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Die Bibliothek in der Literatur. Heute: In einer Weihnachts-Kindheitserinnerung bei Nicolas Nabokov.

Posted in Die Bibliothek in der Literatur, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 28. Dezember 2013

Ben Kaden / @bkaden

Vladimir Nabokov stammt nachweislich (als Nachweis dient die eigentlich immer opportune Tiefenlektüre des Kanons, den er uns hinterlassen hat) aus einem kulturellen Umfeld, in der die Praxis des Lesens, das Medium Buch und die Bibliothek nicht gerade gering im Kurs standen. Es ist davon auszugehen, dass die ausreichende Versorgung der Kinder mit Druckwerken um 1900 für die Oberschicht in Sankt Petersburg so üblich war wie lange Sommer auf dem Lande. Während Vladimir Nabokov von letzteren Ferienspielen die Liebe zur Schmetterlingskunde mitnahm, spielte die Präsenz des Gedruckten in den jeweiligen Land- und Stadtsitzen sicher keine unerhebliche Rolle, um aus ihm einen der famosesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden zu lassen, wenngleich solche Mutmaßungen müßig sind. Denn ebenso war es das (wohl sehr erfüllte) Frühlingserwachen mit Walentina „Maschenka“ Schulgina, die ihn zu flammenden Frühdichtungen inspirierte, weshalb die (verlorene) Liebe ebenso wie (oder gar mehr noch als) die väterliche Hausbibliothek als Basisgranulat für die Hinwendung zur Literatur anzuerkennen ist.

Sein vier Jahre jüngerer Cousin Nicolas, der ebenfalls in einer Lebenswelt heranwuchs, in der goldene Löffel im Mund der Kinder wahrscheinlich keine Metapher waren, Landgüter wie Askania-Nova zum Familienbesitz zählten und man später die Gelegenheit hatte, darüber zu trauern, dass der Duft Trèfle Incarnat (und nicht etwa: Cuir de Russie) des Pariser Parfümeurs Maison Piver nicht mehr hergestellt wird, fand dagegen etwas, nicht minder Musisches. In seinen Memoiren reist er nach bestem Wissen und Erinnern verschriftlichend seine Biographie entlang, die 1975 unter dem Titel Bagázh. Memoirs of a Russian cosmopolitan. (New York: Atheneum) erschien.

Wobei der Bezug auf die Bagage zumindest hinsichtlich seines Onkels auch die zweite Bedeutung neben den „persenningbedeckte[n] Berge[n]“ in „Hotelhallen, Eisenbahnwaggons, auf Landauern“ einlöste. Denn Friedrich (von Falz-Fein), Gutsbesitzer zu Neu-Askanien hielt wenig von schöngeistigen (und anderen) Zerstreuungen:

„Für Onkel Friedrich waren Religion, Philosophie und ganz besonders Romane ein unnötiger Ballast, gut für Faulpelze und indolente Frauen. Er sprach gern von wissenschaftlichen Entdeckungen, von Zoologie, Botanik und angewandten Wissenschaften und von allem, was, wenn auch nur entfernt, mit Askania zu tun hatte. Aber auch über Geschichte und Politik konnte er reden, wenn seine Zuhörer intelligent und imstande waren, mit ihm zu diskutieren.“ (Nabokov, S.96)

Es handelte sich also offenbar um einen ganz normalen progressiven Patriarchen seiner Zeit. Nicolas Nabokov ließ sich davon allerdings weniger auf die Schiene der Natur schieben, sondern verlor sein Herz zielstrebig an die Musik. Dass er sich selbstironisch in die Kiste der Menschen einordnete, die die zweite Bedeutung von Bagage (sprich: Baggasche) gemeinhein betrifft, darf ausgeschlossen werden. Das Wortspiel, das seinem berühmteren Vetter so leichthändig in die entstehende Weltliteratur floss, ist die Sache Nicolas Nabokovs, wenigstens bei seiner Rückschau, nicht.

