Anmerkungen zur Information Literacy
Karsten Schuldt
Zu:
- Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.) (2010) / Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010
- Accardi, Maria T. (2013) / Feminist Pedagogy : for Library Instruction. Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013
- Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.) (2013) / Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013
Information Literacy scheint in den englischsprachigen Bibliothekswesen1 keinen ganz so grossen Platz einzunehmen, wie es in den deutschsprachigen Bibliothekswesen die Informationskompetenz tut. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, erscheinen in einiger Regelmässigkeit im englischsprachigen Bibliothekswesen Beiträge, die sich kritisch mit Information Literacy auseinandersetzen. Diese Literatur wird in den deutschsprachigen Bibliothekswesen bislang ebenso selten wahrgenommen wie die restliche Literatur zu Information Literacy. Dies ist zu bedauern, da sie einen tiefen Einblick in tatsächliche Praxis der Information Literacy Instruction und das Unwohlsein mit dieser bei einer relevanten Anzahl von aktiven Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sowie Forschenden erlaubt. Dabei lehnt kaum einer dieser Beiträge die Idee ab, dass Menschen besser mit Information umgehen können sollten. Sie stellen allerdings tiefgreifende Fragen an die Konzepte und impliziten Annahmen um Information Literacy, welche dazu beitragen können, über dieser Praxis nachzudenken und sie besser zu gestalten, wobei eine Diskussion notwendig wird, was „besser“ eigentlich heissen soll. Auffällig ist an diesen Texten, dass sie sich zumeist sehr klar daran orientieren, die Arbeit von Bibliotheken für die Nutzerinnen und Nutzer so zu gestalten, dass diese am Ende sinnvoll mit Informationen umgehen können, gleichzeitig aber immer wieder Zweifel daran äussern, ob Information Literacy – insbesondere in der Form von definierten Standards – der richtige Weg ist. Zudem beschreiben sie bibliothekarische Arbeit beständig als Arbeit, welche dem sozialen Gegebenheiten nicht entkommen und deshalb, gewollt oder nicht, immer auch politisch ist.
Für alle, die ihre Arbeit im Bezug auf Information Literacy oder Informationskompetenz nicht als reine Werbemassnahme verstehen, kann diese Literatur vor allem Irritationen auslösen, die dazu beitragen kann, die eigene Haltung zu diesen Themen klarer zu fassen. Sicherlich muss man sich dazu darauf einlassen, die eigene Haltung zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, auch muss man damit umgehen, dass sich diese kritische Literatur nicht auf ein Thema oder eine Aussage reduzieren lässt, sondern selber widersprüchlich ist. Aber das ist die Aufgabe solcher Literatur und, selbst wenn man am Ende jeden Punkt der vorgebrachten Kritiken ablehnen sollte, die beste Möglichkeit, mehr über die bibliothekarische Praxis nachzudenken und sie sinnvoll zu gestalten.
Die drei hier besprochenen Werke sind prägnante Beispiele für diesen Trend. Sie sind allesamt im gleichen, für seine kritischen Bücher zur Bibliothekspraxis bekannten, Verlag erschienen. Library Juice Press ist einer der bevorzugten Orte für solche kritischen Interventionen in bibliothekarische Diskurse. Dies führt dazu, dass in diesen Werken sowohl die profundeste als auch die weitgehendste Kritik geäussert wird. Man kann sie als den radikalen Pol dieser kritischen Strömung ansehen. Nicht alle Texte, die sich kritisch zu Praxis um die Information Literacy äussern, gehen so weit, wie die hier besprochenen. Allerdings: Je vehementer der Widerspruch, umso mehr ist aus ihm zu lernen.
Critical Pedagogy, Paulo Freire
Insbesondere die beiden Sammlungen Critical Library Instruction : Theories and Methods (Accardi, Drabinskis & Kumbier, 2010) und Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis (Gregory & Higgins, 2013) versammeln Texte, welche sich regelmässig auf Critical Pedagogy berufen, wobei unter dieser eine Anzahl von Ansätzen zusammengefasst wird. Grundsätzlich ist diesen, dass sie eine Pädagogik meinen, welche das Ziel hat, den Lernenden zu helfen, im Lernprozess ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Dieses Bewusstsein soll ihnen ermöglichen, über die Nutzung von Informationen als reine Fakten hinausgehend, mit Informationen kritisch, reflektiert und mit einer umfassenden Analyse umgehen zu können. Es geht den Schreibenden um Empowerment; darum die Lernenden in die Lage zu versetzen, sich selber zu äussern und aktiv zu werden. Viele, aber nicht alle, verstehen Critical Pedagogy als Form, um sozialen Aktivismus zu unterstützen oder auszulösen. Andere stellen die Frage, ob das Publikum, welches Information Literacy Instructions erhält wirklich die Personen sind, welche in sozialem Aktivismus partizipieren werden. Duke, Ward & Burkert (2010) sehen kritisches Bewusstsein beispielsweise als notwendig für ein unterstützendes Arbeiten von Special Needs Teachers in abgelegenen Siedlungen in Alaska – welche sie weiterbilden – an und beschreiben dieses Bewusstsein explizit politisch:
“Critical consciousness is characterized by the ability to recognize and take action against the multiple forms of privilege and oppression that contribute to social, political, and economic injustice. […] When the awareness of oppression (i.e., critical consciousness) begins, so, too, begins the struggle for liberation ([Trask, H. (1999). From a native daughter. Colonialism and sovereignty in Hawai’i. (Revised ed.) Honolulu, Hi : University of Hawai’i Press]).“ (Duke, Ward & Burkert, 2010, 115)
Eine Reihe von Autorinnen und Autoren der besprochenen Bücher berichtet über Lernende, die sozial benachteiligten Gruppen angehören. Diese betonen mehrfach, das kritisches Bewusstsein und Information Literacy zusammengehörten.
“Liberatory education practices are closely related to and complementary with the goals of information literacy instruction. Community colleges are committed to fostering critical thinking skills in their students, and both critical pedagogy and information literacy provide methodologies for fabricating that goal.“ (Keer, 2010, 157)
Gleichzeitig erhalten immer noch vor allem Studierende, die, bei aller sozialen Mischung, in den letzten Jahren wieder verstärkt aus den privilegierten gesellschaftlichen Schichten stammen, Information Literacy Instructions. Gleichwohl betonen die Schreibenden, dass auch diese kritisches Bewusstsein benötigen würden, um überhaupt mit wissenschaftlicher Literatur und Informationen umgehen zu können. In gewisser Weise postulieren die Schreibenden, dass ein sinnvoller Umgang mit Informationen erst dann möglich ist, wenn Lernende in der Lage sind, die Produktionsbedingungen dieser Informationen und damit die Gesellschaft inklusive ihre Ambiguitäten zu verstehen. Information Literacy Instructions, welche sich an den gegebenen Standards orientieren, seien dazu nicht in der Lage.
“Students may be unaware of the dialogic quality of the sources they use, but the researchers, theorists, and practitioners who produce them generally are not. A student may view a source as an absolute authority to which they must passively defer, as in the banking model of education, or they may view it as an embodied voice in a conservation, one that occupies a position in space and time and thus a political perspective in relation to real problems in the world. Librarians are not in a position to notice the difference between banking and problem-posing kinds of research if they see themselves merely providing materials to students, delivering items from point A to point B.” (Kopp & Olson-Kopp, 2010, 57)
Das in diesem Absatz angesprochene Gegensatzpaar Banking Model of Education vs. Problem-Posing liegt den meisten dieser Kritiken zugrunde. Es stammt von Bildungspolitiker und -theoretiker Paulo Freire, der in den 1960er und 1970er Jahren mit seiner Arbeit bei Alphabetisierungsprogrammen in Brasilien, später – als Flüchtling nach dem Militärputsch 1964 – unter anderem als Berater in verschiedenen internationalen Organisationen seine Theorie der Critical Pedagogy ausarbeitete. (Freire, 1970)
Grundsätzlich beschreibt Freire die herkömmliche Pädagogik als Banking Model („Bankiersmethode“), bei dem Wissen als Objekt verstanden würde, das zu weiterem Wissen hinzu addiert werden könnte. Die Lernenden würde in diesem System die benötigten Wissensstücke erhalten, speichern und mechanisch anwenden, aber nicht verarbeiten oder verstehen. Diese Methode, die er als Grundlage von Schulen und Hochschulen ansieht, würde die Lernenden dazu erziehen, Wissen als gegeben hinzunehmen und nicht selbstständig zu nutzen. Dem gegenüber stellt er das problembasierte Lernen, bei welchem die Lernenden in einem aktiven Dialog Wissen dadurch erwerben, dass sie es gemeinsam hinterfragen, auf ihre eigene Situation beziehen und dazu ermutigt werden, ihrem eigenen Wissen und ihren eigenen Entscheidungsfähigkeiten zu vertrauen. Freire liess dieses Konzept in den brasilianischen Alphabetisierungskampagnen anwenden. Auf deren Erfahrungen baute er auf, als er in den 1970er Jahren beim World Council of Churches arbeitete. Obgleich er heute in der deutschsprachigen pädagogischen Diskussion kaum mehr rezipiert wird, fungiert er im englischsprachigen pädagogischen Diskussionen weiterhin als Referenz. So auch für einen Grossteil der Autorinnen und Autoren der hier besprochenen Bücher.
Ein Hauptvorwurf vieler Texte an das aktuelle Verständnis von Information Literacy – vor allem niedergelegt in den Information Literacy Competency Standards for Higher Education der Association of College & Research Libraries, welche beständig den Referenzpunkt für weitere Standards und Policies darstellen – ist, dass es letztlich ein Beispiel des Banking Models wäre. Es würde die Prozesse des Umgang mit Informationen auf reine Techniken beschränken und somit Lernende dazu zu erziehen suchen, mechanisch Informationen als Objekte zu verstehen.
Pankl & Coleman (2010) beschreiben beispielsweise eine Situation, in der eine Studierende am letzten Tag vor der Abgabe eines Papers die Bibliothekarin mit der Behauptung angeht, über ihr Thema gäbe es keine Literatur. In folgendem, längeren Abschnitt führen Pankl & Coleman (2010) dieses Denken auf ein falsches Verständnis von Information zurück, welches durch Information Literacy Instructions, die sich auf die Vermittlung von Techniken beschränken, verstärken würde.
“The fundamental problem in such scenario is that the student has failed to properly conceptualize the research process and lacks the cognitive sophistication to articulate and imagine her topic in a manner that is meaningful and dialectical. The hypothetical student truly believes that academic researcher is merely a process of punching some random terms into an electronic apparatus and then receiving, perhaps by the will of God, a magical and sizable list of sources that are all perfectly relevant to what she is writing about (and, ideally, these sources all have titles that closely match her own title). Such situations are attributable to education that is bound and constraint to positivism. Positivism is the belief and practice that valid knowledge is objective, empirical, and static. Unfortunately positivism is the dominant paradigm for most educational efforts in the U.S. and has been since the Enlightenment. Educational systems within the U.S. are committed to marketing knowledge as something outside of the individual, and treat individual’s fundamental character as instrumental rather than imaginative and creative. Such an educational ideology produces agents that are incapable and, for the most part, unwilling to construct their own knowledge – knowledge that might in turn liberate them form the tyranny of facts.
Critical pedagogy attempts to combat the positivistic stranglehold on the educational system. Its fundamental project is to emancipate all people from overt and hidden forms of oppression by denaturalizing dominant ideologies and systems as historically produced human constructs that are far reaching in their impacts and, perhaps more importantly, subject to change.” (Pankl & Coleman, 2010, 3f.)
Battista (2013) postuliert ebenso, dass Information Literacy, die auf Techniken reduziert würde, einen negativen Effekt auf das Lernen und Denken von Studierenden hätte.
