LIBREAS.Library Ideas

Studien zur Nutzung von Bibliotheken in Frankreich

Posted in LIBREAS.Rezension by Karsten Schuldt on 11. September 2019

Karsten Schuldt

Zu: Yolande Maury; Susan Kovacs; Sylvie Condette (dir.). Bibliothèques en mouvement. Innover, fonder, pratiquer de nouveaux espaces de savoir. (Information – Communication). Villeneuve d’Ascq : Presse universitaires du Septentrion, 2018

 

Von 2013 bis 2015 gab es in Frankreich Forschungsmittel für zwei soziologisch / ethnologische Projekte zur Nutzung von Bibliotheken (Wissenschaftliche, Öffentliche und „centres de documentation et d’information”, CDI – die französischen Formen von Schulbibliotheken) durch Nutzer*innen und Bibliothekar*innen. Die Projekte wurden von Forschenden verschiedener Universitäten in zahlreichen Unterprojekten und vor allen in Gemeinden um Paris und Marseille durchgeführt. Im Band „Bibliothèques en mouvement” wurden im letzten Jahr die Ergebnisse dieser Untersuchungen vorgelegt. Gründe für die Verzögerung sind nicht ersichtlich, aber sie ist dennoch relevant, da in den letzten Jahren bekanntlich weitere Entwicklungen in Technologie, Medien und gewiss auch französischen Bibliotheken stattfanden.

Einige Schwachstellen des Buches

Ebenso nicht ersichtlich ist die Rolle, die Bibliotheken in diesen Forschungen spielten – wurden sie nur untersucht oder hatten sie selber Anteil daran, dass die Projekte überhaupt zustande kamen? Das ist nicht unwichtig. Die Hauptthese des Buches ist, dass es ungefähr seit dem Jahr 2000 sowohl in Medien und Technologie als auch in Bibliotheken zu massiven Veränderungen gekommen sei. Die Studien sollen erfassen, wie die Bibliotheken in der neuen Medien- und Technologielandschaft funktionieren. Aufhänger für viele der Unterprojekte sind „Learning Centre”, welche in diesen Jahren in französischen Bibliotheken eingerichtet wurden, sowohl in Universitäten als auch in Schulen, wo sie zur Modernisierung (der schon in den 1970ern als moderne Bibliotheksform eingerichteten und in den 1990ern, unter anderem durch eine eigene Ausbildung des Personals als „professeur documentaliste”, professionalisierten) CDI genutzt wurden. Es ist, um das vorwegzunehmen, ein Problem des Buches, diese Veränderungen überhaupt nicht zu zeigen (dazu sind ethnologische und interpretative Methoden, die in den Studien verwendet wurden, vielleicht auch nicht geeignet), sondern aus Policy-Dokumenten und Darstellungen von Bibliothekar*innen abzuleiten. Es ist nicht klar, ob dies von Bibliotheken motiviert wurde oder ob die Forschenden von sich aus diese Vorstellungen entwickelt haben. Es ist zumindest ein Schwachpunkt, da die Studien immer Momentaufnahmen zeigen, aber behaupten, daraus auch Entwicklungen ableiten zu können.

Eine weitere Schwierigkeit mit dem Buch ist wohl, dass es – aus guten Gründen – eingebunden ist in französische akademische Denkstrukturen. Immer wieder wird auf französische Philosophie und Ethnologie zurückgegriffen, aber wenig erläutert. Das macht das Buch nicht unlesbar, aber Vorwissen über diese Denktraditionen ist von Vorteil für das Verständnis der Diskussionen in ihm. Einige Texte – vor allem eher philosophische Reflexionen über die Veränderung von Wissen im digitalen Zeitalter –, die wenig zum eigentlich Thema des Buches beitragen, sind wohl nur aus diesen akademischen Traditionen zu verstehen.

Der Blick von aussen auf Bibliotheken

Dabei soll nicht der Eindruck erzeugt werden, dass das Buch unnötig oder durchgängig problematisch wäre. Beachtet man seine Grenzen, dann ist es beachtlich. Zuerst ist es bemerkswert, dass überhaupt solche Studien finanziert wurden. Das wäre im DACH-Raum nicht zu erwarten. Interessant auch, dass sich Forschenden aus anderen Bereichen – und gerade nicht aus der bibliothekarischen Fachhochschule enssib (École nationale supérieure des sciences de l’information et des bibliothèques) – fanden, welche zu dieser Frage forschen wollten. Gerade letzteres ist auch eine Stärke der Studien, da hier Forschende ohne den Wunsch, unbedingt etwas positives (oder negatives) über Bibliotheken beweisen zu wollen, ihre Methoden anwandten, um zu klären, wie Bibliotheken genutzt werden. (Dabei zeigen sie auch gleichzeitig, dass sie die Bibliotheken sehr wohl als relevante Einrichtungen wahrnehmen.)

