LIBREAS.Library Ideas

LIBREAS #44 zum Thema „Grassroots Open Access“ ist erschienen.

Posted in LIBREAS aktuell by Ben on 11. Januar 2024

Als Punktlandung zum Jahresabschluss 2023 erschien die Ausgabe 44 von LIBREAS. Das Thema ist diesmal Grassroots Open Access, was uns naturgemäß außerordentlich nahesteht, das LIBREAS bekanntlich selbst ein Graswurzel-Projekt. Zu den Hintergründen empfehlen wir den Rückblick unser erstes Editorial aus dem Jahr 2005. Dieses fasst sehr treffend das Gründungs-Mindset zusammen. Eine gewisse Naivität gehörte dazu. Was das Editorial nicht verrät, sind die Mühen und die notwendige Dreistigkeit, sowie vermutlich auch der glückliche bibliothekswissenschaftshistorische Moment, die es brauchte, um so ein Projekt aus einer Studierenden-Position überhaupt anzuschieben.

Grassroots-Open-Access heißt auch Ausdauer, Durchsetzungsstärke und, wie sich über die Jahre zeigte, eine durchaus erhebliche Frustrationstoleranz. Selbst bei einem minimalen organisatorischen Überbau, wie wir ihn bewusst wählten, gibt es immer wieder auch bürokratische und organisatorische Herausforderungen, die einerseits an der Lebenszeit und andererseits auch an der Zeit, die für die Inhalte bleibt, nagen.

Zudem ist Grassroots-Open-Access eine Sache, wenn man es mit der überschießenden Energie Studierender in ihren 20ern angeht. Es ist eine andere, wenn man es zugleich deutlich gesetzter und geforderter zwischen Vollzeitstelle und Familienmanagement betreibt. Das soll hier nur erwähnt werden, weil diese Spannung mitunter etwas im Hintergrund bleibt.

LIBREAS zeigt auch, dass Grassroots-Open-Access nicht unbedingt wissenschaftsgeleitetes Open Access im engeren Sinn sein muss. Jedenfalls wenn man wissenschaftsgeleitet als aus einer institutionellen Grundierung heraus versteht. Denn wie das Schicksal der Berufsbiografien so spielt, sind die meisten Menschen hinter LIBREAS zwar in wissenschaftlichen Infrastrukturzusammenhängen aber nicht in einem klassischen formalen Forschungskontext gelandet.

Das heißt nicht, dass wir nicht mehr wissenschaftlich arbeiten. Aber wir tun dies nicht aus den institutionell stabilisierten akademischen Strukturen, die, wie Good-Practice-Beispiele zeigen, eine sehr wichtige Voraussetzung für erfolgreiches scholar-led Open Access darstellen. LIBREAS findet traditionell noch auf einer anderen Wiese statt.

Das zeigt sich nicht nur in liebevoll von Karsten Schuldt eingefangen Cover-Impressionen. Sondern auch in dem sehr diversen Set an Beiträgen, wie es auch diese Ausgabe kennzeichnet. Eine etwas ausführliche Einordnung findet sich im Editorial zu LIBREAS #44.

Wir freuen uns sehr, wenn Sie uns lesen. Zu Grassroots-Open-Access gehört aus unserer Sicht allerdings auch, dass wir offen für Beiträge sind. Und zwar auch für solche, die nicht unbedingt die Form eines wissenschaftlichen oder Fachaufsatzes haben. Unser aktueller Call for Papers zum Thema „Sound of Libraries“ ist dahingehend ausdrücklich als Einladung verstehen.

Coverbild zur Ausgabe LIBREAS 44 mit Schafen aus dem Parc de Sauvabelin.

Redaktion LIBREAS — Editorial LIBREAS #44 (2023): Grassroots Open Access


Schwerpunkt

Stefan Milius & Wolfgang Thomas — Logical Methods in Computer Science — Erfahrungsbericht über die Gründung einer internationalen Open-Access-Zeitschrift

Christian Erlinger & Jens Bemme — Kamptaler Sakrallandschaften im Wikiversum

Tobias Steiner — Alte Traditionen: zur Rolle von scholar-led publishing und Open Access in den Geistes- und Sozialwissenschaften

Philipp Falkenburg — Praxisbericht institutionalisiertes Grassroots Open Access : Beitrag der Vernetzungs- und Kompetenzstelle Open Access Brandenburg (VuK) zum Open Access Tracking Project (OATP)

Enrique Corredera & Valérie Andres — Back to Green. Das Projekt GOAL und das Potenzial von Grün Open Access

Beiträge

Karsten Schuldt — Völkisches Büchereiwesen: Zur Geschichte der Grenzbüchereiarbeit in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Ben Kaden & Linda Freyberg — Makerspaces und Library Labs in wissenschaftlichen Bibliotheken — zwischen physischem Raum und forschungsorientierter Ausrichtung

Vereinsarbeit

Vorstand LIBREAS-Verein — In eigener Sache: Bericht über die Aktivitäten des LIBREAS-Vereins 2022/2023

Rezensionen

Redaktion LIBREAS — Das liest die LIBREAS, Nummer #13 (Herbst–Winter 2023)

LIBREAS Call for Papers: #45: The Sound of Libraries. Ein Impuls in fünf Stationen

Posted in LIBREAS Call for Papers by libreas on 3. November 2023

I.

Sommer 2023. Eine Kantonsbibliothek. Die automatische Tür geht auf. Innen, in der ersten Etage, eine Ruhe, aber keine Stille. Links, der Kaffeeautomat in der Zeitschriftenecke gibt Töne von sich. Die beiden älteren Herren dort blättern in den Zeitungen, die sie vor sich haben. Rechts, an der Theke, unterhalten sich zwei Nutzer*innen mit eine*r Bibliothekar*in. Weiter oben, in der zweiten und dritten Etage, ist es ruhiger. Aber durch die offenen Fenster sind die Vögel vom Weinberg, der am Rande der Altstadt liegt, zu hören. Dennoch: Wer die Ausstellung in der obersten Etage besuchen will, verfällt fast automatisch ins Schweigen, in der Angst, jemanden zu stören. Dabei liegt der eigentliche Lesesaal, in dem explizit um Ruhe gebeten wird, anderswo, im Anbau, den er sich mit dem Kantonsarchiv teilt.

Bibliotheken haben einen eigenen Sound. Aber er wird eher selten und nur selektiv beschrieben. In der bibliothekarischen Fachliteratur finden sich vor allem Anmerkungen dazu, dass es falsch wäre, die Bibliothek mit Ruhe und stereotypen Bibliothekar*innen, die «Pssst» machen, zu verbinden. Aber wie man unschwer hört, ist da noch mehr. Es gibt einen Sound, wegen dem Menschen überhaupt in bestimmte Bibliotheken kommen. Dieser Sound ist nicht – ausser vielleicht in Magazinen – vollständige Ruhe. Er ist lebhaft, aber in einer gewissen, eigentümlichen, schwer greifbaren Form, die ein wenig ausserhalb der normalen Realität liegt.

II.

Geht man in der Kantonsbibliothek in den langen Gang rechts hinter dem Tresen, findet sich dort, ganz am Ende, ein Tisch mit drei Rechnern, die gerade niemand nutzt. Neben allen liegen Kopfhörer. Es sind Hörstationen für die fonoteca nazionale svizzera, die schweizerische Nationalbibliothek für Musik. Deren Tonaufnahmen kann man benutzen, wenn man direkt zu ihr nach Lugano fährt oder aber solche spezifischen Stationen in Kantonsbibliotheken, der Nationalbibliothek in Bern, Archiven oder Musikhochschulen in der Schweiz nutzt.

Musik in allen ihren Medienformen gehört zum Bestand von Bibliotheken. Ob Noten, Aufnahmen, Monographien über Musik, Zeitschriften oder auch – vor allem in Musikbibliotheken – Nachlässe von Musiker*innen und Instrumente selber – sie alle spielen eine Rolle im Bibliothekswesen. Nicht umsonst gibt es eigene Musikbibliotheken mit eigenem Weltverband (IAML) und einer deutschsprachigen Fachzeitschrift (Forum Musikbibliothek). Gerade in grösseren Öffentlichen Bibliotheken ist es normal, auch eigene Hörstationen und extra ausgebildete Musikbibliothekar*innen zu finden.

III.

Der gleiche Tag im Sommer 2023, einige hundert Meter von der Kantonsbibliothek entfernt, hinter dem Bahnhof. Vor der Bibliothek der Höheren Fachschule für Medizinberufe sitzen Studierende und blättern in Unterlagen. Einige sitzen alleine, einige in Paaren. An den weiter entfernten Tischen sitzen auch Gruppen und arbeiten gemeinsam an Aufgaben. Sie haben Fallberichte vor sich ausgebreitet, Bücher in Stapeln und folgen jetzt Anweisungen aus Arbeitsblättern. Öffnet man die Tür der Bibliothek, tritt an der Theke vorbei, setzt sich dies fort. Hinter den Buchregalen sitzen, am Fenster aufgereiht, an kleinen Tischen, Studierende alleine oder zu zweit. Sie schauen auf Rechner, sie notieren Dinge, sie blättern in Büchern. Nicht vollkommen ruhig, aber  nicht laut. Weiter hinten im Raum, teilweise auch in kleinen, extra dafür angebauten Ecken, sitzen wieder kleine Gruppen angehender Pfleger*innen und bearbeiten selbstständig Fälle. Sie diskutieren, aber es ist kaum zu hören. Sehr diszipliniert gehen sie der Reihe herum vor, niemand fällt sich ins Wort, niemand wird laut. Dazwischen gehen die Bibliothekar:innen zwischen den Regalen und stellen Bücher ein.