“When students see the completion of an assignment as the chief goal of seeking information, they lose the ability to see themselves as participants in public discourse, and they fail to imagine ways that they can grow their information sources to serve them beyond a singular task that occupies them. […]
Because information literacy is a fluid ethic, we must depart from task-driven models of instruction and treat inquiry as a process that hinges on how well we build information networks.” (Battista, 2013, 88)
Während sich zahlreiche Texte auf Paulo Freires Theorien – und einigen Theorien, die Freires Theorie weiterschrieben – stützen, sind die Einschätzungen sehr unterschiedlich. Ein Teil der Schreibenden wirft der Praxis der Information Literacy vor allem vor, die eigenen Versprechen nicht einzuhalten. Diesem Problem sei mit eine Critical Pedagogy, insbesondere dem Problem Based Learning beizukommen. Ein anderer Teil, der grösste, postuliert, dass insbesondere die in der englischsprachigen Welt verbreiteten Standards für Information Literacy hoffnungslos dem Banker Model verhaftet seien. Auch dem sei mit Critical Pedagogy beizukommen, allerdings in andere Weise: Die bisherige Praxis der Information Litercay Instructions und die Zielsetzungen dieser Praxis sollten vollkommen geändert werden. Eine weitere Anzahl von Texten, allerdings die kleinste, geht über diese Kritik hinaus.
Ist die Information Literacy neoliberal?
Information Literacy als Modell stellt, so die weitestgehende Kritik, ein neoliberales Konzept dar. Diese Kritik wird vor allem in Gregory & Higgins (2013) wiederholt geäussert. Neoliberalismus wird dabei definiert als Ideologie, welche die sozialen Verhältnisse als Marktverhältnisse beschreibt, beispielsweise Menschen allein als Trägerinnen und Träger von anrechenbaren Fähigkeiten versteht, welche von diesen in rein rationalen Wegen zur Steigerung der eigenen Marktfähigkeit eingesetzt würden. Grundsätzlich sehe der Neoliberalismus den Marktprozesse als alleinigen Aushandlungsort von gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Prozessen an. Diese Ideologie würde eine Gefahr darstellen für Demokratie, soziale Sicherheit und die staatlichen Funktionen. (Seale, 2013; Enright, 2013; Lilburn, 2013)
Information Literacy, so wie es heute verstanden wird, sei im Zuge der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie entstanden und folge dieser. Dieser zeitliche Zusammenhang sei kein Zufall, vielmehr wäre Information Literacy ein neoliberales Projekt. Die Theorie des Human Capital sei der Information Literacy eingeschrieben. (Seale, 2013) So sei das neoliberale Subjekt – also die einzelne Person, die so reagieren würde, wie sich dies ideologisch vorgestellt wird – immer rational handelnd und auf die eigene Profitmaximierung ausgerichtet. Ebenso würden in den Standards zur Information Literacy Personen verstanden.
“The argument that I wish to finally advance here is not only that the information literate is the neoliberal subject par excellence, but is structured around the notion of human as homo economicus. Indeed, in all of the policy the information literate is always conceptualized as a rational, self-interested individual who can recognize ‘the need for information’ and continually ‘re-evaluates the nature and extent of the information need.’” (Enright, 2013, 32)
Die Standards für Information Literacy würden den Einzelpersonen die alleinige Verantwortung für diese Literacy zuweisen und damit die realen Ungleichheiten überdecken. Die Literacy sei von allen gleich gut zu erwerben und anzuwenden, wenn dies nicht geschieht, sei dies dies Schuld der jeweiligen Individuums.
“The ALA Presidental Commitee’s Final Report [(American Library Association Presidental Committee on Information Literacy (1989). Final report), welcher das aktuelle Verständnis von Information Literacy das erste Mal skizzierte und als Grundlage für die folgenden Policies und Standards gilt] duplicates this [die neoliberalen Vorstellungen der Regierungen Reagan, USA und Thatcher, GB] more and shifts the blame for social and economic inequalities onto the very individuals disempowered by those inequities; if an individual cannot find a well-paying job, it is because she or he has not actively pursued information literacy. The report wholeheartedly rationalizes and supports the adoption of neoliberalism that occurred during the 1980s.” (Seale, 2013, 49)
Diejenigen Texte, welche diese Kritik formulieren, gehen davon aus, dass der Neoliberalismus als Ideologie sich in der Krise befände. In zahlreichen Wissenschaftsfeldern hätten sich kritische Forschungsrichtungen etabliert, welche diese Krise und die Auswirkungen der Ideologie untersuchen würde. In der Library and Information Science, insbesondere im Bezug auf Information Literacy, sei dies nicht der Fall. Zwar würde verstärkt Kritik an der Gesellschaft in seiner ihrer jetzigen Form geübt, aber diese Kritik würde Information Literacy als Konzept nicht tangieren. Vielmehr sei Information Literacy zu einem in sich selbst geschlossenen Diskurssystem geworden, welches Kritik nur noch innerhalb des Systems zulässt, andere Kritik, welche die Grundannahmen nicht teilt, als irrelevant erscheinen lässt.2
“And yet despite the resurgence of critique, most critical research in LIS still tends to stop short at formulating any explicit critique of capitalist social relations thereby deemphasizing the relationship between 21st century librarianship, the expansion of capital and the resultant forms of discipline and control developing from capital’s late modern augmentation. The failure to link LIS with a broader critique of capitalism has resulted in a research program that fails to connect with the real, ‘everyday life’ constraints emerging from the ‘information society’ and driven by capital and its social relations. Sadly, the failure to position LIS within a systematic critique of capitalism also gives rise to an insufficient form of critique that consistently fails to scrutinize the central tenets of LIS practice by dislocating its historical specificity from the socio-economic context in which they are necessarily embedded.” (Enright, 2013, 16)
Der Neomarxismus des Autors ist kaum zu übersehen. In seiner Radikalität weist er aber – selbst dann, wenn der neomarxistische Anteil abgelehnt wird – auf eine wichtige Frage hin, die im Rahmen der Information Literacy nicht gestellt wird: Was für Menschen wollen Bibliotheken mit Information Literacy erziehen und welche Gesellschaft stellen sie sich dabei vor? Information Literacy, dass machen diese kritischen Texte schnell deutlich, ist weder frei von gesellschaftlichen Voraussetzungen noch rein objektiv. Es ist als Diskurs zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden – trotz Vorläufern verorten diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich damit beschäftigen, diesen Beginn zumeist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre – und trägt selbstverständlich die Grundannahmen der damaligen Gesellschaft in sich. Die hier angeführten Texte leiten daraus ab, dass Information Literacy mit den Diskursen der frühen 1990er Jahre verbunden ist. Der Schritt ist dann folgerichtig: Wenn in den frühen 1990er Jahren der Neoliberalismus als Ideologie dominierte und in die Information Literacy Standards und Policies eingeschrieben wurde, gleichzeitig diese Ideologie sich heute praktisch in einer Krise befindet, dann stellt sich die Frage, warum sich die Information Literacy als Diskurs und Praxis nicht auch in der Krise befinden sollte.
“When considering the meaning and purpose of information literacy, librarians must decide on the form of citizenship promoted through their teaching. They must decide whether the citizenship they help to produce is one that works to strengthen and uphold existing social, economic and political structures or whether it is one that dares the question and, if necessary, challenge the ideological foundations on which inequitable or oppressive distributions of social, economic and political power are based.” (Lilburn, 2013, 76)
Die Bücher im Einzelnen
Alle Texte der drei Bücher nehmen Information Literacy ernst als Konzept und als pädagogische Praxis von Bibliotheken. Sie nehmen es so ernst, dass sie ihm immense Wirkmächtigkeit zuschreiben. Niemand von Ihnen würde Information Literacy als Marketingwerkzeug für Bibliotheken verstehen. Allerdings, wie schon angedeutet, in sehr unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Kritiken an diesem Konzept. Einige Texte verwerfen Information Literacy vollständig, andere kritisieren es als ineffizient, unvollständig oder unzureichend, wieder andere kritisieren die Umsetzung der Information Litercay Instructions. Die Kritiken sind nicht deckungsgleich, vielmehr widersprechen sie sich in letzter Konsequenz zum Teil. Dennoch werfen sie immer wieder Fragestellungen im Bezug auf Information Literacy auf, die auffällig selten gestellt werden und plädieren oft dafür, zur Beantwortung dieser Fragen einen Schritt zurückzutreten und das gesamte Konzept samt seiner Zielsetzungen und eingeschriebenen gesellschaftlichen Vorstellungen zu befragen. Zudem eint alle Autorinnen und Autoren ein Bezug zu sozialen Fragen. Die drei Werke werden hier zusammen vorgestellt, weil sie inhaltlich zusammengehören. Gregory & Higgins (2013) verweist explizit auf Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) als Grundlage, Accardi (2013) stammt von einer der Herausgeberinnen des 2010er Werkes und stellt eine Ausarbeitung eines spezifischen Kritikstranges dar. Die drei Werke sollten auch als Zusammenhang begriffen werden.
Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) liest sich dabei als erste Erkundung des Themas. Die Autorinnen und Autoren zeigen sich unzufrieden mit der Praxis der Information Litercay und dem Umgang mit immer wieder auftretenden Problemen, wie den Problemen, Studierende wirklich zu erreichen. Nur wenige wagen sich mit der Kritik weiter vor, ein grosser Teil des Buches besteht aus Praxisberichten. Dennoch zeigt das Werk Tendenzen der Kritik, welche späterhin in Gregory & Higgins (2013) beschritten werden. Dieses bietet sehr weitgehenden Kritiken – bis hin zu solchen, die Information Literacy an sich ablehnen – Platz. Gregory & Higgins (2013) erscheint als das in sich geschlossenste. Es ist auch jenes, welches die meisten Anregungen zur Reflexion bietet. Accardi (2013) hingegen liest sich als Ergänzung des ersten Werkes aus einem speziellen Blickwinkel, dem der feministischen Pädagogik. Neben einer Einführung in dieser Pädagogik versucht sich die Autorin darin, konkrete Hinweise zur Integration der Kritik in die Praxis zu liefern. Das Buch enthält rund 150 Seiten, davon rund 35 alleine für Beispiele von Arbeitsblättern, welche direkt im Information Literacy Instructions eingesetzt werden können. Auffällig ist, dass sich in der Darstellung von Accardi (2013) feministische Kritik wenig von dem unterscheidet, was in den anderen beiden Werken als Critical Pedagogy mit Bezug auf Paulo Freire beschrieben wurde: Einbeziehung der Kontextes, Empowerment und soziale Fragestellungen als Mittel der Pädagogik.
Grundsätzlich ist Gregory & Higgins (2013) als das stärkste der drei Werke bezeichnen. Es ist, wie ebenfalls mehrfach angedeutet, ein Diskussionsbeitrag, welcher dazu führen kann, die bibliothekarische Praxis zu hinterfragen und somit – wenn sie während des Hinterfragens nicht gänzlich verworfen wird – sozial relevanter zu machen. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sich alle drei Werke auf die englischsprachigen Bibliothekswesen beziehen. Eine Übersetzung in den Kontext der deutschsprachigen Bibliothekswesen sollte wenn, dann vorsichtig geschehen. Die Debatten um Informationskompetenz haben sich zwar aus Übersetzungen relevanter Texte aus dem Englischen entwickelt, aber teilweise andere Richtungen genommen. Insoweit muss nicht jede Kritik auf den deutschsprachigen Kontext zutreffen.
Alles in allem ist die Lektüre der drei Werk zu empfehlen. Sie sind erfrischend offen, teilweise jugendlich radikal und zudem denkanregend.
