in der wir uns auf Umweltentwicklungen hin optimieren? Wäre dies nicht der realistischere Weg?

Leptolepis

Was von den Gegenwarten bleibt ist bisweilen nur ein Abdruck. Da kann man noch so weiterbildungsbewusst und/oder biegsam sein – und soweit unsere paläo-ichthyologischen Grundkenntnisse reichen, schwärmte dieser Leptolepis sogar einmal in einer Schule (in Mittelfranken). Irgendwann in ferner Zukunft zeigt sich selbst der dickste Fisch des jeweiligen Präsens nur als ein Schatten, wie zufällig auf einer Schiefertafel gehoben. Der Kalkstein ist übrigens tatsächlich nicht nur für ein einschlägiges Jurastudium relevant. Sondern er war auch das Material, das Alois Senefelder für seine Flachdruckplatten nahm. So zeigt sich, dass sowohl die Erdgeschichte seit Ur-Garnelen-Zeiten wie auch die Steindruckkultur seit etwa 1800 aus dem selben Stoff geschnitten sind. Dass die Knochenfische mit einem dezidierten Zukunftsbewusstsein durch ihre Meereswelten schwammen und schwimmen scheint aus menschlicher Sicht unwahrscheinlich. Denn der Mensch hat die Zukunft erfunden und zwar hauptsächlich für sich. Als Konstruktionsmaterial bleiben ihm dafür zwangsläufig nur die Spuren der Vergangenheit. Beziehungsweise die Spuren vergangener Zukünfte. Eine schöne Eigenschaft von bestandsorientierten Bibliotheken (nach manchen Diskursen eine aussterbende Spezies) ist bekanntlich, dass sie diese Spuren (auch für die Zukunft) nachvollziehbar halten. Sie sind mit dieser Eigenschaft das Solnhofen unserer Kulturgeschichte. Beiträge zu dieser Facette von Zukunft in der Bibliothek sind für LIBREAS #24 selbstverständlich hoch willkommen. Vielleicht auch, damit eines Tages die Fachleute der digitalen Archäologie auf einer Partition eines e-doc-Servers auf Spuren von Kopf und Rückgrat stoßen, die einen ganz  besonderen Horizont der Geschichtlichkeit der frühen Digitalkultur nachverstehbar machen.

Die Zukunft der Zukunft

Schwierig wird es dann, wenn dies dazu führt, dass sich die Daseinsform selbst auflöst. Man benötigt Distanz, um die eigene Situation, die eigenen Möglichkeiten mit dem eigenen Wunschbild abzugleichen. Alles Konkrete eines Blicks in die Zukunft mag falsch sein. Aber sie gibt uns die Möglichkeit zum distanzierten Blick.

Daher kommen wir um die Zukunft nicht herum. Wir wissen, dass wir nicht wissen können, was morgen sein wird. Aber wir können uns verständigen, was wir morgen sein wollen. Und danach handeln.

Wie wird die Bibliothek der Zukunft sein? Wird in Zukunft noch eine Bibliothek sein oder werden wir von anderen Dingen sprechen? Was wird die Bibliothek beerben? Wird sich überhaupt etwas verändern in naher oder weiter Zukunft? Werden die Bibliothekarinnen und Bibliothekare sich ändern? Welcher Gestaltungsspielraum bleibt? Und wenn, wer wird für die Bibliotheken sprechen? Wollen überhaupt wirklich alle in eine (ähnliche) Zukunft? Und wie entwickelt sich die Spannung in der Gleichzeitigkeit von Innovationsanspruch und dem Luxus (scheinbarer) Anachronismen, die je größer scheint, je größer die Einrichtung ist?

