Die Erklärung von Stavanger mit einem Schwenk zum Open Access. Serviert in der FAZ.
Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

Screenshot FAZ 13.02.2019 / Screen oder Zeitung? In den pressevertriebsstrukturschwachen Regionen auch Berlins ist das keine Frage. Allein deshalb sollte die FAZ die Digitalisierung umarmen und in der Vertriebspraxis tut sie das auch. Thomas Thiel hat dennoch seine Zweifel und sieht sie nach Stavanger bestätigt.
Die Frage „Buch oder Bildschirm?“, also auf welcher Medienoberfläche sich besser lesen lässt, treibt die Welt faszinierenderweise auch 2019 um – zum Beispiel im „Forschung und Lehre“-Teil der FAZ vom 13.02.2019. Der Anlass für Thomas Thiel (hier als tth) besteht in der so genannten Stavanger-Erklärung („E-READ“, weiter Informationen) zur Lesekompetenz. Deren Haupteinsicht lautet in etwa, dass das Lektüreziel die Wahl des Lektüremediums bestimmt und Gedrucktes besser für ein Tiefenverständnis funktioniert. Der FAZ-Redakteur versucht nun zu beleuchten, was die nicht gerade überraschende, nun aber empirisch nochmals verifizierte Erkenntnis, dass Papier nach wie vor Relevanz und Wert in der Rezeptionskultur besitzt und vermutlich behalten wird, für die Digitalisierungsstrategien in der Wissenschaft bedeutet. Dass die Textpraxis der wissenschaftlichen Kommunikation kein Gegenstand der Stavanger-Perspektive selbst war, spielt dabei offenbar keine Rolle. Für die Lehre sind die Einsichten fraglos hochrelevant und Erfahrungen aus der Lehrpraxis zeigen, dass die Frage wie viel und wie komplex Text für Studierende sein sollte, jede Semesterplanung maßgeblich prägt. Neu ist diese Frage freilich ebenfalls nicht. (more…)
LIBREAS.Dokumentation. Heute: Die Analyse Eric Steinhauers zum Aufruf Publikationsfreiheit.de
von Ben Kaden (@bkaden)
1.
LIBREAS versteht sich seit je nicht nur als elektronische Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft bzw. Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die im Sinne einer Fachzeitschrift mehr oder minder wissenschaftlich ermittelte Erkenntnisse formalisiert von Autor*innen zu Leser*innen transportiert. Sondern auch als Debattenmedium (siehe auch die entsprechende Kategorie dieses Weblogs). Das bietet sich einerseits bereits wissenschaftsstrukturell an, da die harte einschlägige Forschung oft nach wie vor in internationalen High-Impact-Journals bzw, zumindest in Web-of-Science registrierten Titeln wie dem De-Gruyter-Journal Bibliothek Forschung und Praxis publiziert werden. Das reicht für das Forschungsaufkommen wenigstens in der deutschsprachigen Bibliotheks- und Informationswissenschaft eigentlich vollkommen.
Nichtkommerzielle bzw. Grassroots-basierte Open-Access-Titel wie Informationspraxis, Perspektive Bibliothek oder 027.7 und schließlich auch LIBREAS funktionieren, wenn es ihnen gelingt, konzeptionell, inhaltlich oder in Hinblick Zielgruppe und Netzwerk Nischen zu besetzen. Angesichts des vergleichsweise Austrocknen inhaltlicher Diskussionen auf der Liste inetbib, kann man auch vermuten, dass der dort lange spürbare Bedarf nach informellerem Austausch über diese Medien und sicher auch durch die mittlerweile u.a. dank hypotheses.org strukturierteren deutschen wissenschaftlichen Blogkultur – als besonders relevant ist Klaus Grafs Archivalia zu erwähnen – von diesen digitalen Kommunikationsformen abgeschöpft wird. Zugleich haben sich Diskussionen zunehmend Richtung Twitter verlagert, da das Medium schneller und sichtbarer (und auch noch weniger reguliert) Meinungen und Hinweise kommunizierbar macht. Dass es zugleich auf Mittel der systematischen Wiederauffindbarkeit und damit die Idee des nutzbaren Archivs verzichtet, war lange für viele Vertreter*innen aus Bibliothekswesen und der Bibliothekswissenschaft eine Hürde. Mittlerweile scheint dieser Aspekt nicht mehr so sehr zu stören. Wir wollen dies zukünftig trotzdem stärker adressieren und werden ausgewählte Beiträge in einer gesonderten Kategorie u.a. anderem in diesem Blog dokumentieren. Den Auftakt macht heute die Debatte um die Petition zur Publikationsfreiheit (publikationsfreiheit.de). (more…)
Open Access ist „ein Geschenk an Google und Konsorten“. Meint Uwe Jochum heute in der FAZ.
Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)
zu
Uwe Jochum:Digitale Wissenschaftskontrolle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2016, S. N4
Peter Geimer: Jede Ähnlichkeit wäre rein zufällig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2016, S. 9
Sowohl Feuilleton wie auch der Wissenschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterstreichen mit der aktuellen Themenwahl erneut, wie nachdrücklich sich das Blatt als Meinungsmedium für Debatten zur digitalen Wissenschaft und zum digitalen Publizieren in der Wissenschaft versteht. Das ist an sich eine gute Sache, weil es prinzipiell die Vielfalt der Stimmen und Positionen in diesen Diskursen erhöht und damit Material zur Auseinandersetzung und zum Hinterfragen eventueller und vermeintlicher Selbstverständlichkeiten führt. Ein wenig bedauerlich ist es freilich, dass gerade der Wissenschaftsteil zu diesem Thema mit einer Auswahl handverlesener Autoren (wo sind eigentlich die Frauen, die zu diesem Thema schreiben?) aufwartet, die man nun schon als Veteranen der Debatte bezeichnen muss, was, wie bei Veteranen nicht unüblich, zu gewissen Redundanzen in der Argumentation führt. Das macht es am Ende auch ermüdend, Gegenargumente zusammenzustellen und wenn man dem bewundernswert engagiert gegen die Windmühle des Open-Access-Zwangs antwitternden Stroemfeld-Verlag die Hand reichen möchte – der dieser leider zu oft mit Beißreflex und also bunt gewürfelten Unterstellungen begegnet – dann sicher in der Feststellung, dass es oft beim Austausch von Textbausteinen bleibt.
Aber vielleicht ist das eindimensionale Format des Zeitungsartikels, der in keine Synopse führt, sondern die Leserinnen und Leser der FAZ seit Jahren im Kreis um dieses eigentümliche Phänomen des Open Access herum, auch nicht das Idealmedium solcher Debatten. Andererseits kommt man so per Pressedokumentation sicher eher auf ministeriale Schreibtische und ein bisschen mutet es so an, als wären diese Ablagen der Hauptgrund, warum Roland Reuss und nun auch wieder einmal Uwe Jochum so viel Platz in diesem Forum erhalten.
Man muss Uwe Jochum in jedem Fall schon einmal zugestehen, dass er deutlich präziser und sicher auch klüger schreibt, als der berühmte Philologe aus Heidelberg. Sein aktueller Text kommt nun unter einer Überschrift „Digitale Wissenschaftskontrolle“ auf den Bildschirm und impliziert viel Gefahr für Wissenschaft. Das Mittel ist das Digitale. Nachzuweisen gilt nun noch im Text, wer sich dessen bedient. Man kann es gleich weg-spoilern: Uwe Jochum vermutet wie viele der wenigen Streiter gegen Open Access eine Art Verschwörung von „George Soros und seine[n] Open-Access-Freunden“, die mit einer Verkündungsschrift – nämlich der Budapester Erklärung – auszogen, die Reichweite des Urheberrechts zu minimieren und zwar bis auf „das Recht auf einen bibliografischen Nachweis“.
