LIBREAS.Library Ideas

frei<tag>, Photos

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 12. Juni 2011

Ein erstes Set Photos von frei<tag>, Bibliothekswissenschaftliche Unkonferenz, findet sich hier: http://www.flickr.com/photos/64060022@N08/. Eine Auswahl:

Socialising vor der Eröffnungssession.

Erste Session.

Arbeitsplan.

Socialising.

In einer Session.

Abschlusssession.

Social Event nach den Sessions im Innenhof des Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der HU Berlin.

Das frei<tag>-Organisationsteam.

frei<tag>, nach dem Countdown. (Nachlese)

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by Karsten Schuldt on 12. Juni 2011

Am Freitag, dem 10.06.2011, fand nun die hier im Blog massiv angekündigte bibliothekswissenschaftliche Unkonferenz frei<tag> statt. Offenbar hat für viele dabei Anwesende anschließend sofort der Nach-Cycling-for-LibrariesBibliothekstag-und-frei<tag>-sowie-Pfingsten-Kurzurlaub begonnen. Zumindest werden die versprochen Photos von der Unkonferenz erst noch veröffentlicht werden. Ebenso bleibt zu hoffen, dass die jeweiligen Teilnehmenden an den Sessions diese im frei<tag>-Blog noch ausführlicher dokumentieren. Und sicherlich lassen sich die längerfristigen Folgen einer solchen Veranstaltungen kaum und schon gar nicht nur einige Tage später benennen.

Dennoch: die frei<tag> war ein Erfolg. Da wir eine möglichst frei zugängliche Veranstaltung anbieten wollten, haben wir auch keine Teilnahmelisten geführt. Dem ungefähren Nachzählen konnten wir uns allerdings nicht enthalten: inklusive des Organisationsteams haben zwischen 70 und 90 Personen an der Veranstaltung teilgenommen, wenn auch nicht alle die ganze Zeit. Für eine kleine Unkonferenz, die auch noch stattfand, als viele vom Bibliothekstag ausgepowert waren, ist das eine vollkommen zufriedenstellende Zahl, die zudem ein gutes gemeinsames Arbeiten ermöglichte.

Insgesamt wurden 10 Sessions angeboten (für mehr hatten wir ehrlich gesagt auch gar keinen Platz), von denen einige explizit bibliothekswissenschaftlich waren und andere sich eher an der Praxis orientierten. Insoweit ist auch die Schwerpunktsetzung auf die Bibliothekswissenschaft im weiten Teilen aufgegangen. Zumindest die Titel der Sessions und, wie gesagt, hoffentlich auch bald die weitere Dokumentation lassen sich im Wiki nachlesen.

Ansonsten funktionierte die Veranstaltung unglaublich smooth und ohne größere Probleme. Sicherlich gingen wir als Organisationsteam bis zuletzt davon aus, irgendetwas wichtiges vergessen zu haben, was wir dann auf den letzten Drücker organisieren müssten. Aber das war offenbar nicht der Fall. Unser größtes Problem bestand darin, dass wir die Sessions nicht die ganze Zeit irgendwo öffentlich einsehbar hatten, da der Rechner, auf denen sie erstellt worden waren, für eine Session benötigt wurde. Dieses „größte“ Problem existierte für ungefähr zehn Minuten. Nicht nur funktionierte die Arbeit innerhalb des Organisationsteams ungewöhnlich und erfreulich unproblematisch, auch die Teilnehmenden waren aktiv daran beteiligt, dass die Veranstaltung sowohl produktiv als auch sozial ergiebig wurde. Der einzige Gast, welcher einige Probleme bereitete, hatte sich von einer gänzlich anderen Veranstaltung verlaufen und war wohl selber mehr irritiert, als alle anderen.

Ich konnte leider nur an einer Session teilnehmen, habe aber bislang auch keine negativen Rückmeldungen erhalten. Insoweit kann wohl festgehalten werden, dass die frei<tag> unter anderem gezeigt hat, dass es eine genügend große Anzahl von interessierten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gibt, die sich mit der Veranstaltungsform Unkonferenz / Barcamp anfreunden können, um auch thematisch etwas mehr fokussiertere Unkonferenzen, als es in den letzten Jahren beim Bibcamp gehandhabt wurde, anbieten zu können. Ganz kybernetisch gedacht kann man wohl davon ausgehen, dass die Zahl der Interessierten so weit gewachsen ist, um Differenzierungen (Bibcamp == eigentlich Bibliothek 2.0, frei<tag> == Bibliothekswissenschaft et cetera) möglich und eventuell (wenn man sich die Größe des Bibcamp ansieht) auch nötig zu machen.

Ansonsten: Wenn alles immer so konfliktarm abläuft, gerne wieder. (Ich hörte da auch schon Gerüchte. Aber das sind Gerüchte.)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch wenige Stunden.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by Karsten Schuldt on 10. Juni 2011

Die Zeit schreitet voran. Während auf dem Bibliothekartag die Stände schon abgebaut sind, das Gewimmel sich gleich auf die letzten Veranstaltungen konzentrieren wird und die – gewiss vollkommen unterbezahlten – Kolonen der fleißen Helferinnen und Helfer des Konferenzzentrums wieder die Regie übernommen haben, ticken die letzten Stunden bis zum Beginn der frei<tag>. Dort werden aktuell die letzten Vorbereitungen getroffen, aber wir hoffen, dass es ab spätestens 14.00 Uhr (selbstverständlich ist das Institut auch vorher geöffnet) voll wird und wir die Diskussionen um bibliothekswissenschaftliche Themen mit vielen Besucherinnen und Besuchern führen können.

Der Zugang zu den Räumen ECC 1,2,3,4,5. Gestern noch voller Stände.

Auch hier befanden sich gestern noch zahlreiche Firmenstände.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 1 Tag.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by Karsten Schuldt on 9. Juni 2011

So haben wir uns das nicht vorgestellt, als wir hier vor dem Zaun standen, im Januar 2011, und Bilder machten vom Veranstaltungsort des diesjährigen Bibliothekartages in Neukölln. Damals war es kalt und verregnet und niemand war im Estrel-Convention-Center zu sehen. Heute sitzen wir mittendrin und haben ja auch alle immer wieder was zu tun, Veranstaltungen zu besuchen, Vorträge zu geben und… huch, entschuldigung, eine Minute… und sich mit Menschen unterhalten, die vorbeikommen, wollte ich sagen. Was nicht ging, weil sich schon wieder eine Unterhaltung entspann. Der Bibliothekartag ist fraglos eine Fachtagung, wie viele andere: Voll, die Räume bei allem Engagement des Organisationsteams und der Angestellten hier im Center nie perfekt, die Ausstellung auf den ersten Blick sehr umfassend, aber am dritten Tag nur noch mit wenig Neuem. Bei aller leiser Kritik, die immer irgendwo anklingt, spürt man, dass sich hier zahllose Kolleginnen und Kollegen, Studierende und andere eingebracht haben.