Literatur
Battista, Andrew (2013) / From “A Crusade against Ignorance” to a “Crisis of Authenticity”: Curating Information for a Participatory Democracy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 81-97
Duke, Thomas Scott ; Ward, Jennifer Diane ; Burkert, Jill (2010) / Preparing Critically Consciois, Information Literate Special Educators for Alaska’s Schools. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 115-131
Enright, Nathaniel F. (2013) / The Violence of Information Literacy: Neoliberalism and the Human as Capital. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 15-38
Freire, Paulo (1970) / Pedagogy of the oppressed. New York, NY : Herder and Herder, 1970
Keer, Gretchen (2010) / Critical Pedagogy and Information Literacy in Community Colleges. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 149-159
Kopp, Bryan M. ; Olson-Kopp, Kim (2010) / Depositories of Knowledge : Library Instruction and the development of Critical Consciousness. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 55-67
Lilburn, Jeff (2013) / “You’ve Got to Know and Know Properly”: Citizenship in Kazou Ishiguro’s Never Let Me Go and the Aims of Information Literacy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 63-78
Pankl, Elisabeth ; Coleman, Jason (2010) / “There’s Nothing on my Topic!“ Using the Theories of Oscar Wilde and Henry Giroux to Develop Critical Pedagogy for Library Instruction. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 3-12
Seale, Maura (2013) / The Neoliberal Library. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 39-61
Fussnoten
1 Englischsprachige Bibliothekswesen ist selbstverständlich eine Verkürzung. Gemeint sind englischsprachige Bibliothekswesen des globalen Nordens, die sich in den Diskussionen immer wieder vermischen. Über Bibliothekswesen wie die in Nigeria, Belize oder auch Trinidad and Tobago ist im globalen Norden viel zu wenig bekannt, um solche Aussagen zu machen. Insoweit kann hier „englischsprachige Bibliothekswesen“ gelesen werden als Bibliothekswesen der USA, Grossbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands.
2 Diese Einschätzung erscheint nicht gänzlich unberechtigt. Vor einigen Wochen referierten Juha Kämäräinen und Jarmo Saarti auf der European Conference on Information Literacy (http://www.ecil2013.org/index.php/home) in Istanbul über das Promotionsprojekt von Kämäräinen, welcher die Rhetorik der offiziellen Dokumente zur Information Literacy in Finnland untersuchte. Dabei stellten sie in einen Raum gefüllt mit Personen, die offensichtlich von der Bedeutung von Bibliotheken und Information Literacy überzeugt waren, unter anderem die Frage, was eigentlich wirklich passieren würde, wenn Menschen nicht Information Literate würden. Auch befragt das Promotionsprojekt die Vorstellung, dass Information Literacy ein objektiv richtiges, und eben nicht auch ein durch politische Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen beeinflusstes, Projekt sei. Die Reaktion im Saal war erstaunlich. Den beiden wurde für den Vortrag gedankt, wie allen anderen Vortragenden, und niemand rührte sich, so als ob die Frage nicht relevant wäre. Im letzten, zusammenfassenden Vortrag am Abschluss der gleichen Konferenz stellte Ralph Catts, Erziehungswissenschaftler mit grossem Interesse an Information Literacy, klar dar, dass ein Grossteil der Forschung, die Aktive aus dem Bibliothekswesen zum Thema durchführen und bei der Konferenz präsentierten, wissenschaftlichen Mindeststandards nicht standhält, da sie zum Beispiel kein theoretisches Framework benennen, Forschungsmethoden und erhobene Daten nicht nachvollziehbar darstellen. Angesichts dessen, dass in den drei Tagen zuvor sich diese Aktiven gegenseitig grösstenteils ähnliche Studien vorgestellt hatten, die immer wieder die Bedeutung von Information Literacy und Bibliotheken herausstellten, gleichzeitig immer wieder die mangelnde Information Literacy anderer Personengruppen (Studierende, Dozierende) betonte, war dies ein relevanter Hinweise. Aber auch der wurde einfach übergangen. Beide Hinweise schienen zumindest bei dieser Konferenz von den anderen Teilnehmenden als irrelevant ignoriert zu werden. Tatsächlich erschien es teilweise, als würde Information Literacy als ein Diskurs funktionieren, der sich selber genügt und nicht mehr begründet werden müsste, weshalb auf Kritik, die an den Grundfragen des Diskurses (Ist er wirklich objektiv?, Ist er wirklich begründet?, Ist er wirklich theoretisch abgesichert?) ansetzt, nicht reagiert werden muss oder kann.
Random Access Memory: Zum Verhältnis von Natur und Archiv.
Eine Besprechung zu:
Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Nr. 27 (Oktober 2013). Thema: Archive der Natur.
von Ben Kaden / @bkaden
Anfang November dieses Jahres fand am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung eine Tagung (genau genommen die ZfL-Jahrestagung 2013) mit der schönen thematischen Ausrichtung „An den Rändern der Archive“ statt. Nun liegt uns die mehr oder weniger Begleitpublikation vor. Mehr, weil die Organisatoren der Veranstaltung, Falko Schmieder und Daniel Weidner, die der Tagung vorausgehende Problematisierung des Archivbegriffs (beispielsweise als „Grundlage und Fundament kulturgeschichtlichen Wissens“ oder als „Metapher des Gedächtnisses und des Wissens“) und dem Eigenleben der Archivobjekte, kurz abbilden.

Nicht das in Stein Gemeißelte, sondern die Inklusen, das zufällige Verschüttete, das später Freigelegte und Ausgedeutete oder auch das in den Genen Eingeschriebene und Klassifizierte ist, was die Natur archiviert. Im Gegenzug erfolgt die Archivierung, Ausdeutung und Ausstellung dieser Funde durch und für den homo cogitans. Für beide Varianten passt der Titel des Trajekte-Hefts: Archive der Natur.
I
Das Archiv ist für die Autoren eine „trading zone“, also ein Vermittlungsraum, welcher vielleicht stärker als die Bibliothek, der es ja vor allem um publizierte Inhalte und weniger um Objekte selbst geht, die spezifischen Kontexte dieser Objekte greifbar macht. Denn es geht dem Archiv nicht nur, mitunter sogar sehr wenig, darum die Ebene der Botschaft zugänglich, sondern zugleich auch die Funktion, die Entstehungszusammenhänge, Inklusions- und Exklusionsmechanismen und ähnliche Begleitphänomene zum Objekt verständlich zu halten.
Im Digitalen, in dem Objekte ungreifbar und beliebig reproduzierbar werden, nähern sich Archiv und Bibliothek deutlicher an. Denn plötzlich wird die Erfassung von Kontexten, Verbindungslinien, Rezeptionsspuren auch als ein Grundbaustein bibliothekarischer Vermittlungsarbeit gesehen. Dies invertiert die Annäherung an die Archivobjekte und deren Eigensinn auf die Inhalte selbst. Da die Erfassung, Auswertung und Darstellung der Kontextinformation programmiert bzw. festgelegt werden müssen, entsteht die Notwendigkeit, die dafür gewünschten Elemente und Bedingungen genau zu bestimmen.
Der kleine Abschnitt von Falko Schmieder und Daniel Weidner zum Wechselverhältnis „Daten und Dinge“ bleibt dahingehend leider weitgehend an der Oberfläche:
„Die Dinge verschwinden, zugleich scheint im Zeitalter der Digitalisierung alles archivierbar. Mehr noch: Mit der Digitalisierung geht die permanente Selbstarchivierung prinzipiell aller persönlichen Dokumente einher (Lebensläufe, Bilder, Korrespondenzen), die irgendwo in einer »Wolke « des cloud computing abgelegt werden.“ (Schmieder, Weidner, S. 51)
Die Alltagserfahrung zeigt freilich, dass es sich, wenigstens im Bereich der auf sichtbare Interaktionen gerichteten Sozialen Medien weniger um eine Selbstarchivierung als um eine Selbstpublikation handelt. Aspekte der nachträglichen Deutung, der Rekontextualisierung oder überhaupt nur der Wiederauffindbarkeit sind auf diesen Plattformen mindestens sekundär. Weder das Internet noch das Phänomen der Cloud-Speicher scheinen für mich besonders archivorientiert zu sein. Nach zwanzig Jahren der allgemeinen Webnutzung wissen wir: Manche (viele) Inhalte bleiben, von manchen bleiben Spuren, von einer unabschätzbaren Zahl nicht einmal das. Eine strukturierte und vollständige Erfassung ist nur in den Teilbereichen vorhanden, in denen sich entsprechende Akteure um die Zugänglichmachung und –haltung kümmern – beispielsweise den digitalen Archivangeboten der Tageszeitungen oder eben auch Bibliotheken.
II
Der Rest des Webs gleicht damit eher als Archivraum in seiner Zufälligkeit dem Teil der Ausgabe von Trajekte, der weniger nah am Tagungsprogramm zu sehen ist: den Archiven der Natur. Die Beiträge des schmucken Heftes (gestaltet von der ZfL-Stammdesignerin Carolyn Steinbeck) umspielen die doppelte Lesbarkeit des Mottos: die Archivierung der Natur und die archivierende Natur. Das Archiv wird hier als Weltprinzip deutlich und in der Tat lässt sich fragen, ob das Archiv nicht stärker eine Wahrnehmungs- und Erkenntnispraxis ist, als etwas institutionell Fixiertes? Oder anders herum: Ob die Erfindung des Archivs, der Archivarbeit und der archivarischen Praxen nicht einfach vor allem kulturelle Überformungen und Urbarmachungen natürlicher bzw. anthropologischer Grundkonstanten darstellt? Die Welt, so scheint es, archiviert schon von selbst ganz gut.
III
So speichert der sibirische Permafrost als eine Art Kryoarchiv nicht nur die herauszutauenden Eismumien vergangenen Lebens, aus denen erdgeschichtliche Rekonstruktionen möglich werden, sondern auch, wie Tatjana Petzer in ihrem Aufsatz über „Eisige Archive“ ausführt, kulturgeschichtliche Spuren – nämlich die des GULAGs.
Die Bearbeitung und Präsentation des Gefundenen leitet dagegen das Überlieferte in eine zweite Ordnung, denn es sagt nicht nur etwas über das Objekt selbst aus (vielleicht sogar mit jedem Bearbeitungsschritt immer weniger) als über den jeweiligen Umgang.