Die angewandten Methoden sind letztlich nicht sehr zahlreich: Es wurden viele Interviews geführt, Beobachtungen durchgeführt, Photos und Pläne als Artefakte erstellt und ausgewertet, Umfragen durchgeführt und zudem wurde – wie schon gesagt – zum Teil auf philosophische Theorien zurückgegriffen. Das ist alles in der Bibliotheksforschung nicht vollkommen neu, aber doch eindrucksvoll, diese versammelt zu sehen. Offensichtlich, so zeigt das Buch, sind die Methoden wirklich geeignet, Bibliotheken zu untersuchen. Hingegen sind die untersuchten Bibliothekstypen – wie ebenso schon erwähnt – divers. Auch wurde darauf geachtet, nicht etwa nur Metropolbibliotheken zu untersuchen, sondern eher solche in den Vorstädten und kleineren Gemeinden, die wohl besser „normale” Bibliotheken repräsentieren.

Nutzung der Bibliotheken: Gut, aber unaufregend

Während das Buch selber davon ausgeht, dass Veränderungen stattfanden, zeigen die Untersuchungen selber eine weniger aufregende Nutzung der Bibliotheken. Yolande Maury berichtet zum Beispiel von einer Studie über relativ neu eingerichtete Learning Centre in Universitäten. Es wurde vor allem die Raumaufteilung und die Raumnutzung beobachtet. Alle Centre wurden so eingerichtet, dass es laute und leise Zonen gäbe, denen spezifische Funktionen, die teilweise für die Bibliotheken neu sein sollen, zugeschrieben wurden. Die Zonen waren immer so angeordnet, dass sich die lauten in der Nähe des Eingangs befänden. Gleichwohl wurden die Learning Centre nicht so genutzt: In allen gab es eine sichtbare Nutzung, aber vor allem eine sehr ruhige. Trotz all der Zonen und anderen Angebote arbeiteten die Studierenden hauptsächlich ruhig und für sich alleine. Sie richteten Arbeitsplätze halb privat ein, indem sie diese mit eigenen Materialien, Mänteln und Taschen für sich markierten. (Etwas, was auch in anderen Studien in anderen Ländern mehrfach beobachtet wurde.)

Isabelle Fabre und Cécile Gardiès untersuchten die Nutzung eines Learning Centre, welches in einem CDI eingerichtet wurde (als eigener, einigermassen flexibel zu nutzender Raum) und stellten fest, dass die Schüler*innen diesen je nachdem nutzen, welche Aufgaben sie zu erfüllen hatten und dabei vor allem mit eigenen Materialien – nicht den Medien des CDI – arbeiteten. Gleichzeitig begriffen sie das Learning Centre nicht als gesonderte Einheit, sondern als Teil des CDI. Letzteres zeigt auch Sylvie Condette, die in neuen Schulen untersuchte, wie dort die Learning Centre wahrgenommen werden: Nicht viel anders als die CDI oder Bibliotheken selber auch, als sichere Räume und Rückzugsorte zum Arbeiten und Lernen.

Personal

Ein Fokus, der vielleicht so nicht eingenommen worden wäre, wären nicht Forschende von ausserhalb der Bibliotheken bestimmend gewesen, ist der des Personals. Untergründig ist dessen Einstellung zu den postulierten Veränderungen in verschiedenen Texten zu finden, explizit wurde es in zwei Teilprojekten untersucht (vorgestellt wieder von Yolande Maury und Sylvie Condette): Welche Veränderungen im professionellen Selbstbild des Personals und welche Ängste gibt es? Auch hier sind die Aussagen nicht eindeutig. Usus ist, dass Veränderungen stattfinden, aber sowohl welche als auch wie diese bewertet werden sollten, ist nicht klar. Der technologische Wandel wird genannt und als Fakt akzeptiert, aber gleichzeitig wird auf weiterlebende Werte und eine sich zum Teil wenig wandelnde reale Nutzung verwiesen. Gerade die zweite Studie stellt unter anderem eine grosse Unzufriedenheit und mangelhafte Kommunikation zwischen Leitung und Personal fest, die als grösseres Problem erscheint, als die konkreten Veränderungen.