Auf dem Titelbild der letzten LIBREAS-Ausgabe stellten wir gewissermaßen die These auf, dass der Hauptteil der Kommunikation auf dieser Tagung randständig erfolgen würde. Das ist, zugegebenermaßen, keine sonderlich innovative These, aber doch eine, die sich hier auf dem Bibliothekartag bestätigt. Kaum einen Platz gibt es, auf dem man in Ruhe sein kann, an dem man nicht von irgendjemanden auf – zumeist – bibliothekarische Themen angesprochen wird. Wobei der Unterschied eklatant ist zwischen den Themen der Vorträge, die oft eine Überblicksebene haben, und den Themen der Gespräche am Rand, auf den Treppen, am Wasser, bei den Kaffeeständen. Letztere drehen sich, so zumindest der Eindruck, inhaltlich oft um sehr kleinteilige Fragen, darum, welche Lösungen vor Ort in den einzelnen Bibliotheken funktionieren oder nicht funktionieren, wie um bestimmte Probleme herumgearbeitet wird, welche Medien zu kaufen sind und welche nicht. Ganz offensichtlich gibt es einen Bedarf für eine solch niedrigschwellige Kommunikation. Eine Frage wäre, ob es auch einen Bedarf für Kommunikationskanäle für solche Kommunikationen gibt. Und wenn ja: Wer die wie zur Verfügung stellen könnte.

Auf dem Bibliothekartag ist auch zu erkennen, dass bei allen Debatten um Wissensmanagement, Virtuellen Forschungsumgebungen und Literaturverwaltung, Forschung immer noch oft darüber funktioniert, dass jemand jemand anders kennt und Kontakt zu jemand drittes herstellt. Es scheint selbstverständlich, dass hier Grenzen der bibliothekarischen Arbeit erreicht sind. Bibliotheken, Archive, Dokumentationseinrichtungen ordnen Informationen, aber sie stellen nicht die sozialen Kontakte her. Erstaunlich ist allerdings, dass solche bekannten Grenzen bei den Vorträgen kaum vorkommen, so als wären sie letztlich egal, wenn die Bibliotheken etwas planen. Wenn beispielsweise Virtuelle Forschungsumgebungen entworfen werden, ohne zu klären, warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Wissenschaft auf die eine oder andere Weise betreiben, dann ist das teilweise erstaunlich. Wie soll man denen erklären, dass Virtuelle Forschungsumgebungen sinnvoll für ihre Arbeit sind, wenn man nicht weiß, wie sie bislang arbeiten? Wenn man Studierenden Literaturverwaltungsprogramme als Arbeitshilfen anbietet, wie will man begründen, dass diese sich in deren Studienarbeiten einbinden lassen werden, wenn man nicht deren tatsächliche Arbeitsweisen kennt? Sollten nicht auch solche Grenzen bedacht werden?

Andersherum: Wenn Kommunikation auf Fachtagungen zu einem großen Teil an den Rändern geschieht, dann sind Unkonferenzen auch eine Reaktion darauf. Unkonferenzen stellen die Kommunikation zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern weit mehr in den Mittelpunkt als Fachtagungen. Perfekt ist keine dieser Veranstaltungsformen. Sie ergänzen sich. Und morgen ist es so weit, da versuchen wir unsere erste Unkonferenz. Sie sehen und erwartungsvoll.

Ein Zusammentreffen. Der Stand des Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin auf dem 100. Bibliothekartag 2011 mit Einladung zur Unkonferenz in diesem Institut und – versteckt – mindestens einem Mitglied des Organisationsteams der frei<tag> und zugleich Redaktionsmitglied der LIBREAS. Eine Fachtagung.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 2 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen by Ben on 8. Juni 2011

Eine der wenigen ungelösten Grundfragen der kommunizierenden Menschheit ist, ob ein Bild wirklich mehr als zahllose Worte zu sagen vermag. Ich bin mir nicht sicher. Denn wie ein noch so locker dahingeworfener Blick auf die Geschichte des schriftsprachlichen Austausches zeigt, dass man sich schneller, als man vielleicht annimmt, um Kopf, Kragen und das eine Kragenstäbchen schreibt, das die Reinigung beim letzten Durchgang nicht einbehielt. Das will natürlich fast niemand und daher ist Kommunikation – wenigstens in unserem Betrachtungsfeld der Bibliotheks- und Informationswissenschaft – auch häufig auf eine Harmonisierung der Stimmungslage ausgerichtet. Wenn dann doch mal gepoltert wird, ist es oft gleich die große Zerspanung, die über die Bretter hobelt.

Generell fehlt aber die Möglichkeit, einen so sportlichen wie kritischen Diskurs zu führen, worauf Willi Bredemeier letztes Jahr in gewisser Weise mit seiner vielleicht einer Nummer zu groß angelegten Kritik der Informationswissenschaft hinwies. Darin, dass sich weite Teile der adressierten Kreise als solchen Offerten zur Diskussion gegenüber perlonifizierte Fachöffentlichkeit erwiesen und über die vielleicht nicht ganz offen hingestreckte Hand aber doch scharf zugespielte Vorlage hinweg sahen, mag eine der Ursachen liegen, warum das Fach momentan in Deutschland doch eher nicht als lebhaftes Geschehen wahrgenommen wird. In Potsdam schließt man die Dokumentationswissenschaft und hat Gründe dafür. Dennoch hätte es unabhängig des Ausgangs eines solchen Verfahrens durchaus für die Vigilanz der Community gesprochen, in breiterer Front öffentlichkeitswirksam Gründe für den Sinn und Zweck und natürlich auch die Unverzichtbarkeit aufzuzählen. Aber vielleicht fällt es schwer, solche zu finden.

Stefan Gradmann bringt dies in seiner Stellungnahme zum Vorgang wahrscheinlich eher unbeabsichtigt auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Dies mag beklagenswert sein – doch müssen wir als Realität akzeptieren, dass Kernbestandteile des Berufsprofils ‚Dokumentation‘ in der öffentlichen Wahrnehmung schlicht nicht mehr existieren und wohl auch nicht so ohne weiteres wiederzubeleben sein werden.“

Die affirmierende Reduktion auf das Klagen verfehlt m.E. aber den Punkt, denn hier geht es zunächst einmal um Rückgrat und Selbstachtung. Gerade unsere Disziplin, die sich mit nichts anderen als einer ordnenden Gestaltung der Repräsentation von Welt beschäftigt, sollte wissen, wie konstruiert und in dem Sinne inakzeptabel die Realität ist. Realität ist ein Prozess, kein Zustand. Die Realität der öffentlichen Wahrnehmung umso mehr.

Natürlich liegt das Kind längst am Grunde des Brunnens und sicher hätte man weitaus eher mit einer aktiven Aktualisierung des disziplinären Zweispänners Bibliotheks- und Informationswissenschaft beginnen müssen. Fraglos hatte das Institut in der Dorotheenstraße 2003 ein Heidenglück, als es sich mehr durch Protest denn durch Profil noch einmal um das herummogeln konnte, was nun die Dokumentationswissenschaft erreichte. Aber man hätte auch ohne in „reflexhaftes Protestgeschrei“ auszubrechen, einen Tick stärker zeigen können und vielleicht auch müssen, dass der durchgezogene Rotstift mehr vernichtet als einen Kostenfaktor. Nämlich ein Potential.

