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It’s the frei<tag> Countdown. Noch 17 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 24. Mai 2011

In seinem schmalen Bändchen [Gelhard, Andreas / Kritik der Kompetenz. – Zürich : Diaphanes, 2011] zur Kritik der (beruflichen) Kompetenzkonzepte als Nomalisierungs- und Zurichtungstechnik und zum Aufstieg der gleichen Kompetenzkonzepte als Psychotechniken, die „freundlich, aber bestimmt“ zur ständigen Selbstbeobachtung und -regulierung, zum ständigen Vergleich mit anderen und damit auch zum ständigen Abstandnehmen von den Besonderheiten der eigenen Personen anhalten, formuliert Andreas Gelhard seine Haltung vor allem auf der Basis der philosophischen Positionen Kants und Hannah Arendts. Gerade bei Arendt würde das sinnvolle Denken, so Gelhard, als öffentlich verstanden werden – wie es auch Kant forderte –, aber gleichzeitig als einsame Tätigkeit. Wir denken einsam, arbeiten am Schreibtisch, in der Bibliothek, versunken im Lärm der Cafés (um dieses Bild der Avantgarde zwischen Expressionismus und Existenzialismus zu erinnern). Die Bücher, Artikel, Texte, Dokumente und Tabellen entstehen in versunkener Einsamkeit, im besten Fall im legendären Flow; aber sie entstehen für die Öffentlichkeit, für eine öffentliche Prüfung. So die Darstellung bei Gelhard. Arendt würde darauf abheben, das diese Differenz praktisch unüberschreitbar wäre, wenn man den tätig handelnden und damit sich selbst immer wieder neu entwerfenden Menschen als solchen begreifen wollte – was Arendt ja auch tat. (Hierauf hebt auch Ludwig Pongratz im Kontext der Erwachsenenbildung ab, wenn er als „kürzesten Namen“ für Bildung das – von der Buchstabenzahl her selbstverständlich längere – „Unterbrechung“ nennt. [Pongratz., Ludwig A. / Kritische Erwachsenenbildung : Analysen und Anstöße. – Wiesbaden : VS, 2010])

Damit trat Arendt in einen scharfen Gegensatz zur „die Gedanken sind frei“-Behauptung, die sich in der deutschen Geschichte als so bedeutungstragend zeigte (und heute zum Beispiel noch bei Treffen von studentischen Korporationen zum Besten gegeben wird). Die Behauptung, dass sich Gedanken frei entfalten könnten, auch wenn sie nicht ausgesprochen und diskutiert werden können und wenn gleichzeitig alles andere verregelt und doktrinär durchgesetzt sie, die sich in dieser Haltung ausdrücken würde, sei grundfalsch. Denken müsse sich immer wieder äußern und der öffentlichen Prüfung stellen, um als solches überhaupt gelten zu können. Ansonsten bliebe es funktions- und wirkungsloses Wünschen, im besten Falle. Demgegenüber stünde aber das heutige Denken, so Gelhardt weiter, unter der ständigen Anforderung der Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, die zudem durch die Psychotechnik der „Kompetenzmessung“ normalisiert würde, indem a.) eine begriffliche Weite, b.) das Versprechen, alles sei lern- aber auch messbar und c.) die Prüfung mittels standardisierter Tests miteinander verbunden würden.

Es geht Gelhardt kaum um die Frage der Einsamkeit selber, obgleich sie eine große Rolle in der Entwicklung des Denkens spielt. Ihm geht es zu Recht darum, im Anschluss an die Forschungen zum Wissen/Macht-Komplex von Foucault, Kompetenz als Machtinstrument, dass nicht unterdrückt, sondern erschafft, zu analysieren. Es ist allerdings auffällig, dass in der Geschichte des Denkens und des Nachdenkens über das Denken die Einsamkeit der Denkenden immer wieder Thema war und wird. Das gilt nicht nur für das wissenschaftliche und kreative Denken, es gilt immer auch für die alltägliche. Das Bild des Zurückfallens in eine meditative Ruhe, der Spaziergang, am besten irgendwo anders, im Wald, am Meer, in anderen Städten ohne persönliche Verpflichtung, oder der Blick über die schlafende Stadt als der Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden, ist beliebtes Stilmittel modernen Erzählens, egal ob im Roman, in der Kurzgeschichte oder dem Film.

Sicherlich ist zu viel und zu große Einsamkeit negativ besetzt. Depression, als willen- und ziellose Einsamkeit ist endlich dabei, als Krankheit anerkannt zu werden. Nicht selbst gewählte soziale Isolation ist in der Sozialforschung ebenso wie in der Sozialen Arbeit zum anerkannten Merkmal von Armut und sozialer Konfliktlage geworden. Fernab von den Vorteilen für das wissenschaftliche Arbeiten gilt als einer der möglichen Vorteile des Internets, dass es die sozialen Kontaktmöglichkeiten erhöht. Wer nicht selber aus der Einsamkeit austreten kann, gilt als bedauernswert, als Person, der geholfen werden muss.