Fazit: Unklar

So unklar wie diese Ergebnisse ist dann auch das Fazit des Buches: Es gibt Veränderungen, aber diese sind nicht wirklich greifbar. Während es einfach ist, anzugeben, was sich technologisch seit dem Jahr 2000 entwickelt hat und welche Bibliotheken wie umgebaut wurden, ist es offenbar viel schwerer, dies für die konkrete Nutzung von Bibliotheken (und Learning Centre) zu sagen. Sie werden positiv wahrgenommen und auch genutzt, aber viel weniger „aktiv”, laut, innovativ als vielleicht zu erwarten wäre. Sicherlich, gerade in den Schulen war die Einrichtung von Learning Centres eine von oben herab angestossene Entwicklung (wie sollte es Frankreich auch anders sein), aber doch immer in lokalen Ausprägungen. Vielleicht wurden so Veränderungen in der Nutzung von Bibliotheken antizipiert, die nicht eingetreten sind. Gleichzeitig zeigen die Studien aber auch, dass Learning Centre und andere neu eingerichtete Bibliotheken – mit den gleichen Grundideen wie im DACH-Raum, inklusive dem „3. Ort”, der nicht wirklich greifbar definiert werden kann – auch nicht schlecht genutzt werden. (Auch das gilt nicht nur für Frankreich, sondern findet sich auch in anderen Staaten wieder.)

Das Buch ergänzt also gut das Wissen über die Nutzung von Bibliotheken aus einem französischen Blickwinkel. Nicht ganz zielführend scheine die eher philosophischen Beiträge, welche eher ein Nachdenken über „Wissen” weitertreiben, dabei aber in einer eigenen, französischen Tradition verbleiben, die zum Beispiel informationswissenschaftliche Debatten aus anderen Staaten überhaupt nicht zu beachten scheinen. Es geht in ihnen eher um eine angebliche „Verflüssigung” des Wissens im Digitalen.

Pour une historie alternative de l’autoroute de l’information. Ein System, das vor dem Internet wie das Internet war, aber anders und französisch. (Ce n’est pas rien.)

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 19. September 2017

Zu: Julien Mailland ; Kevin Driscoll (2017). Minitel: Welcome to the Internet (Platform Studies). Cambridge ; London: The MIT Press, 2017

Karsten Schuldt

 

Minitel (Médium interactif par numérisation d’information téléphonique) war ein in den 1980ern und 1990ern in Frankreich etablierter interaktiver Dienst, vergleichbar (aber weit massiver verbreitet) mit dem BTX in Deutschland. Auf der Basis von Videotext-Standards, Millionen kostenfrei abgegebener Terminals und einer Struktur, die Interaktionen – vor allem die Auswahl von Optionen und Chats, aber auch Spiele oder Zugriff auf Datenbanken – ermöglichte, versuchte der französische Staat einen eigene Computerindustrie zu fördern, die eine führende Rolle in der Welt einnehmen sollte (was nicht geklappt hat) und machte Frankreich in einer Zeit vor dem Internet zum “vernetztesten” Land der Welt. Und zwar nicht nur in Hochschulen und Industrie, sondern auch im privaten Bereich.

Minitel als Gegenbeispiel zum Internet

Es gibt offenbar eine Tendenz in der Geschichtsschreibung zum Internet, Minitel als gescheitertes Experiment abzutun, welches gerade darunter gelitten hätte, dass es massiv staatlich reguliert war. Minitel wird – so zumindest die Aussage der Autoren des zu besprechenden Buches – vor allem als Beispiel dafür angeführt, dass staatliche Intervention Innovationen unmöglich machen würden und dieses dem (vorgeblichen) Vorgehen in den USA, auf Innovationen von Seiten der Wirtschaft zu setzen, welches viel erfolgreicher wäre, gegenübergestellt.