Immerhin stellt Stefan Gradmann mit seiner Position vom Vorgang für die DGI eine Perspektive in Aussicht, die er selbst als Professor an der Humboldt-Universität vorantreiben kann:

„Aussichtsreich ist sie [die Dokumentationswissenschaft] nur als Teil eines neuen Forschungsparadigmas, als Teil der sich gerade formierenden Web-Science. Genau dieser Entwicklung trägt die jüngste Diskussionsrunde der Gruppe RTP Doc in Frankreich unter dem Arbeitstitel „Le Web sous Tension“ Rechnung, in welcher der Prozess der „Redocumentarisation du Monde“ in die Welt des Web der Linked Open Data fortgeschrieben wird.“

Allerdings stört das „nur“ der Formulierung ein wenig. Denn damit wird präskriptiv eine sehr bestimmte Perspektive vorgegeben, die ohne Zweifel sinnvoll und berechtigt ist, zugleich aber möglicherweise ebenfalls sinnvolle und berechtigte weitere Perspektiven, die nicht zwingend an die  RTP Doc-Gruppe anschließen, von vornherein ausgrenzt. Stefan Gradmann forciert völlig nachvollziehbar seinen eigenen Forschungs- und Interessenshintergrund. Da aber gerade seine Ausrichtung auf die französische Fachwelt äußerst speziell ist, wäre nun eine Reaktion aus der Fachwelt zu erwarten, die da lautet: „Gern. Aber über die Details müssen wir noch einmal reden.“ Die Redokumentarisierung der Welt mit dem Anspruch

„traditionelle dokumentarische Erschließungsin[s]trumenten (Thesauri, Klassifikationen, Ontologien) und zielgruppenspezifische Kontextualisierungsansätze mithilfe von SKOS und Methoden der semantischer Verlinkung und der Linked (open) Data neu zu positionieren“

ist eine Perspektive. Ich sehe aber z. B. für die Disziplin noch eine ganz andere Aufgabe. Unter anderem die der Kritik. Wo Stefan Gradmann seine französische RTP Doc-Gruppe heranzieht, erlaube ich mir den Hinweis auf den französischen Soziologen Luc Boltanski, der unter Kritik so etwas versteht, wie die Kompetenz um die in jeweiligen Rechtfertigungsordnungen (z.B. die des hochschulpolitischen oder die eines innerdisziplinären Agenda Settings) anzutreffenden Wertmaßstäbe und Prinzipien hinsichtlich ihrer Anwendung zu prüfen. Vielleicht müssen wir uns zunächst einmal darüber verständigen, ob wir unsere Wissenschaft vorwiegend als cité industrielle, als cité de l’opinion, als cité inspirée oder als cité marchande begreifen. Im Idealfall ist es eine Mischung aus allen vier Elementen und unsere Diskurse zielen darauf ab, das Mischungsverhältnis so auszuhandeln, dass sich eine Balance einstellt. Diskurs ist nach meinem Verständnis ein Mittel der stetigen Legitimationsprüfung (Boltanski: épreuve de justification) von Ansprüchen, zu deren Eigenheiten es zählt, dass sie relational sind und zwar zwischen dem Äußerenden mit seinem Interessenfundament, dem Bezugsraum und dem Empfänger mit dessen Interessen. Eine diskursethische Prämisse ist dabei für mich, dem anderen die Möglichkeit zu geben, sich so zu meiner Äußerung zu positionieren, dass eine Anschlusskommunikation möglich bleibt, also neue Bedeutung entsteht. Man könnte hier das schöne Bild der Semiosis als Erklärungslogik heranziehen. Die Berücksichtigung der pragmatischen Ebene von Kommunikationen, für die sich übrigens auch Stefan Gradmann sehr überzeugend in seinem Eröffnungsvortrag auf der Informare 2011 aussprach, scheint mir für eine zukünftige Forschungsausrichtung der Bibliotheks- und Informationswissenschaft beinahe die bessere, in jedem Fall eine notwendig komplementäre Facette zu semantischer Verlinkung und der Linked Data.

Natürlich sind Bilder von schönen Netzwerken mit tüchtigem Appeal gesegnet und die Visualisierung zum Bibliothekartags-Twitter-Netzwerk erhält an einem Tag mehr Zugriffe und Retweets, als die meisten meiner Texte über ihre Lebenszeit. Aber das Bild selbst sagt selbstverständlich nicht mehr als diese ca. 1000 Worte. Doch es lässt viel mehr offen. Es positioniert sich nicht. Es bleibt deskriptiv. Was ist nun die sinnvolle Perspektive für unsere Wissenschaft: Deskription und/oder (kritische) Reflexion? Bereits übermorgen können wir darüber beim frei<tag> 2011 diskutieren.

raindrops

Raindrops on tables / Discussions on fridays. / Bright copper floor slabs / and memory highways. / Colorful 'mbrellas and summerlike springs / These is some Berlin-full of relevant things.

(bk)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 3 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 7. Juni 2011

Vielfältigkeit ist ein Merkmal, welches sich Öffentliche Bibliotheken gerne einmal selber zuschreiben. Die Unterschiedlichkeit des Bestandes, die auf die lokalen Gegebenheiten angepassten bibliothekarischen Angebote und Kooperationen sowie gleichzeitig die Offenheit des Zugangs zur Bibliothek sollen dazu beitragen, auf vielfältige Anforderungen auch vielfältige Antworten geben zu können. Diese Offenheit – welche übrigens auch mit einer gesellschaftlichen Wertschätzung von Vielfältigkeit in den individuellen Lebensentwürfen der Menschen einhergeht – steht paradoxerweise einer Forderung nach weiterer Standardisierung und Vereinheitlichung entgegen. Aber wie wir aus dem Gesundheits- und dem Bildungsbereich wissen: Gerade die Einrichtungen, die kreativ mit den Anforderungen der Standardisierungen, Benchmarks, Leistungs- und Wissensmessungen, Qualitätskontrollen und so weiter umgehen und sie dabei dann auch wieder unterlaufen, sind erfolgreich.

Eine andere Frage ist allerdings: Sind Bibliotheken wirklich vielfältig? Ohne in die ständige Berufsbild- und „Wie-sehen-uns-andere“-Debatte eingreifen zu wollen, kann doch festgehalten werden, dass sich die Frage mit einem Ja und einem Nein zugleich beantworten lässt. Verfestigte und sich reproduzierende Strukturen, Annahmen, Abläufe, Zielsetzungen und Arbeitsweisen – die sich ja zum Teil auch mit gutem Recht als konstante Formen etabliert haben – stehen ständigen Versuchen gegenüber, sich zu verändern, zu entwickeln und neu zu erfinden. Man sollte gar nicht erst so tun, als gäbe es nicht beide Seiten des Bibliothekswesens. Weder ist alles neu und frisch, noch ist alles starr und unveränderlich.