In der Ausgabe # 24 möchte die LIBREAS die Zukunft in die Gegenwart (dieser Ausgabe) holen und ruft deshalb dazu auf, Artikel (oder andere Beiträge) zu den Fragen der Zukunft der Bibliotheken, der Medien und aller damit zusammenhängender Themen, Gebiete und Institutionen einzureichen. Als Fragestellungen drängen sich auf:

  1. Fragen der erwartbaren Zukunft. Was können wir nach all den vorhergesagten Veränderungen, die dann doch nicht eintrafen und den Veränderungen, die eintraten, ohne dass sie vorhergesagt wurden, tatsächlich über die Zukunft und die Bibliotheken sagen? Was werden ihre Funktionen sein? Was wird das Personal tun? Wie werden die Gebäude aussehen? Wie wird die Bibliothek heißen?
  2. Wie verstrickt ist die Zukunft der Bibliothek in die Zukunft der Medien-, Kommunikations- und Wissenskulturen?
  3. Welche Zukünfte sind wünschenswert? Und welche nicht? Ist es sinnvoll, über die Zukunft zu reden, wenn die Gegenwart nicht greifbar ist?
  4. Wer oder was ist es eigentlich, dass die Zukunft der Bibliotheken bestimmt? Welche Interessen werden umgesetzt? Wieso? Wie? Wie kann man dies unter Umständen verhindern, ändern, fördern?
  5. Welche Zukünfte prägten die Vergangenheit? Was wünschte man sich, was traf ein, was blieb aus?
  6. Welche Zukunft haben die Wissenschaften, in denen die Bibliothek, ihre Prozesse, Aufgaben und Rollen analysiert werden? Und wie gestalten diese Bibliotheks-, Informations- und Kulturwissenschaften die Zukunft der Bibliotheken?
  7. Bibliotheken und Science Fiction. Nicht zuletzt ist auffällig, dass gute Science Fiction so gut wie nie ohne Bibliotheken oder Informationssysteme auskommt. In Solaris trifft Kris Kelvin wichtige Entscheidungen in der Bibliothek, der Anhalter durch die Galaxis ist direkt eine Community Publication und in Star Trek ist der Computer, welcher offensichtlich eine semantische Maschine darstellt, grundlegend wichtig. Wieso eigentlich ist es offenbar so schwierig, sich eine Zukunft ohne Bibliotheken vorzustellen?

Die LIBREAS begrüßt alle Versuche, sich diesen Fragen zu stellen und freut sich auf Einreichungen zum Thema. (Einreichungen zu anderen Themen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft und des Bibliothekswesens sind ebenso erwünscht.) Hinweise zur Einreichung finden sich unter http://libreas.eu/authorguides/, Deadline für die Ausgabe # 24 ist der 30.10.2013 14.02.2014.

LIBREAS-Redaktion

(Berlin, Bielefeld, Chur, Mannheim, Potsdam)

Literatur

Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen (Hrsg.) (1928) / Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen volkstümlichen Bücherei. – (Schriften zur Büchereifrage). – Leipzig: Verlag von Quelle & Meyer.

Flemig, M. G. (1977) / Introduction by Professor Fleming, Pro-Rector Imperial College. In: Conference on the Future Role of Computerised Information Services at the University of London : 25 January 1977 ; Proceedings. – London: Resources Co-Ordinating Committee, University of London, S. 5.

Gradmann, Stefan (2005) / Hat die Bibliothekswissenschaft eine Zukunft? In: Hauke, Petra (Hrsg.) Bibliothekswissenschaft – quo vadis? – München: Saur, 2005, S. 96-102.

Kaden, Ben (2006) / Gegenwart, Zukunft und Ende der Bibliothekswissenschaft. In: Hauke, Petra; Umlauf, Konrad (Hrsg.) Vom Wandel der Wissensorganisation im Informationszeitalter. – Bad Honnef: Bock+Herchen, S.29-48.

Stummvoll, Josef (1965) / Die Bibliothek der Zukunft : Automationsprobleme im Bibliothekswesen. – (Biblios-Schriften ; 42). – Wien: Österreiche Nationalbibliothek.