Mailland und Driscoll – die zusammen auch das Minitel Research Lab an der Indiana University in Bloomington betreiben – unternehmen in ihrem Buch zwei Dinge: Einerseits erzählen sie die Geschichte von Mintel (das in den späten 1970ern geplant, bis 1984 auch in die letzten Ecken Frankreichs ausgerollt war und erst 2012 abgeschaltet wurde), andererseits widersprechen sie den offenbar gängigen Erzählungen über das Entstehen und Funktionieren des Internets. Abgesehen davon, dass auch das Milieu des Silicon valley erst durch staatliche (und militärische) Förderung entstehen konnte, sei das Projekt Minitel gerade doch erfolgreich gewesen, da es zwar die Infrastruktur staatlich organisierte, aber die Nutzung in private Hände gab und das Entstehen von kommerziellen Angeboten explizit beförderte (zum Beispiel mit der Publikation von Forschung zur Mensch-Maschine-Interaktion oder Usability). Der zweite Punkt wird immer wieder sehr auf die US-amerikanischen Diskussionen bezogen, was als Schwäche des Buches zu benennen ist. Dennoch sind die Anmerkungen der Autoren zu alternativen Geschichten und Interpretationen immer wieder auch anregend.

Plug n Play

Die Geschichte von Minitel wird in diesem Buch mehrfach erzählt. Als technische Plattform geht es um Standards, Entscheidungen über Hardware etc. Minitel kam in die französischen Haushalte als (kostenfrei geliefertes) Gerät, welches man Plug-n-Play zwischen Telefon und Telefonbuchse schaltete und dann praktisch sofort nutzen konnte. Diese Geräte waren wenig mehr als Terminals (mit monochromen Bildschirmen und Tastatur), die Infrastruktur im Hintergrund – von der französischen Post betrieben – war umfangreicher. Die Post kontrollierte die Technik und auch den Zugang für Anbieter von Diensten im Minitel-Netz (dem Télétel), gleichzeitig bot sie eine einfache Form der Abrechnung: Bezahlte wurde pro Minute, die jemand das Netz nutzte, wobei es unterschiedliche Tarife für unterschiedliche Dienste gab. Die Kosten standen auf den Telefonrechnungen, die Post leitete den Grossteil des Geldes an die Anbieter weiter und behielt einen Teil. Damit gab es schon von Beginn an eine verlässliche Bezahlstruktur; etwas, so Mailand und Driscoll, dass im Internet immer noch Kopfzerbrechen bereitet.

Un réseau électronique et français

Gleichzeitig wird Minitel als Geschäftsfeld beschrieben. Abgesehen von den Hoffnung der französischen Regierung, eine Computerindustrie zu schaffen, gab es auch die Hoffnung, dass Minitel einen einfachen Zugang zu einen neuen Markt bieten würde. Und dies, so wieder die Autoren, gelang Minitel sehr gut. In seiner Höchstzeit seien mehrere 10.000 Dienste aktiv gewesen, die sich über einen guten Zeitraum finanziell trugen. Gleichzeitig war in diesen Markt die Struktur der französischen Kultur eingeschrieben: Zentralisierung, Copinage, Kontrolle bei staatlichen Einrichtungen (z.B. für einen Zeit die Notwendigkeit, eine Bestätigung des inspecteur général eines Departements zu erhalten, dass ein neu zu gründender Dienst zugelassen sei, um die Server dieses Dienstes an das Télétel anschliessen zu können), Aktivitäten an den Rändern. Dies stellen Mailand und Driscoll dar, vertreten aber auch die Meinung, dass dies nicht per se schlechter wäre, als im heutigen Internet. Sie argumentieren, dass Minitel als Plattform in diesem Zusammenhang eher mit Facebook, Apple oder Youtube zu vergleichen sei. Hier gäbe es zum Beispiel auch Entscheidungen darüber, welche Inhalte gezeigt oder gelöscht werden. Aber anders als bei Minitel, wo diese Entscheidungen von staatlichen Akteuren getroffen wurden, die wiederum unter Beobachtung der Öffentlichkeit stehen und zur Not vor Gericht belangt werden können, sei dies bei heutigen Plattformen, die als Firmen organisiert sind, nicht möglich. Die Autoren insistieren darauf, dass es offenbar unterschiedliche Formen von „Freiheit“ (im Sinne von Freier Rede) und „Zensur“ gibt, die in ihrer Komplexität wahrgenommen werden müssen. Sie sagen es nicht offen, aber es ist offensichtlich, dass sie öffentliche belangbare Institutionen als Gatekeeper bevorzugen.