Auf die Frage nach der Motivation hat Uwe Jochum eine eindeutige Antwort:
„Jedem Internetnutzer sollte inzwischen klar sein: Es sind diese Personen- und Verkehrsdaten, mit denen im Netz das Geld verdient wird, nicht der „Content“. Klar sollte auch sein, dass mit den Gewinnen eine Politik finanziert wird, die auf einen Ausbau der nichtstaatlichen Kontrollzone zielt, in der die Daten und das Geld nur so fließen können.“
George Soros ist bekanntlich Investor und spielt daher, so Jochum, ein bisschen Philanthropie einzig und allein deshalb vor, um mit den Daten aus der Wissenschaft am Ende noch reicher zu werden als er schon ist. Wir werden also alle manipuliert und es gibt nur wenige, wie Uwe Jochum, die dieses perfide Spiel durchschauen und warnen:
„Am Ende hat der Staat seine Wissenschaft verschenkt, aber es ist in Wahrheit kein Geschenk an seine Bürger, sondern ein Geschenk an Google und Konsorten.“
Gemeinhin sollte man bei Formulierungen wie „und Konsorten“ immer vorsichtig sein, weil sie als Sammelklasse alles aufnehmen, was man in sie hinein imaginieren möchte. Warum die FAZ-Redaktion, die in jedem Jugend-Schreibt-Programm armen Lehrerinnen und Lehrern aufdrückt, dass größte Präzision bis auf die Mantelfarbe des Melkers, den ein Zwölftklässer beschreiben soll, die Essenz von Qualitätsjournalismus sei, solche Dinge durchgehen lässt, bleibt ihr Geheimnis und zwar eines, über das man angesichts der vielen Lapsus, die man im Blatt regelmäßig entdecken muss, immer wieder staunt. Aber das ist eine andere Baustelle und wäre eigentlich auch lässlich, wenn das Blatt nicht immer eine so furchtbare Arroganz zum Kern seiner Selbstvermarktung wählte.
Das zentrale Missverständnis des Missverständnisses, welches Uwe Jochum bei Open Access sieht, beruht darauf, dass er wie auch Roland Reuss hinter dem mittlerweile sehr diversifizierten Publikationsmodell eine einheitliche Ideologie vermutet, der man mit dem unnachgiebigen Einsatz für Werkherrschaft, Autorenrechte und das gedruckte Buch entgegentreten muss. Denn wahlweise führt sie eine Neo-DDR (Reuss’sche Position) oder in die totale Google-Facebook-Amazon-Apokalypse (Jochum) und in jedem Fall zur totalen Kontrolle, wobei die den totalen Staat dienenden Monopolisten „unbehelligt vom Staat und ohne demokratische Legitimation, aber unter dem Zuckerguss der Bequemlichkeit Kontrollsysteme als gesellschaftlich-technischen Normalzustand […] installieren.“ Der Staat will also alles kontrollieren – außer das Silicon Valley? Aber das soll er kontrollieren und sonst möglichst niemanden?
Diese eigenwillig postmodernen Anti-Open-Access-Argumentationen inszenieren einen aus Sicht vieler eher unnötigen Kulturkampf und stoßen, jedenfalls bei den unideologischen Nutzerinnen und Nutzern der unterschiedlichen Open-Access-Verfahren, deshalb so oft auf Verwunderung, weil diese Frequenz eigentlich schon lange zugunsten eines pragmatischeren und kritischeren Verständnisses zu den Möglichkeiten und Grenzen von Open Access abgestellt wurde. Die Idee des Open Access hat in der Tat emanzipatorische Ursprünge und zielte gegen Monopole (Stichwort: Zeitschriftenkrise). Ihr Scheitern an vielen Stellen ist etwas, was man aufarbeiten muss. Gerade deshalb ist es traurig, dass die FAZ wertvollen Debattenplatz zum Thema an eine Aufregung verschenkt, die etwa zehn Jahre zu spät kommt.
Es hat sicher auch etwas mit der Trägheit des wissenschaftlichen Schreibens selbst zu tun, dass in Programmschriften regelmäßig die Genealogie der Budapester und Berliner Erklärungen bemüht wird. Aber an sich ist heute jedem bewusst, dass Open Access in bestimmten Bereichen gut funktioniert und in anderen weniger gut. Ob man, wie die Universität Konstanz, die Nutzung des Zweitveröffentlichungsrechts mit einem dienstwerkartigen Verständnis von Wissenschaft durchsetzen möchte, ist berechtigt Gegenstand einer aktuellen Auseinandersetzung.
Bedauerlich an der zähen Debatte um Open Access ist, dass sie mit ihrem eigenartigen Fackelzug zum Strohmann eine andere und viel spannendere Entwicklung überdeckt, nämlich wie der Einfluss digitaler Medialität sowie entsprechender Werkzeuge und Kanäle das Spannungsverhältnis von Little Science und Big Science mittlerweile auf die lange davon weitgehend verschont gebliebenen Geisteswissenschaften projiziert. Es gab besonders in der Frühphase dessen, was man Digital Humanities nennt, durchaus sehr von Tech-Ideen motivierte Vorstellungen, geisteswissenschaftliche Arbeit könnte nun endlich auch zur Großforschung werden. (Die aktuelle, von wissenschafts- und kulturhistorischen Erkenntnissen völlig unbelastete, Panik/Begeisterung vor/für Künstliche/r Intelligenz wärmt das an einigen Rändern wieder auf.)
Hier würde sich unter anderem zugleich auch die Frage der Verwertbarkeit bzw. Verwertbarmachung geisteswissenschaftlichen Wissens und von Methodologien stellen und wenn Webannotation eines der großen kommenden Themen ist, dann sieht man auch, wohin man leuchten könnte. Andererseits warten die Unternehmen, die sich auf diesem Feld bewegen sicher nicht auf die digitaltechnische Aushöhlung philologischer Institute. Da ist es einfacher und schneller, ein paar Absolventinnen oder Absolventen entsprechender Studiengänge anzuwerben, für die der Universitätsbertrieb ohnehin nur noch selten attraktive akademische Karrierepfade vorhält. Die Infrastruktur wird dann bei Bedarf selbst entwickelt. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass irgendein Start-Up geduldig genug ist, um ein mit DFG-Geldern entwickeltes Tool abzuwarten und zu kannibalisieren. Und ein Staatsapparat, der aktuelle DH-Tools zur Massenüberwachung und „Industriespionage“ (vgl. Jochum) einsetzt, wäre fast bemitleidenswert harmlos.
Deutlicher wird, wie sich unterschiedliche Domänen – hier Geisteswissenschaft, dort Digital Humanities und irgendwo auch die Netzwirtschaft – herausbilden, die sich auf dieselben Objekte beziehen – so wie es nun mal parallel kritische Editionen, Taschenbuchausgaben und ein Kindle-E-Pub derselben Texte gibt. Nur weil etwas die gleiche Bezugsgröße hat, heißt es noch lange nicht, dass es eine Konkurrenz darstellt. Wenn etwas in der Debatte fehlt, dann ist es, diese Differenz herauszuarbeiten.
Ein selbstreflexiver(er) Umgang mit der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und den Einflüssen digitaler Praxen und Technologien führte im Idealfall zu einer schärferen Abgrenzung der Erkenntnis- bzw. Handlungsbereiche und würde allzukurzen und alarmistischen Einschätzungen wie der Peter Geimers im heutigen Feuilleton-Aufmacher – „Londons Tate Gallery arbeitet mit Technik-Schnickschnack an der Selbstaufgabe wissenschaftlicher Kritik.“ – entgegen wirken. Seine These ist, dass die Kunstgeschichte ihren kritischen Kern aufgibt, wenn jemand mit Mustererkennungssoftware experimentiert:
„Man müsste dieser Selbstaufgabe geisteswissenschaftlicher Kritik keine größere Beachtung schenken, wenn sie nicht einem aktuellen Trend zur Enthistorisierung und Essentialisierung der Kunstgeschichte entsprechen würde.“
Der Kunsthistoriker schüttelt damit zwangsläufig heftig das Bad mit dem Kind und verliert sich, in der Sache ganz nachvollziehbar übrigens, in einer Polemisierung, die aber ebenfalls sichtlich von einer wahrgenommenen Bedrohung getragen wird:
„Solche Skepsis an der geisteswissenschaftlichen Mimikry der Laborwissenschaften hat nichts mit Technikfeindlichkeit, mangelnder Neugierde oder dem Festhalten an etablierten Positionen zu tun. Wenn man die Studien aber nicht nach an ihrer szientistischen Rhetorik, sondern an ihren Resultaten misst, zeigt sich in der Regel, dass hier entweder mit hohem finanziellen und apparativen Aufwand experimentell ermittelt wurde, was man auch vorher schon wusste (etwa dass Experten Gemälde anders betrachten als Laien), oder aber Aussagen formuliert werden, deren wissenschaftliche Subtilität bezweifelt werden kann (etwa dass Männer in Ausstellungen Unterhaltung suchen, Frauen gerne die Begleittexte lesen und ansonsten emotional angesprochen werden möchten).“
Allein, dass er die Banalität der in der Tate gezogenen Schlüsse so entblößen kann, widerlegt ihn jedoch und demonstriert, dass die geisteswissenschaftliche Kritik nach wie vor existiert. Was außerordentlich zu begrüßen ist. Der Vorteil grundständigen wissenschaftlichen Wissens liegt darin, dass man damit um die Grenzen des Erkennbaren weiß und sich eben nicht euphorisiert in den nächsten Trend wirft, um alles bisherige aufzugeben. Man ist sehr fokussiert und oft auch aus Erfahrung bescheiden in seinen Erkenntniszielen (einige Alpha-Forscher ausgenommen), im besten Fall zugleich offen genug, um die Elemente aus nun aktuell der digitalen Wissenschaft anzunehmen, die Aspekte der eigenen Arbeit erleichtern.