Der Bibliothekartag zum Beispiel, dessen 100. Auflage heute in Berlin begonnen hat, ist ein gutes Sinnbild für diese Widersprüchlichkeit. Vieles, sogar das meiste ist konstant. Die Veranstaltungsform, die sich wiederholenden Themen, die zu große Zahl an Ausstellern, über die sich unter der Hand immer wieder beschwert wird, die steigenden Preise für alles, die immer wieder gleichen Gesichter… Und gleichzeitig gibt es dennoch auch immer wieder Neues, ist der Bibliothekartag und einzelne Sektionen zu Experimenten bereit, nimmt neue Themen auf, sucht Wege aus wahrgenommenen Krisen. Sicherlich funktioniert das nicht ungebrochen. Zum Bibliothekartag gehört immer auch die Klage, dass wichtige Themen nicht oder kaum vertreten sind, dass wichtige eingereichte Beiträge abgelehnt wurden, während unwichtige Annahme fanden. Nicht umsonst organisieren sich neue Themen oft an den Rändern des Bibliothekartages. Aber immerhin – im Gegensatz zu einigen anderen Professionen – ist das offenbar für den Bibliothekartag okay. In anderen Disziplinen ist so etwas oft gar nicht möglich, weil Organisationsteams „ihre“ Veranstaltungen und deren Umfeld vollständig zu kontrollieren versuchen, anstatt wissenschaftliche Kommunikation zu fördern.

Aber ob nun die Zukunftswerkstatt, Cycling for Libraries oder frei<tag>: Alle diese Veranstaltungen, die sich gegenseitig und den Kongress mit ergänzen, werden akzeptiert. Nicht unbedingt begrüßt – auch wenn der Kongress bestimmte Angebote, beispielsweise die Fahrraddemo von Cycling for Libraries zum Bibliothekartag, für sich in Anspruch nimmt – aber auch nicht abgelehnt. Dieses akzeptierte Nebeneinander von festen, oft nahezu undurchdringlichen Strukturen und gleichzeitiger Veränderungslust, scheint das Bibliothekswesen in Deutschland auszuzeichnen. Obgleich diese Vielfältigkeit selbstverständlich immer wieder Friktionen erzeugt. Aber es wäre auch erstaunlich, wenn sie es nicht täte.

frei<tag>-Organisationsteam. Vielfältigkeit in Aktion. Während ein Teil um 9.00 Uhr morgens auf einem Panel zur Bedeutung von Bibliotheks- und Informationswissenschaft für die bibliothekarische Praxis auf dem Bibliothekartag sitzt...

...radelt ein anderer Teil bei der Fahrraddemo vom Berliner Hauptbahnhof zum Bibliothekartag mit. Für Bibliotheken und weil es geht.


It’s the frei<tag> Countdown. Noch 4 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 6. Juni 2011

18:30 Uhr. Nach Tagen des Fahrradfahrens für Bibliotheken steht das Zelt von Cycling for Libraries in Berlin auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof. In gewisser Weise soll bei diesem letzten Abend vor der Fahrraddemo zum Bibliothekartag offenbar zwanghafte Kollektivität herrschen. Kaum setzt man sich an den Biertisch, um einen kurzen Text zu schreiben – von Unkonferenz vor dem Bibliothekartag zur Unkonferenz nach dem Bibliothekartag gewissermaßen – wird man beschimpft, dass beim Essen kein Laptop auf dem Tisch zu stehen hätte. Und das im hippen Neukölln. *eyeroll* Nun, wir werden sehen, wie sich das anläßt. Ansonsten ist der Text heute kurz, weil die Fahradfahrenden Bibliothekarinnen und Bibliothekare lieber socializen wollen. Fügen wir uns erst einmal dem Gruppenzwang.

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Noch ist der Abend jung und das Buffet nicht eröffnet.

Von Unkonferenz zu Unkonferenz. Watch-A-Gonna-do-about-It?

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20:00 Uhr. Ein kurzes Interview mit Dierk Eichel.

frei<tag>: Dierk, du warst bei Cycling for Libraries die gesamte Zeit dabei und hast die Strecke abgefahren. Erzähl, wie war’s?

Dierk Eichel: Es war super, so einen Fachaustausch an frischer Luft hab ich noch nicht erlebt. Das Fahrradfahren von morgens früh bis spät abends war sehr anregend für die Diskussion auf dem Rad. Abends war man dann zwar völlig fertig, aber für ein gemeinsamen Gespräch bei Bier und finnischer Verpflegung ergab sich immer Zeit. Dazu trugen vor allem auch die vielen Teilnehmer aus insgesamt 15 Ländern bei. Die waten sehr neugierig und für jeden Spaß zu haben. Überhaupt wurde der Spaß an der Sache bei cycling for libraries sehr groß geschrieben, denn nur so lässt sich positiv über die Zukunft der Bibliotheken nachdenken.

frei<tag>: Was ich nicht verstanden habe: Ihr hatte Hausaufgaben auf. Du hast eine zur grünen Bibliothek gemacht. Was hatte es damit auf sich?

Dierk Eichel: Da ich mich schon länger mit ökologischer Nachhaltigkeit in Bibliotheken beschäftige und Fahrradfahren durchaus als umweltfreundliche Fortbewegungsmethode gelten kann, war es nur passend das ich auf solch einer grünen Unkonferenz auch mit meinem grünen Thema einbringe. Und ich muss sagen alle Teilnehmer waren sehr umweltfreundlich eingestellt. Es gab sogar eine ähnliche Hausaufgabe die sich mit Nachhaltigen Themen befasste.

frei<tag>: Und jetzt du, als Vertreter der New Professional Special Interest Group (NPSIG) in der IFLA: Cyling for Libraries und Unkonferenzen, ist das ein Weg für junge Menschen in Bibliothek und Bibliothekswissenschaft, zusammenzuarbeiten? Sollte man das auch woanders machen oder reicht es jetzt erst mal?

Dierk Eichel: Natürlich sollte man das so oft wie möglich machen nur so kommt man an die wirklich faszinierenden Ideen, wenn man den Menschen Raum gibt Themen gemeinsam zu entwickeln und ungewohnte Lösungsvorschläge findet. Deshalb haben sich die Aktivisten der NPSIG auch für die übernächste IFLA 2012 in Finnland das erste Barcamp in der Geschichte der IFLA einfallen lassen. Seid dabei, unter www.npsig.wordpress.com.

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(Bild: Dierk Eichel) Mace Ojala, der "Chefwegfinder" von Cylcing for Libraries.

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21:00 Uhr. Im Zelt, nachdem die Band eine Pause machte, gibt es nun eine Dankesrunde für all die Menschen, die bei cycling for libraries etwas getan haben. Alle danken sich gegenseitig, aber das ist schließlich auch der Witz an einer Unkonferenz. Alle sind für ihr Gelingen verantwortlich und im Gegensatz zu dem in den 1990er Jahren verbreiteten Ideologem der Firmen mit flacher Hierarchie, können sich nach einer gelungenen Unkonferenz tatsächlich alle gegenseitig bedanken, weil alle einigermaßen demokratisch miteinander gearbeitet haben. Doch wenn die Open-Source-Gemeinde ständig erfolgreiche Unkonferenzen durchführen kann, sollte das Bibliothekswesen nach der einen auch die zweite schaffen. Immerhin sind wir Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. „We are, after all, professionals.“

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21:40 Uhr. Medienkonvergenz ftw. Am Ende der Fahrradkonferenz schauen alle Videofilme aus dem Internet über die Fahrradkonferenz, auf der sie gerade waren.

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22:50 Uhr. (Undisclosed location.) Nachdem Mitglieder des frei<tag>-Teams mit „Ach, da kommt die Philosophie-Abteilung“ begrüßt wurde, kommen wir nicht umhin, unsere Freude darüber auszudrücken, dass es Menschen gibt, die unseren Countdown wahrgenommen haben. Wir hoffen, es hat bislang etwas Interesse geweckt und einige Anstöße dazu gegeben, auch zur frei<tag> zu kommen und sich einzubringen. Sie / Ihr alle sind / seid willkommen.