„Vielleicht sollte im Museum weniger die Illusion von Naturgeschichte ausgestellt werden als vielmehr die Geschichte und Erzählung von Naturgeschichte selbst.“ (Richter, S. 14)
schreibt Jörg Thomas Richter in seinem „Bummel mit Mark Twain und Mastodon“. In der Tat ist der Gang durch die Naturkundemuseen und ihre Inszenierung naturgeschichtlicher Spuren häufig entweder sehr didaktisch, also eine bestimmte Interpretationsordnung durchsetzend. Oder mehr und mehr spektakelnd bzw. poetisierend, vielleicht sogar als Kontemplationsraum, der mannigfaltige Zugänge des Erfahrens der Objekte ermöglicht. Je mehr das Staunen einsetzt, desto mehr nähern wir uns einem (neuen) Verständnis von Museum als Wunderkammer (vgl. auch Kaden, 2012). Und schließlich: „Wo sonst, wenn nicht in naturhistorischen Museen, kann man sich nicht nur als vergängliches Individuum, sondern als Vertreter einer vergänglichen Art erfahren?“ (Richter, S. 17)
IV
Die räumliche Präsentation dieser Sammlungsobjekte begrenzt zwangsläufig die Möglichkeiten, eine Sammlung zu erfahren bzw. zu lesen, wobei sich der Raum selbst mit einer Art Eigensinn den Ordnungsbemühungen gegenüber in nicht geringem Maße widerborstig zeigt. Die Auseinandersetzung Ina Heumanns mit den „Topologien naturwissenschaftlicher Sammlungen“ verweist jedoch nicht nur auf unvermeidliche räumliche Widersprüche, wenn sie, unter Bezugnahme auf Ernst Jünger, notiert:
„Gleichzeitig […] stehen insbesondere die zoologischen Sammlungen für den der »der Wissenschaft eingeborenen Drang, das Leben zu töten«. Die Untersuchung des Lebens beruht auf seinem Tod, die Registraturen der Natur sind Registraturen der toten Natur.“ (Heumann, S. 23)
Was freilich nur in den dermoplastischen Aufbereitungsräumen der Naturkundemuseen uneingeschränkt gültig sein dürfte. Die Verhaltensbiologie dagegen untersucht das Leben unvermeidlich per Beobachtung des lebenden Objektes. Eine übergeordnete Reflexion könnte folglich den Naturkundemuseen die Zoologischen Gärten entgegenstellen. Eine Auseinandersetzung mit deren natur-archivarischen Rolle hätte recht gut in diese Ausgabe der Trajekte gepasst. Denn bekanntlich folgen diese Einrichtungen oft dem erklärten Anspruchs der Arterhaltung, bei der also in vom Menschen streng kontrollierten Räumen eine Lebensform nicht nur als Abbild, sondern auch als konkrete vitale Muster bewahrt und also archiviert werden. Insofern sind wir an dieser Stelle bei Suzanne Briets Ur-Frage der Dokumentation: „Un animal vivant est-il un document?“ (Briet, 1951, S.9)
Der vollständige Absatz lautet in der englischen Übersetzung:
„Is a star a document? No. Is a pebble rolled by a torrent a document? No. Is a living animal a document? No. But the photographs and catalogues of stars, the stones in the museum of mineralogy, and the animals that are cataloged and shown in a zoo, are documents.” (Briet, 2006, S. 10)
Dass etwas nach menschlichen Ordnungsprinzipien erschlossen und abgebildet wird, kennzeichnet also das dokumentarische Element. Dass das Tier dabei lebt, scheint eher eine zufällige Zusatzeigenschaft zu sein.
Wenn wir Dokumente nun als archivierbare Objekte verstehen, lässt sich schlicht festhalten: Alles kann Archivgut sein. Jedenfalls alles, was wir erfassen und beschreiben und in einem Käfig halten können. Gehen wir nun von der Grundbedingung des Beschreibbarseins aus, realisieren wir nicht nur die prinzipielle Nähe des Archivs zur Sprache bzw. Benennbarkeit. Das verbindet es mit dem Digitalen, das alles, was es erfassen soll, in Code transformieren muss. Sondern wir sehen auch, dass sich ein Zoo durchaus und möglicherweise primär als semiotisches Geschehen darstellt, in dem die dort gehaltenen Lebewesen selbst zu Chiffren ihrer Art werden. Und im Gegenzug – wie zum Beispiel der Eisbär Knut oder das Flusspferd Bulette – unter Umständen zugleich eine überhöhte Individualisierung bis hin zur Vermenschlichung erfahren. Auch hier offenbart sich die prinzipielle Ambivalenz derartiger Naturerschließungen.
V
Die Stufe von der Arterhaltung zur Artgestaltung, die wenigstens im Haus- und Nutztierbereich elementar ist, bei anderen Tieren besonders in Zoos vor allem negativ behandelt wird (Vermeidung von Inzucht-Effekten) und für die menschliche Kultursphäre im Allgemeinen mit Tabus besetzt ist, beleuchtet Andreas Bernard mit seinem Text „Über die Auswahl und Präsentation der Kandidaten von Samenbanken.“ Tatsächlich kann man sich bei Institutionen wie der California Cryobank sein Idealerbgut anhand bestimmter, den Spender beschreibenden Metainformationen heraussuchen. Die Erstannäherung der Datenbankabfrage erfolgt über die drei Kriterien Haarfarbe, Augenfarbe, Ethnizität. Auf der nächsten Stufe kann das Angebot nach Aspekten wie Körpergruppe, Blutgruppe, Bildungsgrad, Studienfach, Religion und von Look-A-Likes des Spenders eingeschränkt werden. Eine Frau, die sich gern mit dem Erbgut von jemandem, der wie Ryan Gosling aussieht, befruchten lassen möchte, kann es immerhin für aktuell 650 Euro pro Materialsatz versuchen. Eine Frau, die einen Bibliothekar als Spender sucht, findet übrigens wirklich einen, der, so die Datenbank, in etwa wie Bryan Greenberg oder Dominic West aussieht. (Donor No. 05441, „Man of many talents“)
VI
Edna María Suárez Díaz nähert sich der Frage der Natur als Archiv noch grundlegender. Sie betrachtet „Moleküle als Dokumente für die Geschichte des Lebens“. Die Wissenschaftshistorikerin zeichnet dabei die Geschichte der Molekularbiologie und das Aufkommen dieser zunächst Metapher der Lesbarkeit bzw. der dokumentarischen Funktion von Molekülen im Anschluss an Emile Zuckerkandl und Linus Pauling nach, um beim Human Genome Project und der heutigen „Freizeitgenomik“ anzukommen:
„An dieser Entwicklung und den damit einhergehenden ökonomischen Verwertungen kann man ermessen, wie machtvoll die Metapher vom »Buch des Lebens« auch im 21. Jahrhundert noch ist.“ (Suárez Díaz, S. 38)
Dem wird ein aus dem Cabinet Magazine übernommenes Interview mit dem Anthropologen Clyde Snow über die Möglichkeiten der Osteobiografie gegenübergestellt. Das Ziel dieses Verfahrens ist nicht die Rekonstruktion der Geschichte des Lebens, sondern die der Geschichte eines Lebens mit Hilfe aufgefundener Knochen. (vgl. dazu auch Keenan, Weizman, 2011) Etabliert wurde diese forensische Praxis in den 1980er Jahren bei der Aufklärung von Verbrechen der Junta in Argentinien. Clyde Snow beschreibt dies konkret am damals Aufsehen erregenden Fall der Identifikation von Liliana Pereyra. (vgl. u.a. Michaud, 1987) Knochen sind, so Clyde Snow, ideale, kaum manipulierbare und aussagekräftige Identifikationsmittel:
„So lässt sich beispielsweise oftmals anhand von Symmetrien vor allem in Bezug auf die Länge der Armknochen erkennen, ob jemand Links- oder Rechtshänder war. Rechtshändigkeit ist weniger hilfreich, weil weltweit in allen Bevölkerungsgruppen ca. 85 Prozent der Leute Rechtshänder sind. Wenn wir also einen Linkshänder vor uns haben, sinkt der Wert auf 15 Prozent.“ (Weizman, S.41)
VII
Schließlich begibt sich Falko Schmieder in einem Essay auf die Suche nach der Bestimmbarkeit eines Erdzeitalters „Anthropozän“. In diesem schreibt sich der Mensch mit seinen Aktivitäten konkret in die Natur bzw. die Bio- und Geosphäre ein. Dieser Prozess wird über so genannte „Anthropomarker“ feststellbar. Zugleich, und ich bin hier archivorientierter als Falko Schmieder in seinem Text, schreiben sich entsprechende, wenn man so will, Diskursmarker (oder auch Meme) fest in unser Selbstverständnis. Der Beitrag zerlegt diese bereits recht einleuchtend dadurch, dass er erhellt, wie problematisch allein die Datierung eines Erdzeitalters „Anthropozän“ selbst ausfällt.
Ob die während des Anthropozäns von den Menschen auf der Erde hinterlassenen Spuren irgendwann aus dem Naturarchiv freigelegt werden und zwar in dem Sinne, in dem der Philosoph Georg Toepfer in seinem Beitrag erläutert, dass „[d]ie Archive der Natur […] im Boden und in der Luft, im Eise der Polkappen und in den Gletschern der Hochgebirge, in den fossilen Überresten ausgestorbener Lebewesen und in allen zurzeit lebenden Organismen [liegen]“ (Toepfer, S. 3), bleibt selbstverständlich offen. Sicher ist das Verständnis:
„Die Lagerstätten […] sind also Archive der Natur, weil die Natur entweder das Medium der Aufbewahrung ist – etwa der Boden als Archiv kulturgeschichtlicher Zeugnisse – oder weil die Geschichte der Natur selbst in diesen Lagerstätten dokumentiert ist.“ (ebd.)
ebenso nachvollziehbar, wie die Schlussfolgerung, dass die Bodenkunde „eine integrale geologisch-archäologische Archivwissenschaft“ sei. (Willer, S. 2) Aber am Ende wird das „Archiv“ vermutlich doch eine Praxis gewesen sein, die an den Menschen als erkennenden und deutenden Akteur gebunden ist. Was zu dessen Langfristverfügbarkeit äußert sich Paul J. Crutzen, ein Protagonist des Diskurses um das Anthropozäns, in einem aktuellen Interview ein bisschen skeptisch:
„Wenn ein fiktiver Geologe in einer Million Jahren die Hinterlassenschaften aus unserer Zeit untersucht…
In einer Million Jahren? Es ist sehr optimistisch anzunehmen, dass es dann intelligentes Leben gibt, das Daten sammelt und interpretiert.“ (Schwägerl, 2013)
VIII
Welche der nicht verschüttbaren Spuren unserer digitalen Weltgestaltung wie und vor allem wie lange überdauern, ist noch einmal ein anderes Thema. Aber gerade wenn wir das Archiv als Umschlagplatz verstehen und vielleicht auch – im Sinne eines Trajekts – als Fähre des Erkennens und Verstehens durch die Natur- und Kulturgeschichte und wenn wir zugleich für digitale Handlungsräume eine Verschmelzung von archivistischem und bibliothekarischen Handeln annehmen, dann sind Impulse von den Rändern des Selbstverständnisses auch der Archive, äußerst fruchtbar.
Digitale Kommunikationsräume sind gegenwärtig unzweifelhaft die dominanten Kulturspeicher und -vermittlungszonen. Momentan läuft die Digitalisierung vor allem darauf hinaus, den Inhalt der dank ihrer Materialität ein Stück weit unberechenbaren Archiv- und Kulturobjekte in diese im Grundsatz Rechner-Strukturen zu überführen. Dass der Zugang zu digital aufbewahrten Kulturspuren immer von einer zusätzlichen Ebene der technischen Vermittlung abhängig ist, wir also ohne sehr festgelegte Vermittlungsgeräte auch keinen Zugang mehr haben, ist ein frühes, zentrales und derzeit ungelöstes Problem der digitaltechnologisch grundierten Gesellschaft. Dass im Gegenzug ein perfekt funktionierenden System auch eine lückenlose Überwachung der Kommunikationshandlungen ermöglichen könnte, ein anderes.
Angesichts der Grundstrukturen der Technologie scheint derzeit unabsehbar welche Gegenstücke Sedimentation, Fossilisation und ähnliche Prozesse im Web finden könnten (und ob überhaupt) oder wie eine mögliche digitale Archäologie zu gestalten wäre. Beides würde auf unvorhergesehene und daher auch nicht in der Codierung vorgesehene retrospektive Zugangsformen zu digitalen Inhalten hinauslaufen.
Andererseits ist vielleicht auch die Retrospektion, sind Geschichtlichkeit und auch das Archiv an sich Konstruktionen eines bestimmten Zeitkontextes, heute ohne Zweifel noch valide, aber in kommenden Gesellschaftsformen eventuell obsolet. Es scheint jedenfalls durchaus vorstellbar, dass sich die damit verbundenen Werte und Ziele in einer nicht allzu fernen Zukunft für die dann vorliegende Gegenwart als untauglich erweisen.