In dem sehr schön durchkoloriert ansetzenden (die TLS-Rezensentin Gabriele Annan schrieb einst von „ultra nostalgia“, Annan, 1976), ziemlich blass ausklingenden und insgesamt oft leider etwas schludrig übersetzten Erinnerungsbuch (aus deutsch. Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975) beschreibt er, wie er zu seiner Passion fand (u.a. durch die Tradition der Salonmusik), die ihn übrigens. stärker mit Vladimirs Bruder Sergej, der im Januar 1945 im Konzentrationslager Neuengamme starb, verband. Der gemeinsame Nenner hieß Verdi, während Nicolas Nabokov Sergejs Begeisterung für Wagner wenig nachvollziehen konnte.

Wobei es ihn trotz (oder wegen) der Musik ab und an in die Bibliothek zog. So schildert er in einer Nebenbemerkung zum Winter 1914 im nun auch im Stadtnamen de-germanifizierten vor- und nachmaligen Sankt Petersburg:

„Viele Geschäfte in Petrograd hatten Schilder aushängen: »Es wird gebeten, nicht Deutsch zu sprechen.« Ein solches Schild hing auch, in deutscher Sprache, in der Deutschen Abteilung der Petrograder öffentlichen Bibliothek.“ (S.112)

Das Gebäude hatte er schon zuvor als Achtjähriger entdeckt, als er im September 1911 mit einem Teil der Familie in das betrübliche Sankt Petersburg umzog:

„Das »Palmyra des Nordens« schien ungastlich und die Fahrt im Landauer endlos. Endlich, nach vielem Rumpeln und Kurven, erreichten wir eine breite Avenue. Sie war besser erleuchtet, einige menschliche Schatten huschten über die Bürgersteige. »Dies ist der Newskij Prospekt«, sagte P.S., »und dort«, er zeigte auf ein graues Gebäude, »ist die berühmte öffentliche Bibliothek, deren Direkter [sic!] Krylow war.« Er bekam keine Antwort. Ob »berühmt« oder nicht, keiner von uns fand daran Interesse. Wir waren unausgeschlafen und brummig, nichts konnte uns gleichgültiger sein, als wer der Direktor der berühmten Bibliothek gewesen war.“ (S.98)

Es bestand auch keine Eile, lag der neue Familienwohnsitz am Fontanka-Ufer (Hausnummer 25) nur zwei Straßen entfernt. Die (wahrscheinlich nur temporäre) Ignoranz Iwan Krylow gegenüber überrascht dagegen, zählten dessen Fabeln doch zur Standardlektüre der Kinder dieser Zeit und Nicolas Nabokov beschreibt, wie auf Gut Prokowskoje, dem Besitz seines Stiefvaters, in einer Art Kinderzimmerinszenierung die Fabel „Die Libelle und die Ameise“ aufgeführt wurde, wobei Nicolas die Libelle spielte. (S.37f.) (Vladimir Nabokov zählte Krylov übrigens ausdrücklich zu den Autoren, denen er in seiner berühmten Entgegnung an seine Kritiker (1966) seine „very special and very subjective admiration“ ausspricht. (S. 89))

In den Nabokov-Falz-Fein’schen Kreisen war es freilich nicht nötig, das Haus zu verlassen, um eine Bibliothek zu besuchen. Denn wie in den Kindheits- und manchen literarischen Welten Vladimir Nabokovs war ein Bibliotheksraum anscheinend fester Bestandteil eines jeden Nabokov-bewohnten Hauses, so beispielsweise auch auf dem großmütterlichen Gut in Preobrashenka:

„Wir stürmten durch die Bibliothek, das danebenliegende fumoir, einen großen Rauchsalon mit glattem Parkett, zum Haupteingang. Dort wartete ein linejka genanntes Ding auf uns – eine russische Mischform aus einer englischen Brigg und einem amerikanischen Wagen. Wir stiegen ein und fuhren einige Meilen durch die Steppe zu einem Pflaumen- und Pfirsischgarten, der am Ufer des Liman lag. An dieser flachen Bucht stiegen wir aus und gingen ans Wasser hinunter.“ (S. 77)