Spätestens seit den 1990er Jahren sind Bibliotheken in Hochschulen daran interessiert, für die Nutzer*innen Arbeitsräume und Landschaften einzurichten, in denen sie anders, lauter, intensiv, angeregt miteinander arbeiten können. Als Idealfall scheint die flexible Gruppenarbeit zu gelten, auch wenn gleichzeitig immer Möglichkeiten zur ruhigen Arbeit an Einzelarbeitsplätzen eingerichtet werden.

Grundsätzlich wollen Bibliotheken eine möglichst abwechslungsreiche Nutzung ermöglichen. Und abwechslungsreich heisst auch, in unterschiedlicher Lautstärke.

IV.

Am späten Nachmittag, zurück vom Bahnhof zum Rand der Altstadt. Hier findet sich die Stadtbibliothek. Gruppen von Tourist*innen gehen an ihr vorbei, ohne sie gross zu beachten. Das Gebäude scheint ihnen oft nicht interessant genug. Aber die Bewohner*innen der Stadt frequentieren das Café im rechten Anbau recht intensiv. Das Café hat einen direkten Durchgang zur Bibliothek, doch meistens wird der Eingang von der Strasse benutzt. Im Bibliotheksraum ist es auffällig ruhiger als im Café. Keine Musik, kein Geklapper von Geschirr. Aber doch Leben. Menschen gehen durch den Raum, sitzen an den Tischen, in den Sitzecken. Auf der ganz anderen Seite, im linken Anbau, spielen Kleinkinder in der Ludothek. In der Bibliothek befindet sich wiederum eine Poststelle, die von den Bibliothekar*innen mitbetreut wird. Hier ist manchmal Leben, wenn Briefe verschickt und Päckchen eingescannt werden. Im Augenblick aber ist die Hauptbewegung anderswo im Raum. Bibliothekar*innen beginnen, Regale zur Seite zu schieben, Stühle aufzubauen, eine Bühne zu bereiten. Dafür wird die heute Mittag benutzte Sitzecke der «Schenk mit eine Geschichte»-Veranstaltung, in der Kindern in einer Fremdsprache vorgelesen wird, fortgeräumt. Aber morgen muss sie wieder aufgebaut werden, weil die nächste Gruppe Kinder kommt. In einigen Stunden hat einer der bekannten lokalen Autoren hier eine Lesung, inklusive Musikbegleitung. (Für jedes neue Buch macht er bei einer Lesereihe auch hier in der Stadtbibliothek halt. Es wird dann immer sehr voll.)

Bibliotheken sind Veranstaltungsorte. Während man bis nach der Mitte des 20. Jahrhunderts dafür gesonderte Räume, Auditorien, gar Konzertsäle in Bibliotheken einbaute, gilt heute der normale Bibliotheksraum als der bevorzugte Ort dafür. Das hatte beispielsweise Auswirkungen auf die Möblierung von Bibliotheken. Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, bei den bekannten Anbietern Regale zu kaufen, die nicht flexibel durch die Gegend gefahren werden können. Ebenso selten findet man noch Bibliotheken, die nicht irgendwo einfach aufzustellende Stühle und Tische, Sitzsäcke, aber auch Mikrophone und Mischpulte verstaut haben. Ein Veranstaltungsbudget gehört heute ebenso zur Bibliothek wie regelmässige Angebote für Kinder und Familien.

Und darüber hinaus wird kontinuierlich versucht, Bibliotheken mit weiteren Angeboten zu verbinden. Bibliothekscafés sind so alltäglich geworden, dass sie kaum noch gesondert erwähnt werden. Postfilialen, kleine Läden für lokale Produkte, Automaten mit Büromaterialien – die Frage ist heute eher nicht mehr, ob Bibliotheken etwas in dieser Art betreiben, sondern nur, was genau.

Diese Veranstaltungen und Angebote verändern auch die Soundlandschaft der Bibliotheken – einige mehr, andere weniger. Die Geräusche werden anders, die Gespräche haben einen anderen Ton.

Keine Kantonsbibliothek sondern das Stiegenhaus der Slowenischen Nationalbibliothek in Ljubljana, fotografiert von Thomas Ledl, der die Aufnahme unter einer CC-BY-SA 4.0-Lizenz für die Wikipedia bereitstellte. Wir haben uns für diese Illustration entschieden, weil sie perfekt ein unter einer PDM 1.0 DEED-Lizenz im Internet Archive bereitgestelltes Klangbild aus dem Lesesaal eben dieser Bibliothek begleitet. Der Klick aufs Bild spielt die Feldaufnahme ab.

V.

Klacken, murmeln, sirren, rascheln, flüstern, zwitschern, scharren, hallen, knarzen, klappern, brummen, piepen, knistern. Was noch? Die Ausgabe #45 der LIBREAS. Library Ideas fragt genau danach: Was ist dieser Sound der Bibliotheken? Was macht ihn aus, wer bestimmt ihn und wen beeinflusst er? Verändert er sich und wenn ja, wie und warum? Dabei soll es um die ganzen verschiedenen Sounds gehen: Wie «klingt» die Bibliothek für Nutzer*innen? Wie «klingt» sie für Bibliothekar*innen selber? Wie «klingen» der Bestand und das Magazin? Wie klingt die Grossstadtbibliothek, die Bibliothek einer kleinen Hochschule oder der Bücherbus?

Dabei soll es um die konkreten Klänge gehen, also das, was gesagt, gesungen, an Geräuschen gemacht wird, wenn etwas durch die Gegend geschoben wird; aber auch um die Sounds, die in der Bibliothek angeboten werden. Sicher: In Musikbibliotheken und -abteilungen ist das konkreter zu fassen, all die Noten, Tonträger, Instrumente, Streams. Aber es gilt auch für den ganzen Rest der Bibliotheken.

Für diese Ausgabe ruft die LIBREAS. Library Ideas also zu Einreichungen auf, die sich dem Sound der Bibliotheken widmen. Ganz besonders freuen würden wir uns über kreative Einreichungen (Geschichten, Songs, Collagen oder Ähnliches), die sich dem Thema in einer passend offenen Weise nähern. Aber auch Berichte aus Musik- und anderen Bibliotheken, wissenschaftliche oder historische Arbeiten sind gerne gesehen oder gehört. Falls Sie Ihre / du deine Idee für eine Einreichung im Vorfeld besprechen möchten / möchtest, ist die Redaktion dafür gerne bereit.

Einreichungsschluss für diese Ausgabe ist der 30.04.2024. Über Beiträge, Beitragsideen und weitere Anregungen freuen wir uns. Kontakt: redaktion@libreas.eu

Eure Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Chur, Göttingen, Hannover, München, Potsdam)

LIBREAS-Verein beteiligt sich an der Aktion für Freitickets für die Open-Access-Tage 2023 (Berlin, 27.-29.09.2023)

Posted in Uncategorized by maxiki on 31. Juli 2023

Der LIBREAS-Verein fördert die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Kommunikation im DACH-Raum. Als Teil dieser Arbeit beteiligen wir uns in diesem Jahr am Sponsoring von zwei Tickets für die Teilnahme an den Open-Access-Tagen 2023 [https://open-access-tage.de/open-access-tage-2023-berlin] im Wert von je 140,00 Euro (3 Konferenztage).

Bewerben können sich Personen, die sich in der Ausbildung und im Studium befinden (z.B. FaMI-Ausbildung, Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft). Die Freitickets sind beschränkt auf Personen, die ihre Ausbildung im DACH-Raum absolvieren. Im Idealfall kommen sie Personen zugute, die sich ansonsten eine Teilnahme nicht leisten und auch nicht auf andere Finanzierungswege zurückgreifen können.

Die ausgelosten Personen müssen sich selbstständig bei der Konferenz registrieren und die Teilnahmeegebühren werden dann durch den LIBREAS-Verein übernommen.

Infos zur Aktion, an der auch weitere Sponsoren beteiligt sind, gibt es auf der Webseite zur Aktion.

Wir freuen uns natürlich, wenn die gesponsorten Personen einen Beitrag für die LIBREAS. Library Ideas schreiben, der sich aus dieser Teilnahme ergibt (beispielsweise ein Tagungsbericht, ein Aufsatz zu Themen, die auf der Konferenz besprochen wurden, Interviews mit Teilnehmenden der Open-Access-Tage).

Bewerbung

Bewerben können sich Studierende und Azubis aus dem DACH-Raum. Interessierte melden sich dazu bitte im Zeitraum vom 21. bis 31.8.2023 mit einem kurzen Motivationsschreiben (2–4 Sätze) über die Mailadresse des Ortskomitees: oat23@open-access-berlin.de. Es sollte den vollständigen Namen, Angaben zur Ausbildung bzw. zum Studium inklusive der Einrichtung sowie eine kurze Motivation enthalten, warum diese Personen gerne an den Open-Access-Tagen teilnehmen wollen.

Der Bewerbungszeitraum läuft vom 21. bis 31. August 2023. Die Verlosung erfolgt direkt Anfang September 2023.

CfP #44: Grassroots Open Access

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 4. Mai 2023

Im Oktober 2003, vor etwa zwanzig Jahren, wurde mit der “Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen” ein Grundlagentext der Open-Access-Bewegung publiziert. Eine Unterzeichnung der Erklärung entsprach und entspricht seitdem, auf gewisse Weise, einem performativen Bekenntnis zu Open Access.