Kulturforschung genauso wie Archiv- und Bibliothekswissenschaft haben in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht die Zuständigkeit, das dahingehend Vorstellbare, das Mögliche und das Erstrebenswerte zu durchdenken. In ihrer heutigen Praxis spielt dabei das Erkennen der (Diskurs-)Geschichten und der Konstruktionsmuster unserer Gegenwart nach wie vor eine entscheidende und uns vertraute Rolle. Das vorliegende Heft der Trajekte ist ein hervorragendes Beispiel dafür und in gewisser Weise auch für das, worauf Paul J. Crutzen setzt:
„Hegen Sie keinen Optimismus für die Zukunft im Anthropozän?
Doch, doch, es gibt vieles, was mich positiv stimmt, allen voran die kreative Kraft, die in der Kunst und der Literatur steckt. Die Menschen erschaffen viel Gutes, so dass ich mich wundere, warum wir nicht längst auch mit der Erde künstlerischer und kreativer umgehen, statt sie auszubeuten. Was mich auch optimistisch stimmt, ist, dass wir die Welt auch und gerade durch negative Effekte besser verstehen.“ (ebd.)
Berlin, 20.11.2013
Literatur
Bernard, Andreas (2013) Der Spender als Verdächtiger. Über die Auswahl und Präsentation der Kandidaten von Samenbanken. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S.26-38
Briet, Suzanne (1951) Qu’est-ce que la documentation? Paris: Éditions documentaires, industrielles et techniques
Briet, Suzanne (2006) What is Documentation? English Translation of the Classic French Text. Translated and edited by Ronald E. Day & Laurent Martinet with Hermina G. Anghelescu. Lanham, MD: Scarecrow Pr., 2006
Heumann, Ina (2013) Zeiträume. Topologien naturwissenschaftlicher Sammlungen. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S. 19-23
Kaden, Ben (2012) Das Konzept Wunderkammer heute. In: LIBREAS. Library Ideas, 21. http://libreas.eu/ausgabe21/texte/03kaden01.htm / urn:nbn:de:kobv:11-100204945
Keenan, Thomas; Weizman, Eyal (2011) Mengele’s Skull. In: Cabinet Magazine. Issue 43, http://cabinetmagazine.org/issues/43/keenan_weizman.php
Michaud, Stephen (1987) Identifying Argentina’s Disappeared. In: New York Times, 27.12.1987, S. 18-21.
Richter, Jörg Thomas (2013) Blauhäher im Naturkundemuseum. Ein Bummel mit Mark Twain und Mastodon. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S. 13-17
Schmieder, Falko (2013) Urgeschichte der Nachmoderne. Zur Archäologie des Anthropozäns. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S. 44-48
Schwägerl, Christian; Crutzen, Paul J. (2013) „Es macht mir Angst, wie verletzlich die Atmosphäre ist.“ Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger Paul J. Crutzen zum Anthropozän und den Chancen der Klimapolitik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.2013, S. N2
Suárez Díaz, Edna Maria (2013) Moleküle als Dokumente für die Geschichte des Lebens. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S. 33-38
Toepfer, Georg (2013) Archive der Natur. In : Trajekte, Nr. 27 (14), S.3-7
Weizman, Eyal (2013) Osteobiografie. Ein Interview mit Clyde Snow. In : Trajekte, Nr. 27 (14), S. 39-43
Willer, Stefan (2013) Editorial. In: Trajekte, Nr. 27 (14), S. 1f.
Call for Paper LIBREAS #25: Bibliothekarin sein – Nutzerin sein. Frauen und Bibliotheken
Einst waren Bibliotheken eine männliche Domäne, heute sind sie eine weibliche. (kontinuierlich festgestellt, siehe zum Beispiel Schiller 1974) Thomas Adametz bezeichnet in seinen 1987 und 1992 publizierten Aufsätzen Bona Peiser als „erste Volksbibliothekarin“. (Adametz 1987; 1992) Für Frauke Mahrt-Thomsen (Mahrt-Thomsen 1995) war Bona Peiser bereits 1995 „Deutschlands erste Bibliothekarin“. Sie unterstrich dies unlängst in der ersten Monografie über Bona Peiser, wobei sie bei der Gelegenheit das „Volk“ im Titel strich. Bona Peiser ist nun „die erste deutsche Bibliothekarin“. (Marth-Thomsen 2013) Was macht den kleinen Unterschied zwischen Volksbibliothekarin und Bibliothekarin aus? Oder stellt sich diese Frage im Nachhinein gar nicht? Spielt es eine Rolle, dass sie eine öffentliche Bücherhalle in Kreuzberg (betrieben von der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, die sich dafür wiederum von Public Library-Prinzipien aus den USA anregen ließ) leitete und nicht etwa die Büchersammlung eines Wissenschaftskollegs? Beachtet man den historischen Kontext, darf man nicht vergessen, dass es nach Bona Peisers Bibliotheksleitungsposition noch fast 20 Jahre dauern sollte, bis Rahel Hirsch als erste Professorin der Medizin in Deutschland berufen wurde. Bibliothekarinnen waren zu diesem Zeitpunkt schon fast zum Alltag geworden. Die Deutsche Monatsschrift für Russland meldete im Jahr 1912: „Mehr als 400 Frauen sind jetzt in diesem Berufe tätig […].“ (Sprengel 1912, 320)
Bona Peiser wurde am 26. April 1864 in Berlin geboren. Folglich jährt sich ihr Geburtstag 2014 zum 150sten Mal. Für LIBREAS ist dies der Anlass, die Ausgabe #25 den Frauen im Bibliothekswesen zu widmen. Wie haben sie dieses hierzulande geprägt, wie in anderen europäischen beziehungsweise weiteren Ländern? Welche Namen sollten aus welchen Gründen präsent sein, bleiben oder werden? Wer sind die Heldinnen des Bibliothekswesens? Oder benötigen Bibliotheken keine Heldinnen? Wie gestalten Frauen die Gegenwart, wie die Zukunft der Bibliotheken? Warum ist die Bibliothek heute ein weiblicher Ort? Sicherlich gibt es ein Zusammenspiel zwischen Status, Einkommen, Berufsperspektiven und Geschlecht, aber wie genau findet dieses Zusammenspiel im Bibliothekswesen statt? Wird die Bibliothek in Zukunft ein weiblicher Ort bleiben?
Mehrere feministische Texte haben darauf hingewiesen, dass im US-amerikanischen Bibliothekswesen Frauen durch Melvil Dewey als Personal eingeführt wurden, weil er ihnen zuschrieb, genau und sozial arbeiten zu können, dabei aber weniger zu kosten, als Männer. Diese zwiespältige Haltung, welche „weibliche Tugenden“ betonte, Frauen einen Arbeitsmarkt eröffnet, aber gleichzeitig nicht nur kostenbewusst, sondern eben auch sexistisch war (zuerst Vann 1977), finden sich auch in der deutschen Bibliotheksgeschichte.
„Dieses Persönlich-Geistige des bibliothekarischen Berufs zieht die Frauen erfahrungsgemäß stark an, und es ist keine Frage, daß die Frau für dieses Gebiet gute Eigenschaften mitbringt. Ist es ihr nicht von Natur gegeben, auf andere einzugehen, besitzt sie nicht Schmiegsamkeit des Geistes und die Elastizität, die es allein ermöglichen, Menschen mit den verschiedensten geistigen Bedürfnissen zu verstehen? Fühlt sie nicht und sieht, wonach gesucht wird, während der Mann noch des erklärenden Wortes bedarf? Und ist es nicht gerade ihre ‘Liebe zu den Büchern’, die sie in die Bibliothek führt? Das alles ist, obwohl auch hier nicht verallgemeinert werden darf, richtig, und das alles sind wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Wirken.“ (Hoffmann-Bosse 1915, 11)
Im Dokumentarfilm „Geschlecht – (k)eine Frage in Bibliotheken?“ von Danilo Vetter kommt neben Margit Hauser, Elisabeth Wiesbaum und Monika Bargmann auch Helga Lüdtke zu Wort (Vetter 2013). Sie selbst versteht sich primär nicht mehr als Bibliothekarin, „sondern als freiberuflich tätige, an Bibliotheken weiterhin interessierte Frau“. Vetter greift in seinem Film vier Themen auf: Feminisierungen, Feministische Kritik, Gender Mainstreaming und Stereotype und Image. Damit liefert er vier sogenannte Momentaufnahmen, die zu der Selbstreflexion einladen, die wir gern auch in LIBREAS spiegeln möchten.
Und natürlich geht es nicht nur um das Bibliothekspersonal. In vielen Bibliotheken übersteigt die Zahl der Nutzerinnen die der Nutzer. Gerade Öffentliche Bibliotheken erscheinen teilweise als weibliche Domäne. Aber stimmt das? Und wenn ja, was bedeutet das? Ist das gut oder muss das verändert werden?
Schließlich ergibt sich daraus auch die Frage, ob beziehungsweise wie sich das mit Bibliotheken assoziierte feminine Rollenbild auf die Männer auswirkt, die in diesen als Mitarbeiter oder Nutzer aktiv sind. So versucht beispielsweise der Onleihe-Kinospot ausdrücklich das Erwartungsbild zu brechen, in dem es einen betont viril wirkenden Bibliothekar ans Regal stellt, der, ganz rollentypisch, die Nutzerin darüber aufklärt, dass man auch E-Books ausleihen kann. (ekzLibraryServices 2013)
Bespricht man Frauen in Bibliotheken, muss man natürlich auch Geschlechterverhältnisse berücksichtigen. Und schließlich kann man auch danach fragen, weshalb seit Jahrzehnten Frauenbibliotheken bestehen und nach wie vor betrieben werden.
LIBREAS freut sich auf Beiträge, die über den Moment hinausgehen. Auf Beiträge über Frauen von Frauen und/oder Männern, die nicht nur stets wiederkehrende Klischees beinhalten, sondern vor allem die früheren Diskussionen zum Thema, die zum Teil eingeschlafen erscheinen, wieder beleben. Oder die Klischees einfach durchleuchten und bei Bedarf zerpflücken. Formal ist wie immer alles erwünscht und möglich, von der wissenschaftlichen Analyse über das Essay bis hin zu künstlerischen Zugängen. Gerne steht die Redaktion für Diskussionen zu Textideen bereit. Deadline ist der 16.05.2014.
LIBREAS-Redaktion
(Berlin, Bielefeld, Chur, Mannheim, Potsdam)
Literatur:
Adametz, Thomas: Bona Peiser – Berlins erste Volksbibliothekarin. In: Der Bibliothekar 41(1987), S. 111-113.
Adametz, Thomas: Bona Peiser (1864-1929) : Wegbegleiterin der Bücherhallenbewegung und Deutschlands erste Volksbibliothekarin. In: Leidenschaft und Bildung, Berlin 1992, S. 133-141.
ekzLibraryServices: Onleihe – Der Kinospot. http://www.youtube.com/watch?v=G6TOOclDBps [17.11.2013].
Hoffmann-Bosse, Elise: Die Frau im Dienste der volkstümlichen Bibliothek: Eine Auskunft für weitere Kreise über den Beruf der Bibliothekarin an der volkstümlichen Bibliothek (Schriften der Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen ; 2). Leipzig : Theid. Thomas Verlag, 1915.
Mahrt-Thomsen, Frauke: „Die öffentliche Bücherei muß jederzeit für jedermann unentgeltlich offenstehen“ : Bona Peiser – Deutschlands erste Bibliothekarin. In: BuB 47 (1995) 1, 56-60.
Mahrt-Thomsen, Frauke: Bona Peiser : die erste deutsche Bibliothekarin. Berlin: BibSpider, 2013.
Schiller, Anita R.: Women in Librarianship. In: Advances in Librarianship 4 (1974), 103-147.