Von wegen Pferdefleischeslust. Über Chrissie Bentleys „The Nympho Librarian and Other Stories“.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 26. April 2013

Eine Rezension zu Chrissie Bentley (2011) The Nympho Librarian and Other Stories. [ohne Ortsangabe]: CreateSpace. ISBN: 9781468106084

von Ben Kaden

“Get rid of the glasses, if I wanted to see a librarian I would be at library.” – ronsanchez am 26.01.2004 in einem Forum auf kinkondemand.com

„Wir ahnen ja, daß dort [in den Bibliotheken] auch das Amouröse, ja das Erotische seinen Platz haben muß und finden die Bestätigung bei [Philip] Larkin, der die Emporen für Verabredungen romantischer Art als besonders geeignet ansah und sich zu mehr als einer Mitarbeiterin hingezogen fühlte – über eine Kollegin, vertraute er einem Freund an, hätte er herfallen mögen wie ein Löwe über den täglichen Batzen Pferdefleisch…“ (Jan Wagner, 2013)

Es ist ein selten saftiges Bild, das der Schriftsteller Jan Wagner in seiner „Rede zum neuen Jahr“, die mindestens so sehr eine Hymne auf die Bibliothek wie Philip Larkins Library Ode ist, zum Delektieren bereitstellt. Tatsächlich verlor der außergewöhnliche Bibliothekar und Dichter Larkin mehr als sein Herz in der Stadtbibliothek.

Aber zunächst eben dieses und zwar als nicht wenig einsamer, sexuell so unerfahrener wie verwirrter 21-Jähriger Bibliothekar in Wellington, Shropshire an die schmale, bebrillte in der wirren Vielfalt adoleszierender Blüte gefangenen 16-jährigen Schülerin Ruth Bowman. In sein Tagebuch schrieb er zu dieser Zeit „Re sexual intercourse: always disappointing and often repulsive, like asking someone else to blow your own nose for you”. (vgl. Morton, 1993) Zu seiner Verteidigung ist zu ergänzen, dass er erst wenig verkehrsteilnehmende Erfahrungen und schlicht eine Heidenangst vor Sexualität an sich gehabt haben soll. So gehandicapt reduziert man als junger Mann das intime Verschmelzen denn auch gern auf eine Variation des Schnäuzens. Unbestritten war für Larkin das Thema Sexus (inklusive seiner Darstellbarkeit) zeitlebens mindestens so wichtig wie die Bibliothek.

Ob er damit typisch für Bibliothekare steht, ist mutmaßlich noch empirisch unbeforschtes Terrain. Doch bekanntermaßen lässt das Klischee entsprechende Kurzschlussfolgerungen zu. Den kreuzbraven brillenbeschlagen Strickjackenwesen – man denke nur an Donna Reed als Bibliotheksmamsell in Frank Capras Ist das Leben nicht schön? (Capras Antwort: Nur wenn man einen Mann wie George Bailey findet, der einen vor dem Bibliotheksdienst rettet.) – traut man entweder keine Sexualität zu. Oder eine sehr eigentümliche.

Für die zweite Variante gibt es einen Fantasieraum in der Pornographie. Reziprok findet sich dagegen selten ein Platz für die Pornographie im Realraum der Bibliothek. (Es sei denn im Schreibtischfach des Bibliothekars Philip Larkin.)
Abgesehen von der Pionierarbeit der progressiven BDSM- und Fetisch-Fans aus dem Armory in San Francisco, die zum Beispiel Bobbi Starr einmal als Bibliothekarin für ein griffiges Filmchen der Reihe Whipped Ass inszenierten, die Dominatrice Madison Young einen säumigen Nutzer namens Kade (sic!) demütigen ließ und auf deren Seite Darstellerinnen mit

„Maggie has the cute next girl look, with booming tits and ass. To see her on the street you would think her a Doctor or Librarian, no one would expect that a lifestyle submissive hides under those glasses.”

vorgestellt werden, erweist sich das weite Feld der Bildpornographie hinsichtlich Referenzen auf Bibliothek und Bibliothekskultur als weitgehend unbefriedigend.