Obwohl auch die Presse (nach anfänglichen Kampagnen gegen den Minitel) oder Banken (auch wegen der relativ sicheren Zahlungsweisen, die der Minitel zuliess) und viele weitere Firmen Services über Minitel anboten, waren es – wohl wenig überraschend – gerade erotische Dienste, vor allem Chats (messageries rose), die kommerziell erfolgreich waren. Die Autoren gehen in einem ganzen Kapitel auf diese Dienste ein, die über ihre massive Plakatwerbung auch dazu beigetragen hätten, dass sich die Minitel in der französischen Öffentlichkeit etabliert hätte (in einem anderen Kapitel beschreiben sie zum Beispiel Popsongs, Bücher und Filme, die den Minitel als Teil des französischen Alltags in den späten 80ern und frühen 90ern darstellen). Allerdings verwenden sie auch einen Grossteil dieses Kapitels darauf, die Unterschiede zwischen der französischen Gesellschaft (in der Erotik, wenn auch vor allem heteronormative, normaler Bestandteil sei, der – trotz einiger konservativer Stimmen – keine moral panics hervorrufen würde) und der US-amerikanischen Gesellschaft (wo Erotik zwar vom Prinzip der Meinungsfreiheit geschützt, aber viel mehr verpönt sei und halt Gegenstand von moral panics wäre) zu diskutieren. Für die Leserinnen und Leser ausserhalb der USA (vor allem im deutschsprachigen Raum, der sich zwar etwas, aber nicht so sehr von Frankreich unterscheidet) sind diese Abschnitte wenig interessant. Hier merkt man den Fokus des Buches sehr.

Die gleichen Dienste, vorher, französisch, alternativ

Der Minitel war offenbar tatsächlich für 10-15 Jahre so in das französische Leben integriert (und hatte auch noch 2012, als das Netz abgeschaltet wurde, rege Nutzerinnen und Nutzer), dass er einen Einfluss hatte, dem wir heute dem Internet zuschreiben würden. Auch hierzu existiert ein Kapitel, welches anhand von Beispielen aufzeigt, welche vorgeblich für das Internet erfundenen Dienste schon ein Vorbild im Minitel-Netz hatten.

Das Buch ist erfreulich lebendig und kurzweilig geschrieben, dafür, dass es ein ganz technisches Buch hätte werden können.1 Es lebt vom Enthusiasmus der Autoren für ihr Thema und für ihre These, dass eine ganze Reihe der Annahmen darüber, was für das Entstehen von digitalen Diensten gut und richtig wäre, nicht so eindeutig sind, wie sie scheinen, wenn sie nur mit dem Beispiel Internet / Silicon Valley begründet werden. Sie argumentieren nicht unbedingt dafür, den französischen Zentralismus überall einzuführen, aber ihre Sympathien liegen schon bei Ansätzen, die auch Alternativen zur jetzigen Governance des Internet andenken. Zugleich erzählen sie die Geschichte eines doch, im Rahmen, erstaunlich erfolgreichen technischen Systems, dass immerhin für über 30 Jahre – eine Unzeit in Internetjahren – gut funktionierte.2

 

Fussnoten

1 Auch das in der gleichen Reihe Platform Studies erschienene The Future Was Here: The Commodore Amiga von Jimmy Maher (2012) schaffte dies für die Geschichte des Amiga. Wenn das auch für andere Titel der Reihe gilt, ist das nur als Qualität hervorzuheben.

Es gab übrigens sogar Pläne, mit dem Minitel die Grundlage für ein französisch-deutsches Netz neben dem amerikanischen Internet aufzubauen. Deshalb konnte der Minitel nämlich nicht nur é, è, á, à, â oder ç, sondern auch ä, ö, ü, ß ohne Umwege darstellen. Aber die Deutsch Post setzte auf BTX, Österreich auf MUPID. Das hat offenbar nicht sein sollen, aber es zeigt, was eine Alternative gewesen wäre.

