Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In einer Weihnachts-Kindheitserinnerung bei Nicolas Nabokov.
Ben Kaden / @bkaden
Vladimir Nabokov stammt nachweislich (als Nachweis dient die eigentlich immer opportune Tiefenlektüre des Kanons, den er uns hinterlassen hat) aus einem kulturellen Umfeld, in der die Praxis des Lesens, das Medium Buch und die Bibliothek nicht gerade gering im Kurs standen. Es ist davon auszugehen, dass die ausreichende Versorgung der Kinder mit Druckwerken um 1900 für die Oberschicht in Sankt Petersburg so üblich war wie lange Sommer auf dem Lande. Während Vladimir Nabokov von letzteren Ferienspielen die Liebe zur Schmetterlingskunde mitnahm, spielte die Präsenz des Gedruckten in den jeweiligen Land- und Stadtsitzen sicher keine unerhebliche Rolle, um aus ihm einen der famosesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden zu lassen, wenngleich solche Mutmaßungen müßig sind. Denn ebenso war es das (wohl sehr erfüllte) Frühlingserwachen mit Walentina „Maschenka“ Schulgina, die ihn zu flammenden Frühdichtungen inspirierte, weshalb die (verlorene) Liebe ebenso wie (oder gar mehr noch als) die väterliche Hausbibliothek als Basisgranulat für die Hinwendung zur Literatur anzuerkennen ist.
Sein vier Jahre jüngerer Cousin Nicolas, der ebenfalls in einer Lebenswelt heranwuchs, in der goldene Löffel im Mund der Kinder wahrscheinlich keine Metapher waren, Landgüter wie Askania-Nova zum Familienbesitz zählten und man später die Gelegenheit hatte, darüber zu trauern, dass der Duft Trèfle Incarnat (und nicht etwa: Cuir de Russie) des Pariser Parfümeurs Maison Piver nicht mehr hergestellt wird, fand dagegen etwas, nicht minder Musisches. In seinen Memoiren reist er nach bestem Wissen und Erinnern verschriftlichend seine Biographie entlang, die 1975 unter dem Titel Bagázh. Memoirs of a Russian cosmopolitan. (New York: Atheneum) erschien.
Wobei der Bezug auf die Bagage zumindest hinsichtlich seines Onkels auch die zweite Bedeutung neben den „persenningbedeckte[n] Berge[n]“ in „Hotelhallen, Eisenbahnwaggons, auf Landauern“ einlöste. Denn Friedrich (von Falz-Fein), Gutsbesitzer zu Neu-Askanien hielt wenig von schöngeistigen (und anderen) Zerstreuungen:
„Für Onkel Friedrich waren Religion, Philosophie und ganz besonders Romane ein unnötiger Ballast, gut für Faulpelze und indolente Frauen. Er sprach gern von wissenschaftlichen Entdeckungen, von Zoologie, Botanik und angewandten Wissenschaften und von allem, was, wenn auch nur entfernt, mit Askania zu tun hatte. Aber auch über Geschichte und Politik konnte er reden, wenn seine Zuhörer intelligent und imstande waren, mit ihm zu diskutieren.“ (Nabokov, S.96)
Es handelte sich also offenbar um einen ganz normalen progressiven Patriarchen seiner Zeit. Nicolas Nabokov ließ sich davon allerdings weniger auf die Schiene der Natur schieben, sondern verlor sein Herz zielstrebig an die Musik. Dass er sich selbstironisch in die Kiste der Menschen einordnete, die die zweite Bedeutung von Bagage (sprich: Baggasche) gemeinhein betrifft, darf ausgeschlossen werden. Das Wortspiel, das seinem berühmteren Vetter so leichthändig in die entstehende Weltliteratur floss, ist die Sache Nicolas Nabokovs, wenigstens bei seiner Rückschau, nicht.
In dem sehr schön durchkoloriert ansetzenden (die TLS-Rezensentin Gabriele Annan schrieb einst von „ultra nostalgia“, Annan, 1976), ziemlich blass ausklingenden und insgesamt oft leider etwas schludrig übersetzten Erinnerungsbuch (aus deutsch. Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975) beschreibt er, wie er zu seiner Passion fand (u.a. durch die Tradition der Salonmusik), die ihn übrigens. stärker mit Vladimirs Bruder Sergej, der im Januar 1945 im Konzentrationslager Neuengamme starb, verband. Der gemeinsame Nenner hieß Verdi, während Nicolas Nabokov Sergejs Begeisterung für Wagner wenig nachvollziehen konnte.
Wobei es ihn trotz (oder wegen) der Musik ab und an in die Bibliothek zog. So schildert er in einer Nebenbemerkung zum Winter 1914 im nun auch im Stadtnamen de-germanifizierten vor- und nachmaligen Sankt Petersburg:
„Viele Geschäfte in Petrograd hatten Schilder aushängen: »Es wird gebeten, nicht Deutsch zu sprechen.« Ein solches Schild hing auch, in deutscher Sprache, in der Deutschen Abteilung der Petrograder öffentlichen Bibliothek.“ (S.112)
Das Gebäude hatte er schon zuvor als Achtjähriger entdeckt, als er im September 1911 mit einem Teil der Familie in das betrübliche Sankt Petersburg umzog:
„Das »Palmyra des Nordens« schien ungastlich und die Fahrt im Landauer endlos. Endlich, nach vielem Rumpeln und Kurven, erreichten wir eine breite Avenue. Sie war besser erleuchtet, einige menschliche Schatten huschten über die Bürgersteige. »Dies ist der Newskij Prospekt«, sagte P.S., »und dort«, er zeigte auf ein graues Gebäude, »ist die berühmte öffentliche Bibliothek, deren Direkter [sic!] Krylow war.« Er bekam keine Antwort. Ob »berühmt« oder nicht, keiner von uns fand daran Interesse. Wir waren unausgeschlafen und brummig, nichts konnte uns gleichgültiger sein, als wer der Direktor der berühmten Bibliothek gewesen war.“ (S.98)
Es bestand auch keine Eile, lag der neue Familienwohnsitz am Fontanka-Ufer (Hausnummer 25) nur zwei Straßen entfernt. Die (wahrscheinlich nur temporäre) Ignoranz Iwan Krylow gegenüber überrascht dagegen, zählten dessen Fabeln doch zur Standardlektüre der Kinder dieser Zeit und Nicolas Nabokov beschreibt, wie auf Gut Prokowskoje, dem Besitz seines Stiefvaters, in einer Art Kinderzimmerinszenierung die Fabel „Die Libelle und die Ameise“ aufgeführt wurde, wobei Nicolas die Libelle spielte. (S.37f.) (Vladimir Nabokov zählte Krylov übrigens ausdrücklich zu den Autoren, denen er in seiner berühmten Entgegnung an seine Kritiker (1966) seine „very special and very subjective admiration“ ausspricht. (S. 89))