So konnte sie auch sein, die Kindheit in der Welt von Gestern.Im Sommer durcheilte man die Bibliothek allerdings offenbar ohne Halt, weil bereits die Kutsche zum Jodbad wartete. Im Winter jedoch verhielten sich die Dinge anders und in einem der schöneren Kapitelchen des Erinnerungsbuches in Nicolas Nabokovs beschreibt dieser ein Weihnachtsfest auf Schloss Lubcza (Любча) über der Memel, in dem er nicht nur 1903 geboren wurde, sondern in dem es eine Bibliothek sogar mit eigenem Bibliothekar gab:

„Moissej Jossifowitsch dessen Nachnamen ich nie gewußt habe, war unser Buchbinder, unser Bibliothekar und gelegentlich unser Vorleser von biblischen Geschichten. Er war ein hochgewachsener, bleicher Mann, mit einem silbernen Haarschopf, einem Tolstoi-Bart, einem pergamentenen Gesicht mit hellen blauen Augen und einer geraden griechischen Nase. Er war, wie ich später erfuhr, der zadik (Älteste) der chassidischen Gemeinde unseres Dorfes. Er las im Singsang eines Tenorinos, und wenn er sprach, war seine Stimme nur wenig mehr als ein Geflüster. Er trug einen schwarzen Gehrock und zog von Zeit zu Zeit aus seiner Hose Kandiszuckerstückchen, deren Einwickelpapier leicht nach Hering roch. Es war etwas Freundliches, beinahe Heiligmäßiges an ihm, und ich mochte ihn immer lieber und freute mich auf seine wöchentlichen Besuche in der Bibliothek.“ (S.56)

Glücklicherweise scheint die Aufmerksamkeit für das Detail und die Möglichkeit, dies auch Jahrzehnte später derart fein aufgeschlüsselt abrufen zu können, ein Basismerkmal wahlweise erfüllter und sorgenfreier Kindheiten oder einfach der Nabokovs zu sein. Und so erfahren wir einiges über die Rolle der Bibliothek und des Bibliothekars auf einem Schloss der russischen Aristokratie am Vorabend des ersten Weltkriegs. Der tiefreligiöse Moissej Jossifowitsch betreute also den Bestand und führte das Bestandsverzeichnis. Wenn er zu seinem Wochentermin ins Schloss kam

„[…] brachte [er] ein paar frischgebundene Bücher und nahm einige broschierte (meist aus der Tauchnitz-Edition) wieder mit. Den Titel jeden Buches, den Namen des Verfassers und das Erscheinungsjahr trug er in ein großes, schwarzes Kontobuch ein, das er zu diesem Zweck in vier Teile aufgegliedert hatte, Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Auf die Titelseite hatte er in schönen Lettern das Wort »Katalog« gemalt.“

Die Erschließung erfolgt offenbar einfach und zielgerichtet orientiert an den vier Leitsprachen der damaligen Bildungswelt. Die Erwerbungspolitik war freilich unsystematisch:

„Die »Bibliothek« [in dieser zeitigen Erinnerung offensichtlich noch von einer richtigen Bibliothek zu differenzieren] war ein rechteckiger Raum mit Regalen aus heller Eiche. In seiner Mitte stand ein mit grünem Fries belegter Tisch mit Stühlen herum. Er war mit Zeitungen und Zeitschriften bedeckt. Die Regale enthielten nichts Wertvolles, mit Ausnahme vielleicht einiger Bücher über Jagd, einiger zoologischer und speziell ornithologischer Werke, ferner Bände von »Klassikern« in verschiedenen Sprachen. Der größte Teil bestand aus Büchern, die jemand jemandem geschenkt oder einer der Gäste liegen gelassen hatte, aber alles – dank der Tätigkeit von Moissej Jossifowitsch – ungeachtet seines Wertes oder Inhalts, schön gebunden und nach Größe und Farbe geordnet.“ (S.57)

Bei der Aufstellung verfuhr er entsprechend so, wie wann es gemeinhin mit überschaubareren Sammlung und/oder bei räumlichen Optimierungszwang gern vornimmt: raumsparend und farbharmonisch.