Es gilt also gerade diese Kritik zu pflegen, die es ermöglicht, zu durchschauen und durchschaubar zu machen, wenn eine an ein Forschungsprogramm herangetragene vermeintliche Revolution gegen die eigenen Interessen läuft. Daher ist es vollkommen zulässig, wenn Roland Reuss, Uwe Jochum oder auch andere für ihre Sache streiten. Unzulässig wird ihr Streit, jedenfalls unter Bedingungen der Diskursethik, allerdings dann, wenn sie selbst kompromisslos und völlig überzogen mit Unterstellungen, vagen Behauptungen, falschen Tatsachen (Uwe Jochum behauptet ein „staatliches Publikationsmonopol“ und ignoriert das erstaunlich nicht-staatlich monopolisierte Gold-OA), mit Beleidigungen und der berühmten Opferkarte durch die Feuilletons marschieren und alles attackieren, was auch nur minimal von ihren Vorstellungen abweicht. Das bringt am Ende nur Unordnung und sonst nichts in die Debatte. Wo ein Zwang zu Open Access angedacht wird, muss man darauf hinweisen. Wissenschaftler, die gern Open Access publizieren, als „naive oder böswillige“ (regelmäßiger O-Ton Stroemfeld-Verlags-Twitter) Büttel einer höheren Macht (aktuelle Label, austauschbar: DFG, BMBF, BMJ, Google) zu attackieren, kehrt sich freilich in gesunden Debatten sofort gegen den Angreifer.
Um es noch einmal zu betonen: Die Geisteswissenschaften sind nachweislich und vermutlich auch nachhaltig dort von Monografien dominiert, wo eine akademische Karriere angestrebt werden und zwar mit allen wissenschaftssoziologischen Vor- und Nachteilen. Eine Open-Access-Publikation oder auch jede Form des nur digitalen Publizierens gilt in den meisten Bereichen eher als karriereschädlich. Kein Open-Access-Repositorium wird dies ändern und Bibliotheken werden damit vermutlich sogar gern leben, da Bücher wunderbar unkompliziert durch den Geschäftsgang zu schleusen ist. Dies bezüglich können Verlage und Werkschöpfer ruhig schlafen. Das Zweitveröffentlichungsrecht (Open Access als grüner Weg) berührt diesen Bereich überhaupt nicht. Eine szientifizierte Wissenschaftsmessung für Geisteswissenschaften ist erwiesenermaßen untauglich, zumal sie schon für andere Disziplinen nur sehr eingeschränkt passen. Entsprechenden Tendenzen sollte man auf jedem Fall entgegenwirken. Es gibt genügend stechende Argumente und wissenschaftliche Nachweise, so dass man das stumpfe Schwert der Polemik dafür gar nicht bemühen muss. Ein konstruktiver Diskurs – und es ist schlimm, dies betonen zu müssen – funktioniert nur mit einer grundlegenden wechselseitigen Anerkennung und einer Rückbindung an das Nachvollziehbare. Die Strategie von Roland Reuss und nun auch Uwe Jochum ist leider hauptsächlich die der Skandalisierung, die, wie oben bereits angedeutet, über die Köpfe ihrer Peers hinweg zielt und offensichtlich – Stichwort, leider, #fakenews – eine allgemeine Stimmung zu forcieren versucht, welche auf wissenschafts- und urheberrechtspolitische Entscheidungen einwirken soll. Ob diese Rechnung aufgeht, wird man sehen. Unergründbar bleibt nach wie vor, woher die erstaunliche Affinität von hochgebildeten und -reflektierten Akteuren für Untergangsszenarien und die Lust an der Rolle als einsamer Kämpfer für das Gute und (Selbst)Gerechte kommt. Ich hoffe sehr, dass wir eines Tages das Vergnügen haben werden, dazu eine ganz nüchterne und gründliche Diskursanalyse lesen können. Bis dahin bleibt uns immerhin die FAZ am Mittwoch.
(Berlin, 23.11.2016)
Die Entdeckung des „Faselns“. Der Stroemfeld-Verlag sieht sich über dem Diskurs.
Ein Stimmungsbild von Ben Kaden (@bkaden)
Mitunter nimmt Diskurs auf Twitter wundersame Wendungen. Nachdem es vor zwei Wochen im Anschluss an die #Siggenthesen viel zu diskutieren und klarzustellen gab angesichts des Vorwurfs, diese würden einzig altbekannte und selbstverständliche Banalitäten zu Open Access und der Entwicklung des digitalen Publizierens neu aufgegossen anbieten (vgl. auch hier), donnerte am Freitag eher unerwartet der Twitter-Account des Stroemfeld-Verlages sowie dessen Lektors Alexander Losse hochengagiert und mit aller verfügbaren Überheblichkeit los, um augenscheinlich noch vor dem Wochenende ein wenig Dampf abzulassen. Das wäre nicht weiter problematisch, wenngleich in dieser Form und diesem Rahmen unangemessen, gäbe es im Gepäck der Sticheleien des Verlags-Twitterers vom Dienst, wenigstens einen Aspekt, der über Frust und Trollerei hinauswiese.
Hinausgewiesen soll freilich offenbar jeder werden, der im digitalen Publizieren und der Idee des Open Access nicht gleich und vollumfänglich den Tod des Buches sieht. Das ausdrücklich betonte Interesse an der Meinung des Anderen wird nicht nur nicht ernstgenommen. Vielmehr versucht man sich daran, es lächerlich zu machen. Das kann man machen. Aber es strahlt nicht gerade sonderlich weit.
Zugleich bleibt noch immer völlig unersichtlich, warum ausgerechnet der Stroemfeld Verlag in seiner Existenz bedroht sei, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Disziplinen, die völlig jenseits seines Schwerpunkts publizieren, gern die digitale Open-Access-Variante wählen wollen und zugleich sinnvollerweise aus der Wissenschaft heraus für diese Publikationsform Strukturen geschaffen werden.
Ebenfalls unverständlich bleibt mir, warum der einflussreiche Verlag, dessen Zentralautor ja bekanntlich beliebig viel Platz zur Verkündung seiner Sicht der Dinge von der FAZ eingeräumt bekommt, ausgerechnet auf denjenigen losprügelt, der sich regelmäßig daran versucht, etwas aus dem rhetorischen Überschwang über eine drohende „DDR 5.0“ herauszuziehen, was sich für eine Diskussion eignet. Dass die Texte des Roland Reuss in meinem Umfeld nur Kopfschütteln ernten, liegt nicht unbedingt daran, dass hier jede/r Open Access für das allein glückselig machende Mittel der wissenschaftlichen Kommunikation hält. Sondern daran, dass er wie jemand wirkt, der zutiefst getrieben ist, etwas von der Kanzel zu predigen, jedoch immer wieder nur in die Bütt steigt. Nur eine Drehung weiter, so scheint es oft, und er ist an dieser Stelle. Wir wissen nicht, was ihn treibt, sehen aber, das Kleinkunstrhetorik niemandem etwas nützt. Das ist meines Erachtens das einzige reale Problem in dieser Angelegenheit. Umso bedauerlicher ist es, wenn der Stroemfeld-Twitter nun mitjonglieren möchte. Das Kafka-Zitat wird zum Diabolo. So schön, so billig.