In den Nabokov-Falz-Fein’schen Kreisen war es freilich nicht nötig, das Haus zu verlassen, um eine Bibliothek zu besuchen. Denn wie in den Kindheits- und manchen literarischen Welten Vladimir Nabokovs war ein Bibliotheksraum anscheinend fester Bestandteil eines jeden Nabokov-bewohnten Hauses, so beispielsweise auch auf dem großmütterlichen Gut in Preobrashenka:
„Wir stürmten durch die Bibliothek, das danebenliegende fumoir, einen großen Rauchsalon mit glattem Parkett, zum Haupteingang. Dort wartete ein linejka genanntes Ding auf uns – eine russische Mischform aus einer englischen Brigg und einem amerikanischen Wagen. Wir stiegen ein und fuhren einige Meilen durch die Steppe zu einem Pflaumen- und Pfirsischgarten, der am Ufer des Liman lag. An dieser flachen Bucht stiegen wir aus und gingen ans Wasser hinunter.“ (S. 77)
So konnte sie auch sein, die Kindheit in der Welt von Gestern.Im Sommer durcheilte man die Bibliothek allerdings offenbar ohne Halt, weil bereits die Kutsche zum Jodbad wartete. Im Winter jedoch verhielten sich die Dinge anders und in einem der schöneren Kapitelchen des Erinnerungsbuches in Nicolas Nabokovs beschreibt dieser ein Weihnachtsfest auf Schloss Lubcza (Любча) über der Memel, in dem er nicht nur 1903 geboren wurde, sondern in dem es eine Bibliothek sogar mit eigenem Bibliothekar gab:
„Moissej Jossifowitsch dessen Nachnamen ich nie gewußt habe, war unser Buchbinder, unser Bibliothekar und gelegentlich unser Vorleser von biblischen Geschichten. Er war ein hochgewachsener, bleicher Mann, mit einem silbernen Haarschopf, einem Tolstoi-Bart, einem pergamentenen Gesicht mit hellen blauen Augen und einer geraden griechischen Nase. Er war, wie ich später erfuhr, der zadik (Älteste) der chassidischen Gemeinde unseres Dorfes. Er las im Singsang eines Tenorinos, und wenn er sprach, war seine Stimme nur wenig mehr als ein Geflüster. Er trug einen schwarzen Gehrock und zog von Zeit zu Zeit aus seiner Hose Kandiszuckerstückchen, deren Einwickelpapier leicht nach Hering roch. Es war etwas Freundliches, beinahe Heiligmäßiges an ihm, und ich mochte ihn immer lieber und freute mich auf seine wöchentlichen Besuche in der Bibliothek.“ (S.56)
Glücklicherweise scheint die Aufmerksamkeit für das Detail und die Möglichkeit, dies auch Jahrzehnte später derart fein aufgeschlüsselt abrufen zu können, ein Basismerkmal wahlweise erfüllter und sorgenfreier Kindheiten oder einfach der Nabokovs zu sein. Und so erfahren wir einiges über die Rolle der Bibliothek und des Bibliothekars auf einem Schloss der russischen Aristokratie am Vorabend des ersten Weltkriegs. Der tiefreligiöse Moissej Jossifowitsch betreute also den Bestand und führte das Bestandsverzeichnis. Wenn er zu seinem Wochentermin ins Schloss kam
„[…] brachte [er] ein paar frischgebundene Bücher und nahm einige broschierte (meist aus der Tauchnitz-Edition) wieder mit. Den Titel jeden Buches, den Namen des Verfassers und das Erscheinungsjahr trug er in ein großes, schwarzes Kontobuch ein, das er zu diesem Zweck in vier Teile aufgegliedert hatte, Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Auf die Titelseite hatte er in schönen Lettern das Wort »Katalog« gemalt.“
Die Erschließung erfolgt offenbar einfach und zielgerichtet orientiert an den vier Leitsprachen der damaligen Bildungswelt. Die Erwerbungspolitik war freilich unsystematisch:
„Die »Bibliothek« [in dieser zeitigen Erinnerung offensichtlich noch von einer richtigen Bibliothek zu differenzieren] war ein rechteckiger Raum mit Regalen aus heller Eiche. In seiner Mitte stand ein mit grünem Fries belegter Tisch mit Stühlen herum. Er war mit Zeitungen und Zeitschriften bedeckt. Die Regale enthielten nichts Wertvolles, mit Ausnahme vielleicht einiger Bücher über Jagd, einiger zoologischer und speziell ornithologischer Werke, ferner Bände von »Klassikern« in verschiedenen Sprachen. Der größte Teil bestand aus Büchern, die jemand jemandem geschenkt oder einer der Gäste liegen gelassen hatte, aber alles – dank der Tätigkeit von Moissej Jossifowitsch – ungeachtet seines Wertes oder Inhalts, schön gebunden und nach Größe und Farbe geordnet.“ (S.57)
Bei der Aufstellung verfuhr er entsprechend so, wie wann es gemeinhin mit überschaubareren Sammlung und/oder bei räumlichen Optimierungszwang gern vornimmt: raumsparend und farbharmonisch.

Wer Weihnachten 2013 in Deutschland Eis und Schnee finden wollte, musste entweder hoch hinaus oder in die Literatur reisen. Da wir die erste Variante wählten, erscheint dieser Beitrag erst nachweihnachtlich. Andererseits gehen wir davon aus, dass unsere LeserInnen in dieser besonderen Woche des Jahres ohnehin andere Dinge unternimmt, als auf Updates im LIBREAS-Weblog zu warten. Insofern halten wir die Verzögerung für verzeihlich.
Dass sich Nicolas Nabokov so präzise an die Bibliothek erinnert, in der er als Vierjähriger den jüdischen Bibliothekar bestaunte („am Ende des Tages verabschiedete er sich mit »a git‘ Nocht«“, ebd.) liegt möglicherweise auch daran, dass der Raum eine zentrale Position in der Erinnerung an das Weihnachtsfest 1908 einnahm. Nicolas‘ Mutter war, es ist fast wie ein Filmplot, an diesem Tag in Vilnius, wo sie operiert werden musste.
„Die Operation schloß Chloroform ein – ein Wort, das mich erzittern ließ – und eine Menge bedeutender Ärzte.“ (ebd.)