Sprengel, Auguste: Die Berliner Ausstellung “Die Frau in Haus und Beruf” und der deutsche Frauenkongreß. In: Deutsche Monatsschrift für Rußland 1 (1912) 4, 307-312 ; 1 (1912) 5, 385-397 ; 1 (1912) 6, 502-512.
Vann, Sarah K.: Melvil Dewey: His Enduring Presence in Librarianship (The Heritage of librarianship series ; 4). Littleton, Co : Libraries unlimited, 1977.
Vetter, Danilo: Geschlecht – (k)eine Frage in Bibliotheken? http://www.youtube.com/watch?v=uWR-YQz2Pp8 [08.03.2013].
Update: Auf Hinweis der Autorin haben wir die Schreibweise und Literaturangabe zu den Texten von Frauke Marth-Thomsen angepasst.
Im Siliziumwindfang.
Eine kurze Anmerkung zu
Roland Reuß: Sie nennen es Service, dabei ist es Torheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.2013 , S. 25.
( Social-Media-Echo zum Artikel bei rivva )
von Ben Kaden / @bkaden
In ihrer Dienstagsausgabe veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach fast überraschend langer Zeit wieder einmal einen mahnenden Artikel von Roland Reuß (u.a. Mitinitiator des Heidelberger Appells, mehr zum Thema bei LIBREAS, Bibliografie zum Thema bei iuwis.de ). Der Teaser klingt dramatisch:
„Was ist aus den Bollwerken europäischer Bildung geworden? Bibliotheken strecken vor den IT-Konzernen die Waffen und geben Leserdaten massenhaft weiter. „
die Spannungsführung des Textes fängt dies nicht ganz auf und das Ende des Textes ist ein wenig arg bemüht:
„Am Phantasma einer selbsternannten „digitalen Bohème“ teilzuhaben, mag einmal cool gewesen sein. Jetzt weht aus dieser Richtung ein tatsächlich sehr kalter, grauer Siliziumwind, und die Luft in der Wolke riecht nach Vorladung.“
Ein öffentlicher Schlagabtausch von Roland Reuß und Kathrin Passig verspräche zweifelsohne ein Spektakel, denn der Heidelberger Germanist streitet bekanntermaßen mit einer Intensität für ein bestimmtes Bibliotheksbild, die Kathrin Passigs Frankfurter Dialogpartner Frank Simon-Ritz schon allein aus seiner Rollenverpflichtung als Vorsitzender des dbv nicht einbringen könnte.
Auf eine umfassende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text von Roland Reuß will ich verzichten, da Roland Reuß aus wackligen Prämissen brüchige Zuspitzungen formuliert, die sicher an vielen Stellen einen bedenkenswerten Kern enthalten, mit ihren unverhältnismäßigen Pauschalvorwürfen wie:
„Man muss nicht jedes Feature in seinen Webkatalog integrieren, bloß weil der Hausprogrammierer das schon immer einmal ausprobieren wollte.“
jedoch kaum zum Dialog einladen. Dass Hausprogrammierer, wen auch immer Roland Reuß damit meinen mag, häufig anders denken als die Bibliothekare, ist bibliothekarische Alltagserfahrung. Dass sie aber partout die Webdienste der Bibliotheken als Spielwiese für eigene Juxereien gebrauchen haben sie im Normalfall gar nicht nötig. Nicht selten fehlt ihnen am Abend eines langen Tages des regulären Bugfixings und Absicherung des Basisbetriebs für solche Eskapaden sogar die Muße. Wer solche Aussagen trifft, so steht zu befürchten, hat noch nie wirklich in den Alltag der EDV-Abteilung einer deutschen Universitätsbibliothek geblickt.
Andererseits sind es gerade diese Spitzen bis hin zum völlig unsinnigen Brückenschlag zur „Digital Bohème“, die den unbedingt zu diskutierenden Zusammenhang zwischen Big Data, Datenschutz und der Rolle der Bibliotheken in einem Potpourri der Polemik verquirlen, was bisweilen den Eindruck hervorruft, hier triebe jemanden mehr die Freude an der Debatte als die Sache selbst. Da Teile meiner Leserschaft mir bisweilen ähnliches zu unterstellen scheinen, was hin und wieder auch nicht völlig verkehrt ist, wäre mir das gar nicht einmal unsympathisch. Denn der Genuss am Diskurs ist als Motivation zur Teilnahme nicht zu unterschätzen.
Allerdings bretzelt sich die Reuß’sche Fassung immer in die Sphären einer derart konfrontativen Übertreibung auf, dass das Messer am Ende stumpf und der Werfer als der Realität etwas enthobener Solitär wirkt. Nehmen wir beispielsweise diese Passage:
„Denn dass „digital“ nicht billiger für eine Bibliothek ist, sollte sich selbst in die letzten Hochburgen der eben durch die NSA und die GCHQ ihrer Naherwartung beraubten Erweckungsbewegung herumgesprochen haben. Wie bei der Berechnung der Kosten für Atomkraftwerke kam bislang ja immer nur die Jungfernfahrt (und nie die Wartung und die Folgekosten) in den Rechenansatz. Anders als dort muss sich die Vorstellung eines GAU im Bibliotheksbereich aber erst noch bilden. Aber da helfen uns schon, wie eben zu beobachten, die Onkels aus Amerika.“
Der sachliche und wichtige Kern ist, dass man in der Tat kaum langfristige Kostenabschätzungen für digitale Infrastrukturen vornehmen kann und auf der grundlegenden Ebene bereits deshalb, weil wir kaum wissen, wie digitale Kommunikation in 10 Jahren detailliert aussehen wird. Momentan extrapolieren wir nach wie vor von einer Printkultur geprägte Bedingungen und denken digitale Bibliotheksbestände weitgehend entweder als Digitalisate oder – wie bei E-Books und E-Zeitschriften – als digitale Nachbildungen von Druckmedien. Wie allerdings die Wissenschaftskommunikation 2020 aussieht, welchen Anteil zum Beispiel die Publikation von Forschungs- und anderen strukturierten Daten unsere derzeitigen Normvorstellungen von einer wissenschaftlichen Publikation verschiebt, kann man derzeit kaum absehen. Zu behaupten, dass sie billiger zu organisieren sei, als die gegenwärtige, wäre schlicht unseriös.
Wir müssen also die denkbaren Bedingungen und Folgen gerade in der Bibliothekswissenschaft intensiv reflektieren, Szenarien entwickeln, Kritik üben, vor Gefahren warnen und Empfehlungen formulieren. Das ist eine Aufgabe dieses Faches. Zweifellos spielen Kostenkalkulationen dabei eine wichtige Rolle. Aber es besteht kein Anlass und es existiert kein erkennbarer Nutzen für die Diskussion, für diesen Hinweis die Keule der Atomkraft zu bemühen (das stimmige Anschlusswortspiel wäre dann Biblioshima), das Bibliothekswesen als zwangsgeläuterte Jünger einer Art Sekte zu diffamieren, dem Bibliothekswesen blinden Fortschrittsglauben und grundständige Naivität vorzuwerfen, um schließlich, nicht ohne auch noch auf die Gefahr einer Kernschmelze hinzuweisen, eine wohlfeile Amerika-Schelte in einer Wortwahl à la Karl-Eduard von Schnitzler ins Spiel zu bringen.
Das Mysterium der FAZ, die Roland Reuß ja offensichtlich sehr wohlwollend gegenüber steht, bleibt, warum sich in ihrer Redaktion kein Journalismus-Profi findet, der seinem Gastautor erklärt, dass man das hehrste Anliegen verbrennt, wenn man es auf einem derart schwarzen Kanal in die Öffentlichkeit rudert.
Zur Sachkorrektur sei hier abschließend der Kommentar von Michael Voss, Leiter der EDV in der von Roland Reuß direkt adressierten Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, zitiert, der mit seiner Richtigstellung dem Heidelberger Mahner einen Großteil des konkreten Fundaments seiner Argumentation beraubt:
„Der Artikel ist zwar insgesamt recht interessant, ist aber in den Passagen zur Humboldt-Universität zu Belrin [sic] völlig falsch. Daher wird der Wert dieses Artikels arg reduziert.
Es gibt zwar das „Google-Institut“ an der Humboldt-Universität, aber dieses hat keinerlei Zugriff auf die Daten, die auf den Servern der Universitätsbibliothek gespeichert sind.
Auf Suchhistorien kann nur der Leser selbst zugreifen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn er diesen Service bewußt nutzen möchte – in Form von Speicherung von Treffermengen oder Suchanfragen. Wer dies nicht tut, hinterläßt auch keine dauerhaften Spuren. Diese gespeicherten Daten hat der leser voll unter seiner Kontrolle, wenn er sie löscht, dann sind sie auch gelöscht.
Log-Files werden nach 7 Tagen gelöscht, damit auch nicht aus Betriebsdaten Rückschlüsse gezogen werden können.
Michael Voss
(zuständig für den Betrieb des Katalogs und der Recherche-Software an der UB der Humboldt-Universität zu Berlin)“
P.S. Weil Bilder immer ziehen, hier noch eine Visualisierung der 1094 verschiedenen Wörter (von insgesamt 2230) des gestrigen Feuilleton-Aufmachers der FAZ, generiert mit dem von TextGrid bereitgestellten Voyant-Werkzeug. Im direkten Häufigkeitsvergleich schlagen die Bibliotheken (n=13) erwartungsgemäß sowohl Google (n=9) als auch Daten (n=7).

Die Beunruhigung als Sprachbild: Voyant-Wortwolke zu Roland Reuß‘ Sie nennen es Service, dabei ist es Torheit (FAZ, 12.11.2013)
Über Kathrin Passigs Bibliotheksbild und was wir daraus lernen können.
Ein Kommentar von Ben Kaden / @bkaden
Kathrin Passig wird offensichtlich gern und regelmäßig als Impulsgeberin zur Diskussionen über die Zukunft der Bibliotheken eingeladen, vielleicht gerade, weil sie von sich zu berichten weiß: „Ich bin nicht so vertraut mit den internen Diskussionen der Bibliotheksbranche.“
Aktuell berichtet sie in ihrer Kolumne für die ZEIT von einer offenbar für sie wenig erfreulichen Konversation mit Frank Simon-Ritz, Bibliotheksdirektor und Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands. Die Veranstaltung lief unter der wohl alliterarisierend gemeinten Überschrift Apps und Auratisierung: Ein Gespräch zur Zukunft der Bibliothek und anscheinend, wie häufig bei solchen Sitzungen auf Messepodien, ziemlich ins Leere.
Allerdings wurde ich leider nicht Zeuge dieser Dreiviertelstunde, da ich meinen Wochenbedarf an Prognosediskussion bereits weitgehend in meiner eigenen Diskussionsrunde zum Social Reading gestillt hatte, die ebenfalls, vorsichtig formuliert, eher ergebnisoffen endete.
Lieber überzeugte ich mich etwa zeitgleich in den Hallen davon, dass Print wenigstens als Printmarkt so agil wie selten zuvor ist. Es erstaunt im Herbst 2013 tatsächlich, in welcher materialen und handwerklichen Güte auch Parallelausgaben zu den E-Books, deren Absatz mittlerweile sogar im Mutterland des elektronischen Lesens seine Sättigung erreicht zu haben scheint, in Deutschland produziert ver- und gekauft werden. Belege dafür, dass Kathrin Passigs bereits an anderer Stelle gezeigte Papierfeindlichkeit ansteckend ist, fanden sich keine. Auch die Hysterie der Verlagswelt angesichts des Über-Mediums E-Book scheint nicht mehr akut, seit sie gemerkt haben, dass Hardcover trotz allem ganz gut geht, besonders, wenn man sich beim Einband und Satzbild mal etwas einfallen lässt.