Eiskristalle

Wer Weihnachten 2013 in Deutschland Eis und Schnee finden wollte, musste entweder hoch hinaus oder in die Literatur reisen. Da wir die erste Variante wählten, erscheint dieser Beitrag erst nachweihnachtlich. Andererseits gehen wir davon aus, dass unsere LeserInnen in dieser besonderen Woche des Jahres ohnehin andere Dinge unternimmt, als auf Updates im LIBREAS-Weblog zu warten. Insofern halten wir die Verzögerung für verzeihlich.

Dass sich Nicolas Nabokov so präzise an die Bibliothek erinnert, in der er als Vierjähriger den jüdischen Bibliothekar bestaunte („am Ende des Tages verabschiedete er sich mit »a git‘ Nocht«“, ebd.) liegt möglicherweise auch daran, dass der Raum eine zentrale Position in der Erinnerung an das Weihnachtsfest 1908 einnahm. Nicolas‘ Mutter war, es ist fast wie ein Filmplot, an diesem Tag in Vilnius, wo sie operiert werden musste.

„Die Operation schloß Chloroform ein – ein Wort, das mich erzittern ließ – und eine Menge bedeutender Ärzte.“ (ebd.)

Da die Behandlung also einen unsicheren Ausgang besaß, setzte man die Kinder des Hauses zum Warten in die Bibliothek und teilte ihnen mit, dass die Situation alles, was über den religiösen Kern des Weihnachtsfestes hinausreiche, ausschloss. Dieser Ausschluss beinhaltete sowohl den Christbaum wie auch die Geschenke.

„So saßen wir denn in der Bibliothek an dem Tisch mit dem grünen Fries [hier also liegt der Erinnerungsanker!], zappelten auf unseren Stühlen herum und hörten uns alle möglichen Geschichten an, die mit der Geburt Jesu zu tun hatten. [die Erinnerung an die Geschichten ist beachtenswerterweise deutlich unschärfer als die an den Raum] Wir lebten seit einigen Wochen in Fasten, und zwar griechisch-orthodoxen, die Eier, Milch, Sahne und Butter ausschlossen und Fisch nur an Sonntagen erlaubten. Der letzte Tag der Fasten, der Heilige Abend, ist der Höhepunkt, an dem man überhaupt nichts mehr essen darf, bis der erste Stern, der von Bethlehem aufgegangen ist. Nach der Chistversper in der Kirche sollte es, wegen Mutters Zustand, nur das rituelle Gericht, eine Gerstengrütze ohne Butter oder Milch und ein Kompott aus Backobst geben, Gerichte, die an die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten erinnern. Nach diesem rituellen Mahl würden wir dann zu Bett gehen und für die Gesundheit unserer Mutter beten.“ (S.58)

So saßen die Kinder mit Mossej Jossifowitsch im Bibliothekszimmer, der ihnen nur Teile des Alten Testaments und keinerlei Zerstreuungsfähiges vortrug und warteten auf den Stern. Allerdings schneite es. Das Weihnachtswunder brach anders in die gedrückte Stimmung und zwar dank der Kommunikationstechnologie dieser Zeit:

„Tante Karolina stob mit einem vor Freude strahlenden Gesicht und roten Augen ins Zimmer. Sie konnte kaum sprechen. In ihrer Hand hielt sie ein Telegramm und winkte uns damit zu. Wir flogen hin zu ihr und umarmten sie. M.J. nahm das Telegramm und las es laut vor: »Lidotschka erfolgreich operiert. Sie ist außer Gefahr. Gott segne Dich und die Kinder.“ (ebd.)