Seiten wie Naughty Bookworms bleiben im Schulbildungsbereich stecken, die am Schauplatz College orientierten Dare-Dorm-Angebote in den Internatszimmern. Entsprechende Filmproduktionen wie Naughty Blonde MILF Librarians (2009) oder Fuck the Librarians (2012) benutzen mehr noch als der Klassiker Midnight Librarians (2001) Bücher, Regal und Brille ausschließlich und dem Genre gemäß lieblos als Staffage für den üblichen schematischen Aktionismus. Wobei beim letztgenannten Film immerhin die Beschreibung ganz neckisch daher kommt:

„Ever wonder what librarians do after hours when they remove their glasses, lose the orthopedic shoes and let their hair hang down? Do you think librarians have sex?“

Die erfrischendste Produktion in diesem Bereich ist bisher Joanna Angels Librarians (2011), die nicht nur neben der Altmeisterin Kimberly Kane mit Asphyxia Noir, Skin Diamond, Kleio und Draven eine Reihe der neuen, professionell-auf- und abgeklärt auftretenden Darstellerinnenzunft (nicht ohne Hipster-Nimbus) als Bibliothekarinnen zum Einsatz bringt, sondern auch einen knuffigen Plot besitzt:

„It was your average day at the Clitty City Public Library. Joanna Angel was running the place as usual, and Asphyxia, Draven and Kleio were stocking the shelves and rolling the carts. But everything changed when James Deen came in…and tried to take out a book! He had more than two-hundred overdue library books! A complete disgrace to the community. He still wanted that book, though…in fact, he wanted to rob the library clean! But the girls had pledged their souls to the Dewey Decimal System and refused to give in…if he wanted those books, he was gonna have to […]”

und so weiter und so fort.

Doch auch hier stößt Originalität wieder dort an ihre Grenzen, wo man sie üblicherweise entdeckt: bei der expliziten Darstellung der Sexualität, die keinerlei Knistern entfaltet, sondern sich in Standardeinstellungen erschöpft. Das Dilemma von Pornographie dieser Art liegt in der Absenz jeglicher Sinnlichkeit. Die rein visuelle Inszenierung des sportlichen Standardrepertoires bis zum Money Shot führt anscheinend unvermeidlich zu erheblichen Redundanzen und entgleitet damit in eine klinisch reine Langeweile. Bis auf wenige Ausnahmen ist diese Form der letztlich fast immer Fließbandpornographie in ihrer Uniformität vergleichbar mit der Systemgastronomie: Man bekommt immer nach den gleichen Abläufen exakt das serviert, was man bereits kennt.

Chrissie Bentley: Nympho Librarian

Chrissie Bentleys Nympho Librarian Stories ist mit knapp 60 Seiten Umfang tatsächlich kopfkissentauglich. Aber für geübte Leser höchstens etwas für eine Nacht.

Ein wenig besser stellt es sich im Bereich der geschriebenen Pornographie dar, bleibt hier doch visuell-fantasievolle Füllung des geschilderten mit eigenen Bildern möglich und wenn man möchte, kann man sich gern die Bibliothekarin oder den Bibliothekar (bzw. Nutzer und Nutzerin) aus der eigenen Bibliothek in entsprechende Rollen hineinimaginieren. (Man sollte es aber nicht unbedingt kommunizieren.)

Es gibt, wenigstens in den USA, eine regelrechte und blogaffine Liebhabergemeinde solcher früher als Schund und Schmutz (oft so pragmatisch fragwürdig wie semantisch berechtigt) bezeichneten Textergüsse, die berühmte und einschlägige Olympia-Press-Titel wie Heather Browns The Librarians Naughty Habit, Rod Walemans The Young Librarian oder Jessica Ludwigs Sex for Charity (Titel, die man übrigens vergeblich im Worldcat sucht) ganz offen im (LibraryThing-)Regal zeigt und mit typisch postmoderner Ironie zur ihrer Leidenschaft erklärt. Das dank diverser Presseberichte (u.a. bei der Paris Review vgl. Steinberg, 2012) mutmaßlich populärste Werk ist Les Tuckers The Nympho Librarian, von dem mangels Verfügbarkeit in Buchhandel und Bibliothek die meisten jedoch nur das berühmte Cover (vgl. Pierce, 2012) kennen.