Aber vielleicht ist es ja auch eine Ausnahmeort und man trifft dort ohnehin nur Leute, die besonders druckaffin sind, so wie man in einer Bibliothek meist eben nur Bibliotheksnutzer trifft. Das sind in öffentlichen Bibliotheken in Deutschland wahrscheinlich irgendetwas um die 30 Prozent der Gesamtbevölkerung, was aus meiner Sicht kein allzu niedriger Wert ist. Aber wahrscheinlich keiner, der in Kathrin Passigs digitalen Paralleluniversium allzu bedeutsam wäre:
„Es ist schön, dass es öffentliche Orte gibt, die so vielfältige Nutzungsmöglichkeiten eröffnen wie Bibliotheken, ohne dass man im Gegenzug auch nur einen Kaffee bestellen müsste. Aber in einem Paralleluniversum, in dem öffentliche Bibliotheken nie eingeführt worden sind, dürfte es heute schwerfallen, plausible Gründe für die Einführung solcher Einrichtungen zu benennen. Dass gerade allenthalben prestigeträchtige Megabibliotheken neu gebaut werden, ist kein Gegenargument, denn dahinter stehen etablierte Argumentations- und Finanzierungsstrukturen. Die Steuerzahler des Paralleluniversums würden fragen, ob man nicht stattdessen direkt Coworkingspaces, Veranstaltungsorte, Digitalisierungsprojekte oder eine private Internet-Grundversorgung für Bedürftige fördern und die großen Gebäude mit dem Papier weglassen könnte.“
Nun ist es sehr schwer, mit der abstrakten Pflaume „die Steuerzahler des Paralleluniversums … würden fragen“ argumentativ zu spekulieren. Denn die Steuerzahler sind schon in unserem Universum ein ziemlich heterogener Haufen. Obendrein dürfte die Größe „Steuerzahler“ anders als beim Großflughafen BER, beim Thema Bibliotheken vom eingefleischten Bibliothekshasser bis zum spendablen Bibliotheksliebhaber alle Schattierungen dessen aufweisen, wie man zu solchen Themen stehen kann. In einem Paralleluniversum mag das anders sein. Aber möglicherweise käme man in diesem auf die kuriose Idee, die Co-Workingspaces und öffentlichen Veranstaltungsorte mit Räumen zu flankieren, in denen ein Zugang zu Medien möglich ist.
II
Ernster als die aus irgendeinem persönlichen Anstoß resultierende Abneigung gegen Papier ist in Kathrin Passigs Kolumne die Kritik an der häufig tatsächlich zu beobachtenden Hilflosigkeit bibliothekarischer Selbstlegitimationsversuche zu bewerten. Es ist natürlich grotesk, dass sich eine Institution mit ziemlich guten Durchsatz (etwa 470 Millionen verliehene Medien / Jahr) überhaupt permanent als bedeutsam präsentieren und rechtfertigen muss. Es ist sicher fürchterlich erschöpfend, wenn man dies ständig zudem gegenüber Kleinkämmerer, Papierfeinde und Digitalideologen zu tun verpflichtet ist Aber dies ist wohl die Realität. Vielleicht würde der kritische Steuerzahler eines Paralleluniversums aber fragen, wie teuer die Volkswirtschaft eigentlich die in permanente Evaluation und stetiges Reporting eingebundenen Ressourcen zu stehen kommt.
Kathrin Passig geht es jedoch, so glaube ich, gar nicht so sehr um die Kostenrechnung. Möglicherweise hat sie einfach Freude daran, die Bibliotheken zu necken, in dem sie in den renommiertesten Medien des Landes verkündet, dass die Bibliotheken „kaum noch eine Existenzberechtigung“ haben, wenn sie sich nicht bald wandeln. Das wenig spezifizierte „Wohin“ ist in diesem bekannten Schwarzmalbild vermutlich irgendeine digitale Form. Interessanter ist allerdings das „Warum“ und zwar das Warum in der Frage, warum sich Kathrin Passig so eifrig auf das Thema stürzt. Offen gesagt erscheint mir die Vehemenz, mit der sie stabil und seit Jahren für eine Welt in E-Only missioniert, schwer nachvollziehbar. Von mir aus mag sie sogar Recht haben. Aber warum muss man 2013 noch so kämpfen, als stände man noch immer den bornierten Fortschrittsverweigerern des Jahres 1997 gegenüber, denen die Virtualität digitaler Kommunikation in keiner Form greifbar wird und die deshalb alles ablehnen, was binär anmutet. (So etwas gab es auch in Bibliotheken in dieser Zeit und die wahren Helden sind die Enthusiasten, die in zermürbenden Diskussionen abseits der Öffentlichkeit für ein freies W-Lan im Lesesaal und ähnliche Innovationen stritten.) Auf mich jedenfalls, der ich Vielfalt, Offenheit und die gleichzeitige Existenz von mehr als einer Wahrheit gerade durch Aufenthalte in Bibliotheken, die wunderschön all die Irrtümer und Glaubenskämpfe der Menschheitsgeschichte nachvollziehbar vorhalten, kennen lernen durfte, wirkt diese Selbstüberhöhung mit heftig artikulierten Anspruch auf Deutungshoheit irgendeiner Zukunft nicht wenig unzeitgemäß. Aber vielleicht bin ich es ja auch selbst.
III
Wenn es um die Alltagslegitimation der Bibliotheken geht, die eigentlich ein wenig mehr umfasst, als die Frage, wie digital die Bibliothek der Gegenwart mit ihren Diensten sein will, stehen die handelnden Akteure natürlich unter dem Zwang der Machtstrukturen. Es erklärt aber dennoch nicht, warum man sich auf dem enthobenen Parkett der Buchmesse wieder auf die völlig zu Recht kritisierte und objektiv hanebüchene Argumentationslinie, die (physische) Bibliothek sei doch irgendwie besser als das Internet, einlässt. Sie ist es nicht und wo sie es behauptet, hat sie bereits verloren. Jedenfalls wenn es um Information und Informationsversorgung geht. (Das Bildungsargument greift dagegen nur bei denjenigen, die auch denken, dass MOOCs die Universität als Begegnungsort ersetzen können – ich bin gespannt wann, immer unter dem Argument des Sparenmüssens, die Debatte um die Notwendigkeit der Universität als Ort ausbricht…)
Digitaltechnologie eignet sich fraglos hervorragend für eine bestimmte Art der Informationsnutzung, auch für eine bestimmte Art der Serendipity sowie für eine bestimmte Art der Kommunikation. Mutmaßlich niemand in der Wissenschaft möchte heute bei der Recherche auf die Volltextsuche oder multidimensionales Browsing verzichten. Ich kann ohne Probleme in einer Stunde eine Anzahl von Publikationen einem Screening unterziehen und meist als irrelevant aussortieren, für die ich in vordigitaler Zeit wahrscheinlich zwei Wochen allein zur Beschaffung gebraucht hätte. Das Internet bietet uns die die beste und umfänglichste Informationsinfrastruktur, die die Menschheit für explizite Informationsprozesse jemals hatte. Die digitalen Sozialen Netzwerke schaffen es sogar, unser Sozialleben in maschinenlesbare Information zu verwandeln, in Graphen zu visualisieren und uns in einen permanenten Prozess der Selbstoptimierung zu führen – jedenfalls wenn wir wollen. Die Frage ist nun, ob wir es wollen.
Meine Erfahrungswerte mit Menschen verschiedenster Couleur ist, dass den meisten diese Debatten auch um das E-Book oder das Printbook herzlich egal sind. Viele verstehen die Debatte überhaupt nicht. Die Trägheit der Käufer ist sicher genauso ein Hemmschuh auf der Rutschbahn von Kathrin Passigs These eines „Untergang alles Papierenen“ wie die Hipster-Entscheidung, E-Reader, Smartphone und Buch gleichberechtigt neben dem Bett liegen zu haben.
Mir wird nicht klar, was Kathrin Passig als Argument gegen Bibliotheken vorschwebt, wenn sie schreibt:
„Bibliotheken sind dann niedrigschwellig, wenn man in ihrer Nähe wohnt, nicht in seiner Mobilität eingeschränkt ist, lesen kann, generell damit vertraut gemacht worden ist, dass eine Bibliothek nicht beißt und sich in einem Umfeld bewegt, in dem das Aufsuchen solcher Orte nicht als albern gilt.“
Im Umkehrschluß bedeutet dies nämlich, dass die Bibliothek für den überwiegenden Teil der Menschen in Deutschland mehr oder weniger niedrigschwellig ist. Für alle anderen gab es einmal so etwas wie Soziale Bibliotheksarbeit. Warum also ausgerechnet die Digitaltechnologie für die Masse niedrigschwelliger sein soll, erklärt sie eigentlich auch nicht, wo sie meint:
„Das Internet ist dann niedrigschwellig, wenn man Zugang zu einem internetfähigen Gerät hat und nicht glaubt, dass das Internet seine Nutzer ausraubt und verdirbt. „
Jedoch ist der Zugang genau genommen nicht zum „symbolischen Preis“, wie es in Kathrin Passigs Welt der Fall ist, zu haben, sondern kostet schnell dreißig bis fünfzig Euro im Monat (+ Hardware), was für viele Menschen schwerer zu stemmen ist, als die Busfahrkarte zur Stadt- oder Universitätsbibliothek, in der man bei guter Führung auch ohne Gebühr den Freihandbereich benutzen darf. Allerdings hat die Digitalwirtschaft seit je diese Zielgruppen nicht im Blick. Insgesamt blendet Kathrin Passig in ihrer Frankfurter Kolumne aus, dass das Internet wie wir es heute kennen, vor allem ein Wirtschaftsraum ist, in dem vielleicht noch ein paar Nischen des offenen Webs der 1990er übrig sind, dass generell aber keine Schnittmenge mit dem im Kern nach wie vor am Gemeinwohl orientierten Grundversorgungsauftrag öffentlicher Bibliotheken besitzt. Das letztere diese besondere Rolle für die Gesellschaft häufig selbst kaum mehr reflektieren und das Thema auch nirgends auf der Agenda der Fachkommunikation auftaucht, macht die Sache natürlich nicht besser. „Apps und Aura“ haben naturgemäß mehr Sexappeal und sind auf dem Jahrmarkt Buchmesse zwischen Wolfgang Joop und Boris Becker bestimmt am richtigen Ort. Der Bibliotheksalltag sollte aber vielschichtiger sein. Und er ist es auch.
IV
Für die saturierte Mittelschicht, aus der sich die bundesrepublikanische Bevölkerung nach wie vor weithin zusammenfügt, dürften fünfzig Euro Zugangskosten im Monat vielleicht kein symbolischer aber doch ein überschaubarer Preis sein. Entsprechend ist es mittlerweile für weite Teile der Gesellschaft so normal, ein Touchscreen-Telefon zu haben, wie man im Bad einen Wasserhahn erwartet. Und natürlich liest man permanent auf den Displays, nämlich die Social-Media-Streams und ab und an eine Kolumne auf ZEIT online. Der einstige Statusgewinn, denn man mit solcher Technologie erzielen konnte, ist dagegen mittlerweile weitgehend verloren. Sie sind inzwischen Werkzeuge und darin für die meisten so faszinierend wie eine Elektrolokomotive. Alle anderen lesen, je nach Präferenz, das LOK Magazin oder Macworld.
Überraschend ist, dass das Vorhandensein heimischer Breitbandzugänge ebenso wenig wie frühere Medienkonkurrenten so viele Menschen nicht davon abhält, doch ab und an in die Bibliothek zu gehen. (Oder eine Computerzeitschrift in der Papierausgabe zu kaufen.) In Universitätsbibliotheken sind es häufig sogar ein bisschen zu viele. Will man also die Bibliothek und ihre Attraktivität beleuchten, braucht man eigentlich nur fragen, warum sie in die „Papiermuseen“ (Kathrin Passig) streben. Dann weiß man auch, was man an Eigenschaften erhalten muss, damit sie wieder kommen.