Wie auch im richtigen Leben üblich, flacht das Wundersame dieses Weihnachten in der Schilderung Nabokovs an dieser Stelle viel zu schnell ab (seinem Vetter Vladimir wäre das wahrscheinlich nicht passiert) und er koppelt an diesen emotionalen Expresszug bedauerlicherweise sofort den sorglosen Vortortbahnwaggon des kommenden Jahres. Weihnachten 1909 erhält er von Mossej Jossifowitsch an einem klaren 24.Dezember in der Bibliothek eine Einführung in die Astronomie, da ihm der Hausbibliothekar erklärt, dass der Stern von Bethlehem gar kein Stern sondern die Venus ist und in der Bibliothek erwarten die Kinder – ohne Lesungen, wie Nicolas Nabokov ausdrücklich vermerkt – die Bescherung:

„Die »wenigen Minuten« schienen eine Ewigkeit. Endlich hörten wir Schritte die Treppe herunterkommen, und Butler Alexej und Kutscher Anton in ihren Festtagslivreen öffneten beide Flügel der Bibliothekstür. Pjotr Sigismundowitsch führte die ungeordnete Herde treppauf in den ersten Stock vor den erstrahlenden Baum.“ (S.62)

Nach dem Weinachtssingen – „Wir haspelten die Lieder schnell undcon scioltezza herunter. Selbst »Stille Nacht« klang mehr wie ein Walzer als der Schmachtfetzen, der es ist.“ S.63 – ging es an die „jeweiligen Geschenktische[..]“ und ein Puppenspieler spielte den Kindern „vor der drapierten Tür der Bibliothek“ ein wenig betörendes Stück vor. Glücklicherweise bekam jedes Kind dann noch ein Shetlandpony als Dreingabe:

„Das war sicher die bemerkenswerteste aller Überraschungen des Tages. Es war das Fasten, das langweilige Vorlesen und die Strapazen des Puppenspiels wert.“ (S.64)

Und auch wenn dies ein wenig garstig und undankbar gegenüber erscheint, so birgt dieses handliche Kapitel vielleicht sogar unbewusst das Spektrum dessen, was ein Weihnachtsabend ganz allgemein so an Stimmungsschwankungen für Kinder enthält (wenn auch heute mehr ohne Fasten und zugleich meist mit etwas bescheidenerem Geschenkeniveau). Weitere Häppchen Bibliothek enthalten die Memoiren Nicolas Nabokovs leider nicht. Spätere Weihnachten feierte er zum Beispiel bei den Stravinskys in Hollywood. (vgl. S.337f.) Und irgendwann tuckert auch der Reiz solcher Anekdoten, zum Dutzendpack verschnürt, in die stille Nacht hinaus und verhallt so nach und nach. Dass die TLS-Rezensentin 1976 bis zum Schluss eine Anekdotenkette eines „virtuoso racounteur really grooving“ (Annan, 1976) las, deutet darauf hin, dass diese über eine Gabe verfügt, die mir nicht gegeben ist: Die Schleife zwischen den Cousins und wie sie jeweils im Vergleich ihre Erinnerung sprechen lassen zu ignorieren.

Wenn man also jetzt zwischen den Jahren ein Buch von nur einem Nabokov zu lesen schafft, dann sollte man sich unbedingt gegen dieses nicht uninteressante, aber eben nur auf den ersten Seiten überhaupt mitreißende Selbstandenken von Nicholas entscheiden und lieber für eines aus dem Repertoire seines Cousins. Selbst die Weihnachtserzählung des 29-Jährigen Vladimir, veröffentlicht am ersten Weihnachtsfeiertag vor 85 Jahren in der Berliner Emigrantenzeitschrift Rul, ist literarisch deutlich satter. (Nabokov, 1999) Bereits im Januar 1925 erschien in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben von Rul (und fünfzig Jahre später in The New Yorker) die herzzerbrechende andere Weihnachtsgeschichte, an dessen Ende nicht unbedingt nur der Atlasspinner an der Wand des Landhaus einen „glazy eyespot“ aufweist. (Nabokov, 1976) Oder aufwies, wie Tatyana Tolstaya in ihrer Besprechung der Kurzgeschichte für die Los Angeles Times andeutete:

„Both the theme and the message of the story were appropriate for the Christmas issue of the paper, and the marvelous description of the Russian winter probably provoked cruel attacks of nostalgia in Russian exiles pining away in the rotten January of Western Europe.“ (Tolstaya, 1996)

Berlin, Dezember 2013

Gabriele Annan (1976) Under the apple trees. In: Times Literary Supplement. 22 Oct. 1976: S. 1326.