Da die Behandlung also einen unsicheren Ausgang besaß, setzte man die Kinder des Hauses zum Warten in die Bibliothek und teilte ihnen mit, dass die Situation alles, was über den religiösen Kern des Weihnachtsfestes hinausreiche, ausschloss. Dieser Ausschluss beinhaltete sowohl den Christbaum wie auch die Geschenke.
„So saßen wir denn in der Bibliothek an dem Tisch mit dem grünen Fries [hier also liegt der Erinnerungsanker!], zappelten auf unseren Stühlen herum und hörten uns alle möglichen Geschichten an, die mit der Geburt Jesu zu tun hatten. [die Erinnerung an die Geschichten ist beachtenswerterweise deutlich unschärfer als die an den Raum] Wir lebten seit einigen Wochen in Fasten, und zwar griechisch-orthodoxen, die Eier, Milch, Sahne und Butter ausschlossen und Fisch nur an Sonntagen erlaubten. Der letzte Tag der Fasten, der Heilige Abend, ist der Höhepunkt, an dem man überhaupt nichts mehr essen darf, bis der erste Stern, der von Bethlehem aufgegangen ist. Nach der Chistversper in der Kirche sollte es, wegen Mutters Zustand, nur das rituelle Gericht, eine Gerstengrütze ohne Butter oder Milch und ein Kompott aus Backobst geben, Gerichte, die an die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten erinnern. Nach diesem rituellen Mahl würden wir dann zu Bett gehen und für die Gesundheit unserer Mutter beten.“ (S.58)
So saßen die Kinder mit Mossej Jossifowitsch im Bibliothekszimmer, der ihnen nur Teile des Alten Testaments und keinerlei Zerstreuungsfähiges vortrug und warteten auf den Stern. Allerdings schneite es. Das Weihnachtswunder brach anders in die gedrückte Stimmung und zwar dank der Kommunikationstechnologie dieser Zeit:
„Tante Karolina stob mit einem vor Freude strahlenden Gesicht und roten Augen ins Zimmer. Sie konnte kaum sprechen. In ihrer Hand hielt sie ein Telegramm und winkte uns damit zu. Wir flogen hin zu ihr und umarmten sie. M.J. nahm das Telegramm und las es laut vor: »Lidotschka erfolgreich operiert. Sie ist außer Gefahr. Gott segne Dich und die Kinder.“ (ebd.)
Wie auch im richtigen Leben üblich, flacht das Wundersame dieses Weihnachten in der Schilderung Nabokovs an dieser Stelle viel zu schnell ab (seinem Vetter Vladimir wäre das wahrscheinlich nicht passiert) und er koppelt an diesen emotionalen Expresszug bedauerlicherweise sofort den sorglosen Vortortbahnwaggon des kommenden Jahres. Weihnachten 1909 erhält er von Mossej Jossifowitsch an einem klaren 24.Dezember in der Bibliothek eine Einführung in die Astronomie, da ihm der Hausbibliothekar erklärt, dass der Stern von Bethlehem gar kein Stern sondern die Venus ist und in der Bibliothek erwarten die Kinder – ohne Lesungen, wie Nicolas Nabokov ausdrücklich vermerkt – die Bescherung:
„Die »wenigen Minuten« schienen eine Ewigkeit. Endlich hörten wir Schritte die Treppe herunterkommen, und Butler Alexej und Kutscher Anton in ihren Festtagslivreen öffneten beide Flügel der Bibliothekstür. Pjotr Sigismundowitsch führte die ungeordnete Herde treppauf in den ersten Stock vor den erstrahlenden Baum.“ (S.62)
Nach dem Weinachtssingen – „Wir haspelten die Lieder schnell undcon scioltezza herunter. Selbst »Stille Nacht« klang mehr wie ein Walzer als der Schmachtfetzen, der es ist.“ S.63 – ging es an die „jeweiligen Geschenktische[..]“ und ein Puppenspieler spielte den Kindern „vor der drapierten Tür der Bibliothek“ ein wenig betörendes Stück vor. Glücklicherweise bekam jedes Kind dann noch ein Shetlandpony als Dreingabe:
„Das war sicher die bemerkenswerteste aller Überraschungen des Tages. Es war das Fasten, das langweilige Vorlesen und die Strapazen des Puppenspiels wert.“ (S.64)
Und auch wenn dies ein wenig garstig und undankbar gegenüber erscheint, so birgt dieses handliche Kapitel vielleicht sogar unbewusst das Spektrum dessen, was ein Weihnachtsabend ganz allgemein so an Stimmungsschwankungen für Kinder enthält (wenn auch heute mehr ohne Fasten und zugleich meist mit etwas bescheidenerem Geschenkeniveau). Weitere Häppchen Bibliothek enthalten die Memoiren Nicolas Nabokovs leider nicht. Spätere Weihnachten feierte er zum Beispiel bei den Stravinskys in Hollywood. (vgl. S.337f.) Und irgendwann tuckert auch der Reiz solcher Anekdoten, zum Dutzendpack verschnürt, in die stille Nacht hinaus und verhallt so nach und nach. Dass die TLS-Rezensentin 1976 bis zum Schluss eine Anekdotenkette eines „virtuoso racounteur really grooving“ (Annan, 1976) las, deutet darauf hin, dass diese über eine Gabe verfügt, die mir nicht gegeben ist: Die Schleife zwischen den Cousins und wie sie jeweils im Vergleich ihre Erinnerung sprechen lassen zu ignorieren.
Wenn man also jetzt zwischen den Jahren ein Buch von nur einem Nabokov zu lesen schafft, dann sollte man sich unbedingt gegen dieses nicht uninteressante, aber eben nur auf den ersten Seiten überhaupt mitreißende Selbstandenken von Nicholas entscheiden und lieber für eines aus dem Repertoire seines Cousins. Selbst die Weihnachtserzählung des 29-Jährigen Vladimir, veröffentlicht am ersten Weihnachtsfeiertag vor 85 Jahren in der Berliner Emigrantenzeitschrift Rul, ist literarisch deutlich satter. (Nabokov, 1999) Bereits im Januar 1925 erschien in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben von Rul (und fünfzig Jahre später in The New Yorker) die herzzerbrechende andere Weihnachtsgeschichte, an dessen Ende nicht unbedingt nur der Atlasspinner an der Wand des Landhaus einen „glazy eyespot“ aufweist. (Nabokov, 1976) Oder aufwies, wie Tatyana Tolstaya in ihrer Besprechung der Kurzgeschichte für die Los Angeles Times andeutete:
„Both the theme and the message of the story were appropriate for the Christmas issue of the paper, and the marvelous description of the Russian winter probably provoked cruel attacks of nostalgia in Russian exiles pining away in the rotten January of Western Europe.“ (Tolstaya, 1996)
Berlin, Dezember 2013
Gabriele Annan (1976) Under the apple trees. In: Times Literary Supplement. 22 Oct. 1976: S. 1326.