Open Access hat sich in diesen zwanzig Jahren als Thema vom Rand des Progressiven zur allgegenwärtigen Publikationsform und damit  auch zum institutionalisierten Arbeitsfeld in Bibliotheken, Wissenschaftseinrichtungen, bei Forschungsförderern und Wissenschaftsverlagen sowie der Forschungspolitik etabliert. Wir stehen heute an einem Punkt, an dem nationale und föderale Open-Access-Strategien erlassen wurden, Policies von Förderern und Hochschulen die Publikation von Texten und Forschungsdaten nach den FAIR- und CARE-Prinzipien vorschreiben und Read-and-Publish-Verträge auf nationaler Ebene zum Normalfall geworden sind. Ressourcen wurden mobilisiert und Infrastrukturen gebaut ‒ angefangen von Repositorien über Open-Access-Transformationsverträge für, unter anderem, den Zugriff auf große Journalportfolios, bis hin zu Personalstellen und Systemen, um die Compliance mit Open-Access-Vorgaben der  Wissenschaftsorganisationen und Förderer sowie die Einhaltung von Vertragsklauseln zu überprüfen. Open Access ist, in gewisser Weise und immer mit noch unerschlossenen Potenzialen, zum Normalfall im Wissenschaftsbetrieb geworden. Zu einem Normalfall, der allein im DACH-Raum jährlich hunderte Millionen Euro und Franken kostet ‒ für Lizenzen, für Personalstunden, für Hard- und Software. Er ist ein Industriezweig geworden ‒ einer, der polemisch als “Big OA” bezeichnet werden kann.

Zurückblickend auf die Berliner Erklärung und die Atmosphäre, in der diese und weitere Erklärungen verfasst wurden, kommen auch schnell Zweifel auf. Ist es wirklich das, was Open Access sein sollte? Wenn in der Erklärung geschrieben wird: “Die Vision von einer umfassenden und frei zugänglichen Repräsentation des Wissens lässt sich nur realisieren, wenn sich das Internet der Zukunft durch Nachhaltigkeit, Interaktivität und Transparenz auszeichnet. Inhalte und Software müssen offen zugänglich und kompatibel sein.” ‒ Ist diese Vision dann in der heutigen Realität von Big OA umgesetzt? Schauen wir zurück, welche Projekte in der Wissenschaftskommunikation damals, 2003, als mögliche Vorbilder galten ‒ arXiv, von Forschenden selbst betriebene Homepages, erste elektronische Zeitschriften, die von Forschenden oder Künstler*innen mehr oder minder privat betrieben wurden ‒ ist ein Unterschied schnell ersichtlich. Wir müssen, als Beispiel, die programmatischen Sätze aus dem ersten Editorial der First Monday ‒ einer der ersten dieser Zeitschriften ‒ zitieren, um an einen ganz anderen Geist erinnert zu werden:

“Information, equivalent to millions of printed pages, appears in one form or another on the Internet. Much of it is interesting, valuable, fascinating, intriguing, educational and humorous. Some of this digital information is arrogant, foolish and stupid. What’s the solution?

An information oasis, where contributions are read, meditated upon, edited, re-written before posting to the Internet and its many users. That’s the basic idea of ‘First Monday.’ A place where you can find contributions about the Internet from experts and colleagues around the world. A place where the ‘First Monday’ editors work their way through the Internet to find interesting and timely articles for you.”

(Valauskas, Dyson, Ghosh, 1996)

Sicher: Der Eindruck, dass ein sich von den Wurzeln weg und hin zu komplexen Institutionalisierungen entwickeltes Feld sich von ebendiesen Wurzeln mitunter bis zur Selbstverleugnung entfernt, betrifft Open Access nicht exklusiv. Eher ist dies die Norm. Ebenso die Dynamik: Schon die Geschichte der Informations- und Publikationsmärkte ist von einer Dialektik der Institutionalisierung in immer größeren Verlagen und Unternehmen auf der einen Seite und Gegenbewegungen (Gründung kleiner Verlage, Verlage mit explizit nicht gewinnorientierten Betriebsmodellen, Selbstpublikationen und Fanzines) geprägt. Neben beispielsweise Penguin Random House und Bastei Lübbe gibt es immer auch den Antje Kunstmann Verlag, Guggolz oder den Verlag Grasswurzelrevolution. Neben den gedruckten Büchern mit ISBN gibt es, in guten Buchhandlungen, immer auch Fanzines und selbstverlegte Werke. Parallel zu der reputationsorientierten und Pfadabhängigkeiten aufbauenden Web-of-Science-Welt, gibt es weltweit vernetzte Linked-Open-Data-Initiativen und Social-Media-Plattformen, die praktizierte offene Wissenschaft in allen disziplinären und gesellschaftlichen Kontexten sichtbar machen.

Was uns in der Ausgabe #44 interessiert, sind diese Gegenbewegungen im Bereich des Open Access. Nicht Big OA, sondern das Gegenteil ‒ small OA oder, wie wir es nennen wollen, Grassroots OA. Modelle, mit denen vielleicht eher Forschende selbst oder Bibliotheken und andere Gedächtnisinstitutionen die offene Publikation von Wissen und Daten als Diskussionen in die Hand nehmen wollen. Projekte, die nicht auf große Gewinnmargen aus sind, sondern idealistisch auf die Verbreitung und Ordnung von Information und Wissen. Anwendungen, die vielleicht auch unter der Hand der etablierten Modelle laufen, und deshalb in Bibliotheken ‒ deren Arbeitsstrukturen mehr und mehr auf das Funktionieren im Rahmen von “Big OA” orientiert sind ‒ praktisch nicht mehr auftauchen.

Wir denken zum Beispiel an Berichte aus der Realität von kleinen Diamond-Open-Access-Journalen, von scholar-led Publikationsformen wie Blogjournalen und alternativen offenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich eben nicht mehr als Zeitschriften oder Bücher bezeichnen. Wir denken an Berichte von Forschenden, die an den Strukturen der etablierten Wissenschaftskommunikation vorbei offen Wissen verbreiten ‒ in Podcasts, in Videos oder anderen Darbietungsformen. Wir denken aber auch an Berichte von Publikationen, die sich in gewisser Weise “am Rand” des Wissenschaftsbetriebes befinden, beispielsweise in praxisorientierten Feldern (wie der Bibliothekswissenschaft) und deshalb im Rahmen von Big OA weitgehend übergangen werden.

Selbstverständlich interessieren uns aber auch kritische Beiträge zur Politik und Struktur des Open-Access-Feldes. Wie kam es dazu, dass wir heute von Big OA reden können und müssen? Was ist mit all den Ansätzen zur Veränderung des Feldes der wissenschaftlichen Kommunikation passiert, die sich in den vergangenen 20 Jahren (nicht) etabliert haben?

LIBREAS. Library Ideas lädt für ihre Ausgabe #44 zur Einreichung von Beiträgen ein, die Entwicklungen am Rand, unterhalb oder auch gegen die jetzt etablierten Strukturen beleuchten. Sie sollen Möglichkeiten aufzeigen, Open Access auch anders, besser, vielleicht auch politisch und moralisch vertretbarer zu organisieren.

Die Form der Beiträge ist dabei offen. Gerne diskutiert die Redaktion im Vorfeld von Einreichungen auch Ideen. Deadline ist der 30.09.2023. Weitere Angaben zu Einreichungen (unter anderem Formalia und Stil, Umgang mit begleitenden Materialien, zur redaktionellen Bearbeitung) finden sich in den “Autor*innenhinweisen” von LIBREAS. Library Ideas.

Voller Interesse, Ihre / eure

Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Göttingen, Hannover, Lausanne, München, Potsdam, Zürich)


Literatur

Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen (2003). https://openaccess.mpg.de/68053/Berliner_Erklaerung_dt_Version_07-2006.pdf


Valauskas, Edward J. ; Dyson, Esther ; Ghosh, Rishab Aiyer (1996). Editors‘ Introduction. In: First Monday 1 (1996) 1, https://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/464/385

Ausschreibung: Stipendium des LIBREAS-Vereins für die Teilnahme an den Open-Access-Tagen 2023 (Berlin, 27.-29.09.2023)

Posted in LIBREAS.Verein by Karsten Schuldt on 25. Januar 2023

Der LIBREAS-Verein fördert die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Kommunikation im DACH-Raum. Als Teil dieser Arbeit schreibt er zwei Stipendien für die Teilnahme an den Open-Access-Tagen 2023 [https://open-access-tage.de/open-access-tage-2023-berlin] aus, die sich an Personen in einer bibliothekarischen oder einer bibliotheks-/informationswissenschaftlichen Ausbildung (FaMI-Ausbildung, Referendariat, Studium und ähnliche Ausbildungsgänge) richten. Die Stipendien sind beschränkt auf Personen, die ihre Ausbildung im deutschsprachigen Raum absolvieren.

Die Höhe der Stipendien beträgt jeweils 300 Euro netto und ist zweckgebunden für Kosten, die für die Teilnahme an dieser Konferenz anfallen (Teilnahmegebühren, Übernachtungs- und Fahrtkosten, Verpflegung etc.). Innerhalb dieses Rahmens kann die Person selbst entscheiden, wie sie das Stipendium einsetzt. Im Idealfall kommen die Stipendien Personen zugute, die sich ansonsten eine Teilnahme nicht leisten und auch nicht auf andere Finanzierungswege zurückgreifen können.

An die Stipendien sind folgende Erwartungen gebunden:

  • Teilnahme an den Open-Access-Tagen (inklusive der Teilnahme an einem offenen Treffen, das die LIBREAS-Redaktion im Umfeld der Konferenz veranstalten wird)
  • Ein Beitrag für die LIBREAS. Library Ideas, der sich aus dieser Teilnahme ergibt (beispielsweise ein Tagungsbericht, ein Aufsatz zu Themen, die auf der Konferenz besprochen wurden, Interviews mit Teilnehmenden der Open-Access-Tage). Dieser Beitrag soll mit der LIBREAS-Redaktion abgesprochen werden. Im Idealfall wird dieser Beitrag bis zum Herbst 2023 fertiggestellt.
  • Eine kurze Vorstellung der Person (1000-2000 Zeichen) für die Publikation im  LIBREAS- Blog.