Von Molotowcocktails in (französischen) Bibliotheken und dem Leben in den Banlieues

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 15. Mai 2014

Von Karsten Schuldt

Zu: Merklen, Denis (2013) / Pourquoi brûle-t-on des bibliothèques ?. – [Papiers]. – Villeurbanne : Presses de l’enssib, 2013

D’un côtè, la bibliothèque est perçue comme « une chance pour le quartier », comme une forme dàccès à la culture, comme un investissement prestigieux, comme un espace ouvert à tous et apprécié de beaucoup, particulièrement investi par les familles, les enfants, les jeunes filles, les personnes âgées. Mais de l’autre côté, l’attaque de la bibliothèque vient signifier tout l’arbitraire de cette « intervention » de l’État, et d’un autre groupe social, dans « notre espace » du quartier. Les habitants [de quartiers] dèplorent alors les normes qui leur sont imposées par un autre groupe social et le contrôle que ce groupe exerce sur des ressources financières importantes. » (Merklen 2013, 313)

In französischen Vorstädten werden immer wieder, gerade bei grösseren Auseinandersetzungen zwischen der dortigen Bevölkerung und der Polizei, Öffentliche Bibliotheken angegriffen, verwüstet oder gar angezündet. Dies passiert nicht täglich, aber doch öfter, als es im deutschsprachigen Raum bekannt ist. Denis Merklen zählt in seinem hier zu besprechenden Buch zwischen 1996 und 2013 immerhin 70 solcher Vorfälle. Diese Zerstörungen von Bibliotheken werden zumeist mit Unverständnis und Ablehnung kommentiert, vor allem von der Politik und Presse. Aber diese Unverständnis klärt nicht darüber auf, wieso sie so oft vorkommen.

In seiner Studie Pourquoi brûle-t-on des bibliothèques ? (Warum die Bibliotheken abfackeln?) unternimmt Merklen auf mehr als 300 Seiten den Versuch, die Motivationen hinter diesen Angriffezu beschreiben. Dabei ist der Autor kein Bibliothekar, sondern ein Soziologe, welcher das Buch auf einer Studie aufbaut, die er und seine Kolleginnen und Kollegen von 2006 bis 2011, mit Nachrecherchen in 2012, in Plain Commune – einer Agglomerationsstruktur, welche mehrere Gemeinden bei Paris umfasst und rund 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern in den Banlieues genannten Stadtteilen beherbergt – durchgeführt haben. In diesem Untersuchungsgebiet befinden sich 23 Öffentliche Bibliotheken, mehrere davon wurden in der Vergangenheit bei Auseinandersetzungen angegriffen. Die Methode dieser lang angelegten Studie lässt sich, mit sichtbaren Anlehnungen an Pierre Bourdieu, als „dichte Beschreibung“ begreifen. Merklen versucht, die Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu verstehen, sowohl aus der Sicht der Bibliothekarinnen und Bibliothekare als auch aus der Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner der Banlieues, gleichzeitig aus der Struktur der französischen Gesellschaft und der Diskurse in dieser Gesellschaft als auch aus kulturellen Ansprüchen. Regelmässig verweist er dabei auf Südamerika – in dem er mehrere Jahre lang geforscht hat – als Kontrastfolie, um die Entscheidungen, die in den untersuchten Bibliotheken getroffen werden, als Entscheidungen und eben nicht als unabänderliche Situationen zu verstehen. Zudem ist er relativ unbeteiligt – weder verteidigt er die Bibliotheken, noch verurteilt er sie. Mit volltuender soziologischer Offenheit beschreibt er als Aussenstehender Haltungen unterschiedlicher Seitegerade als Haltungen und Diskurse, ohne sich mit einer gemein zu machen. Das heisst auch, dass bestimmte Diskurse, die Bibliotheken sich untereinander beständig gegenseitig erzählen verständlich werden als Erzählungen, die eine Situation informieren – wobei aber gleichzeitig klar wird, wie sehr diese Erzählungen von anderer Seite nicht geteilt werden müssen.

Die Bibliothek als Elite

Das Bild, welches Merklen von der Situation in den Banlieues zeichnet, ist nicht vorteilhaft, schon gar nicht für die Bibliotheken. Dabei verweist er immer wieder darauf, dass (a) die Bibliothekarinnen und Bibliothekaren ihre Arbeit als sinnvoll, kulturell bereichernd und Chancen-schaffend verstehen – sich also als die Guten sehen, die Gutes bringen – und (b) gleichzeitig die Bibliotheken bemüht sind, sich zu moderne Einrichtungen zu entwickeln, inklusive neuer Medien, ein Zugehen auf die Jugend und die Kulturen in den Banlieues sowie des Akzeptierens der sich wandelnden Rolle der Öffentlichen Bibliotheken. Das allerdings heisst nicht, dass dies auch von der Bevölkerung der Banlieues so wahrgenommen wird.