Nicolas Nabokov (1975) Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975
Vladimir Nabokov (1966) Nabokovs Reply [Leserbrief] In: Encounter. Februar 1966, S. 80-89
Vladimir Nabokov (1976/1925) Christmas. In: ders. (1976) Details of a Sunset and Other Stories. London: Weidenfeld and Nicolson. S.151-162
Vladimir Nabokov (1999/ 1928) Eine Weihnachtserzählung. In: ders. (1999) Der neue Nachbar. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. S. 166-175
Tatyana Tolstaya (1996) A Phoenix From the Russian Snow: The perennial warmth of Vladimir Nabokov’s magical stories. In: Los Angeles Times, 04.02.1996. Online: http://articles.latimes.com/1996-02-04/books/bk-32004_1_vladimir-nabokov
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In Vladimir Nabokovs Glory.
von Ben Kaden
Vladimir Nabokovs kleiner, wundersamer Roman Glory (Originaltitel: Подвиг, Deutsch: Die Mutprobe), geschrieben auf Russisch in den frühen 1930er Jahren in Berlin, ist genau genommen ein Buch der Postkarten und Briefe, denn diese Formen interpersonaler Medien ziehen vielfältig, beziehungsprägend und somit entscheidend Schicksalsfäden zwischen den Protagonisten. Das Zitat:
„In the mornings she would wait for the postman just as avidly as during her son’s years at Cambridge, and now, when a letter came for Martin (and it was not often), in an office envelope, addressed in a spidery hand and bearing a Berlin postmark, she felt the keenest joy and, snatching the letter, hurried to his room.“ (Nabokov, 2006, S.105)
mag hier als Beispiel andeuten, wie sehr das Buch eigentlich ein „Briefroman“ ist. (Ein wenig ausführlicher hatte ich mich in dieser Randbetrachtung damit auseinandergesetzt, Kaden, 2009.)
Bibliotheksbezüge sind in Glory dagegen außerordentlich rar, was auf den ersten Blick ein wenig verwundert, da ein Handlungsschwerpunkt in der durchaus detailliert beschriebenen Universitätskultur von Cambridge liegt, wohin die Hauptfigur, Martin Edelweiss, zum jungen Nabokov nicht nur in der Wahl der Hochschulstadt durchaus biografische Parallelen aufweisend, statt wie zunächst nach Genf zum Studium der russischen Literatur und zur Nebenkarriere als Meistertorwart des Trinity-Fußballteams zog. Letztlich scheint ihm das zweite wichtiger gewesen zu sein. In seinen – Speak, Memory – Erinnerungen an seine eigen Zeit in Cambridge vermerkt Nabobov nicht nur die eher sparsamen wissenschaftlichen Ambitionen:
„Scholastically, I might as well have gone up to the Inst. M.M. of Tirana.“ (Nabokov, 1989, S.268)
sondern sehr offen und mit Nachdruck:
„Not once in my three years in Cambridge – repeat: not once – did I visit the University Library, or even bother to locate it (I know its new place now), or find out if there existed a college library where books might be borrowed for reading in one’s digs.“ (ebd.)
Was er im Nachgang möglicherweise auch deshalb bedauerlich gefunden haben könnte, da der Bibliotheksdirektor zu Nabokovs Zeit in Cambridge (1919-1922) nicht nur seine letzten Dienst- und zugleich Lebensjahre (so war es einmal: Man blieb bis zum Ende im Beruf.) verbrachte, sondern eben dieser Francis Jenkinson seine erwartbare buchwissenschaftliche Hingabe offensichtlich mit einer entomologischen zu koppeln verstand (so war es einmal: Multidisziplinarität war auch individuell üblich.).
Der zunächst ebenfalls zoologisch (bzw. ichthyologisch) bemühte Student Vladimir Nabokov (vgl. Boyd, 1999, S. 280) veröffentlichte immerhin relativ früh in seiner Studienzeit, also in diesen Jahren, seine erste englischsprachige Arbeit und zwar in der Zeitschrift The Entomologist: „A Few Notes on Crimean Lepidoptera“ (Vol. 58, Iss. Jan 1920, S. 29-33). Naturgemäß blieb auch das Krim’sche Märchen des Teenagers Martin nicht ohne entomologische Spuren. („The crickets kept crepitating […]“, Nabokov, 2006, S. 16) Wobei das schönste diesmal lepidopterologische Detail im Kapitel 21 aufflattert, in dem Martin, soeben einen alpinen Fels hinabgestürzt, auf einem bücherregalbreiten („A width of a bookshelf underfoot […]“) Gesims über dem Abhang steht und weder vor noch zurück kann:
„He experienced faintness, dizziness, sickening fear, yet at the same time he observed […] the entirely black butterfly that fluttered by with enviable casualness like a quiet little devil and began to rise along the rock face; …“ (Nabokov, 2006, S.70)
Kehrt man vom Geröll jenseits der Baumgrenze zur Bibliothek zurück – und Martin kehrt immerhin bald nach diesem Erlebnis nach Cambridge zurück – ist angesichts der bekundeten Bibliotheksignoranz Nabokovs ein Detail bemerkenswert. Im 16. Kapitel fragt ihn nämlich Sonia Zilanov, seine zu dieser Zeit in London lebende Sehnsuchtsperson und jüngere Tochter der russischen Familie, die ihn, als Bekannte seiner Mutter (der Vater, Mihail Platonovich, übersandte ihr einst den Brief mit Nachricht vom Tod ihres Mannes), in England in Empfang nehmen sollte, was in Folge Martins plötzlichem Aufeinandertreffen mit einem Freudenmädchen namens Bess vor einem Londoner Schmuckgeschäft und dann in einem Hotelzimmer erst im zweiten Anlauf und erst im Kapitel 12 (statt 11) gelang, bei einem Besuch im Universitätsstädtchen:
„And what’s that pinkish house over there?“
Erstaunlicherweise muss Martin auf der kleinen steinernen Brücke über die gemütlich fließende Cam nicht überlegen, sondern antwortet unverzüglich:
„That’s the library building …“ (Nabokov, 2006, S.55)
Genauer will es zehn Seiten später Sonias Vater Vater bei einem weiteren Besuch wissen und auch diesmal könnte Martin wenig gleichgültiger sein:
„[W]hen he encountered Sonia, he instantly had the sensation that he stood in relief against a dark background. The same thing had happened on her last visit to Cambridge (she had com with her father, who had tormented him with questions about the age of various colleges and the number of books in the Library, while she and Darwin [sein bester Freund und Sonias für Martin sehr schmerzliche Tändelei] kept quietly laughing about somehting or other) […]“ (Nabokov, 2006, S. 65)
Die beiden anderen Anspielungen auf Bibliotheken in Glory haben einen Berliner Hintergrund. Die Zilanovs sind mittlerweile in die russische Emigrations-Metropole Berlin gezogen – 1923 gab es in Berlin ca. 360.000 (!) Asylanträge russischer Flüchtlinge – und in der Tat war Berlin in diesen Jahren der intellektuelle Hotspot russischer Kultur wahrscheinlich weltweit (es erschienen 1923 allein 39 russische Zeitschriftentitel in Berlin (auch Mihail Platonovich Zilanov arbeitet nun dort als Redakteur einer Wochenzeitung) und es gab 86 russische Verlage und Buchhandlungen, vgl. Urban, 2003, S. 11 und 17) und ein großer Teil von Nabokovs russischer Prosa ist von diesen Eindrücken wundervoll durchtränkt, was seine Werke auch zu einzigartigen Zeitdokumenten dieser Jahre macht.