Nun gibt es unter demselben Titel eine kleine Kollektion (wahrscheinlich Fan-fiktionale) Stories, die als Print-on-Demand mit einem grauenhaft verhunzten Titelbild allgemein verfügbar ist. Die von der Bloggerin Chrissie Bentley herausgegebene Zusammenstellung erhält als Ouvertüre ein buchstäblich nuttiges Vorwort von Jenny Swallows, was ein typischer nom de porn sein dürfte – wobei allerdings Donna Reeds Figur bei Frank Capra ja auch in aller Unschuld Mary Hatch hieß.

Traurigerweise ist diese Einleitung nichts anderes als eine äußerst mäßige Fantasie über eine Fellatio, wie sie aus einem Grundkurs für obszönes Schreiben stammen könnte und vermutlich auch stammt und darin eine Art dürftiges Gegenstück zu Marco Vassis Die Rache des Sizilianers (Vassi, 1989). Die Geschichte The Nympho Librarian erscheint im Vergleich weitaus intensiver und auch wenn die Integration einer Gasmaske in ein bibliothekarisches Liebesabenteuer nicht jedem Identifikationspunkte schafft, so ist das Machtspiel im Vorstellungsgespräch in satter Konsequenz ausgeführt.

Für das Genre sind auch die anderen Texte akzeptabel. Die Freude ist jedoch fast immer dadurch getrübt, dass es sich nur Kürzestgeschichten handelt, die weder wirklich Handlung noch Spannung wirklich entfalten. Vielleicht könnte man eine entsprechende Story wie Silence in the Library auch auf dreieinhalb Seiten mitreißend und aufwühlend ausgestalten. Aber dazu wären literarische Fertigkeiten nötig, die in diesem Feld der Schriftstellerei äußerst rar gesät sind. George Batailles‘ Das Auge der Katze gelingt das. (Bataille, 1972) Die Jenny Swallows-Fraktion bleibt dagegen hilflos. Denn wenn Kopulationsgeschichten konventionell auserzählt werden, wird in dieser Kürze schlicht kein allzu hohes Plateau erreicht.

Dagegen muss man den (nicht genannten) AutorInnen der Geschichten immerhin das Bemühen zugestehen, die Bibliothek als Ort bis hin zur korrekten DDC-Systemstelle präsent zu halten und ein paar Klischees durchaus spielerisch zu verarbeiten. Bei der Bibliographie zweifelt man aber fast schon wieder an der Fachkenntnis der Herausgeberin. Zudem ist keine der Geschichten selbst eindeutig bibliographiert. Da zeigt sich die Anthologie „Porno“ (N.N., 2004) des Fischer Taschenbuchverlages weitaus professioneller (krankt aber daran, dass sich Stephen Solomita in Übersetzung höchstens so überzeugend liest, wie die Synchronisation eines Pornofilms authentisch wirkt).

Wem der Sinn nach billiger und billig produzierter (Printed by Amazon Distribution GmbH, Leipzig – also mutmaßlich direkt im Logistikzentrum) Darstellung von Sexualität steht, die ohne Umschweife auf den Punkt kommt, der wird mit The Nympho Librarian and other Stories leidlich gut bedient. Mit Erotik oder erotischer Literatur hat die Anthologie dagegen rein gar nichts zu tun. Statt des Larkin’schen Löwen überm Pferdefleisch findet man in dem Bändchen eher einen an sich doch zahmen Stubentiger vor einem Näpfchen Trockenfutter.

(Berlin, 25.04.2013  / @bkaden)

Literatur

Anmerkungen: Von Verweisen auf pornografischen Internetquellen sehen wir ab.