Doch daneben hat sich die Faszination des weiten, möglichst leeren Raumes, seine Bedeutung erhalten. Da, wo nichts ist, wo Leere herrscht, der Raum, das Denken, die Zeit zum Denken und Handeln wenig eingegrenzt ist, wo es einsam ist, da werden immer noch die wichtigsten Denkvorgänge ausgeführt. Dem Kultus des ständigen Prüfens, Messens, Vergleichens steht das untergründige Anschwellen von Praxen, die leere Zeiten, leere Räume, also Einsamkeiten herstellen, gegenüber. Lange ist zum Beispiel bekannt, dass nicht die Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, die sich möglichst vollständig der Zugriffe durch Evaluationen und Messungen unterwerfen, die größte Qualität hervorbringen, sondern die, welche mit diesen Anforderungen so umgehen können, dass sie sich Freiräume schaffen, und sei es unter Vorspiegelung von Tatsachen. Während sich noch die Politik daran abarbeitet, die Welt und die Dinge vollständig vermessbar zu machen und Teil eder Wissenschaft, der Verbände, der Institutionen, der Öffentlichkeit sich dafür einspannen lassen, gibt es feststellbar immer mehr Akzeptanz dafür, dass auch diese Welle des Messens und Vergleichens es nicht geschafft hat, an das Geheimnis des Denkens zu gelangen. Die Hochschulen schaffen sich und ihren Forschenden immer mehr flexible Räume des Denkens, die Bibliotheken immer mehr flexible Räume des Arbeitens, die Stadtplanung schafft wieder mehr öffentliche Plätze oder ermöglicht die Umnutzung ehemals standardisierter und auf eine Aufgabe zugeschnittener Räume. Die Gesellschaft kommt – wieder einmal, muss man nach der Lektüre von Gelhards Bändchen sagen – zurück in die selbst-bestimmt nutzbare Fläche und das selbst-schaffende Denken kommt über Umwege wieder in die Hochschulen und die Forschung. Das ist nicht ungebrochen und wird es auch nie sein.

Aber Flächen und Zeiten der Einsamkeit enthalten heute wieder das Versprechen, sinnvoll durch die Individuen genutzt zu werden, wobei sinnvoll wieder mehr heißt: sinnvoll für die Individuen, die Gesellschaft. Die Idee der ständigen Leistungsbereitschaft als Qualitätsmerkmal erübrigt sich langsam, weil die Gesichter, die wir in den letzten Jahren mit dieser Anforderung verbunden hatten, nach und nach abgehen – seien sie überführte Plagiatoren und Plagiatorinnen, seien sie immer unerfolgreicher um Aufmerksamkeit buhlende Politikerinnen und Politiker, seien es Managerinnen und Manager, Beraterinnen und Berater die zur Karikatur ihrer selbst verkommen zu sein scheinen. Auch hat sich die erzwungene Geselligkeit der letzten Jahre nicht als ewig haltbarer Zustand erwiesen. Weder die Fanmeilen noch die alles umfassenden Strandbars noch die zahllosen Kulturevents und langen Nächte der XZY (Museen, Bibliotheken, Oper und Theater, Wissenschaft, Bücher, Kinos, in Wien letztens sogar der Anarchie) konnten die Gesellschaft zu einem Gemeinsamen formen. Die Gesellschaft, die Menschen, mit all ihren sozialen Gegensätzen wollen immer mehr ihre Ruhe haben und erstaunlicherweise haben sie sich diese in der letzten Zeit auch wieder erkämpft.

Wie werden sie diese Ruhe nutzen? Diese potentielle Einsamkeit? Zukunftsoffen? Senierend? Vergeudend? Von allem etwas – wird wohl die richtige Voraussage sein. Aber das enthält die Möglichkeit, dass Einsamkeit wieder mehr genutzt wird, um zurückzutreten und als Wissenschaft darüber nachzudenken, warum die Dinge sind, wie sie sind, warum sie funktionieren, wie sie funktionieren. Und nicht, wie sie sofort und zugleich zu steuern seien, um die richtigen und vorallem schnell zu überprüfenden und vergleichbaren Ergebnisse zu erhalten.

Es hat seine Zeit gedauert und bedurfte sozialer Auseinandersetzungen, aber heute ist es möglich, im Untergehen des Tageslichtes auf dem ehemaligen Flugplatz in Berlin-Tempelhof Bilder der offenen Einsamkeit zu machen. Nicht immer, den die Einsamkeit, die das Denken bei Arendt – und anderen, zum Beispiel sehr explizit bei de Beauvoir – kennzeichnet, ist hier nicht immer gegebenen. Die Fläche wird benutzt. Die Stadt Berlin hat relativ viel Fläche zur freien Nutzung freigegeben – wenn auch zeitlich begrenzt, im Sommer zum Beispiel nur bis 21.30 Uhr, und der immer wieder vorkommenden Schließung für besondere Veranstaltungen – und es haben sich schon unterschiedliche Nutzungsformen ergeben. Ein Comiczeichner, Plattensammler und Blogger etablierte beispielsweise eine mehr oder minder regelmäßige Swing-Tanzveranstaltung, Cosplayer sollen auch schon bei verabredeten Treffen gesichtet worden sein, ebenso treffen sich auf dem Hunde- und Grillplätzen immer wieder verabredet Gruppen. Gleichzeitig ist der Raum immer noch weit. Wer etwas hinein läuft in das Gelände, kann in Ruhe ins Nichts schauen oder flirten. Selbst erotischen Phantasien sollen in den hohen Gräsern des Flugplatzes schon ausgelebt worden sein. An einer Ecke des Platzes wird übrigens das Social Event (beziehungsweise die Unkonferenz) einen Tag vor dem Bibliothekartag stattfinden, welches im Rahmen des Cycling for Libraries organisiert wird. Also nicht die Unkonferenz, zu der hier heruntergezählt wird, sondern die andere, die aber auch besucht werden sollte. Wer dort genug hat von den Anforderungen des Gemeinsam-seins wird dann aus dem Zelt treten und eine Weile einsam ins Nichts des geschlossenen Flugplatzes laufen können.