Bewerbung

Es ist ein kurzes Bewerbungsschreiben von nicht mehr als zwei Seiten Länge an den Vorstand des LIBREAS-Vereins zu richten. Sie werden nur vom aktuellen Vorstand gelesen und vertraulich behandelt. Sie sollen folgende Punkte enthalten:

  • Eine kurze Vorstellung der*s Bewerber*in.
  • Die Motivation der*s Bewerber*in für die Teilnahme an den Open-Access-Tagen.
  • Eine kurze Darstellung, warum eine finanzielle Unterstützung hilfreich wäre. 

Die Bewerbung kann bis zum 30. April 2023 per Mail an den Vorstand geschickt werden (vorstand@libreas-verein.eu). Die Auswahl der Stipendiat*innen erfolgt im Mai 2023. Die Aspekte Motivation und Finanzierungsbedarf werden bei der Auswahl gewichtet. Sollten mehr als zwei gleichermaßen überzeugende Bewerbungen vorliegen, entscheidet das Los.

 

  

PS.: Das Stipendium wird hauptsächlich aus den regelmäßigen Beiträgen der Mitglieder des LIBREAS-Vereins getragen. (http://www.libreas-verein.eu/mitgliedschaftsantrag/)

CfP #43: Soziologie der Bibliothek

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 18. November 2022

Soziologie als Wissenschaft stellt grundsätzlich die Frage, wie Gesellschaft funktioniert und in welcher Beziehung das Individuum und das Kollektiv stehen. Sie fragt: Welche Regeln und Strukturen gibt es und welche Wechselwirkungen existieren im menschlichen Miteinander. Und sie schaut nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf Institutionen. Diese manifestieren und objektivieren die Regeln des Miteinanders funktional. Und sie erweisen sich als außerordentlich beständig. Die Soziologie beobachtet, beschreibt und versteht bestenfalls. Das daraus resultierende Wissen bietet, so die mehr oder minder explizit gemachten Prämisse, auch immer die Möglichkeit, diese Prozesse, die Institutionen und damit auch die Gesellschaft zu gestalten. Wenngleich die Diskurse der traditionellen Soziologie mit Theoretikern wie Max Weber schon viele Schleifen durchlaufen haben, bleibt die Relevanz der grundsätzlichen Fragestellungen, die auf interkulturelle und kritische sowie interdisziplinäre Ansätze erweitert worden sind, bestehen.

Dabei gibt es in der Soziologie selbstverständlich unterschiedliche Ansätze, beispielsweise stark theoretische, die vor allem beschreiben, systematisieren und aus diesen Beschreibungen Schlüsse ziehen. Oder auch fast vollständig empirische, die aber notwendig sind, um die Beschreibungen der Theorien in der Realität zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen.

Keine Bibliothekssoziologie

Eigentlich könnte man erwarten, dass Bibliotheken für die Soziologie einen interessanten Untersuchungsbereich bieten. Zugleich wäre es sinnvoll, wenn Bibliotheken in ihre Entwicklungsplanungen und der alltäglichen Arbeit soziologisches Wissen einfließen lassen würden.

Bibliotheken sind Institutionen, die direkt in der Gesellschaft wirken, auf die aber auch gesellschaftliche Entwicklungen unmittelbar wirken – man denke nur an die zunehmenden Schwierigkeiten von Bibliotheken, Personal zu rekrutieren, die viel mit demographischen Entwicklungen und anderen gesellschaftskulturellen Veränderungen zu tun hat. Gleichzeitig sind sie – manchmal zum Leidwesen einzelner Engagierter – Institutionen, also Strukturen, die sich nicht sofort, nicht beliebig und auch nicht unendlich weit verändern lassen. Diese Spannung analytisch zu durchdringen, könnte ein Interesse von beiden Seiten, der Soziologie und dem Bibliothekswesen, sein. Zumal es nicht wenige “Bindestrich-Soziologien” gibt, welche sich mit einzelnen Institutionen beziehungsweise institutionalisierten Gesellschaftsbereichen befassen.

Und dennoch gibt es keine Bibliothekssoziologie. Es finden sich einzelne Artikel oder Monographien, die immer wieder neue Ansätze zu so einer spezifischen Soziologie versuchen – dann aber nicht weiter aufgegriffen werden. Ein Beispiel für so einen Artikel aus unserer eigenen Zeitschrift wäre “Zur Legitimation Öffentlicher Bibliotheken” von Fabio Tullio (2016), der Öffentliche Bibliotheken organisationssoziologisch untersuchte.

Abgesehen davon scheint im Bibliothekswesen eher mit Schlagworten aus der Soziologie gearbeitet zu werden, die dann oft aus ihrem eigenen Kontext gelöst und nicht immer begriffsgeschichtlich besonders stabil unterlegt re-interpretiert werden. Dafür symptomatisch war in den letzten Jahren wohl die Nutzung des Begriffs “Dritter Ort”. Ursprünglich eigentlich eher auf Trinkhallen oder Kneipen bezogen, wurde seine Bedeutung im Bibliothekswesen sehr offen für Konzepte und Aussagen adaptiert wurde, die mit dem Originalbegriff nicht mehr in jedem Fall viel zu tun haben. Auch fungieren insbesondere Öffentliche Bibliotheken oftmals, wenn man bei der Zählweise bleiben möchte, sogar eher als eine Art „Zweiter Ort” für Menschen, die beispielsweise keinen anderen Arbeitsort oder Zugang zur Informationsstrukturen haben.

Drei Themenbereiche

Unter den wenigen längeren Werken, die sich explizit mit einer Soziologie der Bibliotheken befassen, stechen drei heraus. Sie stehen für verschiedene soziologische Fragestellungen und zeigen, dass an Bibliotheken als Untersuchungsgegenstand sehr unterschiedlich herangegangen werden kann.

In seinem 1954 zuerst und dann, in einer erweiterten Auflage, nochmal 1965 veröffentlichten “Studien zur Soziologie der Bibliothek” fokussierte Peter Karstedt sehr darauf, wer Bibliotheken und Veranstaltungen in Bibliotheken besuchte, wie von diesen Personen gelesen wurde und welche Auswirkungen dieses Lesen auf diese Personen hatte. (Karstedt 1965) Er ging dabei vor allem beschreibend vor und beschränkte sich auch nicht alleine auf die Soziologie, sondern bezog andere Disziplinen mit ein. Hingegen auf die Institution Bibliothek selber fokussierte Frank Heidtmann in seiner Dissertation “Zur Soziologie von Bibliothek und Bibliothekar”. (Heidtmann 1973) Er analysierte, wie sich die Institution Bibliothek – also das Zusammenspiel von Prozessen, Abläufen, koordinierten Handlungen, Entscheidungen des Personals – immer wieder so reproduziert, dass am Ende erwünschte Ergebnisse entstehen, also bei ihm vor allem Nutzer*innen mit Literatur versorgt werden. Auch er ging beschreibend vor, dabei aber von organisationssoziologischen Prämissen aus. In gewisser Weise nutzte er die Bibliothek als Anwendungsbeispiel soziologischer Theorie.

Das Bibliothekspersonal selber, deren soziale Schichtung und Veränderungen dieser Schichtung, nahm Bernadette Seibel – allerdings für Frankreich – in “Au nom du livre – analyse sociale d’une profession: les bibliothécaires” in den Blick. (Seibel 1988) Sie ging empirisch vor, wenn auch gestützt auf soziologische Kenntnisse über Sozialschichten.

Und diese Perspektive steht denn auch, wenngleich mehr biografisch als akademisch geprägt,  für uns als Redaktion hinter der Themenwahl. Wir als Redaktion fanden zum Thema “Soziologie der Bibliothek” als Desiderat, als wir darüber diskutierten, mit welchen gebrochenen, suchenden und unerwarteten Biographien viele von uns ins Bibliothekswesen eingestiegen sind. Diese, wenn man so will, vermeintlich Zufälligkeit in der Entscheidung schien uns kein Zufall zu sein, sondern strukturell angelegt. Wir merkten auch, dass das Bibliothekspersonal – wer arbeitet in Bibliotheken, auf welchen Stellen, mit welchem Einfluss, mit welchem sozialen Hintergrund – bislang nicht Thema der deutschsprachigen Forschung war. Wir wissen also nicht belastbar, ob wir in der Redaktion Ausnahmen oder typische Fälle darstellen.

Die oben benannten Arbeiten sind Jahrzehnte alt. Seitdem gab es immer wieder einzelne Artikel und auch Abschlussarbeiten. Grundlagenwerke wie die von Peter Karstedt, Frank Heidtmann oder Bernadette Seibel gab es aber unserer Wahrnehmung nach kaum noch. Ihre Stärke liegt auch heute noch darin, mögliche Herangehensweisen und Fragenkomplexe aufzuzeigen: Die Nutzer*innen, das Personal und die Institution Bibliothek als Untersuchungsgegenstände und die soziologische Beschreibung, die Anwendung soziologischer Theorien sowie die konkrete empirische Forschung als Herangehensweisen. Sollte sich in Zukunft einmal eine eigenständige Bibliothekssoziologie entwickeln, wird sie sich zwangsläufig in diesem Rahmen bewegen.