Georges Bataille (1972) Das Auge der Katze. In: ders.: Das obszöne Werk. Reinbek: Rowohlt, S.7-10

Andrew Morton (1993) Larkin in Love. In: The Independent, 21.03.1993

N.N. (2004) Porno: Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuchverlag

J. Kingston Pierce (2012) Curious Catalogue of Carnality. In: Killer Covers. 26.07.2012, http://killercoversoftheweek.blogspot.de/2012/07/curious-catalogue-of-carnality.html

Avi Steinberg (2012) Checking Out. In: The Paris Review Daily. 26.12.2012, http://www.theparisreview.org/blog/2012/12/26/checking-out/

Marco Vassi (1989) Die Rache des Sizilianers. In: ders.: Erotische Komödien. München: Goldmann, S. 60-68

Jan Wagner (2013) Die Bibliotheken. Eine Rede zum neuen Jahr. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur. Heft 2 / April 2013, S.147-159

Call for Papers: Forschungsdaten, Metadaten, noch mehr Daten. Forschungsdatenmanagement

Posted in LIBREAS Call for Papers by libreas on 12. Dezember 2012

Call for Papers für die LIBREAS-Ausgabe #23
Thema:
Forschungs- und andere Daten sowie ihre Organisation und Rolle in Bibliothek und Wissenschaft
Einreichungsfrist: bis 31.05.2013 14.07.2013 19.08.2013
gewünscht sind: Beiträge, die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Daten und Bibliotheken reflektieren, annotieren, dekonstruieren und/oder analysieren
disziplinäre Einschränkungen: keine
Rückfragen: redaktion@libreas.eu

„Eine Forschung, die zunehmend durch die kooperative Tätigkeit weltweit vernetzter Communities und durch den Einsatz Computerbasierter Verfahren bestimmt ist, erfordert nun einmal die kontinuierliche und vor allem langfristige Verfügbarkeit von Publikationen und Forschungsdaten über das Internet. Nicht nur die Notwendigkeit, Forschungsergebnisse durch den Rückgriff auf die diesen Ergebnissen zugrunde liegenden Daten verifizieren zu können, sondern auch die produktive Nachnutzung von Forschungsdaten in anderen Kontexten setzt voraus, dass digital kodierte Information über Jahrzehnte hinweg authentisch verfügbar bleibt.“ (Matthias Kleiner. Vorwort. In: Heike Neuroth et al. (2012), S. 9)

„Die Basis einer gesunden Ordnung ist ein großer Papierkorb.“ (Kurt Tucholsky. In: Neue Leipziger Zeitung, 19.08.1930)

 

Wissenschaft produziert heute neben Erkenntnis vor allem immense Datenmengen. Die enorme Steigerung beruht in erster Linie auf der Entwicklung und Verfügbarkeit von Technologien zur Datenproduktion und -verarbeitung. leistungsstärkere Rechner und Messgeräte produzieren und vernetzen immer mehr Daten. Wo viele Daten sind, kommen fast naturgesetzlich immer noch mehr hinzu. Die Datenmengen, eines  Large Hadron Collider (LHC) in Genf sind derart umfangreich, dass sie nicht einmal mehr an einer zentralen Stelle gespeichert werden können, sondern auf das LHC Computing Grid verteilt werden müssen. Aber auch im Alltag entstehen immer mehr Daten „nebenher“, beim Surfen im Netz, beim Chatten, beim Taggen von Dateien usw. Nahezu jeder Klick erzeugt auch neue Daten.

Die Entwicklung führt zu umfassenden Änderungen der Wissenschaft, ihrer Methoden und besonders den Anforderungen an ihre Werkzeuge sowie an die Wissenschaftsinfrastrukturen. Datenintensive Forschung braucht angemessene Hilfsmittel. Physikerinnen und Physiker, die mit Daten aus LHC-Experimenten arbeiten wollen, müssen lernen, Daten aus dem Grid zusammensammeln und auszugeben. Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die theoretische Modelle zum Zusammenhang von Hochschulsystem und Städteplanung über mehrere Staaten hinweg testen wollen, können dafür auf eine umfassende Datenlage zurückgreifen. Sie müssen aber diese kennen, finden und weiterverarbeiten können.