Nicolas Nabokov (1975) Zwei rechte Schuhe im Gepäck: Erinnerungen eines russischen Weltbürgers. München: Piper, 1975

Vladimir Nabokov (1966) Nabokovs Reply [Leserbrief] In: Encounter. Februar 1966, S. 80-89

Vladimir Nabokov (1976/1925) Christmas. In: ders. (1976) Details of a Sunset and Other Stories. London: Weidenfeld and Nicolson. S.151-162

Vladimir Nabokov (1999/ 1928) Eine Weihnachtserzählung. In: ders. (1999) Der neue Nachbar. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. S. 166-175

Tatyana Tolstaya (1996) A Phoenix From the Russian Snow: The perennial warmth of Vladimir Nabokov’s magical stories. In: Los Angeles Times, 04.02.1996. Online: http://articles.latimes.com/1996-02-04/books/bk-32004_1_vladimir-nabokov

Die Bibliothek als Sackgasse. Zum Berufsbild, wie es Yahoo!-Education sieht.

Posted in LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 9. Dezember 2013

Ein Kommentar von Ben Kaden / @bkaden

Die Sterne für den Bibliotheksberuf stehen schlecht. Jedenfalls wenn man der Arbeitsmarktastrologie des Education-Portals von Yahoo! glaubt. Dort wurde in einem – undatierten, offenbar wohl neueren – Artikel der Beruf des Bibliothekars / der Bibliothekarin zu einem von fünf Sackgassen-Jobs erklärt. Das mag für eine neuere Arbeitswelt ganz zutreffend sein, in der es pragmatisch mehr um persönlichen Aufstieg und weniger um Identifikation mit dem jeweiligen Tätigkeitsfeld geht und in der man passend von Jobs und nicht Professions schreibt. Wie jeder weiß, ist der Unterschied zwischen beiden Konzepten erheblich. Die Profession bezieht sich auf die Ausbildung, die Qualifikation und eigentlich auch die Identifikation mit einem bestimmten Zuschnitt von Arbeit. Also:

Profession […] a vocation requiring knowledge of some department of learning or science. (dictionary.com)

Ein Job bezieht sich wahlweise auf die konkrete Anstellung oder die konkrete Tätigkeit und lässt den Qualifikationsaspekt irgendwo im Dunklen:

Job […] a piece of work, especially a specific task done as part of the routine of one’s occupation or for an agreed price (dictionary.com)

Geht es bei der Profession um eine individuelle Einstellung zur Sache, spielen beim Job die konkreten Arbeitsabläufe, die individuelle Einstellung als Sache und offensichtlich auch der Preis dafür eine Rolle.

"Profession" vs. "Job" - im Google-NGram-Viewer

„Profession“ vs. „Job“ – im Google-NGram-Viewer

Die NGram-Analyse im Google-Books-Korpus offenbart eine steile Karriere des Wortes „job“ und ein Feststecken bzw. leichtes Absinken der Verwendung des Wortes „profession“. Besonders aussagekräftig ist der Kurvenvergleich jedoch nur dahingehend, dass er zeigt, wie seit dem frühen 20. Jahrhundert sehr gern und oft der Ausdruck Job verwendet wird. In welchem Kontext müsste man jetzt inhaltlich durchdringen.