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 5 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 5. Juni 2011

Es gibt ein schönes Buch von Helmut Böttiger mit dem Titel „Wie man Gedichte und Landschaften liest“. Es geht in ihm um Paul Celans Reisen durch die Bretagne und in einem anderen Sommer fuhren wir tatsächlich ein mal in gewisser Weise mit dem Buch als Reiseführer einem Helmut Böttiger, der Paul Celan hinterher reist, hinterher. Ganz leicht fiel es nicht, die Fährte zu halten, was uns den glücklichen Umstand bescherte, nach einem paradiesischen Gezeitenbadetag am Strand von Trévignon zwischen Névez und Raguénez durch einen wenige Häuser großen Weiher namens Celan zu fahren.

Dieses produktive Fehlgehen zeigt sich in diesem Zusammenhang noch in einer zweiten persönlichen Weise. Nachdem ich einmal von dem Buch hörte, es aber noch nicht besaß (und eigentlich auch danach) glaubte ich mit meinem bisweilen bis zum faktischen Totalversagen durch Unschärfe geprägten Gedächtnis immer, es hieße „Wie man Landschaften wie Gedichte liest“, was ich eigentlich noch etwas schöner finde und als Methode unbedingt entwickelnswert. Der Ansatz liegt selbstredend nahe, wenn man aus einem generell textvermittelten Zugang zur Welt stammt. Dann beginnt man alsbald, auch das Un-Vertextete der eigenen Erfahrungswelt wie Schrift zu lesen. Und Landschaften wie Gedichte.

Wer ab und zu ein Gedicht zur Kenntnis nimmt, wird vermutlich leicht nachvollziehen können, dass in ihnen ein griffiger Schlüssel liegt, der dem Ideal eines präzisen Übergangs zwischen Ausdruck und Wahrnehmung besonders nahe kommt. Das (gute) Gedicht ist immer ein Versuch, einen unbeschreibbaren Eindruck auf den Punkt in Worte zu abstrahieren. Also eine Art lyrisches punctum hervorzurufen, das sofort ins Nachempfinden führt.

„Alle Landschaften haben/Sich mit Blau erfüllt“ – es bedarf nicht viel Schulung, nur etwas innerer Offenheit, um einem Sommerabend an einem Strand oder auf einer Hügelkuppe oder an einem Fenster zum Park zu stehen und auf einmal zu verstehen, woher der Zymbelklang ertönt. Oder – „die Blume sehen nicht sehen sehen ihren Duft dann erst wirklich sehen“ – Friedericke Mayröckers Maiglöckchen-Zeilen („die schwertlieben Blätter“) in einem Garten erspüren. Dieses spontane Wissen: Das ist es. Das ist etwas.

Man kann Gedichte problemlos als Gedichte, als Kulturartefakte mit dem professionellen Blick der erschließenden Literaturwissenschaft lesen, Analysebohrungen ansetzen und sie ins kleinste Satzzeichen in ein Analysemuster übersetzen. Also Gedichte wie Text studieren. Die sensiblere Variante wäre eine Umkehrung des missverstandenen Titels: Wie man Gedichte wie Landschaften erfährt.

Und die meiner Ansicht nach langfristig fruchtbaren Felder lassen sich zwischen diesen beiden Ansätzen bestellen: Man liest und erfährt Gedichte in Bezug zum Unsagbaren und doch stetig Präsenten. Den Landschaften, die wir sind und die wir schaffen. Man kann Gedichte als sprachliche und damit synonyme Form des nur Erfahrbaren begreifen und damit als Brückenwerk zwischen dem Ich und seiner Sorge um Sich und also seiner Position in der Welt. Und dem Anderen. Aber lässt sich das lernen, wie die Übersetzungstätigkeit, das Abbilden von einer Wahrnehmung auf ein Muster, die jede analytische Wissenschaft als Kirschkern besitzt? Ich weiß es nicht.

Die Voraussetzung ist sicher, dass man neben dem sezierenden Blick der Rationalität auch eine gewisse Berührbarkeit, die Fähigkeit zum sich Überwältigen-Lassen als Bestandteil der Erkenntnisfindung akzeptiert. So richtig scheint jedoch weder der Wissenschaft noch der Zeit der Sinn danach zu stehen. Kein Grund zur Sorge. Da wir aber beides – Wissenschaft und Zeit – auch als von uns beschreibbare und damit gestaltbare Landschaft begreifen können, liegt es an uns und in unserem Diskurs, die Grenzen eine hermeneutische Aufbürstung unserer wissenschaftlichen Gemarkung Bibliothekswissenschaft zu gestalten.

Eine Unkonferenz wie frei<tag> 2011 basiert bekanntlich auf diesem Prinzip der offenen Selbstgestaltung. Daher bietet sie in fünf Tagen die wunderbare Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie man die Wissenschaftslandschaft als Gedicht lesbar macht. Warum dies sinnvoll sein soll? Wir werden es sehen.

Himmel

Es ist Abend, wir sitzen im späten Zug zurück in die Großstadt und haben eine wichtige Werkwoche vor uns. Daher gibt es auch keinen die mitreisenden, sonnenerschöpften Sommerhäusler strapazierenden, überbordenden Assoziationsschwall, der vom Kälbchenblick zum wissenschaftlichen Wiederkäuen führt. Lieber wollen wir als Erinnerung für das Kurzzeitgedächtnis Mascha Kalékos "Kleine Havel-Ansichtskarte" aus aus der Strandtasche ziehen. Denn die weiß besser, als wir es je sagen könnten, was uns jetzt erwartet: " „Noch nicken Föhren leis im Wald./Der Sonntag ist vertan./Und langsam grüßt der Stadtasphalt/Die erste Straßenbahn…“ Nur sind es in unserem Fall nicht die Föhren im Wald sondern die Färsen auf der Weide. Aber immerhin, sie und die Kälbchen und die Mutterkühe nickten so freundlich, dass man gar nicht anders kann, als eine poetische Grundstimmung heim zu nehmen. Mal sehen, was davon bis Freitag überlebt.

(bk)

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It’s the frei<tag> Countdown. Noch 6 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 4. Juni 2011

„I wasn’t going to read the blog. So much writing out there in the world and who wants to read it? Not me.” – Rivka Galchen. (The Entire Northern Side was Coverered with Fire. In: Treisman, Deborah (2010) 20 under 40. Stories from the New Yorker. New York : Farrar, Straus and Giroux. S. 170)

Sechs Tage vor dem frei<tag> ist Berlin ein kleiner verschwitzter Brutofen namens Sommer. Wer abends an die Warschauer Straße gespült wird, ins dortige Menschenmeer einsinkt und sich von den Hundertschaften voll Erlebnishunger bis nach Kreuzberg hinunter und dann wieder bis zum Frankfurter Tor hinauf tragen lässt, der weiß, wo der Mythos Berlin seine Wurzeln hat. Wenn man dort hinein gerät, fühlt man sich durchaus gern mal, als würde man in einem Funkviertel-Track versinken. Und zwar diesem hier: http://www.youtube.com/watch?v=ezqkplWpcn4 Man darf es natürlich auch anders sehen/leben.