Im übrigen vertrete ich in der eigentlichen Sache seit je wie jede/r, der/die über Open Access reflektiert hat, die Auffassung, dass das Verfahren nicht für alle Fachgemeinschaften gleichermaßen das Mittel der Wahl sein kann und daher pauschale und disziplinäre Besonderheiten ignorierende Verordnungen nicht das Mittel der Wahl sein können.
Ich finde es obendrein sogar sehr schön, dass es auch Kleinverlage wie Stroemfeld gibt und habe die Regale daheim eher zu voll mit dem, was manchmal etwas großspurig als „das gute Buch“ bezeichnet wird. Ob dieses geschätzt wird oder nicht, hat reichlich wenig mit Digitalisierung und Open Access zu tun. Peter Kurzeck verkauft sich sicher exzellent (jedenfalls in meiner Peer Group) und völlig unbeeindruckt von Repositorien und digitalen Semesterapparaten. Die Zeitschrift Text. Kritische Beiträge wird nach wie vor Dutzenden Bibliotheken subskribiert und ist aller Erwartung nach Lichtjahre davon entfernt, zum e-Journal zu werden. Ob Stroemfeld überlebt oder nicht, zeigt sich, so jedenfalls mein Verständnis, eher auf dem Buchmarkt und in betriebswirtschaftlicher Kompetenz und nicht mittelbar an einem Projekt zu den Möglichkeiten digitalen Publizierens für die Geisteswissenschaften. Dies er- und bekannte übrigens auch etwas öffentlich, was eigentlich die Aufrichtigkeit des Dialogangebotes alle, die die Entwicklung mit Sorge betrachtet, unterstreicht:
Entscheidend ist eine bewusste, idealerweise systematisierte und übergreifend diskursive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Grenzen und Folgen digitaler Publikationsmöglichkeiten in Rückbindung an konkret feststellbare Bedarfe der Publizierenden.
Warum wir so etwas nicht nur allgemein sondern auch der DFG gegenüber vorheucheln sollten, bleibt ein Rätsel der Fantasie der Stroemfelder Sicht.
Mir bleibt auch nach langer Beschäftigung mit dem digitalen Publizieren in der Wissenschaft, nur festzustellen, dass in den Geisteswissenschaften beide Welten heute völlig gleichberechtigt nebeneinander stehen, etwas, das ich sehr begrüße. Und sicher ist, dass wirklich niemand dem Stroemfeld Verlag den Untergang wünscht.
Möglicherweise bin ich daher besonders motiviert, erfahren zu wollen, wieso der Kummerbund des Frankfurter Verlagshauses offenbar so sehr drückt, dass es mich ohne Rücksprache öffentlich bloßzustellen und meine Position als nicht diskursfähig abzuwerten versucht. Es wird mir zunächst ohne Not ein Interessenkonflikt angedichtet, dann Böswilligkeit unterstellt und schließlich vorsätzliche Lüge und Heuchelei vorgeworfen.
Irgendwann nimmt man so etwas vielleicht sogar persönlich und staunt zugleich, wie amateurhaft hier ein angesehner Verlag ein öffentliches Medium benutzt und sich zugleich noch ein paar Namen herausschleudert, die einzig Distinktion in einer Weise aufbauen kann, wie man es eigentlich nur aus vergangenen Tagen vom Kleinbürgerbücherbord kennt. Für den öffentlichen Auftritt eines Verlags wie Stroemfeld ist das aus meinem Verständnis heraus schon geradezu tragisch und auch der Rest des Kommunikationsmanagements in diesem Fall überraschend plump.
Da den zugleich Trolligkeiten des Twitter-Verantwortlichen satt und zugleich gewillt, zu keiner weiteren Eskalation beizutragen, entschloss ich mich am Freitagabend per E-Mail höflich darauf hinzuweisen, dass mir das Ganze etwas unwürdig erscheint. Darüber hat man in der Holzhausenstraße offenbar herzlich gelacht. Und es folgendermaßen kommentiert:

Die Botschaft der Twitterkommunikation des Stroemfeld Verlags: Du lügst. Deine Stimme zählt nicht. So reden im Normalfall Leute, die ganz viel von dem durchschauen, worüber man nicht reden darf.
Wer „faseln“ sagt, meint leider „Halt das Maul!“
Meinen Brief an den Verlag veröffentliche ich der Vollständigkeit halber nachstehend mit einigermaßen Fassungslosigkeit darüber, mit welcher Arroganz ein durchaus angesehener Verlag seinen offensichtlichen Hass auf eine Welt, die ganz und gar nichts mit seiner zu tun hat, durch Twitter hinaus ventiliert. Das nun wirklich wiederholte Angebots eines Dialogs, dessen Zweck andere Verleger problemlos verstehen, wird von wem auch immer mit Zugangsrechten zum @stroemfeld-Twitter mit einer trüben Selbstüberhöhung abgekanzelt, die, so muss man es leider sagen, unter allem Niveau ist. So streut man Gift in die Debatte und disqualifiziert sich im Prinzip selbst. Aber den Köder schlucke ich natürlich nicht. Ich werde auch weiter selbst in den dadaistischsten Verlautbarungen aus Heidelberg und Frankfurt kein zynisches Kalkül sondern höchstens in der Argumentation sehen und höchst wohlwollend schauen, ob sich etwas zur Sache entdecken lässt.
Dennoch bleibt unverständlich, warum sich der Verlag derart grotesk entblösst. Die Siggenthese #4
Der Streit um Open Access ist kein Streit um technische Formate, sondern um Status und verschwindende Disziplinengrenzen. #Siggenthesen #4
könnte einen Erklärung andeuten. Aber genauer wird man die Ängste der Stroemfelds und vielleicht noch einiger anderer erst verstehen, wenn sich deren Vertreter dazu herablassen, etwas Substantielles zur Debatte beizutragen. Der Kommentarbereich dieses Weblogs steht dafür gern zur Verfügung.
Dokumentation der E-Mail an KD Wolff und Rudi Deuble vom 04. November 2016
Sehr geehrter Herr Wolff, sehr geehrter Herr Deuble,
ich schreibe Ihnen kurz, weil ich Ihre Arbeit seit langem mit großem Respekt und hin und wieder auch per Erwerb des einen oder anderen Titels aus Ihrem Programm verfolge. Gerade deshalb ist es mir wichtig, Sie darauf hinzuweisen, dass es auf Außenstehende nicht sonderlich souverän wirkt, wenn der offizielle Twitter-Account des Verlages und der private Account Ihres Lektors gleichermaßen öffentlich über eine Privatperson, also mich, verbreiten, dass sie ein Lügner und ein Heuchler sei, vgl. https://twitter.com/Stroemfeld/status/794482789747949569
Twitter ist ein offenes und informelleres Medium und eine seiner großen Stärken liegt in der schnellen und ungezwungenen Möglichkeit zur Diskussion. Ich nehme das gern an. Die Grenze verläuft wenigstens aus meiner Sicht dort, wo es beleidigend wird und eine versuchte Rufschädigung naheliegt. Das Problem ist, dass Sie, in dem diese Aussagen über den Verlagsnamen getätigt werden, vor allem auch Ihre Marke einer Beschädigung aussetzen. Ihr Verlag begibt sich mit der pauschalen Unterstellung, jemand der seine Meinung erläutert, die hier und da von Ihrer Position abweichen mag, würde lügen, in ein Umfeld, in dem Sie sich ganz bestimmt nicht wiederfinden wollen. Das kann also nicht in Ihrem Interesse sein und in meinem ist es auch nicht.
Ich versichere Ihnen, dass mein Interesse an einem Dialog über mögliche Auswirkungen des Einflusses digitaler Technologien auf die Wissenschaft und das wissenschaftliche Publizieren für das Verlagswesen in Deutschland aufrichtig ist. Mein an verschiedenen Stellen geäußertes Gesprächsangebot gilt nach wie vor. Sie müssen es nicht annehmen. Ich möchte Sie aber in jedem Fall bitten, von weiteren abqualifizierenden Bemerkungen zu meiner Person in Zusammenhang mit meinen Positionen in diesem Diskurs abzusehen. Vielleicht mögen Sie das auch an Herrn Losse ausrichten.
Mit herzlichen Grüßen aus Berlin,
Ben Kaden
(Berlin, 07.11.2016)
Ragoût brusque. Roland Reuß erinnert in der FAZ daran, dass er Open Access immer noch verachtet. Aber wie.
Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)
zu: Roland Reuß: Staatsautoritarismus, groß geschrieben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2016, S. N4 (online)
Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wandert Roland Reuß mit seinem Open-Access-Unverständnis und einer blütentreibenden Rhetorik zwischen den Seiten des Feuilletons und des Wissenschaftsteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hin und her. Was offenbar leider dazu führt, dass er in seiner Argumentation stagniert. Immerhin scheint er wieder etwas mehr Engagement in seine sprachlichen Bilder und Schöpfungen zu stecken (diesmal, u.a.: Blauäugigkeit 4.0) wenngleich er die ganz überraschenden Wendungen, wie beispielsweise sein bemerkenswerter rhetorischer Doppelschlag sowohl gegen das organisierte Verbrechen (Content-Mafia) wie auch die Remixkultur (Content-DJs, vgl. für beide boersenblatt.net vom 15.Juli 2009) nicht zu wiederholen imstande ist. Es wird aber naturgemäß auch einfach schwerer nach den frühen Punktlandungen, die hohen Erwartungen immer zureichend zu bedienen. Die Frequenz der Neuwörter zwischen Staatsautoritarismus (Titel) und Oligopolverlagen (vorletzter Satz) stimmt jedenfalls.
Denkbar, dass man ihm vor allem deshalb in Frankfurt augenscheinlich derart zureichend die Treue hält, um ihm ohne Zögern einen Doppelspalter in den immer schmaler und zugleich teurer werdenden Ausgaben des Blattes freiräumt, damit er seine Textkritik zu einem Interview, das Johanna Wanka der WELT gab, entfalten kann. Und zu Recht. Wir zahlen allein aus Gründen der Vollständigkeit unserer Sammlung gern die 2,60 Euro. Inhaltlich jedoch können wir kaum mehr dazu sagen als vor einem Jahr.
Man muss auch einräumen, dass der Literaturwissenschaftler im letzten Absatz einen in der Tat wichtigen Punkt berührt, wenn er auf die problematische Rolle der großen Wissenschaftsverlage im Bereich Gold-Open-Access verweist. Leider fehlt ihm jedoch der Differenzierungswillen, um etwas mehr als eine allseits bekannte Tatsache aus diesem Punkt herauszuarbeiten und die Kritik zu fokussieren. Es scheint fast so, als hätte er Angst davor, dass ihn der Fachdiskurs zur Sache ernst nehmen könnte.
Stattdessen schimpft er in gewohntem Stil auf „popelige T-Shirts“ und sieht die Idee der „Bildung“ (in Ausrufezeichen bei Roland Reuß) aus dem entsprechenden Ministerium verschwinden, wohlweislich ignorant dafür, dass es bei Open Access nicht um Bildung geht, sondern um die Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse und zwar in der Regel unter Akteuren, die bereits ausgebildet sind.
Wir leben nun unbestreitbar im Zeitalter des Populismus und überall demolieren idiosynkratische Figuren die Idee des diskursiven Fortschritts, indem sie mit Clownerien und bar jedes Verständnisses für Fakten, größere Zusammenhänge und kategoriale Abgrenzungen mit Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Provokationen herumschleudern. Aber bei allem Kopfschütteln über Roland Reuß und seine Emphase im Kampf für eine Wissenschaft nach seinem Bilde will man ihm doch unterstellen, dass er sich nicht nach Zugehörigkeit zu dieser illustren Gesellschaft sehnt.
Deshalb muss man Passagen wie die nachfolgend zitierte, die zweifellos der Höhepunkt dieser aktuellsten seiner zahllosen Widerständigkeiten ist, eher mit dem gnädigen Blick des Verständnisses dafür lesen, dass hier jemand, nicht immer erfolgreich aber doch immer bemüht, der eher literarischen Seite einer Tradition des Stilmittels der Polemik frönt und dabei nicht lange fackelt. Oder doch?:
Die publikationsbegleitende Audienz, die Bildungsministerin Wanka der „Welt“ in Gestalt eines Interviews gab, lässt […] tief blicken. Es handelt sich um ein schwer goutierbares Ragout aus krud neoliberalen Vorstellungen von Wissenschaftsmärkten („Monitoring“ darf, natürlich, nicht fehlen), virtueller DDR 5.0 (mit Enteignung der geistigen Produktion) und Staatsautoritarismus wilhelminischer Anmutung. Man weiß gar nicht, ob man mehr über die Blauäugigkeit der das hypertrophe Selbstbewusstsein staunen soll, das in der gewährten Fragestunde zum Ausdruck kommt. Open Access erscheint da auf einmal, seltsam fortschrittsbeschwipst, als Einlösung des auf Grund gelaufenen Atomenergieversprechens der fünfziger und sechziger Jahre: „Moderne Innovationen können den Alltag zunehmend vereinfachen, unsere Ökosysteme entlasten und die Gesundheit der Menschen fördern.“ [Hervorhebung vom Autor]
Nun ist die zitierte Aussage eine, deren Aussagewert so kontextlos abgebildet zwangsläufig gegen Null tendiert. Und es gibt sicher Gründe, warum man nicht unbedingt traurig ist, dass die WELT das Interview hinter einer Paywall versteckt, weshalb man auch nicht den direkten Vergleich zum Neuen Deutschland anno 1985 suchen kann, der nahe liegt, da Roland Reuß aus irgendeiner Echokammer „meint[,] das ZK der SED zu hören“.
Zu befürchten ist freilich, dass der Urheber des Heidelberger Appells nichts von der DDR weiß, außer, dass sie furchtbar war und dass man in den 1980er Jahren jeden Bundesbürger mit dem Verweis auf die Bedingungen drüben gehörig erschrecken konnte. Im Jahr 2016 ist dieser Popanz auch mit 5.0 allerdings so einschüchternd wie ein Spuk unterm Riesenrad. Wenn die FAZ-Redaktion ein bisschen Zeitgefühl hat, dann redigiert sie ihrem Stammautor dieses Metaphernungetüm bei den sicher bald folgenden Tiraden und Polemiken besser aus dem Text. Zumal dadurch auch endlich mehr Platz für klare Aussagen und triftige Argumente bleibt und sichtbar werden könnte, wie viel Roland Reuß eigentlich von wissenschaftlicher Kommunikation mit digitalen Mitteln versteht.
(Berlin, 28.09.2016)
Von Geeks und Büchertanten.
Ein Kommentar von Juliane Waack (@Jules_McCloud)
Im Rahmen des #inetbib16, kurz für die 13. InetBib-Tagung in Stuttgart, die vom 10. bis 12. Februar stattfand, geisterte ein Zitat von Bernd Schmid-Ruhe, Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek, durch die Twitter-Sphere: „Wir brauchen mehr Geeks und weniger Büchertanten.“
Wir brauchen mehr Geeks und weniger Büchertanten in Bibliotheken sagt @beschruh #inetbib16
— Ute Engelkenmeier (@engelken) 11. Februar 2016
Diese Formulierung ist, gelinde gesagt, ungeschickt. Da kann man sich gegenüber kritischer Einwände jetzt ganz unelegant damit herausreden, dass es überspitzt formuliert wurde, also gar nicht so gemeint war, im Kontext ganz anders war und sowieso ironisch zu verstehen ist und überhaupt, versteht denn niemand hier Spaß?
Nun, Spaß schon, aber Sexismus eher weniger.
„Wir brauchen weniger Geeks und mehr Büchertanten“ ist also eine dieser Formulierungen, die für Diskussionen sorgen sollen. Nichtsdestotrotz sollte man selbst in diesen ankurbelnden Buzzword-triefenden TED-Talk-Aussagen Begriffe verwenden, die man auch so im normalen Diskurs verwenden würde, ohne sich danach erklären zu müssen.
Wer Stereotype und Klischees verwendet, ohne Alternativen zu nennen, der kann sie noch so ironisch meinen, sie werden sich weiterhin in den Köpfen festsetzen. Wer sich ein wenig mit der psychologischen Theorie dessen beschäftigen will, kann dazu tief eintauchen (etwa hier), denn insbesondere in den amerikanischen Rassismus-Debatten hat sich diese Thematik als sehr fruchtbares Studienthema herausgestellt. Um es kurz zu fassen: selbst die humoristische Verwendung von Stereotypen verunsichert die Personen, die davon betroffen sind, verändert ihr (natürliches) Verhalten und nagt außerdem am kulturellen Selbstbild. Zusätzlich sorgt das Auslassen einer Alternative dafür, dass es dennoch nichts weiter als dieses Stereotyp im Diskussionsrahmen gibt (und nein, der „Geek“ ist keine positive Alternative zur „Büchertante“, das wäre höchstens die „Digital Native Büchertante“).