Einladung zur Mitarbeit

Im Schwerpunkt der Ausgabe #43 der LIBREAS. Library Ideas wollen wir gerne einen neuen Versuch wagen, Soziologie und Bibliothek zusammenzubringen. Nicht nur scheint es weiterhin, dass die Potentiale dazu groß sind, sowohl für die Soziologie als auch für das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft. Zudem verändert sich die Gesellschaft aktuell merklich – die Demographie, die soziale Schichtung, vor allem die abnehmende soziale Durchlässigkeit, die soziale Struktur der Städte aber auch der ländlichen Gebiete sind merklich in Bewegungen.

Es scheint, als wäre die Zeit reif, auch die Bibliothek wieder mehr soziologisch zu beschreiben, um zu verstehen, wie sie innerhalb dieser Entwicklung funktioniert und sich gleichzeitig verändert.

Das Feld für verschiedene Beiträge ist durch die drei oben genannten Werke gut umrissen. Uns interessieren zum Beispiel Beiträge, die die Funktion von Bibliotheken soziologisch beschreiben: Wer arbeitet in ihnen? Und in welchen Bereichen? Wie funktioniert die Bibliotheken als Institution und mit Bezug zu anderen Institutionen? Ist sie Teil von Systemen und wenn ja, von welchen?

Interessant fänden wir auch die exemplarische Anwendung soziologischer Theorien auf Bibliotheken: Ist sie mit Niklas Luhmann als sich selbst erhaltendes System zu beschreiben? Ist sie mit bildungssoziologischen, stadtsoziologischen oder auch lebensraum-fokussierten Theorien zu beschreiben? Oder lässt sich sinnvoll eine Analyse der sozialen Schichtung von Nutzer*innen und Personal durchführen?

Nicht zuletzt sind Berichte oder Überlegungen dazu, wie in der Bibliothekspraxis soziologische Methoden angewandt werden können, ein mögliches, interessantes Thema für Beiträge in diesem Schwerpunkt.

Dabei wünschen wir uns Beiträge ganz unterschiedlicher Art, sowohl aus der Bibliothekspraxis und -wissenschaft als auch der Soziologie, so wie auch die drei oben genannten Monographien ganz unterschiedlich sind. Gerne lesen wir ausgearbeitete empirisch basierte Studien ebenso wie soziologische Beschreibungen und Theoriediskussionen. Zur Einreichung der Zusammenfassung von Abschlussarbeiten mit soziologischen Fragestellungen rufen wir explizit auf. Und schließlich interessieren uns natürlich auch die biografischen Linien, die die Menschen in bibliothekarische Professionen brachten. Selbstreflektive Texte zu diesem Thema sind entsprechend auch willkommen.

Gerne diskutiert die Redaktion im Vorfeld auch erste Ideen oder Entwürfe von Beiträgen.

Einreichungsfrist für die Ausgabe #43 ist der 30. April 2023. Hinweise zur Einreichung finden sich in den Autor*innenhinweisen / Author guidelines auf der Homepage der LIBREAS.

Eure/Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Hannover, Göttingen, Lausanne, München)

Literatur

Heidtmann, Frank (1973). Zur Soziologie von Bibliothek und Bibliothekar : betriebs- und organisationssoziologische Aspekte. Berlin: deutscher bibliotheksverband, 1973

Karstedt, Peter (1965). Studien zur Soziologie der Bibliothek. (2., durchgesehene und vermehrte Auflage) Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1965

Seibel, Bernadette (1988). Au nom du livre analyse sociale d’une profession: les bibliothécaires. Paris: La Documentation française, 1988

Tullio, Fabio (2016). Zur Legitimation Öffentlicher Bibliotheken. In: LIBREAS. Library Ideas, #30 (2016), https://libreas.eu/ausgabe30/tullio/

CfP #42: Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 14. Juli 2022

Zahlenmystik ist eine Sache, der sich LIBREAS gemeinhin verschließt. Popkultur liegt uns schon näher. Und die 42 biegt von Level 42 bis Coldplay, Doctor Who bis zur Nummer von Fox Mulders Apartment vielfach codiert immer wieder um die Ecke und erinnert daran, wie eine kurze Eingebung in einem fiktionalen Werk ein memetisches Eigenleben entwickeln kann. 

In Douglas Adams Roman Per Anhalter durch die Galaxis ist „42“ die Antwort auf Alles. Im ASCII-Code steht die 42 für den Asterisk. Der Satz, der alles enthält, wäre: *. Überfordert? Das ist nachvollziehbar. Bei Douglas Adams ist die 42 das Ergebnis einer Berechnung eines Supercomputers nach einigen Millionen Jahren Rechenzeit. In der Narration stellt sich heraus, dass die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ (Englisch: „life, the universe and everything“) einfach zu unpräzise ist und diese Antwort somit (noch) nicht verständlich ist.

Information Retrieval und Big Data

Das „zu komplex“ und „zu fuzzy“ ist ein Leitmotiv der Informatik vor der Durchsetzung einer Künstlichen Intelligenz, die als Übersetzungsinstanz zwischen der Unendlichkeit des Datafizierten und dem Verständnis des informatischen Menschen auftreten kann. Unschärfe und Übermaß seien ein Symptom der Gegenwart. Das Phänomen „Big Data“ beschreibt eine große Menge von Daten, die zu komplex und zu unstrukturiert ist, als dass sie von bekannter Hard- oder Software in einer akzeptablen Zeit verarbeitet werden könnte. [1] In diesem Fall liegt also eine unabschätzbar große Menge potenzieller Informationen vor, die jedoch nicht entschlüsselt oder kontextualisiert werden kann. Das Problem ist also der fehlende Kontext der Antwort „42“. Die Lösung wäre eine Raffinierung zu „smart data”. Aber was ist „smart”? Lässt sich „big” als „too big“ in eine prinzipielle Unbestimmbarkeit blackboxen, muss „smart“ spezifiziert werden, um als Attribut eine sinnvolle Rolle zu spielen. Die Informationswissenschaft hat diese informationsphilosophische Herausforderung bekanntlich wegabstrahiert, indem sie für die „Smartness“ von Informationssystemen beziehungsweise Rechercheinstrumenten die Werte Recall und Precision definierte, also das Verhältnis von Genauigkeit (precision) und Trefferquote (recall), folgender Formel folgend:

precision = relevant documents and retrieved documents / retrieved documents. (Wie viele der ermittelten Treffer sind relevant?)

recall = relevant documents and retrieved documents / relevant documents. (Wie viele der relevanten Treffer wurden ermittelt?)

Die Smartness eines Systems wird dadurch in der Theorie messbar. In der Praxis gilt das aber nur für entwicklungsabgeschlossene und komplett ausgemessene Datenstrukturen, die mit einem endlichen Set an Fragen angesprochen werden. Für das assoziative Tohuwabohu menschlichen Denkens – und Fühlens und Handelns – ist der Ansatz aber ebenso hilflos wie für die vernetzten und sich ständig verschiebenden Informationssysteme der digitalen Gegenwart. 

Entsprechend nachvollziehbar wird die Objektivität dieses Konzepts und dessen Relevanz vielfach diskutiert. [2]

​​Im Falle der „42“ stellt sich die Frage, ob diese Antwort tatsächlich relevant ist und wir die Antwort nur nicht begreifen können. Oder ob die Frage selbst Unsinn ist, weil menschliche Lebenswelten und menschliche Informationswelten eine begrenzte Bedingtheit voraussetzen, die eine Frage nach dem „Leben, Universum und dem ganzen Rest“ grundlegend negiert. Möglicherweise geht es also schlicht nicht darum, ob die Antwort, sondern darum, ob die Frage Relevanz hat. 

Wir können nicht beurteilen, ob die Antwort „42“ zutreffend ist oder nicht. Vielleicht ist sie beides zugleich, eine Schrödinger’sche Katzenkistenzahl. Oder sie ist der relevante Zufallstreffer, den man gerade nicht gesucht hat. Denn dass sie wirkt(e), siehe Popkultur, ist unbestreitbar. So ist die „42“ vielleicht ein Idealtyp der Serendipity. [3] Sie ließ sich nicht sinnvoll suchen, aber finden und entfaltet ihren eigentlich Sinn erst nach ihrer Entdeckung beziehungsweise Erfindung? Die Informationswissenschaft hat auch das in einer Formel schematisiert: 

S=b(s)/b

(S: Serendipität, b(s): Anzahl der relevanten Ergebnisse (auch, wenn nicht direkt danach gesucht wurde), b: Anzahl der nicht relevanten Ergebnisse).

Aber auch hier forscht sie vermutlich in die falsche Richtung des Zeitstrahls. Zumindest müsste man von potenziell relevanten Ergebnissen oder besser noch konditional zukünftig relevanten Ergebnissen sprechen. Die Bedingung ist freilich, dass sie entdeckt werden. Erst mit der Öffnung dieser Kiste wird die Relevanz relevant. Schrödingers Retrievalkatze statt Lycos-Hund. 

Der viel zitierte Serendipitätseffekt [4] in der engeren informationswissenschaftlichen Auslegung greift natürlich und vor allem auch beim Stöbern im physischen Raum, zum Beispiel in der Freihandaufstellung einer Bibliothek. [5] Er greift andererseits bei jedem Akt der Informationsaufnahme, vom Channelsurfing bis zum Gang um den Block. Und seit je gibt es Bemühung, diese Serendipity doch zu lenken – von der Schaufensterauslage bis hin zu Recommenderverfahren in Online-Shops und Knowledge Discovery(!) Systemen.

Die Messbarkeit von Relevanz

Wie also organisieren wir Präzision und Relevanz in unüberschaubaren Kontexten? Dieser Urfrage der Wissensorganisation möchten wir mit der Ausgabe 42 nachgehen. Die Anschlusspunkte sind erwartbar vielfältig: Von einer Auseinandersetzung mit den benannten Grundthemen der Informationswissenschaft zu den praktischen Auswirkungen einer Volldatafizierung von Arbeits- und Lebenswelten bis hin zur Wissenschaftsbewertung oder Impactmessung in der Kultur bieten sich zahllose Verknüpfungspunkte und wir als LIBREAS sind offen für alle und darüber hinaus.