In jedem Fall lebt man hier musterhaft im Moment, rutscht über bierlachende Oberflächen und hat die ganze Romantik, die sich ergibt, wenn die rote Sonne hinterm Hauptbahnhof im Häusermeer versinkt, zwar nicht exklusiv, aber dafür in einer Ballung, die man sonst in Deutschland in solcher Zuspitzung kaum entdecken dürfte. Ein Stück weiter im Durchgang der Oberbaumbrücke finden die Konzerte statt, die keinen Eintritt kosten und wenn man ausgerüstet genug ist, dann hat man das Gefühl, dass dieser Sommer vielleicht irgendwann endet. Aber bestimmt nicht an den Freitag-Samstag-Sonntag-Morgenden, die ein unbestimmbares Morgen fast ununterscheidbar mit einem gefühlt ewigen Heute verfugen. Erst später wird man gemerkt haben, was sich in diesen hitzigen Lebensspannen in einen einschreibt.

Aber es gibt auch abweichende Gegenwarten und wenn man dem Momentum der rauschhaften Friedrichshainern überdrüssig ist und der Slalom auf dem Fahrrad zwischen den zerschlagenen Bierflaschen auf den speckigen Radwegen der Warschauer Brücke eine handfeste Anbindung an die Realität wiederherstellt, dann freut man sich möglicherweise stärker an solchen Facetten dieser Jahreszeit: Brandenburg ist mohnrot eingefärbt und so langsam explodieren die Kornblumen dazwischen, die das endlose Himmelblau in winzigen Spiegelscherben auf die unendlichen Felder zu legen scheinen. Die Hitze spannt eine wundervolle Ruhe über die Oderbrüche und Havelländereien. Die treibenden Basslinien werden mit dem leichtfüßigen Spiel der im saftgrünen Laubwerk verborgenen Singvögel ersetzt. Statt eines scharf bremsenden Taxis hört man einen Erpel auf dem Wasser niedergehen. Statt eines Easy-Jets zieht ein Storchenpaar seine Bahn über den Himmel. Alles scheint sanft und mild gesättigt zu sein.

Eine Bucht an einem See, ein paar Schäfchenwolken zum Formenraten und die durchaus erträgliche Leichtigkeit des Erfrischtseins nach vollen Schwimmzügen transportiert die Betroffenen in eine Gegenwärtigkeit, die den Freitagnächten an Intensität nicht viel nachsteht, nur am entgegengesetzten Ende der Aufregungsskala ansetzt. Erst später wird man gemerkt haben, was sich in diesen treibenden Lebensspannen in einen einschreibt.

Oder man wählt wie ich die Mitte zwischen diesen Welten, setzt sich in seinen Kirschgarten, liest ein wenig, schaut ein wenig und sinniert ein wenig über das Schöne an einem solchen Samstag im Juni, das keinen (ökonomischen) Zweck hat und die Gesellschaft, die einen Zweck fordert und wie diese Wochenenden und Sommerfeiertage die Zweckfreiheit in den Zeitraum unserer Aktivitäten integrieren.

Interessanterweise erscheint die heutige Lage im Vergleich zur Konfliktlinie zwischen der Ranevskaja und Lopachin weitaus unübersichtlicher und mitunter geradezu invertiert: das Überkommene ist heute scheinbar das aufbrechende, sozial Gestaltende mit höheren Zwecken. Wir sind längst im Nach-Lopachin‘schen Zeitalter, die Komödie ist ausgespielt, jede große Idee längst lächerlich und Trofimov lebt mit seiner Anja vermutlich am Boxhagener Platz. Manchmal liegen nun beide im Treptower Park und träumen sich wehmütig vor (oder twittern sich @zu), wie schön es doch jetzt sein könnte, hätte man den Garten behalten. Dann reißt sie der Pfandsammler aus ihrem Driften und fragt, ob er die leeren Pilsner-Flaschen mitnehmen kann. Klar. Ist aber Export.

Und dann sind wir doch wieder genau in den alten Mustern, nur lebt die gentrifizierende Neue Ökonomie gerade auf der Basis des Ornamentes, des Nutzlosen und zwar dadurch, dass sie ihm ein Preisschild um den Hals hängt. Lopachin dagegen hat sich mittlerweile lieber den Wandlitz-See gekauft, aber die Ferienhäuschen laufen nicht so gut, denn die Brandenburger Provinz ist so reich an Landschaft wie arm an Gästen. Denen, die anfragen, steht am Ende eventuell der Sinn gerade nach Kirschen. Statt vom Aufbruch ins Neue ist die Zeit geprägt von einer Gegenwart des Alles, jetzt. Das macht sie zur Postmoderne. Das macht die wochenendliche Warschauer Straße zu einem zeitlosen Must-Have, wenigstens in der Wahrnehmung der Besucher.

Der postmoderne Kapitalismus hat es ziemlich schwer, weil er nicht zielgerichtet auf eine Wohlstandszukunft hinarbeiten kann, sondern just-in-time die Unmittelbarbedürfnisse der Wohlstandsgegenwart zwischen LinkedIn und Groupon zugleich gestalten und bedienen muss. Alles zugleich hipp-verknüpft und gemeinsam-günstig. Sich darin auszutarieren ist ein aufregendes Spiel, das schnell zum Schild „Neue Bewirtschaftung“ in den Glücksritter-Lokalen der Berliner Trendbezirke führt.

Der aktuelle Kirschgarten – das Ornamentale und Überkommene – in der Berliner Mitte ist übrigens derzeit das sterbende Tacheles und wären wir vom Theaterfach, würden wir dieses besondere immobile Filetstück vielleicht in eine zeitkritische Aktualisierung von Tschechows Vierakter aufbraten. Wir sind allerdings Bibliothekswissenschaftler und finden uns passenderweise in der vertrackten Situation, dass die von uns fokussierte Institution der Bibliothek in bestimmten Diskursen das Schicksal des Kirschgartens der Ljuba Ranevskaja zu teilen scheint: Ein schöner, aber unbezahlbarer Luxus, der obendrein in der heutigen Zeit (welche auch immer das sein kann) überflüssig ist. Wie damit umgehen? Wir können es am nächsten Freitag besprechen.

Sechs Tage

Der Morgen kommt nie? Nun ja, Gott schuf, so sagt man, die Erde in sechs Tagen. Dass Mensch, wenn es blöd läuft, seine Welt im gleichen Zeitraum zu verwüsten angehen könnte, erzählt uns eingängig wie wenige politische Popmusikstücke DJ Shadows Hitsingle Six Days aus dem Jahr 2002. Dem Künstler gelang es mit diesem schönen Stück Musik leichter Hand die nahezu vergessene Band Colonel Bagshot (Vocal-Sample) und zugleich Danielle Graham (Video-Blickfang) in unserem kollektiven Popgedächtnis fest zu verzurren. Nehmen wir nun die Refrain-Zeile "Tomorrow never comes until it's too late", dann begreifen wir sie als nichts Geringeres als als Ansporn für eine tatkräftige Entgegnung. Die findet am 10.06. in der Unkonferenz ihre Vergegenwärtigung, die nicht zu spät kommt, sondern genau im rechten Augenblick. Und ich esse bis dahin meine ersten sechs Kirschen des Jahres.