Angesichts dieser empirischen Wende könnte das Testen theoretischer Modelle bald der Vergangenheit angehören. Jim Gray formulierte die These, dass wir in die Zeit des vierten Forschungsparadigmas eintreten würden. (Hey, Tansley & Tolle, 2009) Die Forschungsdatenbestände würden zu groß werden, um überhaupt noch anders als mit explorativer Statistik, also einer Art Datenhermeneutik, auswertbar zu sein. Ob dies für alle Wissenschaften zutrifft, ist offen.

Folgerichtig wird die Bedeutung von langfristig und offen verfügbaren Forschungsdaten für den Forschungsprozess immer stärker betont. Man entwirft Systeme, die die Reputation einer Forscherin, eines Forschers an die erstellten Daten binden sollen. Diese Diskussion überdeckt eine andere Wahrheit: Immer noch sitzen die Theologinnen und Theologen an ihren Schreibtischen und produzieren nicht viel mehr Daten als in den Jahrhunderten zuvor. Sie benutzen aber möglicherweise zunehmend digital vorliegende Quellen. So geht es vielen Disziplinen: Einige, wie die Physik oder die Klimaforschung, erzeugen permanent riesige Datenmengen. Bei anderen ist vielleicht nicht das Wachstum der eigens produzierten Datenmengen überwältigend. Wohl aber die Zahl der durch die Digitalisierung direkt abrufbaren Datenbestände. Um diese ordentlich zu nutzen, sind adäquate Erschließungs- und Vermittlungsverfahren sowie Werkzeuge notwendig.

Wie soll Forschungsdatenmanagement funktionieren? (more…)

It’s the frei<tag> 2012 Countdown (20): Fragen zum Thema Partizipation

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by libreas on 26. Juli 2012

Heike Stadler (bibpartizipation.wordpress.com)

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 03.01.2011 fragte sich Tilman Spreckelsen: „Wo sind die Wutbürger, wenn man Sie braucht?“ Nein, es ging nicht um Stuttgart21, sondern um die Frage wo der Protest der Öffentlichkeit gegen Bibliotheksschließungen bleibt. Mittlerweile könnte man ein Büchlein über Bürgerproteste im Bibliotheksbereich verfassen. Die Frage müsste nun mehr lauten: „Wer hört die Wutbürger, wenn sie rufen?“ Auf der Plattform openpetition.de gibt es zahlreiche Beispiele, die analysiert werden wollen. Bereits in LIBREAS #12 fasste Karsten Schuldt kiezbezogene Proteste für Berliner Bibliotheken zusammen (PDF). Nicht nur Proteste und Initiativen gab es in der Vergangenheit, auch Bürgerbegehren können als Partizipationsbeispiele herangezogen werden (vgl. Heike Stadler (2011) Der Bürger entscheidet mit. In: BuB 6 (63) S. 450-453 – PDF-Download).

Social-Tagging als Mittel zur inhaltlichen Erschließung im Katalog. Der Nutzer darf, was er lange nicht durfte – ein Wort mitreden bei der Sacherschließung. Was ist aus dieser Möglichkeit geworden? Wird sie gelebt? Oder ist sie diese Form der Teilhabe in Vergessenheit geraten?

Früher gab es oder es gibt sie noch immer vor Ort in der Bibliothek, die analogen Wunschbücher für Anschaffungsvorschläge. Nun spricht man von der nutzergesteuerten Erwerbung (PDA), eine Geschäftsmodell der Verlage und keine Idee der Bibliotheken, oder doch? Liegt in der Idee des Wunschbuches der Ursprung des PDA-Modells? Wenn Bibliotheken PDA oder „PDA-light“ als Mittel für die Erwerbung nutzen, tun sie dies wirklich wegen des Gedankens der Partizipation oder vorrangig aus wirtschaftlichen Zwecken?

Bibliotheksbenutzer gestalten Bibliotheksräume. Sie suchen Möbel aus, entscheiden über die Wandfarbe und Kinder träumen ihre Kinderbibliothek und man fragt sich, was ist noch möglich?