Über Sonia gelangt Martin nun in einen dieser zeittypischen Kreise russische Schriftsteller, die sich in diesem Fall um den mittelmäßigen aber umso selbstsichereren Stepan Bubnov (der schließlich mit Sonias Hilfe Martins Träumereien plagiiert) gruppieren, wobei Martin bewusst wird, dass er, was das literarische Zeitgeistwissen betrifft, das sich durchaus auch in Emigrantenkreisen stabil in Bezug zu den in Petrograd und Moskau publizierten Neuerscheinungen zusammenfügte, nicht mithalten kann. Zum Status des farblosen Beobachters verurteilt, von Sonia mitleidig belächelt, versucht er mittels Parforce-Lektüre aufzuschließen:
„In compensation, shamed by the backwardness of his erudition, he devoted every hour of rain to reading, and very soon became familiar with that special smell, the smell of prison libraries, which emanated from Soviet literature.“ (S.114)
Mit realen Gefängnisbüchereien und deren Duft hat das freilich wenig zu tun. Vielmehr sprüht Nabokov hier eine treffende Metapher für die unter kontrollierten Bedingungen und auf bestimmte Ziele vorsortierte bzw. geschriebene Literatur in den Raum (allerdings noch vor der Hochzeit des Sozialistischen Realismus), welche, wenn man die Schraube der Deutung noch einen Tick weiter drehen möchte, wie eine Bibliothek dem Kollektiv (hier: dem eingesperrten) übergeben wird.
Was Nabokov an dieser Stelle recht frühzeitig meinte, wird u.a. in einem Interview aus dem Jahr 1965 mit Robert Huges für das New Yorker Bildungsfernsehen Thirteen bestätigt :
„Die Sowjetliteratur… Nun , in der ersten Phase nach der bolschewistischen Revolution, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, konnte man zwischen den gräßlichen Platitüden der Sowjetpropaganda noch die verlöschende Stimme einer älteren Kultur ausmachen. Der primitive und platte Geist zwangsverordneter Politik […] bringt nur primitive und platte Kunst hervor. Das gilt zumal für die ’sozialistisch-realistische‘ und ‚proletarische‘ Literatur, wie sie im sowjetischen Polizeistaat gefördert wurde. Die Gorillas in Schaftstiefeln haben dort Schritt für Schritt das echte Schriftstellertalent, das Ausnahmeindividuum, das fragile Genie ausgerottet.“ (Nabokov, 1993. S. 98f.)
Der monolinguale und etwa ein Jahrzehnt ältere Bubnov faszinierte Martin, den der Nabokov’sche Weitblick zu diesem Zeitpunkt des Romans noch nicht ereilt hatte, zunächst sehr und mit großer Freude begleitete er diesen als eine Art Übersetzungsfamulus:
„Bubnov knew no language other than Russian, so that when he had to go to the State Library for his research and Martin happened to be free, he willingly took him along. Martin’s command of German being mediocre, he was glad when a text chanced to be in French, English, or, better still, Italian. True, he knew that language even less than German, but particularly prized his scant knowledge […]“ (Nabokov, 2006 S.115)
Mit der Erkenntnis, dass die Staatsbibliothek zu Berlin offensichtlich auch für die russischen Emigranten im Berlin der frühen 1920er Jahre ein wichtiger Anlaufpunkt war, dürfte allerdings die schöne Traube Glory hinsichtlich bibliothekarischer Bezüge bereits nahezu vollständig ausgepresst sein. Unter der motivischen Saftpresse des Eisenbahnwesens, beispielsweise, wäre die gloriose Rebe sicher weitaus ergiebiger und vielleicht sogar, wie man bei Andrej Bitow (1996) nachlesen kann, zum Thema Glauben. Und natürlich auch zur üblichen Grausamkeit verschmähter Liebe und unverstandener Träume. Aber hier geht es um die Bibliothek in der Literatur und die zwei, drei unvermeidlichen Schleifen, die sich wie von selbst dazuflochten, mögen da als Blick über den thematischen Rand reichen. Und vielleicht als Dreingabe noch eine kleine Ernüchterung aus der wohlvertrauten Mitte Berlins:
„The toy shops on the once elegant Friedrichstraße had thinned out and lost their sparkle, and the locomotives in their windows looked smaller and shabbiert. The pavement of this street had been torn up, and shirt-sleeved workmen were drilling, and digging deep smoky holes, so that you had to pick your way over planking, and sometimes even across loose sand. In the Panopticon of Waxworks on Unter den Linden the man in a shroud, energetically climbing out of his grave, and the Iron Maiden, that instrument of strong and hard torture, had lost their ghoulish charm.“ (Nabokov, 2006, S.110)
Dass diese Zeilen nahezu passgenau auf die Gegenwart geworfen werden könnten – es gibt ein blasses Madame Tussauds Unter den Linden und (nach Berliner Verhältnissen) nicht allzu weit davon wie in Ergänzung mit dem Berlin Dungeon ein weiteres Gruselkabinettstückchen sogar inklusive einer „Alten Bibliothek„, Baustellen wie beschrieben markieren den Kreuzungspunkt der benannten Straßen und nicht mehr viele Spielwarenläden gibt es auch heute noch in der Friedrichstraße – lässt nämlich Nabokovs Glory im Wechselspiel mit dem heutigen Berlin in einer fast verstörenden Überzeitlichkeit erstrahlen.