Das wirklich Ärgerliche an der Unterscheidung zwischen „Büchertante“ und „Geek“ ist offensichtlich: das eine ist eindeutig einem Geschlecht zugewiesen, das andere eher nicht, wird jedoch vorwiegend und gerne für Männer verwendet. Sprich: Bibliothek und Bibliothekswissenschaft brauchen anscheinend mehr hippe coole Start-up, Silicon-Valley-Typen (an sich schon eine Einöde, was Diversität angeht) und soll sich von diesen lahmen Bibliothekarinnen verabschieden.
Die müssen sich in diesem Zusammenhang seit eh und je im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen mit Konnotationen auseinandersetzen, die durchgehend auf ihr Aussehen und ihre Rolle als entweder reizlose alte Jungfer oder übersexualisierte Männerfantasie konzentriert wird. Kompetenzen, Qualifikationen und Intelligenz werden nur marginal betrachtet, wenn man sich mit „Büchertanten“ auseinandersetzt und selbst dann sind sie der Grund, warum die „Tante“ noch Single ist (wer mag schon kluge Frauen, igitt).
Wer sich einmal die Rollen von Bibliothekar/innen in Film und Fernsehen ansieht, der wird schnell erkennen, dass vorwiegend Frauen in dem nicht sehr schmeichelhaftem Klischee-Korsett gefangen sind und das seit mehr als 60 Jahren, wie Julia A. Wells in ihrem Essay „The Female Librarian in Film: Has the Image Changed in 60 Years?“ (PDF) hervorhebt.
Bibliothekarinnen sind im popkulturellen Rahmen streng, freudlos und alleinstehend oder aber im krassen Gegensatz nur dazu da, mit knappen Outfits die Wünsche bzw. Fantasien der männlichen Besucher zu erfüllen. Kurzum: die Tätigkeit alleine suggeriert vielen ein frauenfeindliches Bild, das – wenn wir mal ehrlich sind – auch der Bibliothek und deren Wissenschaft keinen Gefallen getan hat und tun kann.
Wer (mit dieser Aussage ausschließlich) Frauen durch absurde Klischees und Stereotype einen Stempel aufdrückt und ihnen sowohl technisches Know-how, Zeitgeist als auch moderne Ansätze abspricht, der sorgt für eine wenig einladende Atmosphäre im Studiengang, der Wissenschaft und dem Berufsfeld. So sehr sich stolze „Büchertanten“ den Begriff zurückholen wollen, um ihn mit positiven Konnotationen zu besetzen (smart, belesen, organisiert und sozial), so sehr sabotiert ein derartiger Sprachgebrauch diese Bemühungen.
Wer heute noch abfällig das Wort „Streber“ in den Mund nimmt, offenbart sich ebenso als intellektuellenfeindlich wie sich ein „Büchertanten“-Denunziant als latent frauenfeindlich angreifbar macht (natürlich spielt bei derartigen Aussagen immer die Intention eine Rolle, gleichfalls stellt sich jedoch die Frage, warum ausgerechnet dieses Wort so locker auf der Zunge lag).
Wer die Bibliothek ins 21. Jahrhundert bringen möchte, der muss sich nicht der engagierten Wissenschaftlerinnen und Bibliothekarinnen entledigen, sondern der Hürden und elitären Ansätze, die scheinbar fortschrittliche, aber eigentlich völlig anachronistische Trend-Berater so von sich geben. Die Bibliothek braucht nicht mehr Geeks, sondern sie muss als Arbeitsplatz und als Wissenschaftsbereich attraktiver für intelligente und aufgeschlossene Menschen werden, die sozial und zukunftsweisend zugleich denken können. Dafür braucht es Anreize, die nicht nur per Nützlichkeitsmessung oder Image-Optimierung zu bestimmen sind, sondern vor allen Dingen einen Diskurs, der nicht mehr als die Hälfte aller Beteiligten mit derartigen, auf Abgrenzung zielenden Sprüchen vor der Tür stehen lässt.
(Berlin, 17.02.2016)
Bibliotheksgeschichte aktuell: Ein Blick auf Rafael Ball und Ideen zur Literaturversorgung im Jahr 1997.
Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)
Man ist geneigt, in Rafael Ball, den Direktor der Bibliothek der ETH Zürich, nach seinen jüngsten Äußerungen einen nur mit begrenzter Bodenhaftung ausgestatten Radikaldenker des zeitgenössischen Bibliothekswesens zu sehen. Im Prinzip folgt er jedoch, und auch das muss man anerkennen, einer bibliothekstheoretischen Ideenwelt, die einmal sehr progressiv war. (Und, wir erinnern uns, gegen massive Vorbehalte ankämpfen musste.)
Deutlich wird dies ein wenig beim Blick in die Bestände mit Ausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er verfasste für die Zeitung über einige Jahre nämlich mehr als 50 Artikel zu diversen Wissenschafts- und Bibliotheksthemen. In diesem journalistischen Schaffen lassen sich unschwer die Vorläufer dessen erkennen, was seine aktuellen Äußerungen heute motiviert. (more…)
Open Access zerstört die Wissenschaft. Meint Urs Heftrich in der FAZ.
Eine Anmerkung zu: Urs Heftrich: Studieren geht über kopieren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.2016, S. 14. online bei faz.net
von Ben Kaden (@bkaden)
Auch an einem schönen Freitag wie diesem gibt es manchmal traurige Nachrichten. In der FAZ nämlich meldet der Heidelberger Slavist Urs Heftrich: „Open Access macht alles kaputt – die Verlage, die Bücher, die Wissenschaft“. Das kann man erstmal so stehen und wirken lassen und sich an die seit Jahren verkündeten Untergangsentwürfe von Roland Reuss und Matthias Ulmer erinnern. Zweiterer gehört nämlich auch in diesen Kontext, da Urs Heftrich seinen Feuilleton gewordenen Albdruck mit dem mittlerweile berühmten Fall der elektronischen Leseplätze an der TU Darmstadt eröffnet.
Heute, so rechnet der Autor vor, können sich Studierende für den Preis eines USB-Sticks, den er bei fünf Euro ansetzt, 400.000 Seiten Digitalisat in die Tasche stecken, „hinter denen die oft jahrelange Arbeit mehrerer Personen steckt“, was auch immer das heißen mag. Aber nicht nur das. In Urs Heftrichs dystopischer Mediennutzungswelt werden diese Seiten dann von den Studierenden umgehend auf Filesharingseiten angeboten. Und dann? Na ja, dann rollt die „Lawine“, die wohl dafür sorgen wird, dass niemand mehr geisteswissenschaftliche Fachliteratur kauft, weil es so viel Freude bereitet, aus dem Internet schwarz heruntergeladene Scans zu lesen… (more…)
Wie Roland Reuß lesen? Eine Textkritik.
von Ben Kaden (@bkaden)
Dass Roland Reuß für den Diskurs ein hochmodernes und leider auch hochermüdendes Stilmittel bevorzugt, nämlich die Polemik, ist allen bekannt, seit er auf seinen Durchbruchstext zum Thema Open Access (Roland Reuß: Eingecremtes Publizieren: Open Access als Enteignung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.2009, Nr. 35, S. N5) die Abschaffung der Idee des Individuums und vielleicht sogar des alten Europas durch die Wissenschaftspolitik voraussagte:
„Wer hier anfängt, blind und ohne Reflexion auf die Folgen rumzufuhrwerken, legt die Axt an die Wurzel dessen, was das alte Europa einmal „selbständiges Individuum“ genannt hat. Niemand kann das wollen.“
Gudrun Gersmann, zu dieser Zeit Vorsitzende des Unterausschusses »Elektronische Publikationen« der Deutschen Forschungsgemeinschaft, antwortete damals und zwar ausdrücklich nicht in ihrer DFG-Rolle sondern mit einem Erfahrungsbericht aus dem Deutschen Historischen Institut in Paris ebenfalls in der FAZ. Ihre Replik fiel bemerkenswert geduldig und gelassen aus. (Gudrun Gersmann: Wer hat Angst vor Open Access? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2009, Nr. 41, S. N5) Zum Ende hin lobte sie noch einmal das utopisch-emanzipative Potenzial von Open Access: (more…)
Neues von der Digitalkritik. Zu einem aktuellen Text Evgeny Morozovs.