Der auf Zitationsanalysen basierende Impact-Faktor ist allgegenwärtig, aber auch viel kritisiert. [6] Nichtsdestotrotz entscheidet der zeitschriftenbezogene Messwert mit in Berufungsverfahren und in der Vergabe von Fördermitteln, bei welchen doch die akademischen Meriten im Mittelpunkt stehen sollten. Ist der Impact-Faktor also das wissenschaftsevaluierende Pendant zur Antwort „42“ – als Antwort auf eine nicht beantwortbare Frage? Weil es eine Antwort geben muss? Vor diesem Hintergrund sind gleichwohl Beiträge willkommen, die sich mit der nahezu omnipräsenten Quantifizierung von eigentlich qualitativ zu betrachtenden Aspekten – und Auswirkungen dessen oder Alternativen dazu – beschäftigen. Der Bezugspunkt kann auch außerhalb der Wissenschaft liegen, also jegliche Formen der (numerischen) Erfolgsmessung wie Bibliotheksentwicklungspläne oder Ähnliches ansprechen.

Lost in Translation

Einen weiteren Bereich wollen wir noch herausheben: die Frage der Übersetzbarkeit. In Per Anhalter durch die Galaxis existiert ein überaus innovatives und effektives Tool zum Management der Vielfalt der Sprachen. Bei dem sogenannten „Babelfisch“ handelt es sich um ein Tierchen, welches ins Ohr eingesetzt wird und dort das Verständnis aller existierenden Sprachen ermöglicht. Das klingt wünschenswert und inspirierte zahllose technische Annäherungen an automatisierte Übersetzungen. Aus einer semiotischen Perspektive lassen sich die benannten informationswissenschaftlichen Leitgrößen Relevanz und Präzision wunderbar mit den syntaktischen, semiotischen und pragmatischen Wirkung in Beziehung setzen. Wie präzise wird ein Wort übertragen, wie genau seine Bedeutung übersetzt und wie exakt die Intention der Ursprungsaussage vermittelt? Und welches Potenzial haben serendipitöse, also unerwartete, Bedeutungsverschiebungen? Vielleicht ist ja gerade dieses Etwas-Anders-Verstehen, die abweichende Interpretation, der Schlüssel zu einem unerwarteten Sinn. Könnten gerade die Unschärfen von DeepL, Google Translate & Co. etwas aufzeigen, was wir bei präziseren Übertragungen übersähen? Und was bedeutet das für die Entwicklung von KI-gestützten Analyse- und Übersetzungswerkzeugen? Auch dazu würden wir sehr gern etwas aus Theorie, Praxis und allem Dazwischenliegenden erfahren. 

Und schließlich interessiert uns auch: Wie lautet die Frage, die der Antwort „42“ einen uns verständlichen Sinn gibt? Alle Vorschläge sind willkommen. 

Einladung zur Mitarbeit

Im Schwerpunkt der Ausgabe #42 der LIBREAS. Library Ideas stehen all die genannten Themen. Dabei wünschen wir uns Beiträge ganz unterschiedlicher Art, sowohl aus der Bibliothekspraxis und -wissenschaft als auch Künstlerisches und/oder Absurdes.

Einreichungsfrist für die Ausgabe #42 ist der 15.09.2022. Hinweise zur Einreichung finden sich in den Autor*innenhinweisen / Author guidelines auf der Homepage der LIBREAS.

Eure/Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Göttingen, Lausanne, Potsdam, München)

Literatur

Adams, Douglas (2009): Per Anhalter durch die Galaxis. Heyne : München.

Björneborn, Lennart (2017): Three key affordances for serendipity. Toward a framework connecting environmental and personal factors in serendipitous encounters. In: Journal of Documentation, 73(5), Oktober 2017, 1053–1081.

Callaway, Ewen (2016): Beat it, impact factor! Publishing elite turns against controversial metric. In: Nature 535 (2016), Issue 7611, 210.

Freyberg, Linda (2021): Ikonizität der Information. Die Erkenntnisfunktion struktureller und gestalteter Bildlichkeit in der digitalen Wissensorganisation. Berlin : Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, 2021. Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft ; 484). https://doi.org/10.18452/23813.

Hjørland, Birger (2010): The foundation of the concept of relevance. In: Journal of the American Society for Information Science and TechnologyVol. 61, No. 2, 217–237.

Krameritsch, Jakob (2007): Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Waxmann: Münster.
Snijders, Chris; Matzat, Uwe; Reips, Ulf-Dietrich (2017): Big Data. Big gaps of knowledge in the field of Internet. In: International Journal of Internet Science, 7/2017, 1–5: http://www.ijis.net/ijis7_1/ijis7_1_editorial.pdf.

Fußnoten

[1] Siehe Snjders et al. (2017).

[2] Siehe unter anderem Hjørland, Birger (2010): The foundation of the concept of relevance. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology. Vol. 61, No. 2, 217–237.

[3] Siehe Björneborn, Lennart (2017): Three key affordances for serendipity. Toward a framework connecting environmental and personal factors in serendipitous encounters. In: Journal of Documentation, 73(5), Oktober 2017, 1053–1081.

[4] Siehe Freyberg (2021), 192 f.

[5] Siehe Krameritsch, Jakob (2007): Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Waxmann: Münster 2007, 189.

[6] Siehe unter anderem Callaway, Ewen (2016): Beat it, impact factor! Publishing elite turns against controversial metric. Nature 535 (2016), Issue 7611, 210.

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CfP #41: Big Scholarly Data – Große Datenmengen über wissenschaftliche Informationsprozesse

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 3. November 2021

[English version below]

Am 4. Mai 2021 verkündete Microsoft Research, eine Forschungsabteilung von Microsoft, das Ende von Microsoft Academics Services, ihrer Suchmaschine für wissenschaftliche Literatur. [1] Sie wurde gegründet, um, nach eigener Aussage, der Forschung den Zugriff auf große Datenmengen über wissenschaftliche Literatur und deren automatisierte Nachnutzung zu ermöglichen. Nun möchte sich Microsoft Research anderen Geschäftsfeldern widmen und verweist auf eine Vielzahl an Alternativen wie Crossref, Semantic Scholar oder Dimensions. 

“We remain confident in open and community-driven alternatives to MAS and are pleased to see the recent momentum across the academic ecosystem.” [2]

Dem Echo auf diese Entscheidung nach zu urteilen, sind nicht alle ebenso von diesem Schritt überzeugt. Insbesondere der Service, der die Datengrundlage als Graph technisch verfügbar machte, wurde in den letzten Jahren sowohl in der Forschung, etwa in der quantitativen Wissenschaftsforschung, als auch durch Discovery- und Analysedienste [3] breit nachgenutzt. Forschende, die ihre Arbeit darauf ausgerichtet haben, sehen nun vor allem, dass ihnen ihr Bezugspunkt aufgrund einer Unternehmungsentscheidung mit knapper Frist verloren geht.

Wir möchten das Ende der Microsoft Academics Services zum Anlass nehmen, über den Stand und Perspektiven von so genannten Big Scholarly Data an Bibliotheken und weiteren Informationseinrichtungen zu reflektieren. Mit Big Scholarly Data sind Metadaten über das Gesamtaufkommen wissenschaftlicher Aktivität und ihrer Informationsprozesse gemeint. Sie umfassen bibliographische Informationen, Angaben über Autor*innenschaften oder Zitationsdaten und die Inhalte wissenschaftlicher Publikationen selbst. [4]

In praktischer Hinsicht fragen wir nach der gegenwärtigen Rolle von Big Scholarly Data bei der Weiterentwicklung von Informationsangeboten und Dienstleistungen. Welche Angebote werden wie eingesetzt und wie gelingt die Auswertung großer Datenmengen sowohl technisch als auch inhaltlich-organisatorisch? Wo an welchen Einrichtungen wird Big Scholarly Data angewandt und welche Kompetenzen bedarf es? Welche Fragestellungen lassen sich mit Rückgriff auf Big Scholarly Data wie beantworten? 

Neben dem Bekanntmachen und Teilen praktischer Erfahrungen möchten wir Big Scholarly Data verstärkt als sozio-kulturelles Phänomen verstehen. Was bedeutet die Abhängigkeit von wenigen Anbietern, deren Daten in Informations- und Monitoringangeboten breit nachgenutzt werden? Entsteht eine Pfadabhängigkeit, die dazu führt, dass unterrepräsentierte Publikationspraxen noch stärker marginalisiert werden? Welchen Einfluss spielen Indexierungs- und Typologisierungsentscheidungen der Anbieter bei der Analyse von wissenschaftlichen Informationsressourcen im erweiterten Kontext des Wissenschaftsmanagements, etwa bei der Planung der Transformation des Zeitschriftenetats einer Bibliothek ins Open Access? Ist Big Scholarly Data die Lösung oder der Katalysator der gegenwärtigen “Auffindbarkeitskrise”? [5]

Einreichungsschluss ist der 31. März 2022.

Ihre / eure Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Aarhus, Berlin, Hannover, Lausanne, München)

Fussnoten:

[1] https://web.archive.org/web/20210902200418/https://www.microsoft.com/en-us/research/project/academic/articles/microsoft-academic-to-expand-horizons-with-community-driven-approach/#

[2] https://www.microsoft.com/en-us/research/project/academic/articles/microsoft-academic-to-expand-horizons-with-community-driven-approach/

[3] Siehe etwa den Open-Access-Datendienst Unpaywall. OurResearch, das Team dahinter, hat im Juni 2021 angekündigt, einen Nachfolger für den “Microsoft Academic Graph” zu entwickeln, vergleiche https://blog.ourresearch.org/were-building-a-replacement-for-microsoft-academic-graph/.