Die Yahoo!-Autorin Andrea Duchon bewegt sich in ihrer Wortwahl vermutlich auch nicht allzu tief in der semantischen Differenzierung der Konzepte sondern mehr im Zeitgeist des einfachen und klaren Schlagworts bzw. noch wahrscheinlicher in der Bedeutung: Anstellungsverhältnisse. Ein Indikator dafür ist, dass sich die kleine Passage exakt so liest, wie Welterklärungstexte für Dummies gemeinhin verfasst sind:

„Librarians probably play a huge part in your childhood memories, but with a U.S. Department of Labor-projected job growth rate of only 7 percent from 2010 to 2020, it’s likely that „memory“ could be the only role left for librarians to play.“

Andrea Duchon eröffnet mit einer Nostalgisierung und bestimmt damit bereits die Rolle, die ihrer Meinung nach für die Bibliothekare bleibt. Denn die Wachstumsrate bei den Stellen beträgt nur sieben Prozent, wobei unklar bleibt, wie rasant eigentlich ein Stellenangebot wachsen muss, um zur Skyway-Job zu werden.

Sie beruft sich nachfolgend auf die Prognosekompetenz der Karriereberaterin Wendy Nolin, die eine aufbruchsfreudige Firma namens Change Agent Careers betreibt. In aller Offenheit beschreibt diese auf ihrer Webseite ihren eigenen Ausbruch aus einem „Career Spin Cycle“ und das sollte man schon einmal lesen, um einschätzen zu können, vor welchem Hintergrund die Aussagen zum an die Wand laufenden Bibliothekarsberuf getroffen werden.

Why Avoid It: Nolin says that this is a dying occupation simply because information now is so readily devoured using technology.

Hier findet sich fast erwartbar das reduktionistische Verständnis der Rolle von Bibliotheken, wie es unlängst ähnlich von Kathrin Passig in die Debatte katapultiert wurde. Bibliothek und Bibliotheksarbeit wird dabei mit Informationsversorgung gleichgesetzt. Allerdings war bereits das Aufkommen des Dokumentationswesens ein Schritt, der die Bibliotheken hinsichtlich dieser Rolle methodisch und technologisch ziemlich altbacken aussehen lies. Interessanterweise, aber eigentlich folgerichtig, ist dieses Praxis weitgehend in anderen Praxen aufgegangen oder – wie klanglos wie ihr Weltverband, die International Federation for Information and Documentation (FID) – verschwunden, während die Bibliotheken nach wie vor trotz allem auf recht hohem Niveau existieren.

Alarmierender ist dagegen die zweite Aussage Wendy Nolins:

„Plus, she says that federal funding for new libraries is basically non-existent, and job growth is expected to follow suit.“

Verfolgt man die Diskurse zur Zukunft des Bibliothekswesens in den USA, dann bekommt man wirklich den Eindruck, das Public-Library-System befände sich in der Krise. Noch vor 15 Jahren schien es undenkbar, dass im Mutterland des öffentlichen Bibliothekswesens Einrichtungen gekürzt oder geschlossen werden. (Man beachte das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der ALA auf diesen Postern.) Zu diesem Zeitpunkt galt das Bibliothekswesen der USA als Vorbild, Vorreiter und Garten Eden. Jedenfalls im deutschen Bibliothekswesen, dem man Ende der 1990er Jahre dann auch noch seinen zentralen Think-Tank, das DBI, geschlossen hat. Ein Schließungsgrund, den die Gutachter des Wissenschaftsrates peinlicherweise ins Spiel brachten, war die „zu intensive Betreuung der Öffentlichen Bibliotheken“ (vgl. hier). Dieses Beispiel bringt noch einmal in Erinnerung, dass Finanzierungsentscheidungen nicht immer aus überzeugenden oder sogar objektiv tragbaren Einschätzungen heraus gefällt werden. Sondern häufig schwer durchschaubar einmal so oder so ausfallen und nicht selten abhängig davon sind, wer gerade für solche Entscheidungen zeichnungsberechtigt ist.