Eine Notiz von Ben Kaden / @bkaden.
Das BOOKFORUM ist eine dieser Zeitschriften, die regelmäßig auf einem hohen Niveau genau den Kulturjournalismus publizieren, den man sich vom Zeitungsfeuilleton wünschen würde. Allerdings muss dieses täglich liefern, während das BOOKFORUM zweimonatlich in die Verkaufsregale gelangt, dafür dann aber weniger kostet als eine Woche Tagespresse.
Beiträge wie die dahingeschnurrte Ode auf das E-Book des Informatikers John Hennessy, welche die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus einem unerfindlichen Grund in ihrer Reihe über die Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Geisteswissenschaften (vgl. dazu auch LIBREAS.Weblog vom 12.03.2014) eingeordnet hat und daher auch in der Wissenschaftsbeilage am Mittwoch druckte, fänden da sicher keinen Platz. Was, bitteschön, haben diese beiden zweifellos fantastischen kalifornischen Life-Hacks mit der Digitalisierung der Geisteswissenschaften zu tun:
„Die große Schrift auf meinem E-Reader bietet den Vorteil, dass ich auf dem Crosstrainer lesen kann und am Ende den Eindruck habe, die halbe Stunde sei schneller vergangen und noch sinnvoller genutzt. Und beim gedimmten Schein eines Lesegeräts um zwei Uhr nachts wecke ich meine Frau nicht auf, was bei der offenbar altersbedingt zunehmenden Schlaflosigkeit ein enormer Vorteil ist.“
Dass die Sacherschließung der FAZ aus der ziemlichen trivialen Sonnenscheinlektüre extrahiert:
„Themen zu diesem Beitrag: George Washington | Nelson Mandela | Steve Jobs | Studenten“
von denen drei Themen (Namen) auf Bücher, die John Hennessy gerade las, verweisen und nichts mit dem Artikel sonst zu tun haben und die Studenten nur als Zielgruppe auftauchen, vor denen der Informatikprofessor seine Leseerlebnisse gern präsentiert, ist eher ein Beispiel für die Grenzen digitaler Inhaltsverarbeitung. Allerdings ist eindeutig, dass die Themenzuschreibung gar nicht dokumentarischen Zwecken dient, also der Orientierung von Leser und Nutzer, sondern der Suchmaschinenoptimierung.
Dennoch: Weder einen Geistes- noch einen Dokumentationswissenschaftler (und nicht einmal einen SEO-Experten) versetzen solche halbhoch in den Diskurs durchgeschossenen Textphänomene anders als verärgert, jedenfalls wenn derartige Artikel mit dem Anspruch in die Welt gesetzt werden, etwas Reflektiertes über die Gegenwart darzustellen.
Selbstverständlich finden sich in den Ausgaben des BOOKFORUMs genauso zahllose Aspekte, mit denen man nicht blindlings mitgehen möchte, allerdings meistens doch auf handwerklich deutlich höherem Niveau und daher ganz anders anschlussfähig an den Diskurs, den man führen möchte und um den es ja eigentlich in derartigen Medien gehen soll.
In der aktuellen Ausgabe bespricht nun der mit seinen Thesen nicht immer ganz unumstrittene Evgeny Morozov das Buch The People’s Platform: Taking Back Power and Culture in the Digital Age der Kanadierin Astra Taylor, die vor einigen Jahren mit ihrem Dokumentarfilm Zizek! bekannt wurde und die uns im Vorwort noch einmal an eine zentrale Erkenntnis der Ernüchterung erinnert, welche sich spätestens vor einer Dekade und allerspätestens mit dem reifenden Web 2.0 durchsetzte :
“In some crucial respects the standard assumptions about the Internet’s inevitable effects have misled us. New technologies have undoubtebly removed barriers to entry, yet, […] cultural democracy remains elusive. While it’s true that anyone with an Internet connection can speak online, that doesn’t mean our megaphones blast out our messages at the same volume. Online some speak louder than others. There are the followed and the followers. As should be obvious to anyone with an e-mail account, the Internet, though open to all, is hardly an egalitarian or noncommercial paradise, even if you bracket all the porn and shopping sites.” (Taylor, 2014)
In seiner Review zum Buch, die angesichts dessen, das ihm, wie die Textstelle andeutet, ein eher zahmes Stück Rotwild vor die kritische Flinte geführt wird, recht milde ausfällt (“why set the bar so low?“), vermerkt Morozov an einer Stelle einen Bezug zu Bibliotheken und der soll hier, wenn er beim close reading schon auffiel, dokumentiert werden.
Auf die, besonders aus europäischer Sicht, sehr berechtigte Frage, warum es keine (zu Google) alternative, nicht-kommerzielle und also auf das Geschäftsmodell Werbung setzende Suchmaschine gibt, die in nennenswerten Umfang genutzt wird, (denn selbstverständlich gibt es nach wie vor Alternativsuchmaschinen, wobei beispielsweise die durchaus etwas verbreitet zu nennende holländische www.ixquick.com ja auch Werbeanzeigen in die Ergebnislisten integriert, wo es nur geht) antwortet Astra Taylor offenbar: weil die Debatte um das Digitale von Menschen dominiert wird, die sowohl als Person wie auch in ihrer Vorstellungskraft beschränkt erscheinen.

In Ermangelung einer besseren Abbildung hier das Zitat der paraphrasierten Textstelle direkt vom Blatt.
Evgeny Morozov, immerhin mittlerweile selbst ein Großkopfeter der Digitaldebatten, antwortet: Das mag schon sein. Die Ursache liegt aber noch auf einer elementareren Ebene. Die Menschen hungert und dürstet nicht gerade nach Alternativen, so wie es sie, meint Morozov, auch nicht nach öffentlicher Bildung und öffentlichen Bibliotheken hungert und dürstet.
Empirisch wird hier unhaltbar über einen sehr grob gezähnten Kamm geschoren, aber darauf nehmen Digitaldebatten, die rohwollige Argumente lieben und brauchen, bekanntlich eher selten Rücksicht. Der Kern der mehr Ergänzung als Gegenrede ist dennoch zu beachten und passt ein wenig zu dem, was ich vor zwei Wochen hier im LIBREAS-Weblog zum Thema Digital Managerialism zu behandeln versuchte.
Evgeny Morozov richtet seinen Schlaglichtkegel auf das Problem, dass öffentliche Kultureinrichtungen generell geschwächt werden (was oft mit der Begründung / Selbstberuhigung der Entscheidungsträger erfolgt, eine mystische Freeconomy des Internets böte vollumfänglich kostensparendere und zugleich attraktivere Alternativen) und dies bevorzugt unter der direkten Anbindung solcher Institutionen in einen Wettbewerbskontext, der sie kategorial eigentlich gar nicht erfassen sollte.
„Market knows best”, so das Mantra, auf das Morozov verweist und das, so lässt sich ergänzen, trotz allem Long-Tail-Geklapper, bestimmte Nischen dauerhaft vermauert, weil es am Markt trotz allem zumeist am besten über die Marge des schnellen Massendurchsatzes funktioniert. Was langsam in Produktion, Konsumption und Wirkung ist und dazu auch noch viel kostet, bleibt entweder etwas für eine Elite oder verschwindet, wie die Nicht-Flagship-Stores in der Alten Schönhauser Straße, in der offenbar die Lage gar nicht mit eigentlichen Umsätzen sondern nur noch aus dem Werbeetat finanzierbar wird.
Es ist mittlerweile offensichtlich, wie sich dieser neoliberale Schliff der Perspektive (Wachstum, Reichweite, Page-Impressions, Viralisierung) hervorragend mit den immateriellen und dennoch zählbaren digitalen Aktivitäten der Menschen integrieren lässt, zumal die hochdynamische Ressource Aufmerksamkeit sogar noch zuhauf unabschätzbare Emergenzen und damit Chancen (bzw. Business-Opportunities) verspricht.