[4] Vgl. u.a. Feng Xia; Wei Wang; Teshome Megersa Bekele; Huan Liu: Big Scholarly Data: A Survey. In: IEEE Transactions on Big Data, vol. 3, no. 1, pp. 18-35, 1 March 2017, doi: 10.1109/TBDATA.2016.2641460. – “The term Big Scholarly Data is coined for the rapidly growing scholarly data, which contains information including millions of authors, papers, citations, figures, tables, as well as scholarly networks and digital libraries.“

[5] Kraker, P., Schramm, M., & Kittel, C. (2021). Discoverability in (a) Crisis. ABI Technik, 41(1), 3–12. https://doi.org/10.1515/abitech-2021-0003.


English version:

On May 4, 2021, Microsoft Research, a research division of Microsoft, announced the end of Microsoft Academics Services, their search engine for scientific literature. It was founded, according to their own statement, to enable research access to large amounts of data on scientific literature and to automate its subsequent use. Now Microsoft Research wants to devote itself to other business areas and refers to a variety of alternatives such as Crossref, Semantic Scholar or Dimensions.

“We remain confident in open and community-driven alternatives to MAS and are pleased to see the recent momentum across the academic ecosystem.” [6]

Judging by the response to this decision, not everyone is equally convinced by this step. In particular, the service that made the database technically available as a graph has been widely followed in recent years both in research, such as quantitative science research, and by discovery and analysis services. Researchers who have based their work on it are now facing the loss of their reference pointdue to an enterprise decision with a tight deadline.

We would like to take the end of Microsoft Academics Services as an occasion to reflect on the status quo and the prospects of so-called Big Scholarly Data at libraries and other information institutions. Big Scholarly Data refers to metadata about a high amount of scholarly activity and its information processes. It includes bibliographic information, authorship or citation data, and the content of scholarly publications themselves.

From a practical point of view, we ask about the current role of Big Scholarly Data in the further development of access to information and the related services. Which services are used and how, and how does the analysis of big data work both technically and in terms of content and organization? Where at which institutions is Big Scholarly Data applied and what competencies are required? Which questions can be answered with Big Scholarly Data and how?

In addition to publicizing and sharing practical experiences, we would like to understand Big Scholarly Data more as a socio-cultural phenomenon. What does dependence on a few providers whose data is widely reused in information and monitoring services mean? Does a path dependency emerge that leads to underrepresented publishing practices becoming even more marginalized? What influence do indexing and typologization decisions by vendors play in analyzing scholarly information resources in the broader context of science management, such as planning the transformation of a library’s journal budget to open access? Is Big Scholarly Data the solution or catalyst to the current „discoverability crisis“?

Deadline for submissions is March 31, 2022.

Your Editors LIBREAS. Library Ideas

(Aarhus, Berlin, Hannover, Lausanne, Munich)

Footnotes:

[6] https://www.microsoft.com/en-us/research/project/academic/articles/microsoft-academic-to-expand-horizons-with-community-driven-approach/

Call for Networking: Einladung zur Vernetzung und Austausch zum Thema Dekolonialisierung und Antirassismus in wissenschaftlichen Bibliotheken

Posted in Hinweise by libreas on 3. September 2021

Von: Netzwerk zu Dekolonialisierung von wissenschaftlichen Bibliotheken im DACH-Raum


Der LIBREAS-Schwerpunkt „Dekolonisierung“ hat einen Nerv getroffen, der viele Akteur_innen umtreibt — nun auch in wissenschaftlichen Bibliotheken. Bislang gab es jedoch wenig Gelegenheit zu einem dauerhaften, überregionalen fachlichen Austausch und zur Diskussion, wie angesichts starrer Strukturen, Geschäftsgänge und Regelwerke „Dekolonialisierung“ in Bibliotheken sowie Wissensinfrastrukturen allgemein als Thema gesetzt und ausgestaltet werden kann.

Einem Online-Austauschtreffen zu „Decolonize the Library“ folgend, organisiert am 27. Januar 2021 von der C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik  (www.centrum3.at/bibliothek) in Wien, [1] sind nun eine Mailingliste (https://groups.io/g/decolonizethelibrary) und ein Netzwerk zur „Dekolonialisierung von wissenschaftlichen Bibliotheken im DACH-Raum“ gegründet worden. Derzeit agiert das Netzwerk vollkommen unabhängig von bestehenden Institutionen und organisiert sich als hierarchiefreies Kollektiv. Alle Beiträge erfolgen auf individuelle Initiative hin.

Das Netzwerk lädt herzlich zur aktiven Mitarbeit ein! Es verwendet die genannte allgemeine Mailingliste und trifft sich monatlich online. In einem Pad (https://board.net/p/Dekolonialisierung_von_WB_in_DACH) wird der Diskussionsstand dokumentiert. Dort findet sich auch der Link für die Registrierung zu den Treffen.

Unter den derzeit diskutierten Ideen für zukünftige Aktivitäten finden sich folgende:

  • Aufbau einer gemeinsamen, offenen Wissensbasis, z.B. in einem Wiki; 
  • Dekolonialisierung einer Bibliothek als Pilotprojekt; Ausgangspunkt: Analyse von Geschäftsprozessen und Aktivitäten, um jene zu identifizieren, die Kolonialität stützen, und dadurch additives Vorgehen zu vermeiden. [2]
  • Überarbeitung von Sachschlagworten in der GND und von Klassifikationen (mögliche Vernetzung mit der AG Thesauri des Netzwerks Koloniale Kontexte https://www.evifa.de/de/ueber-uns/fid-projekte/netzwerk-koloniale-kontexte);
  • Sammlung von Adressen zur Beschaffung von globalen Materialien, um den Bestand zu diversifizieren, sowie von entsprechenden (Open-Access-)Metadatenquellen für Bibliothekssuchmaschinen;
  • Globale Materialen im Bestand sichtbarer machen (Stichwort: Discovery-Algorithmen, Originalschrift und Multilingualität von Wissensinfrastrukturen);
  • Seminare für Nutzer_innen organisieren und das Thema in Informationskompetenzschulungen einbeziehen;
  • Veranstaltungen organisieren, z.B. Podiumsdiskussion mit Expert_innen aus Bibliothek, Archiv, Museum, Wissenschaft (evt. Wissenschaftsgeschichte) zum Umgang mit problematischen Ordnungssystemen;
  • Für den Bibliothekskongress 2022 in Innsbruck und den Bibliothekstag in Leipzig 2022 Sessions vorbereiten;
  • Repräsentative Umfrage unter wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliotheken im DACH-Raum durchführen: kurzfristig, um Auseinandersetzung anzustoßen oder mittelfristig, um die Entwicklung der Auseinandersetzung zu erheben;
  • Lesezirkel mit Fachliteratur zum Thema; 
  • Projektgelder beantragen;
  • Publizieren zum Thema.

Wir freuen uns über weitere Mitstreiter_innen und sind neugierig auf Eure Ideen und Perspektiven! 


Fußnoten

[1] Decolonize the Library. Online Austauschtreffen. Videoaufzeichnung der Veranstaltung vom 27. Januar 2021, hochgeladen am 18. Februar 2021, https://youtube/T7gCyHc0ucs

[2] Siehe den Vortrag von Nora Schmidt. “Bibliotheken Dekolonialisieren: Subtraktivismus & Komplexität” in der Reihe: Finders, Keepers: Search. Journal Stiftung Sitterwerk, Mai 2021, https://www.sitterwerk.ch/De/Journal/605/FindersKeepersSearch

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Call for Papers LIBREAS-Ausgabe 39, 2. Schwerpunkt “Dekolonisierung”

Posted in LIBREAS Call for Papers by Ben on 27. Januar 2021
Abbildung 1: Symbolbild “One Planet, Many Names” von Jordan Engel (20.04.2020); Quelle: https://decolonialatlas.wordpress.com/2020/04/20/one-planet-many-names/ [Zugriff am 26.01.2021]
(The map itself is Pacific-Centered (150°E) and South-Up. It uses the Equal Earth projection, a beautiful equal-area projection developed in 2018. As always, Decolonial Atlas maps can be reused under the Decolonial Media License 0.1. Feel free to print them yourself, and send us your photos of them out in the real world!)

Antirassistisch und/oder dekolonial?

Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe

Tritt man in eine Gedächtniseinrichtung wie eine Bibliothek, ein Archiv oder ein Museum, betritt man einen vorgeprägten Raum. Wie und welche Inhalte dort gezeigt werden, ist das Ergebnis umfassender Entscheidungsketten. Diese Entscheidungen basieren auf einem Geflecht von Rahmenbedingungen und Einstellungen der Entscheidenden. Da die Entscheidungen aneinander anschließen, werden sie vererbt, verinnerlicht, bedingen die Regelhaftigkeit der Institutionen. Ein bibliothekarisches Klassifikationssystem mag über die Zeit modifiziert werden. Seine Grundanlage aber bestimmt bereits, ob und wie es modifizierbar ist. 