Angriffe auf Bibliotheken sind Angriffe, die sich nicht unbedingt auf die Bibliothek als Einrichtung beziehen. Die Bibliothek wird bei Auseinandersetzungen oft als Teil des französischen Staates beziehungsweise des französischen Kulturanspruches verstanden: Polizei, Schule, Ämter, Bibliothek werden dann als Teil eines Ganzes begriffen, welche für die Situation in den Banlieues verantwortlich sind und gleichzeitig die Kulturen dieser Vorstädte angreift. Sicherlich: Die Bibliotheken sehen dies nicht so. Sie verstehen sich als freiwillig aufzusuchende Kultureinrichtungen, die vollständig freie Angebote machen. Teilweise – so Interviews mit dem Personal von Bibliotheken, die Merklen anführt – verstehen sie sich als explizit als „antiscolaire“ (anti-schulisch). Vor allem sehen sie keine Verbindung zur Polizei oder den Ämtern und deren struktureller Gewalt. Merklen beschreibt sehr nachvollziehbar, wie Bibliotheken sich selber als Orte zu konstituieren versuchen, welche gänzlich ausserhalb der sozialen Auseinandersetzungen stehen (und bei dieser Haltung von Politik und Kultur unterstützt werden).

Comme nous l’avons vu, les bibliothècaires répètent à l’envi qu’ils ne sont pas de enseignants. Apparemment, tout les distingues. Tandis que maîtres er professeurs font de la lecture une obligation et un programme, eux sont là pour la « lecture plaisir ». Pas d’utilitarisme ni d’instrumentalisation, pas de calcul, pas de contrainte. De plaisir. Voilà une fiction par laquelle ils cherchent à se maintenir dans un espace protégé. Car contrairement aux institutions scolaires, ils seraient « innocents » du point de vue des conflits soxiaux, des dynamiques d’exclusion er des formes de domination auxquelles participerainent celles-ci. Ils ne demandent donc qua être maintenus à l’écart des conflits. Et peu importe la caractère fallacieux de cette représentation. (Merklen 2013, 130f.)

Dieser Anspruch allerdings ist, wie Merklen zeigt, nicht zu halten. Die Bibliotheken werden sowohl von Seiten der Bevölkerung in den Banlieues als auch von der Politik als Einrichtungen gesehen, welche die Werte der französischen Republik qua Kultur repräsentieren, insbesondere im aktuellen Prozess des Stadtumbaus („renovation urbaine“), welcher in den untersuchten Gebieten forciert wird. Ein Teil der Bevölkerung und die Bibliotheken sowie die Politik begreift die Finanzierung und den Aufbau dieser Bibliotheken als Angebot an die Bewohnerinnen und Bewohner, Teil der französischen Gesellschaft zu werden. Aber ein anderer Teil der Bevölkerung begreift die Bibliotheken allerdings als Eindringlinge in „ihr Gebiet“, quasi als weicher Arm von Polizei und Ämtern. In Situationen, in denen die Werte der französischen Republik angezweifelt oder vielmehr – wie es in den Auseinandersetzungen in den Banlieues normal ist – als Scheinheiligkeit begriffen werden, hinter denen sich eine sozial ungerechte und rassistische Gesellschaft versteckt, die im Besten Fall alle Bewohnerinnen und Bewohner zur Mittelstandsbevölkerung erziehen will, wird genau diese Position abgelehnt. Merklen verweist in einem Kapitel, in dem er sich mit der literarischen Produktion „um die Bibliotheken drumherum“ (welche diese nicht wahrnehmen würden, sondern mit dem Anspruch, selber Kultur anzubieten praktisch zur Unkultur oder Nicht-Kultur negieren) wie dem französischen Rap oder dem Verlan (der französischen Jugendsprache, welche durch ständige Vokal- und Silbenumstellungen und einer grossen sprachlichen Flexibilität geprägt ist) beschäftigt, explizit auf den Rap „Lettre à la République“ von Kery James (Merklen 2013, S. 175ff.), welcher mit den Zeilen beginnt: „Á tous ces racistes à la tolérance hypocrite / Qui out bâti leur nation sur le sang“ („an all die scheinheilig Toleranz rufenden Rassisten / die ihre Nation auf Blut erbaut haben“).