(Berlin, 11.08.2013)
Literatur
Andrej Bitow (1996) Die Unsterblichkeit eines Mückenstichs: Ein Russe liest Nabokov. In: DU: Die Zeitschrift der Kultur. Heft 6 , 1996, S. 44,45,106
Brian Boyd (1999) Vladimir Nabokov. Die russischen Jahre 1899-1940. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Ben Kaden (2009): Nabokov, Benjamin und Sharapova – einige philatelistische Marginalien. In: postiques.wordpress.com / http://postiques.wordpress.com/2009/12/09/nabokov-benjamin-und-sharapova-ein-paar-philatelistische-marginalien/
Vladimir Nabokov (1920) A Few Notes on Crimean Lepidoptera. In: The Entomologist. Vol. 58, Iss. Jan 1920, S. 29-33
Vladimir Nabokov (1989) Speak, Memory. New York: Vintage.
Vladimir Nabokov (1993) Deutliche Worte. Reinbek beim Hamburg: Rowohlt
Vladimir Nabokov (2006) Glory. London: Penguin.
Thomas Urban (2003) Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre. Berlin: Nicolaische Buchhandlung
It’s the frei<tag> 2012 Countdown (18): Bibliothek und Tagpfauenauge bei Vladimir Nabokov.
Ben Kaden
Vorbemerkung: Es ist unvermeidlich Sommer und wer dieser Tage ins Berliner Institut geht, findet es zwar aufgeschlossen, aber doch verlassen vor. Was in gewisser Weise auch vernünftig ist, denn auf hoher Rotation ganzjährig durchzuarbeiten, erweist sich selten als nachhaltig gesundheitsfördernd. Zuviel Sommerfrische dann offenbar auch wieder nicht und wir wissen nicht ganz genau, wie es geschehen konnte, dass uns der Countdown-Beitrag Nummer 18 einfach verloren ging. Damit wir dem nicht weiter nachgehen (und uns womöglich ebenso verlieren) müssen, deklarieren wir einfach den heutigen Beitrag zur Nummer 18. Und erinnern uns damit wieder zurück an das schöne Wochenende und die dazu gehörende Stimmung, die schwerwiegenden Überlegungen zu Bibliotheks- und Informationswissenschaft wenig und einem lockerem Querlesen auf der Wiese im Park viel Raum lassen sollte. Umso mehr, als es ja ein Wochenende in den Sommerferien war. Und damit sollte zugleich für diesen Countdown auch unsere Rubrik Die Bibliothek in der Literatur angemessen bedient sein.
Tage wie dieser späte Julisamstag sind typischerweise durch Besuche von Freunden und/oder Verwandten gekennzeichnet. In Berlin jedenfalls sieht man derzeit an den touristischen Sammelstellen (Museumsinsel, Hackescher Markt, Rosenthaler Platz, Bernauer Straße) häufiger, wie jüngere Semester der hiesigen Hochschulen improvisierte Stadtführungen für die, die ihnen hoffentlich am Herzen liegen, veranstalten.
Ob sich dabei auch derart an biografischen Rückblenden reiche Dialoge entwickeln wie zwischen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, Hauptfigur in Vladimir Nabokovs letztem in Russisch verfassten Romans „Die Gabe“ (entstanden 1935-1937, enthält eine wunderbare Beschreibung der Pfalzburger Straße) und seiner in Paris lebenden Mutter Jelisaweta Pawlowna, die ihn in Berlin besucht und damit die Erinnerungstür zu Kindheit und verlorenem Vater weit aufstößt, lässt sich freilich nicht beantworten. Nicht ganz unwahrscheinlich ist jedoch, dass sich etwas wie die folgende Szenerie auf den Abreisebahnsteigen abspielt, wenn beispielsweise Studenten der Bibliothekswissenschaft ihre Mütter verabschieden:
„ «Ich mache dir einen Vorschlag», sagte seine Mutter fröhlich, als sie sich trennten. «Ich habe etwa siebzig Mark übrig, mit denen ich nicht viel anfangen kann, und du mußt besser essen. Ich kann nicht mitansehen, wie mager du bist. Hier nimm sie. » – «Avec joie», erwiderte er und sah im Geist sofort eine Jahreskarte für die Staatsbibliothek, Milchschokolade und ein käufliches deutsches Mädchen, das er in manchen schwächeren Momenten sich zu beschaffen gedachte.“ (Vladimir Nabokov: Die Gabe. Reinbeck: Rowohlt, 1993. S. 157)
Das ist natürlich nicht so einfach dahin geschrieben. Wenn sich auch die eventuell nicht jedem schickliche Fantasie eines käuflichen Mädchens nicht erfüllt, so taucht doch ganz nahe liegend (fünf Zeilen) eine Tafel Schokolade und in einiger Entfernung (zwei Kapitel) das Ergebnis ausufernder Lesesaal- und Heimarbeit in Form einer Biografie des Revolutionärs und Schriftstellers Nikolai Tschernyschewski auf. (Spannend ist zudem die Reihenfolge der Bedürfnisse.)
Die Inspiration zum Buch erhielt Fjodor beim Durchblättern einer Ausgabe eines Schachmagazins namens 8×8, das er in einer russischen Buchhandlung am Wittenbergplatz erstand und in dem er, wie zufällig, einen Beitrag mit dem Titel „Tschernyschewski und Schach“ abgedruckt fand. (vgl. S. 277 bzw. S. 316) Die Lektüre desselben
„bereitete Fjodor ein solches Vergnügen, ihn verblüffte und erheiterte der Umstand so sehr, daß ein Autor von einem derartigen geistigen und stilistischen Format das literarische Schicksal Rußlands beeinflußt haben sollte, daß er sich gleich am nächsten Morgen die gesammelten Werke Tschernyschewskijs aus der Staatsbibliothek auslieh.“ (S. 316)
Dem Ausleihvorgang selbst widmet Nabokov eine Beschreibung, die auch Jahrzehnte nach der Entstehung des Romans ohne Probleme als gültig durchgegangen wäre:
„Vor der Staatsbibliothek spazierten neben einem steinernen Bassin Tauben zwischen Gänseblümchen auf dem Rasen. Die Bücher für die Ausleihe kamen in einem kleinen Wagen auf geneigten Schienen in der Tiefe einer anscheinend kleinen Räumlichkeit an, wo sie auf die Verteilung warteten und wo nur ein paar Bücher auf den Regalen herumzuliegen schienen, obgleich sich in Wirklichkeit Tausende angesammelt hatten.