Die Idee des Wissens und der Ordnung, wie wir sie heute in den Gedächtniseinrichtungen finden und praktizieren, folgt im Prinzip Gestaltungsentscheidungen, die 150 oder 200 Jahre alt sind. Sie wurden in einer Zeit entwickelt, in der Perspektiven auf die Welt, die Menschheit, die Kulturen dominierten und keinesfalls Gleichwertigkeit jenseits europäischer Leitvorstellungen zum Ziel hatte. Sie wurden zu einem Zeitpunkt eines sich entfesselnden, kapitalistischen und kolonialen Expansionsdrangs verfeinert, in dem als positives Ziel galt, sich möglichst viel auf Erde jeweils untertan zu machen. Nationalismus und Imperialismus waren der narrative Rahmen, der die Gesellschaften im Zweifel zu großen Opfern motivieren sollte. Der Lohn waren das Versprechen des Wohlstands einer Kolonialwaren-Konsumkultur und das heimelige Gefühl einer Überlegenheit. Der Preis ist in jedem Schwarzbuch zur Menschheitsgeschichte dokumentiert und sprengt in seiner Dimension und Grausamkeit jede Vorstellungskraft.

Die Welt außerhalb europäischer, christlicher Deutungsmuster bekam in diesen Perspektiven keine eigene Handlungsmacht zuerkannt. Sie wurde objektiviert. Sie wurde etwas, das es zu erkunden, bezwingen, zähmen, kontrollieren, ordnen galt. Ihre Formen des Wissens wurden im besten Fall nachgenutzt, angepasst, dokumentiert. Was nicht passte, wurde ausgeblendet, ignoriert, ausgelöscht. Der Drang, die Welt zu objektivieren und kontrollierbar zu machen, zog sich dominant lange durch das 20. Jahrhundert. Er franste aus, hier und da entwickelten sich Alternativen. Seine Dekonstruktion erfolgte aber bis heute fast nur diskursiv, intellektuell, narrativ. Vieles in den Strukturen ist nach wie vor näher an der Zeit, in der “Völkerschauen” als völlig normal galten, als uns lieb ist. Mehr noch: Im digitalen Raum wiederholen sich genau diese Prozesse. Die Künstliche Intelligenz trainiert mit den tradierten Korpora und übernimmt damit die etablierten Muster. Ein historisches Bewusstsein kennt sie naturgemäß nicht. Und es ist, wie aktuell der Fall Timnit Gebru zeigt, auch bei denen, die über die digitalen Strukturen entscheiden, nicht unbedingt vorauszusetzen. Es ist keine gerade Entwicklungslinie, aber die Randständigkeit ethischer und historischer Reflexion bei der Entwicklung des technisch Machbaren setzt vieles von dem, was wir in öffentlichen Verlautbarungen als für überwunden verkünden, schließlich doch mit zeitgemäßen Mitteln neu auf.

Bibliotheken müssen sich wie alle Gedächtniseinrichtungen und eigentlich alle Institutionen der Frage stellen, wie in ihnen exkludierende, rassistische, aus der Zeit und der Logik des Kolonialismus stammende Muster nachwirken und was dies für ihre Gegenwart bedeutet. Das Ziel der Inklusivität, die diskriminierungsfreie Ausrichtung findet abstrakt weithin Zustimmung. Wenn es gut läuft, werden hier und da Sonderprogramme aufgelegt, die aber teils bereits durch ihren “Sonder”-Status Ein- und Ausgrenzungen in Gestalt einer nun wohlwollenden Diskriminierung reproduzieren. Solange die Entscheidungs- und Steuerungshoheit bei tradierten Akteur:innen und ohne Hinterfragen der scheinbar selbstverständlichen Rahmenbedingungen verbleibt, führt dies nicht zu einer Anerkennung auf Augenhöhe. Man baut Brücken. Aber ist man dabei auch bereit, das Gegenüber als das zu akzeptieren, als das es sich zeigt? 

Wir müssen damit leben, dass wir aus einer bestimmten Entwicklungslogik nicht retrospektiv ausbrechen können. Die Geschichte ist unhintergehbar. Daraus ergibt sich zugleich die Verantwortung, sie differenzierend zu verstehen und aus ihr zu lernen. Wir werden die Gedächtniseinrichtungen nicht retrospektiv dekolonisieren können. Was wir aber als Aufgabe einer engagierten Bibliothekswissenschaft sehen, ist, die Bibliotheken als unsere Bezugsinstitutionen auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu reflektieren und Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zukunft zu entwickeln, die sensibel, differenziert und entschieden eine integrative, grundierende, ausgleichende Rolle übernimmt. 

Im Grunde geht es darum, das konsequent zu leben, was man vorgibt zu tun. Dazu zählt, in einem ersten Schritt zu verstehen wo man herkommt und warum man so ist, wie man ist. Es gilt, dafür sensibel zu werden, wie und wo diskriminierende Effekte nach wie vor wirken. Es gilt, verstehen zu lernen, warum sich Teile der Community, die man eigentlich zu repräsentieren vorgibt, nicht repräsentiert fühlen. Wenn die eigenen Denk- und Vorstellungsmuster dekonstruiert werden, bedeutet das nicht, dass man sie komplett verwerfen muss. Aber man wird dann Entscheidungen erklären müssen. Die Verschiebung, die wir aktuell in zahlreichen Diskursen beobachten und die auch dem Bibliothekswesen gut tun wird, führt dahin, dass bisher unhinterfragte Konstellationen der Macht, der Deutung, der Entscheidung, einer ausdrücklichen Re-Legitimierung bedürfen.

Im zweiten Schritt nach der Ent-Selbstverständlichung geht es darum, Alternativen zu denken. Das Gute ist: Es gibt Vorarbeiten. So bietet das postkoloniales Konzept der ‘colonial library’ des kongolesischen Philosophen und Intellektullen V[alentin]- Y[ves] Mudimbe ein Analyseinstrument, um zu (hinter)fragen, ob und wie Bibliotheksarbeit im heutigen Kontext genutzt werden kann, um sich Konzepten einer kolonial-rassistischen Wissensordnung zu widersetzen. Laut Mudimbe bezieht sich das auf alle Texte und epistemologischen Ansätze, die afrikanische Gesellschaften als ein Symbol der Andersartigkeit (otherness) und Unterlegenheit (inferiority) konstruierten (Mudimbe, 1988: 98–134). Wo das erkannt wird, können Schritte unternommen werden, um eine Erst- oder auch Wiederaneignung von alternativen Wissensbeständen einzuleiten, die einen Kontrast zur kolonialen Bibliothek bilden würden. Eine solche Debatte eröffnet die Möglichkeit, über diese Herausforderung zu sprechen und verstehen zu lernen, welche Perspektivwechsel in der antirassistischen Bibliotheksarbeit möglich und notwendig sind. Die Enthomogenisierung unser Vorstellungen von Leitkultur, die Diversifikation von Möglichkeiten, zugleich immer auch die Schaffung und Erhaltung von Optionen für eine wechselseitige Verständigung – das könnte im Kern der postkolonialen, antidiskriminierenden, antirassistischen Bibliothek stehen. Rassismuskritisches Denken und Handeln befähigt uns, die komplexen Verschränkungen von institutionellem und strukturellem Rassismus zu decodieren. Ein uneingeschränkter Humanismus mit dem Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft ist eine Utopie. Dieser so nah wie möglich zu kommen liegt in unserer Verantwortung. Das Bewahren und Zeigen von Kultur in ihrer Breite anstatt eines restriktiven Strebens nach Ordnung und Kontrolle könnte Kern der Arbeit von Gedächtniseinrichtungen sein. Überlieferung wird nicht getilgt, aber vernetzt, erklärt und kritisch vermittelt.

Call for Papers 2. Schwerpunkt Ausgabe 39: Fragen

Für die kommende Ausgabe von LIBREAS suchen wir Beiträge, die sich mit der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft von Gedächtnisorganisationen und Prozessen der Ordnung des Wissens, Diskursen und Wissensträgern aus der Perspektive einer Dekolonisierung auseinandersetzen.

  • Wir suchen die Spuren von Kolonialismus und Rassismen, die sich bis heute in den Strukturen und der Arbeit von Bibliotheken erhalten und die sich möglicherweise in digitalen Wissens- und Kommunikationsstrukturen reproduzieren. 
  • Wir möchten erfahren, wer sich aus welchen Blickwinkeln mit Fragen der Dekolonisierung, der Diversifizierung, der Alterisierung in und von Bibliotheken befasst.
  • Wir suchen Best-Practice-Beispiele für Inklusions- und Öffnungsprozesse.
  • Wir wollen Handlungsoptionen (und Utopien) zur Frage diskutieren, wie die Ordnungsmechanismen von Machtdiskursen durchbrochen werden können und wie epistemische Gewalt in öffentlichen Einrichtungen thematisiert werden kann.
  • Und schließlich möchten wir gern auch die genuine Perspektive der Bibliotheks- und Informationswissenschaft betrachten und fragen, wie informationsethische Modelle, Methoden und Theorien am Schnittpunkt zu postkolonialen Forschungsfragen anwendbar sind.

Einreichungen

Die Redaktion der LIBREAS. Library Ideas, die Gasteditorinnen Gabriele Slezak und Sandra Sparber aus Wien sowie die Studierenden des LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sind offen für direkte Einreichungen, aber auch für die Diskussion von Ideen für Beiträge. Formen und Inhalt sind wenig beschränkt, diese Einschränkungen sind in den Hinweisen für Autor*innen (https://libreas.eu/authorguides/) zu finden. Deadline ist der 30. Juni 2021. Kontakt: redaktion@libreas.eu / https://twitter.com/libreas

Eure LIBREAS-Redaktion 

(Berlin, Wien, Hannover, Aarhus, Lausanne, München)


(Dieser Call for Papers entstand im Rahmen des LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 2020/2021 und wurde von Ester Barseghyan, Lina Feller, Katharina Foerster-Kuntze, Fatima Jonitz, Amber Kok, Valentina de Toledo erstellt, begleitet und koordiniert.)