Das Video zu DJ Shadows Six Days und wenigstens titelhaft zum heutigen Countdown-Marker passend hat der nicht unbekannte Wong Kar-wai verfertigt und Universal Music Deutschland, die mit ihrem Musikhauptquartier am Spreeufer wie gerufen die Wäscheleine direkt zur eingangs beschriebenen Szenerie spannt, hat das loftige, eifersuchtsgeladene Kunstfilmchen auf Dailymotion ins Web gestellt.

(bk)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 7 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 3. Juni 2011

„Ich nutze die Zeit und spreche mit einer Kundin [der Lebensmitteltafel] über ihren Weg zur Tafel. Eine Geschichte unter ähnlichen Geschichten. Einzigartig in ihrer Dramatik aus der Sicht der Erzählenden. Typisch aus der Sicht der Zuhörenden.“ (Selke, Stefan / Fast ganz unten : Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. – Münster : Verlag Westfälisches Dampfboot, 2008, S. 148)

Eine der quasi-literarischen Figuren aus Berlin, mit der Hunderttausende von Schülerinnen und Schüler im Unterricht bekannt gemacht werden, ist Christiane F. Deren Lebensgeschichte die Gesellschaft hinab, über Babystrich und Drogenkonsum, ist selbstverständlich eine journalistisch und literarisch bearbeitete, aber gleichwohl eine, die auf der realen Situation im West-Berlin der 1970er und 1980er Jahre basierte. Und die das Bild von Berlin mitgeprägt hat. Dabei ist Christiane F. Selbstverständlich über das Buch und den Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zum Objekt sozialpädagogischer Erklärungen und Gutmenschtum geworden, ohne das den Menschen, die am Bahnhof Zoo angelangt waren, damit Hilfe zukommen zu lassen. Aber man kann Film und Roman fraglos zugestehen, das Thema der Straßenkinder und des Drogenmissbrauchs unter Jugendlichen in Deutschland sichtbar gemacht zu haben. Die Formulierung „Armut in einem reichen Land“ wurde erst einige Jahre nach dem Roman hauptsächlich durch die Armutsstudien, die von den Gewerkschaften und Sozialverbänden angeregt wurden, populär; aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmen kann, wenn in einem der wohlhabendsten Länder der Welt Jugendliche ziel- und zukunftslos auf der Straße leben müssen, wurde schon durch die Reportage zu Christiane F. und den Erfolg des Buches dominant.

Mit Christiane F. wurde auch der Bahnhof Zoo bekannter. Damals eigentlich der Eingangsbahnhof zum Zentrum Berlins – heute gibt es praktisch mit Zoo, Alexanderplatz und Potsdamer Platz drei Zentren – wurde es nun auch zum Symbol des gesellschaftlichen Absturzes. „Sich am Bahnhof Zoo rumtreiben“ wurde zum Synonym für ein gescheitertes Leben. Dies verhinderte nicht, dass der Bahnhof selber immer noch einer der wichtigsten Umsteigebahnhöfe Deutschlands und West-Berlins blieb (schließlich fahren hier nicht nur die Fernzüge ein und aus, sondern es kreuzen sich zudem zahlreiche Linien des Personennahverkehrs), aber es gab immer auch Versuche der Bahn, das Image des Bahnhofs zu verbessern. Immer wieder musste zum Beispiel die Stadtmission, die auf der Rückseite des Bahnhofs untergekommen ist, um ihre Existenz kämpfen, obgleich allen, die an der Mission vorbeikommen, sofort deren Notwendigkeit als soziale Einrichtung einsichtig wird. Hinter dem Bahnhof Zoo wird heute außerdem eine der zwei Berliner Obdachloszeitungen ausgegeben. Der „Babystrich“ existiert weiterhin, nur etwas weiter entfernt.

Die Bahn hat um das Image des Bahnhofs gekämpft und ihn beispielsweise massiv umgebaut. Heute ist er vollgestopft mit Einkaufmöglichkeiten und Imbissangeboten. Die Umgebung hat sich allerdings gegen die Bahn entwickelt. Sie hat einen gewissen sozialen Abstieg hinter sich, nachdem ihre Bedeutung als Zentrum durch die beiden anderen Zentren zurückging. Hat sich dies auf die Drogen- und Obdachlosenszene am Bahnhof Zoo ausgewirkt? Stefan Thomas hat diese Frage untersucht und dabei ein Jahr lang als Praktikant der Jugendhilfe am Bahnhof Zoo gearbeitet und geforscht. Um es kurz zu sagen: Die Szene hat sich zwar verändert, aber sie ist allen Verdrängungsversuchen der Bahn zum Trotz weiter existent. Armut lässt sich halt nicht mit Repression, Vertreibung und Stadtverschönerung bekämpfen, sondern nur mit einer sinnvollen Armutspolitik.

„Der Bahnhof ist […] zu einem Sammelplatz sozial desintegrierter Jugendlicher geworden. Die Lebenslage der jungen Menschen war schon vor dem Anschluss an die Bahnhofsszene von extremen Formen der Armut, sozialer Ausgrenzung und Isolation gekennzeichnet. Die jungen Menschen wissen aufgrund vorangegangener Ausschließungsprozesse schlicht um keinen anderen Ort, an den sie sich wenden könnten. Längst haben sie alle Perspektiven verloren, haben aufgrund von Problemen im Elternhaus keine Zuhause mehr, haben ohne Schulabschluss und Arbeitsstelle kaum eine Aussicht, ihren Status als Sozialhilfeempfänger jemals zu überwinden. Sie sind schlicht damit überfordert, in der modernen Gesellschaft ihren eigenen Platz zu behaupten. ‚Bahnhof Zoo‘ ist nicht die Endstation eines unverhofften Abrutschens in den Drogenkonsum. Vielmehr wird der Bahnhof die letzte Möglichkeit, um überhaupt noch irgendwo dazuzugehören und sozial eingebunden zu sein. Dagegen erscheint die Integration in die Gesellschaft aufgrund einer Vielzahl biographischer Brüche gescheitert.“ (Thomas, Stefan / Exklusion und Selbstbehauptung : Wie junge Menschen Armut erleben. – [Campus Forschung ; 946]. – Frankfurt ; New York : Campus Verlag, 2010, S. 12f.)

In seiner wirklich äußerst lesens- und empfehlenswerten Studie geht Thomas darauf ein, wie sich die aktuelle Szene am Bahnhof strukturiert. Eines der interessantesten Merkmale ist, das die Angst der Deutschen Bahn, die Obdachlosen-Szene könnte nicht nur ein negatives Image produzieren, sondern auch eine Gefahr darstellen, nicht zutrifft. Sicherlich muss die Bahn mit solchen Kleinigkeiten wie verdreckten Ecke hinten bei der Gepäckaufbewahrung kämpfen und Räume für Soziale Arbeit und Stadtmission zur Verfügung stellen. Aber angesichts dessen, dass die Bahn reichlich viel Geld von uns dafür einnimmt, uns nicht nur transportieren, sondern auch das Bild vieler Städte mit ihren eigenwilligen Architekturentscheidungen mitzuprägen, sollte sie – dass ist jetzt meine Meinung – auch ihre Verantwortung dafür tragen, den öffentlichen Raum Bahnhof auch für solche Sozialschichten zu verwalten und bereitzustellen, die ihn hauptsächlich als Aufenthaltsraum nutzen. Schließlich ist deren Armut ein Effekt der Gesellschaft, von der die Bahn als Firma lebt.