Partizipation als neue Leitlinie für die Bibliothekswissenschaft? Was hat, was kann und was wird Teilhabe in den verschiedenen Bereichen ermöglichen?

Themenereiche für eine Leitlinie Partizipation:
Standortbestimmung
Bibliotheksbau / Architektur
Bibliothekseinrichtung
Bestand / Medien / Erwerbung
Veranstaltung

Bibliotheksschließung

Flyer im Zug

Nächste Station: Partizipation? Dies trifft in jedem Fall zu, wenn man es auf die Potsdamer Unkonferenz zum Stand der Bibliotheks- und Informationswissenschaft bezieht. Denn solch eine Veranstaltung lebt zu 100 % vom konkreten Engagement der Teilnehmer. Dies betrifft auch die Themen, die dort angesprochen, diskutiert und möglichst nachhaltig auf die Agenda des Faches gesetzt werden. Dabei können die oben stehenden Fragen selbstverständlich selbst Gegenstand der Veranstaltung werden. Das wäre dann ein selbstbezüglicher Diskurs im besten Sinn.

Der Kulturinfarkt – Ärgernis oder Vision für Bibliotheken?

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Referate by libreas on 26. März 2012

zu: Dieter Haselbach / Armin Klein / Pius Knüsel / Staphan Opitz: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention. München, 2012

Ein Kommentar von Susanne Brandt

Um es gleich vorweg zu nehmen: So richtig spannend wird das Buch erst in der zweiten Hälfte. Um dorthin zu gelangen, wo es um Visionen und Zukunftsszenarien geht, die Widerspruch, Zustimmung oder eben die viel beschworene Phantasie so richtig auf Trapp bringen, muss man bis zur Hälfte des Buches eine Menge Zynismus und Verallgemeinerungen überstehen. Das ist im Sinne der gewollten Polemik nicht überraschend, in dieser Form und Länge allerdings ziemlich unergiebig. Zu oft ist von „allen“, von „niemand“, von „immer“ oder „nie“ die Rede, wo es um „einige“ oder „zeitweilige“ Phänomene und Beobachtungen geht. Zu schnell und teilweise unkritisch werden einzelne Statistiken herangezogen (z.B. zum Leseverhalten), an deren Seite andere Erhebungen genannt werden müssten, die zu einem anderen Ergebnis kommen. Zu oft wird die alte Tante Kultur auf der Couch gesehen – mal als todkranke Patientin und lieber noch als träge Masse, die sich selbstgefällig auf den Kissen staatlicher Förderungen ausruht. Wer den Alltagsbetrieb in kulturellen Institutionen kennt, weiß, dass dieses Bild für die Mehrheit der Engagierten dort einfach nicht passt. Auch das Argument von der offenbar grenzenlosen Mobilität in der Bevölkerung, mit dem wiederholt eine Verknappung von Standorten kultureller Institutionen gerechtfertigt wird, lässt sich wohl kaum auf die pauschal in vielen Aufzählungen mit genannten Bibliotheken übertragen, wenn diese gleichzeitig den an anderer Stelle wiederum geforderten Anspruch von Bürgernähe und Nutzerorientierung erfüllen. Ein Grundschulkind aus einer türkischen Familie zum Beispiel kann die Schließung einer Stadtteilbücherei in seinem Bezirk eben nicht so einfach verschmerzen und allzeit mobil auf einen weiter entfernten Standort ausweichen. Das finden die Autoren dann irgendwann auch und relativieren in der Mitte des Buches einige ihrer Aussagen wieder. Doch muss man sich an dieser Stelle fragen, ob für das Buch nicht das gilt, was darin für die Kultur durchaus richtig festgestellt und eingefordert wird: Quantität erzeugt keine höhere Qualität! Will sagen: Der erste Teil des Buches könnte um die Hälfte gekürzt werden, um an Prägnanz und Überzeugungskraft zu gewinnen. (more…)