(Die Modeläden in Berlin-Mitte funktionieren auch häufig mehr als Showroom für einen Online-Shop, über den dann das eigentliche Geschäft gemacht wird, weshalb man auch fast immer gebeten wird, die E-Mail-Adresse für ein „exklusives” Kundenprofil zu hinterlegen (10%-Rabatt, einmal im Jahr als Gegenleistung) – der Konnex wird gleich vor der Haustür sichtbar.)
Morozov ist weitgehend beizupflichten, wenn er betont, dass sich der neoliberale und der Digitalitätsdiskurs überschneiden und gegenseitig verstärken und dass diese Effekte auch auf nicht primär digitale Räume zurückwirken und damit zugleich auf öffentliche Bibliotheken, die sich zwar (wenigstens in Deutschland) dank Onleihe, einer versunkenen Bibliothek-2.0-Partizipations-Schimäre und dem Zeitgeistdiskurs eine Digitalkur verordnet haben, die aber keinesfalls totalisierend auf die Institution wirken muss. Entgegen der landläufigen Einschätzung sind die Menschen in Deutschland nämlich noch gar keine John Hennessys, die ihre Erfüllung darin finden, die tägliche halbe Stunde körperliche Selbstoptimierung auf dem Cross-Trainer dank E-Lektüre „noch sinnvoller” zu nutzen.
Für den Diskurs, sogar für den zu den so genannten Digital Humanities (bzw. digitalisierten Geisteswissenschaften), streut Evgeny Morozov gegen Ende seiner Review noch ein weiteres Körnchen Kritik ein:
„In fact, the presumed theoretical novelty of such terms [er bezieht sich hier konkret auf „digital sharecropping“, das man im WWW als Digitale Naturalpacht übersetzt findet, vgl. auch Carr, 2012] – invariably appended by qualifiers like „digital“ – isn’t genuine. It serves mainly to distract us from more lucid frameworks for understanding how power works today.”
Eine ideale öffentliche, also auf das Phänomen einer aufgeklärten Öffentlichkeit gerichtete (vgl. dazu auch Schulz, 2009, S. 52ff.), Bibliothek würde sich möglicherweise statt dem sanften Mythos der Digitalkultur mehr oder weniger treuherzig hinterherzuwuseln, genau auf diese Frage, nämlich der Möglichkeit eines Durchdringens gegenwärtiger Machtstrukturen und Machtbestrebungen, konzentrieren und ihren Nutzern die Materialien in der Form bereitstellen, die für diesen Blick vor, durch und hinter die Kulissen notwendig ist. Dazu zählen Besprechungen wie die Morozovs und an guten Tagen auch noch die, na ja, Qualitätspresse, also so etwas wie die FAZ. Dazu zählt auch, wie Morozov betont, ein Hinterfragen der Sprache selbst, in die wir den Diskurs einspannen:
“In reframing long-running political debates around impressive-sounding but mostly empty concepts like the „digital“, even those Internet pundits who lean to the left end up promoting extremely depoliticized, neoliberal agendas.”
Wie sehr die von Haus aus sprachsensiblen Geisteswissenschaften und vielleicht darin eingebettet eine entsprechend sprach- und diskurskritisch operierende Bibliothekswissenschaft hier aktiv werden könnten, bevor sie sich, bisweilen leider förderpolitisch getrieben, oft mehr mit neuen Labeln als mit neuen Paradigmen digitalkulturell metamorphisieren, muss eigentlich nicht weiter erklärt werden.
Akzeptierte man das prinzipielle Verschränktsein des Digitalen, wie wir es heute kennen, mit dem Neoliberalen, dessen Handlungsmuster bereits länger massiv in die Universitäten dringen, und machte man es selbst stärker zum Gegenstand der Erkenntnisarbeit, ginge damit vielleicht sogar ein tieferes Verständnis auch dafür einher, wie die gegenwärtigen Machtstrukturen Wissenschaft korrumpieren. Ein wenig aufgeklärte Widerborstigkeit (nicht zu verwechseln mit unaufgeklärter pauschaler Ablehnung), im besten Fall hin zu eigenen und selbstbewussten Gestaltungsansprüchen könnte nicht zuletzt Prophylaxe für das sein, was die deutschen Tageszeitungen unter dem Druck der Zeitungskrise (und nicht des Journalismus) schon eine Weile bedroht: die Überoptimierung hin zur Irrelevanz. Für Bibliotheken auf dem Weg zu Digitalen Bibliotheken gilt übrigens und wenig überraschend nach wie vor ganz ähnliches.
Der abschließende Vorwurf Evgeny Morozovs an Astra Taylor lautet, dass sie nicht verstanden hat, dass es in der Digitaldebatte (“digital debate”) nichts zu gewinnen gibt, sondern dass man nur aus ihr aussteigen kann. Was Morozov von jedenfalls mir und vielleicht noch ein paar anderen Teilnehmern des Diskurses unterscheidet, ist, dass ich niemandem Unverständnis unterstellen würde, wohl aber ein diskursethisch fragwürdiges Verhalten, denn die Exit-Option ist in keiner Weise fruchtbar sofern die Rahmenbedingungen des Diskurs intakt sind. Wenn uns digitale Kommunikationsräume trotz aller Defizite etwas gegeben haben, dann genau diese Voice-Optionen. (Zur berühmten Hirschman’schen Dreiheit (Hirschman, 1970) fehlt also nur noch Loyalität, die aber in einem offenen Diskurs unpassend ist, da sie der Kritik im Weg steht.)
Und im Gegensatz zu dem offenbar trotz allem ebenfalls im Wettbewerbs- und Kampfparadigma gefangenen Morozov, der glaubt, dass es um das Gewinnen, Verlieren und das Rechthaben, also um Durchsetzung geht, weiß die Diskursgemeinschaft, in der wir uns als Geistes- und Bibliothekswissenschaftler bewegen sollten, dass das Interessante im Verstehen und Durchschauen der Prozesse zu suchen ist, also dem, was Morozov selbst bezüglich des Machtkomplexes oben anspricht. Die Entscheidungen, die beispielsweise notwendig sind, um eine Erweiterung und Modifikation geisteswissenschaftlicher Standardmethodologien oder bibliothekarische Dienstleistungen mit digitalen Technologien angemessen zu steuern und zu begleiten, sollten wir erst dann treffen, wenn wir beim Verstehen, Durchschauen und – auch das – Überdenken der jeweiligen Handlungsziele ein gewisses bzw. wissenderes Niveau erreicht haben. Am Ende könnte das sogar für die öffentlich finanzierte Wissenschaft und die Bibliotheken auch ökonomisch vorteilhafter sein. Wofür man nicht einmal einen Bezug zur Adolf von Harnacks Nationalökonomie des Geistes herstellen muss (vgl. Umstätter, 2009). Aber natürlich problemlos könnte.
Berlin, 02.05.2014
Quellen
Nicholas Carr (2012) The economics of digital sharecropping. In: roughtype.com, 04.05.2012
John Hennessy (2014) Vorzüge des E-Books: Mit Charles Dickens auf dem Crosstrainer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung / faz.net. 28.04.2014.
Albert O. Hirschman (1970) Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge, MA: Harvard University Press
Ben Kaden (2013) Heute in der FAZ. Jürgen Kaube über Evgeny Morozov. In: LIBREAS.Tumblr, 09.12.2013
Ben Kaden (2014) Am Impuls der Zeit. Hans-Ulrich Gumbrecht ringt in der FAZ um ein Verständnis der digitalisierten Gegenwart. In: LIBREAS. Weblog, 12.03.2014
Ben Kaden (2014) Konzepte des Gegenwartsdiskurses. Heute: Digital Managerialism. In: LIBREAS. Weblog, 18.04.2014
Evgeny Morozov (2014) Chip Democratic. In: Bookforum. VOl. 21, Issue 1. S. 9
Manuela Schulz (2009) Soziale Bibliotheksarbeit : „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen.
Astra Taylor (2014) The People’s Platform: Taking Back Power and Culture in the Digital Age. New York: Metropolitan Books
Walther Umstätter (2009) Bibliothekswissenschaft im Wandel, von den geordneten Büchern zur Wissensorganisation. In: Bibliothek – Forschung und Praxis. Band 33, Heft 3. S. 327-332. DOI: 10.1515/bfup.2009.036,
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