Fjodor schloß seine Portion in die Arme und ging im Kampf mit dem sich verschiebenden Gewicht zur Bushaltestelle.“ (S. 324)
Übrigens erfuhr ein Buch aus Tschernyschewskis Besitz jedoch unglücklicherweise nicht Eigentum, so Die Gabe (S. 365f.), nicht nur eine äußerst tolpatschig-grobe Behandlung („Er zerschlug Geschirr, bekleckste und verdarb alles. Seine Liebe zum Materiellen wurde nicht erwidert.“ – S. 366) durch Tschernyschweski, sondern wurde auch deutscher Bibliotheksbestand: „[D]ieses Buch mit den durchlöcherten Gedichten befindet sich jetzt in der Leipziger Universitätsbibliothek, wie es dorthin gelangt ist, war leider nicht in Erfahrung zu bringen“ (ebd.). Wie Fjodor überhaupt auf dieses Exemplar stoßen konnte, leider auch nicht. Denn er arbeitete, wie angedeutet, eigentlich in Berlin:
„Wissenschaftliche Bücher (stets mit dem Stempel der Berliner Bibliothek auf der neunundneunzigsten Seite) wie die vertrauten Bände des Reisen eines Naturforschers in unvertrautem schwarz-grünen Einband lagen Seite an Seite mit den alten russischen Zeitschriften, in denen er den Widerschein Puschkins suchte.“ (S. 161)
Und schließlich findet sich noch ein allen, die einmal studierten, höchst vertrauter Zustand beschrieben: Beim Abschied aus der Pfalzburger Straße, die im Buch allerdings Tannenbergstraße heißt, blickt Fjodor vor dem Umzug in sein nächstes (im Buch zweites und letztes) Quartier noch einmal in sein altes Zimmer:
„Genau zwei Jahre habe ich hier gewohnt, habe hier über viele Dinge nachgedacht, der Schatten meiner Karawane zog über diese Tapeten, Lilien wuchsen aus der Zigarettenasche auf dem Teppich – doch jetzt ist die Reise zu Ende. Die Ströme von Büchern sind in den Ozean der Bibliothek zurückgekehrt. Ich weiß nicht, ob ich jemals die Entwürfe und Auszüge lesen werde, die ich in meinen Koffer unter die Wäsche gestopft habe, aber ich weiß, daß ich hier nie wieder hineinschauen werde.“ (S. 236)
Weitere nennenswerte Bibliotheksbezüge überreicht uns Nabokov in Die Gabe leider nicht. Dafür aber zahllose zusätzliche zitierwürdige Stellen zu allen möglichen Themen von der Straßenbahn bis zum Briefmarkenautomaten (S. 534), bei denen der Leser gern aufjauchzt, weil er seine eigene Lebenswirklichkeit so präzis ausformuliert wieder findet. (Und es gibt auch genügend Stellen, bei denen dies glücklicherweise nicht der Fall ist. Dann aber ist das Werk des Meisters der minuziösen Beschreibung ein außerordentlicher Zeitspeicher für die Stimmung im russischen Berlin der sich verfinsternden 1930er Jahre.)

Flyer trifft Falter. Selbstredend ist auch Nabokovs Die Gabe gespickt mit Schmetterlingen (besonders das zweite Kapitel). Das Tagpfauenauge (Inachis io), eine mehr oder minder stabil herumflatternde Größe in Nabokovs Werk, ist einmal und sehr wichtig dabei (S. 177/178): Fjodors Vater fing 1871 ein solches vom „Balken einer halbverrotteten Brücke“ in der russischen Sommerfrische. Im Vorwort zu seiner Autobiografie Erinnerung, sprich (Reinbeck: Rowohlt, 1999) erwähnt Nabokov die Erinnerung an einen seltenen Falter, den er im Jahr 1907 an einer Stelle sichtete, an der „ein Vierteljahrhundert zuvor [s]ein Vater in seinem Netz ein Tagpfauenauge gefangen hatte, das in unseren nördlichen Wäldern eigentlich kaum vorkommt.“ Später im Buch (S. 95) wird der Tagfalter, der „besorgt atmend seine vier kirschroten Flügel mit einem pfauenhaften Augenfleck auf jedem auf und nieder bewegte“, allerdings am 17.08.1883 vom deutschen Hauslehrer (Herr Rogge) von Nabokov senior eingenetzt. (S. 95) Und in Ada (Reinbeck: Rowohlt, 2010) findet sich folgende auf Herbst gestimmte Stelle: „Die letzten Schmetterlinge von 1905, träge Pfauenaugen und Admirale, ein Kleiner Perlmuttfalter und ein Wandergelbling machten das Beste aus den bescheidenen Blüten.“ (S. 734) In deutschen Sommergärten ist das Sechsauge dagegen kein Ereignis, aber ein zumeist so oft wie gern besehener Gast. Jedenfalls, wenn er die Flügeloberseite zeigt (zugeklappt ähnelt er mit gutem Zweck einem Brocken Rinde). Ob sich auch ein Exemplar zur LIBREAS Summer School am 18.08. einfindet, werden wir erst dann wissen. Informiert haben wir allerdings schon einmal.
28./31.07.2012
Es gibt kein richtiges Lesen im Veilchen. Ein Sonntagsaufsatz.
von Ben Kaden
I
Die Studierenden, die im Frühjahrssemester 1957 an der Cornell University eine Literaturvorlesung des Dozenten Vladimir Nabokov besucht hatten, in deren Zentrum der vom Dozenten höchstgeschätze russische Ehebruch- und Eisenbahnroman Anna Karenina stand, sahen sich am Dienstag den 19.März in der Prüfung mit einer denkwürdigen Fragestellung konfrontiert:
„Beschreiben sie die Tapete in Karenins Schlafzimmer.“ („Describe the wallpaper in Karenins‘ room.“) (Sprung zur Antwort) (more…)
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: Schmetterling und Wörterglocke. Zu einem Gedicht Thomas Klings.