Man muss sich, so denke ich, aus Sicht der Bibliotheken gar nicht so sehr in dieses Binärschema der Diskursmühle einspannen lassen, das eine kleine Gruppe von Menschen, die bestimmte Technologien lieb(t)en und durchsetzen woll(t)en, in ihrem digitalen Revolutionskampf bis zur Mainstreamifizierung der re:publica entwickelten und heute auch bereits aus Tradition weiterpflegen und dessen Kern lautet: Entweder wir oder ihr. Aber besser wir.
Es geht hier nicht darum, wer Recht hat oder sich durchsetzt. So laut und wichtig die Stimme von Kathrin Passig ist – sie wird nicht maßgeblich darüber entscheiden, wie die Menschen lesen. Denn die meisten Menschen lesen nicht einmal sie. Wir tun es und zwar gern und hoffen auf Anregung. Es ist richtig, solch radikale und wie die meisten radikalen Positionen, anscheinend nur bedingt auf Eigenaktualisierung und Dauerreflexion gerichteten Ansätze, zur Kenntnis zu nehmen. Man sollte sich nur nicht von ihren Prognosen verrückt machen lassen. Zumal Kathrin Passig selbst einmal sagte:
„Ich glaube nicht, dass es das Qualitätskriterium für einen Gedanken ist, dass er auch in 300 Jahren noch richtig sein muss. Ich glaube, man kann sehr gute Ideen haben, die genau von jetzt bis nächsten Sommer richtig sind und danach nicht mehr. „
Derzeit jedenfalls blühen wenigstens im Publikationsbereich beide Kulturen, die des Materials und die des Digitalen, ganz gedeihlich miteinander.
V
Ein Hauptdefizit der Diskussion ist schließlich, wie sich die Vertreter des Bibliothekswesens auf den Aspekt, etwas besser oder billiger vermitteln zu können (oder müssen), festnageln lassen. Denn darum geht es in Bibliotheken idealerweise nur sehr am Rand. Bibliotheken sind, wie das Internet auch, Räume der Möglichkeit, jedoch im besten Fall nicht von Markt- und Renditeerwartungen getrieben. Sie stehen daher auch außer Konkurrenz. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Radikalkuren in das Bibliothekswesen brachte zwar einigen Beratern und einer Handvoll Akteuren aus der Bibliotheksbranche ein bisschen was, gab dem Bibliothekswesen selbst jedoch weniger Impulse, die es wirklich verwerten konnte. Wer hart kalkulieren und jede Ausgabe begründen muss, wird eben nicht flexibler und kann auch nicht gut experimentieren – also genau die Fertigkeiten entwickeln, die der Digitalkultur (und der Digitalwirtschaft) einst die entscheidenden Schübe gaben. Was das Bibliothekswesen wahrscheinlich viel stärker als eine vermeintliche Liebe zum Papier hemmt, ist die Kombination von umfassender Abrechnungsbürokratie und absoluter Zeitgeistigkeitserwartung.
Das Bibliotheken sich gerade nicht rechnen müssen, ist (war?) übrigens ein zentrales Argument für diese Einrichtungen und ihre Rolle in einer auf Inklusion gerichteten Gesellschaft, was unbedingt einschließt, dass sie einen solchen freien und offenen Raum auch so weit wie möglich in das Internet ausdehnen. Wer kann wirklich abschätzen, welche Effekte konkrete Erfahrungen mit öffentlichen (digitalen) Bibliotheken auf welchen ihrer Nutzer und mit welcher Langzeitwirkung haben? Es gibt zwar immer ein paar gesellschaftliche Leuchtturmfiguren, die als Kinder gern in Bibliotheken herumstöberten und darin die Grundlage ihres kulturellen Aufstiegs sehen. Es gibt zugleich genügend Erfolgsgeschichten in jungen Jahren sozial marginalisierter Outsider, die aus der Garage jeweils eine Technologie in die Welt brachten, der sich auf einmal ein Großteil der informationell engagierten Welt unterwerfen wollten. Beides ist nicht sehr repräsentativ.
Es existieren nämlich Millionen von ehemaligen Bibliotheksnutzern, die irgendwann ein ganz überschaubares Leben als Berufskraftfahrer oder Sachbearbeiter führten. Und zehntausende Nerds, die nicht zu Milliardären wurden, sondern als Brotprogrammierer Verkaufsplattformen am Laufen halten. Wahrscheinlich wollen die wenigstens Menschen Teil einer Wissenschaftsgesellschaft sein, in der sie ständig gehalten sind, informationelle Höchstleistungen zu erbringen. Sondern einen handhabbaren Lebensalltag. Ihnen gefällt vielleicht gerade das begrenzte Maß an Serendipity, das eine Freihandaufstellung oder sogar ihr Regal zuhause bereithält. Vielleicht mögen sie also Bibliotheken vor allem dann, wenn sie sich dort irgendwie ihren Bedürfnissen gemäß mit Medien oder auch nur der Kontemplation auseinander setzen können und nicht, wenn ihnen permanent Bildungs- und Aufstiegs- und Aktivitätsnotwendigkeiten aufgedrängt werden. Bibliotheken sollten wahrscheinlich beide Dimensionen, die Streuung und die Konzentration anbieten. Nicht selten tun sie es de facto auch. Dass man zur Konzentration im Internet schwer ein Gegenstück im WWW findet, wäre mir allerdings als Argument in der Auseinandersetzung, wer was besser kann, der Apfel Internet oder die Birne Bibliothek, ein bisschen zu preiswert.
Interessanter sind für mich nämlich zwei damit zusammenhängende Grundfehler, die ich in der Debatte erkenne. Einerseits modelliert man in der Regel einen auf ein sehr aktives und bewusstes Informations- und Rezeptionsverhalten ausgerichteten Menschen als Ideal. Man geht davon aus, dass der Mensche immer mehr Wissen will, quantifiziert also seine Bedürfnisse in einer vergleichsweise schlichten Form. In Bezug auf Kinderbibliotheken und Informationskompetenz strebt man bisweilen danach, genau solche Informations-Poweruser heranzuziehen. Andererseits stellt man immer den Anspruch einer Optimierung, nach technischer Höchstleistung und maximalem Durchsatz. Man reproduziert demnach Muster der Leistungsgesellschaft in eine Sphäre, in der diese gar nicht notwendig wären, eventuell sogar schädlich sind.
Obendrein betreffen beide Aspekte nur ganz bestimmte Milieus und angesichts der kognitiven Investitionen und den erstaunlicherweise nicht weniger sondern meist nur komplexer werdenden Entscheidungen, die ein Mensch in solchen Kontexten zu treffen hat, sind diese als Zielpunkte des Lebens nur noch mäßig attraktiv. Dadurch, dass fast jeder jederzeit Zugriff zu Unmassen von Daten, Informationen und Inhalten hat, wird dieser Zugang banal und die Verpflichtung zur Teilhabe an der informationellen Entfaltung fast zur Last geworden. Die großen Luxushotels dieser Tage integrieren fast alle einen Bibliotheksraum. Keines jedoch einen Computerpool. Es ist heute ein Kennzeichen der Elite, nicht permanent netzvermittelte Informationen verarbeiten zu müssen. Und ein wenig scheint mir, als sickere dieser Abstinenzgedanke schon wieder in andere soziale Schichten durch.
VI
Ich bin mir nicht sicher, ob wir bereits den Einstieg in ein postdigitale Kultur erleben, in der die digitale Vernetzung so nebenher läuft, wie es vor fünfundzwanzig Jahren das Radio und das Telefon taten. Digitale Informationsräume sind Teil der Infrastruktur, auf die wir permanent zurückgreifen, wenn wir einen Bedarf haben. Ansonsten, so vermute ich, sind die Menschen in Zukunft gar nicht unglücklich, wenn sie sie nicht mehr wahrnehmen. Die Google-Brille ist übrigens ein konkreter Schritt in dieser Richtung. Digitale Kommunikationsmedien sind damit aber völlig normal und damit auch grundsätzlich in die Bibliotheken integriert, denn die Nutzer tragen sie ja bereits am Körper.
Die Bibliotheken haben aber damit selbst wenig zu tun. Menschen, wenigstens die aus den Schichten vom Mittelstand aufwärts, gehen nicht in die Bibliothek, weil es keine Alternativen gäbe, mit denen sie ihr Informations- oder Unterhaltungsbedürfnis ansprechen und bedienen können. Sie gehen in die Bibliothek, weil bzw. wenn diese ihnen die für ihren Geschmack und ihre Stimmung passende Form anbieten. Es ist kurioserweise eine Konsumentscheidung – wie der Kauf von Zahnpaste, bei dem der konsumhedonistische Großstädter mal Dentagard, mal Aronal, mal Marvis ins Bad stellt, mal einen Film im Online-Streaming und ein anderes Mal im Kino ansieht oder heute zu Curry 36 und morgen ins Grill Royal maschiert. Dank Internetzugang und e-Commerce sind wir für alles, was digital oder im Postpaket transportabel ist, überall in Deutschland potentiell konsumhedonistische Großstädter. In jedem Fall haben wir eine Vielzahl von Optionen.
Das gilt genauso für das gedruckte Buch. Wir leben in der luxuriösen Situation, dass wir oft wählen können, in welcher Form wir einen Text lesen wollen. Wenn man sich heute die gebundene Ausgabe entscheidet, dann einfach, weil man es möchte. Solange sich diese Entscheidungen zu einem Volumen addieren, das einen Absatzmarkt mit nur minimaler Marge ergibt, wird es höchstwahrscheinlich jemanden geben, der diesen Markt auch bedient. Wer beobacht hat, was Menschen auf sich nahmen, um das furchtbar unbequeme und anachronistische Medium des Polaroid-Films nach der Einstellung der Produktion am Leben zu halten (und zwar mit Erfolg), den wird nicht überraschen, dass es außerhalb unserer kleinen fachbibliothekarischen und feuilletonistischen Diskurszirkel Millionen von Menschen gibt, die nicht aus Nutzenrationalität handeln und deshalb danach fragen, was die Bibliothek oder das Internet besser können. Sondern einfach tun, worauf sie gerade Lust haben. Daher lohnt es sich mittlerweile offenbar auch wieder, Hörbücher auf Schallplatten zu veröffentlichen.
Bei aller Liebe zum haptischen Appeal des Apple-versums. Wenn es um die Lust und also um ein erotisches Moment (in der Bedeutung von Sinnlichkeit) geht, dann haben die Bibliotheken einige Dimensionen mehr zur Verfügung als die Displays, die für die Digitalkultur wahrscheinlich auch nur eine Zwischenlösung darstellen. Da die Nutzer ohnehin ihre Tablets oder Smartphones mitbringen, reicht es fast, die Versorgung mit W-Lan und Lade-Docks sicherzustellen. Und vielleicht eine Handvoll Tablets in Reserve zu halten, falls jemand keines mitbringt. Und eine App als Marketinginstrument. So etwas mag nicht die edelste Strategie sein, an der man Bibliotheksentwicklungen ausrichten kann. Aber sie als über-funktionale, sinnliche Erlebnisräume für alle zu denken, kann sie womöglich derzeit viel zeitgemäßer und, auch das, auratischer wirken lassen, als es die ein- und abgeschliffenen Argumente aus dem Strahlenkreis der Informationsversorgung vermögen. Nebenbei könnte man dann in aller Ruhe beginnen, die eigentliche gesellschaftliche Rolle einer Bibliothek neu zu bestimmen.
04.11.2013
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