Die Obdachlosenszene am Bahnhof Zoo zumindest fällt nicht auf, wenn man nicht genau hinschaut. Sicherlich hat die Ironie der Bebauung den kürzesten Weg zur gemeinsamen Bibliothek von Technischer Universität und Universität der Künste vom Bahnhof direkt an der Stadtmission vorbei gelegt, so dass heute wohl mehr Studierende mit der gesellschaftlichen Realität Armut konfrontiert werden. Aber ansonsten gehen die Angehörigen der Szene im allgemeinen Treiben unter. Die Vorstellung, dass Obdachlose ungepflegt seien, bestätigt sich zum Beispiel nicht. Es gibt immer Ausnahmen, aber diejenigen, die nicht auf ihr Äußeres achten, sind auch in der Bahnhofsszene ausgeschlossen – außer, wie Thomas bemerkt, in Momenten, wo die Security gegen sie vorgeht. Dann kann es schon einmal zu Solidarisierungen kommen. Ebenso trifft die Annahme, obdachlos zu sein würde heißen, keine Wohnung zu haben, nicht zu. Obdachlose in Deutschland finden sehr wohl fast jede Nacht einen Platz zum Schlafen, in Notunterkünften, bei Bekannten, bei den wenigen Freundinnen und Freunden, die sie noch haben. Vielmehr ist Obdachlosigkeit durch einen ständigen Wechsel zwischen solchen unsicheren Wohnverhältnissen und dem unregelmäßigen, meist nur einige Monate währenden Zugang zu eigenen Wohnungen gekennzeichnet. Gerade Jugendliche, die der Szene am Bahnhof Zoo angehören, versuchen immer wieder, bei ihren zerrütteten Familien unter zu kommen, was aber – da sie ja zumeist nicht ohne Grund aus diesen Verhältnissen geflüchtet sind – sehr oft sehr schnell wieder scheitert.

Ansonsten verhalten sich die meisten Angehörigen der Szene unauffällig und auch unkriminell. Auch das konträr zum Bild der Obdachlosenszene in der Öffentlichkeit. Die meisten Menschen in Armut wollen dieser Armut auch wieder entkommen und halten sich, so möglich, an Vorschriften und Gesetze. Sicherlich ist der Drogenkonsum an sich kriminell, ebenso die Prostitution Minderjähriger, aber diese Formen der Kriminalität unterscheiden sich doch sehr von dem Bild der Gefahr, mit der die Szene am Bahnhof Zoo oft belegt wurde und wird. Wie wir in den letzten Monaten wieder leidvoll erfahren mussten, geht für die durchschnittlich sozial abgesicherten Mitglieder der Gesellschaft auf Bahnhöfen eine größere Gefahr für ihre Gesundheit und ihr Leben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer durchschnittlichen Schul- und Berufskarriere aus, als von Obdachlosen oder Angehörigen der offenen Drogenszene.

Das die Menschen keinen wirklichen Ausstieg aus der Armut schaffen hat mehr mit der gesellschaftlichen Exklusion zu tun, als mit ihnen selber. Martin Kronauer (Kronauer, Martin / Exklusion : Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. – 2., aktualisierte Auflage. – Frankfurt am Main ; New York : Campus, 2010) hat die Exklusion als gesellschaftlichen Prozess in theoretischer Hinsicht beschrieben und – inklusive einer süffisanten Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns später Einsicht, dass entgegen den Grundannahmen der Systemtheorie Exklusion in modernen Gesellschaften vorkommt – auch im theoretischen Diskurs verankert. Thomas beschreibt sie auf basalerer Ebene, wobei ersichtlich wird, dass Exklusion gerade nicht durch relativ einfache Angebote – wie dem Zurverfügung-Stellen von Medien oder einem kostenlosen Zugang, wie es Öffentliche Bibliotheken oft als ihren Beitrag zur Minderung der Armut beschreiben – alleine zu bewältigen ist:

„Die jungen Menschen scheitern […] im Behördenalltag an der respektvollen Distanz gegenüber der Amtsperson, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Ansprüche durchzusetzen haben; an den Zeitungsinseraten, die sie nicht lesen können; an den rechtlichen, handlungspraktischen und sprachlichen Barrieren; an den institutionellen Funktionen und Rollen, die sich nicht beherrschen. Was angesichts der institutionellen Exklusion bleibt, sind die Marginalbereiche des Lebens, wo die Überlebenssicherung durch die unmittelbar vorfindlichen und ad hoc erschlossenen Möglichkeiten der sozialen Lebenswelt sichergestellt wird.“ (Thomas, 2010, a.a.O., S. 156f.)

Stefan Selke schreibt in seiner ebenfalls äußerst informativen Studie über die Lebensmitteltafeln in Deutschland, die nach Schätzungen immerhin rund eine Million Menschen in Deutschland regelmäßig mit Lebensmitteln und anderen Waren ausstatten, in seinen abschließenden Thesen, dass „[ü]ber die Tafeln [und ihre Funktion] nachdenken, heißt, politisch zu denken und zu agieren.“ (Selke, 2008, a.a.O., S. 216) Das lässt sich aber auf alle gesellschaftlichen Einrichtungen übertragen, die den Anspruch erheben, gegen Armut vorzugehen oder das Leben der Menschen in Armut einfacher zu machen.

Auch wenn es in Deutschland ein beliebtes Spiel ist, verbietet sich beim Thema Armut jeder Sozialexhibitionismus. Menschen in Armut sind keine Anschauungsobjekte, keine Subjekte, an denen Gutmenschen ihr Gutmenschentum auslassen dürfen, sondern Personen, die in einem reichen Land strukturell ausgegrenzt werden, und das oft auch für Krankheiten wie dem Alkoholismus, die in anderen Sozialschichten zu einer Therapie führen würden, nicht zur Ausgrenzung. Hier nicht im Bild des Bahnhof Zoologischer Garten sind also die sehr wohl um die Ecke in der anderen Eingangshalle und hinter dem Photographierenden auch um halb zwei Uhr Abends anwesenden Mitglieder der Bahnhofsszene. Wenige Stunden vor und nach diesem Bild war der Bahnhof bevölkert von Menschen, die in Berlin unterwegs waren, gerade ankamen oder wieder fuhren. Auch zum Bibliothekartag werden viele Besucherinnen und Besucher an diesem Bahnhof vorbeikommen. Egal, wie sehr die Bahn sich um das Image des Bahnhofs sorgte und wie hässlich sie ihn letztlich umgestaltete: Er ist einer der belebtesten Orte West-Berlins geblieben. Die Bahnhofsszene der Obdachlosen und Armen fällt nicht auf. (Nerven tun eher die Scientologinnen und Scientologen, die vor dem Bahnhof oft versuchen, Menschen für einen Besuch in ihrer in Laufnähe befindlichen Sektenzentrale anzuwerben. Deshalb starten vor dem Bahnhof auch die monatlichen Proteste gegen Scientology.)