Jüngst saß eine LIBREAS-Rumpfredaktion stilecht im Schaufenster des Sankt Oberholz und während der Abendverkehr aus der Brunnenstraße seinen Halbkreis nach Osten beschrieb, sprachen wir fast aus Versehen über Lyrik und wie präsent bzw. wenig präsent sie unserem Alltag ist. So ist das nun einmal in der funktional aufgeteilten Welt und auch in Deutschland vollzieht sich eine Entwicklung, die in den USA längst unter dem Label Writer’s writer bekannt ist: Wer dichtet, dichtet eher als Ausnahme für ein offenes Publikum und in der Hauptsache für andere, die dichten. Wir empfanden diese Marginalisierung natürlich als bedauerlich und wo kann man denn auch besser im Blues über eine durchdringend effizienzgeprägte Lebenswelt versinken, die Marktentzug selbst kaum mehr in Nischen zulässt, als am zentralen Platz der Digital Bohème, von der manche auch als Digitalem Prekariat sprechen, für das „Mein Haus am See“ auf Lebenszeit nur Milchschaum im Café bleibt, während sie den Marktgedanken konsequent bis zum Kaffeesatz auf ihre Art durchlebt. Spätestens an dieser Stelle treffen sich Digitalität und Literatur recht genau. Wohl dem, der mit der Trambahn von diesem Spielort einer Avantgarde auf der ständigen Kippe heimlich in seine saturierte Daseinsumgebung abreisen kann, wenn es ihm behagt…
Lyrik, sofern sie sie selbst und sperrig ist – und das ist sie fast immer, wenn sie sich ernst nimmt und an den Grenzen der Sprache operiert – hat es in puncto Marktgängigkeit natürlich besonders schwer, denn sie entzieht sich dem Primat der schnellen Erfassbarkeit und besitzt zusätzlich nur höchst selten das Maß an Dringlichkeit, das uns dann vielleicht doch ein nicht minder schwer erfassbarer Dissertationstext vorzuspielen versteht.
So gilt sie zugegeben auch uns häufig eher als Luxus, da ein Großteil des Tages nunmal von anderen Aspekten der Kommunikation besetzt wird und wir vielleicht nicht als erste Handlung am Morgen jene Funde einer Luise Boege betrachten, sondern die Pressemitteilungen zur Causa zu Guttenberg im E-Mail-Postfach.
Ist ein Leben in beiden Welten möglich? Wir glauben ja und mehr noch: Wir streichen das möglich und ersetzen es durch ein nötig. Die kleine feuilletonistische Erweiterung des LIBREAS-Blogs unter dem Namen „Die Bibliothek in der Literatur“ erfüllt für uns diese Funktion: Die Literatur erweist sich spätestens dann als ideales Komplement zur Bibliothekswissenschaft, wenn deren Operationsfeld von semantischen Technologien und semiotischen Theorien dominiert wird. Denn dort, wo die Bibliothekswissenschaft auf Eindeutigkeit, Normierung und Standardisierung von Sprache zuläuft, stemmt sich die Literatur naturgemäß dagegen. Auch sie operiert in der Sprache, allerdings auf der anderen Seite: Wo die Bibliothekswissenschaft der Sprache mit dem Anspruch der Algorithmisierbarkeit von Textobjekten eine Grenze ziehen wollen muss, hebelt die Literatur mit dem Anspruch der intellektuellen und emotionalen Erfahrbarmachung durch Sprache diese Grenzziehungen immer wieder auf. Nicht zuletzt, um die eigene Aufgabe ernstzunehmen und immer das Andere, das ja existiert und möglich ist, zu bedenken und damit anschlussfähig zu bleiben, schadet es der Bibliothekswissenschaft sicher nicht, das literarische Denken zu berücksichtigen.
Die heutige Folge unserer Reihe zur Bibliothek in der Literatur ist denn auch die erste, die sich ein Gedicht als Gegenstand heranzieht. Und vermutlich nicht die letzte.
Schmetterling und Wörterglocke. Zu einem Gedicht Thomas Klings
Die Bibliothek in der Literatur. Heute: Der Porlock des Vladimir Nabokov
Der Name Porlock ist kein seltener in der Geschichte der Weltliteratur. Dabei allerdings selten ein beliebter. Dass er der Bezeichnung der bei H.G. Wells recht unfreundlich dargestellten Eloiphagen ähnlich klingt, hilft ganz und gar nicht. Dabei hieß der ungewollte Besucher Samuel Coleridges, der ihm, wie die Sage weiß den Kubla Khan verdarb, überhaupt nicht so, sondern stammte nur aus dem gleichnamigen Dörflein am Bristolkanal. Im Hypertext der Literaturgeschichte lieh der verflixte Handlungsreise allerdings seinen Namen ganz illustren Figuren. Im Hypertext des Ted Nelson’schen Xanadu störte er dagegen meines Wissens niemanden. Vielmehr tauchte er gar nicht auf.
Gekonnt hätte er es vielleicht, denn glaubt man Vladimir Nabokov und seinen Vane Sisters, deren kurzgeschichtliche Eröffnung ebenso sehr gut zur aktuellen Witterung passt, wie ihre versteckte Botschaft, wühlte ein Bibliothekar dieses Namens tief und quer durch Bücher auf der Suche nach ganz bestimmten Störbuchstaben. Nabokov selbst wollte die sprichwörtliche „Person from Porlock“ sogar einmal zum Titelgeber eines seiner Bücher machen, entschied sich aber für die raffiniertere Variante Bend Sinister. In Lolita verarbeitet er allerdings „A.Person, Porlock, England“ in Gestalt einer Quilty’schen Kammerzote („trite poke“), die jedoch weniger flach ist, als man meint. Ein Lektor namens Person, aber ohne Porlock, sollte später in Transparent Things aufgrund einer leichten räumlichen Verwirrung in einem Schweizer Hotel a) einer Armande und b) einer Rauchgasvergiftung erliegen.
Für uns ist selbstredend der mit Cynthia Vane halbbefreundete Bibliothekar von Belang, treibt er doch mit seiner Leidenschaft die Idee der textverliebten Schrulligkeit auf eine eigenwillige Spitze:
„Speaking of old men, one should add that sometimes these posthumous auspices and interventions were in the nature of parody. Cynthia had been on friendly termes with an eccentric librarian called Porlock who in the last years of his dusty life had been engaged in examining old books for miraculous misprints such as the substitution of l for the second h in the word „hither“.“ (Vladimir Nabokov: The Vane Sisters. In: Ders.; Collected Stories. London: Penguin, 1997. S. 626)
Obwohl fast jede Nabokov’sche Wendung das Potential hat, Begeisterung auszulösen, ist es gerade das Klischeehafte des „dusty life“, das hier den entscheidenden Stich setzt und uns vollkommen für den alten Herren einnimmt.
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