Erfahrungsgemäß sind ein bereitwilliges Aufspringen auf „Trending Topics“ und das eifrige Klammern an das jeweilige Vokabular der Zeit bestenfalls kurzfristig hilfreich, um die eigene Position bündig zu vermitteln und die entscheidungsbefugten Kürzer oder Förderer zu beeindrucken. Oft zeigt sich dagegen darin nur, dass man mit Mühe den Trends der Anderen hinterhastet, wo an eigentlich eigene setzen sollte. Die interessante Entwicklungskurve des Konzeptes der so genannten Bibliothek 2.0 enthält dafür eine ganze Reihe von Beispielen. Mit der aktuellen Argumentation von Wendy Nolin, Kathrin Passig und anderen, die die Bibliothek als Papierverleihhaus für obsolet und die Arbeit in der Bibliothek zwangsläufig als berufliche Sackgasse deklarieren, irrlichtert man sogar in die Zeit vor 2003 zurück. Dabei liegt aber eigentlich das Kerngeschäft der Bibliotheken just in der Interaktivität, in der grundsätzlichen Remix-Praxis, die sich sowohl durch das Kuratieren wie auch das Rezipieren von Inhalten in der Bibliothek vollzieht und schließlich in dem Aspekt der Kommunikation und Wissensbildung, was weit über das Abrufen von Fakten und Information hinausgeht. Wäre man nicht unbedingt so radikal den Verheißungskünstlern des Library-2.0-Marktes hinterhergeeilt, sondern hätte in Rekurs auf diesen schon vor dem Medium Weblog existierenden Anspruch, dass eine Bibliothek mehr als ein Datenbank-Analogon sein muss, ernst genommen, stände die Bibliothek heute vielleicht noch ganz anders da. Und auch der Diskurs nach innen, der häufig an Mentalitätsklippen brach, die den Eindruck vermittelten, manche Bibliothekare sehnten sich in die klösterliche Übersichtlichkeit der Kettenbuchbänke zurück, wäre womöglich ein Stück weit produktiver verlaufen.

Wenn Förderer, Karriereberater, Netzaktivisten und Publizisten dieses prinzipielle Mehr-als-Information nicht sehen, liegt das Versäumnis indes nicht unbedingt nur bei ihnen (den Vorwurf des Kurzschlussfolgerung müssen sie dennoch aushalten). Sondern auch beim Bibliothekswesen selbst, das sich viel zu oft anstandslos in Buzzwordfeuerwerken, durchsichtigem Techno-Mimikry und öffentlich präsentierten Selbstzweifeln wälzt. Vielleicht zeigt sich darin zugleich auch ein anderes Problem, das uns wieder zur Yahoo!-Berufsanalyse zurückführt: Die Menschen, die in das Bibliothekswesen streben, sind seit je eher nicht die strahlkräftigen, kampfeslustigen und ehrgeizigen Karrieristen. Sondern häufig sympathische, idealistische und bescheidene Personen, die unerschütterlich daran glauben, dass schon gut ist, was sie machen und entsprechend wertgeschätzt wird. (Ein paar karrierebesessene Quertreiber und Egozentriker entdeckt man freilich auch. Die wechseln allerdings meist so schnell sie können auf die Seite des Geschäfts, auf der man deutlich mehr verdienen kann. Und dann gibt es selbstverständlich noch die Verbitterten, die eigentlich etwas Anderes in ihrem Leben machen wollten, aber vom Schicksal im Restraum Bibliothek geparkt und niemals wieder abgeholt wurden. Dies sind gemeinhin die schwierigsten Fälle.) Entsprechend sind die Bibliotheken natürlich ein vergleichsweise leichtes Ziel nicht zuletzt dann, wenn es um Ressourcenverteilungen bzw. -kürzungen geht. Was dem Bibliothekswesen aus meiner Sicht tatsächlich und mehr als technisches Know-How fehlt, ist eine Kultur des sowohl soliden als auch souveränen Widerspruchs. Eben weil die Akteure dieses Berufsfelds in der Regel gar nicht so viel Wert auf rasante Karrierekurven legen, für die gefälliges Verhalten erforderlich ist, könnten sie doch eigentlich weitaus risikofreudiger nach außen gehen, wagen und am Ende vielleicht sogar etwas gewinnen.

(Berlin, 09.12.2013)