Die Bibliotheken würden sich gerne als Einrichtungen ausserhalb dieser Auseinandersetzungen sehen, die nur positive Angebote machen; dabei sind sie Teil der Auseinandersetzungen, zumal Merklen mehrfach in Frage stellt, ob die „Kultur“ und die Angebote, welche Bibliotheken mit gutem Gewissen machen, tatsächlich wertfrei sind. Vielmehr zeigt er, dass eine als universell verstandene französische Kultur vertreten wird, bei der gleichzeitig das Versprechen gegeben wird, dass, wer sich ihr anpasst, auch einen Aufstieg in die französische Gesellschaft machen wird. Dies begreifen Bibliotheken – aber auch Schulen – als die Chance, die sie der Bevölkerung bieten. Auch dies ist eine Sichtweise, die in den Banlieues nicht unbedingt geteilt wird. Werden Konflikte zum Beispiel als rassistisch begriffen oder wird klar, dass eine hohen Universitätsabschluss auch nicht den versprochenen Aufstieg garantiert, sondern der Wohnort sich trotzdem negativ auf die Zugangschancen zum Arbeitsmarkt auswirkt, wird auch das Versprechen der französischen Kultur unglaubwürdig. Zumal, wie Merklen betont, diese Kultur sich zwar wandelt und zum Beispiel die politische Literatur und Musik der 1960er und 1970er integriert hat, aber eben nicht von den heutigen Jugendlichen beeinflusst werden kann.

Grundsätzlich zeichnet Merklen das Bild von zutiefst verunsicherten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, welche die Umgebung ihrer Bibliotheken nicht verstehen – sich aber von dieser Umgebung auch massiv unterscheiden, weil zum Beispiel fast niemand von ihnen je in Banlieues gewohnt hat oder weil sie alle feste Stellen haben, im Gegensatz zum Grossteil der Bevölkerung, die keine oder nur prekäre Stellen haben oder auch, weil sich für sie der Aufstieg durch Bildung oft bewahrheitet hat, während dies bei Bewohnerinnen und Bewohner der Banlieues nicht unbedingt der Fall ist – und auch nicht von der Umgebung angenommen werden. So haben die Bibliotheken in den Banlieues durchschnittlich viel geringere Nutzungszahlen (rund 10% der Bevölkerung als aktive Nutzerinnen und Nutzer versus rund 20% im nationalen Durchschnitt) und erreichen zu grossen Teilen Kinder bis 14 Jahren, aber nicht darüber hinaus.

Konflikt, nicht Gewalt

Angriffe auf Bibliotheken sind aber nicht nur Angriffe auf den französischen Staat, sondern auch auf Bibliotheken im Besonderen. „C’est le soit disant frimeur qui vous envoie ce message si gentiment“ („Es sind die Angeber, denen wir mit Freuden diese Nachricht bringen“) steht mit Schreibmaschine geschrieben auf einem Papier, dass um einen Stein gewickelt wurde, welcher gegen die Ausstellung einer der untersuchten Bibliotheken geschleudert wurde und der im Buch abgebildet ist. Die Distanz ist sichtbar: Die Bibliothek als Angeber, als Einrichtung, die sich etwas besseres dünkt und die nicht als Gleiche akzeptiert wird.

Gleichzeitig sehen die Bibliotheken ihre Umgebung nicht positiv. Vielmehr nehmen sie diese wahr als von Armut und Perspektivlosigkeit bestimmt, als überwältigend viel und konzentriert auf wenige Orte (auch, weil die Bibliothekarinnen und Bibliothekare fast alle in anderen Städten und Umgebungen wohnen und aufgewachsen sind, die keine so hohe Dichte aufweisen), als Ansammlung unterschiedlicher Ethnien (und nicht unbedingt französischer Individuen mit unterschiedlicher Herkunft) und von Gewalt geprägt. Das ist nicht unbedingt falsch, aber (a) haben die Bibliotheken, wie schon erwähnt, den Eindruck, von dieser Situation nur betroffen, aber nicht an ihr beteiligt zu sein (was ein Teil der Bevölkerung anders sieht) und (b) tendieren sie dazu, diese Situation nicht verändern zu wollen. Merklen kommt mehrfach auf einen Vorfall zurück, in dem ein junger Mann „Salaam alaikum“ grüssend eine Bibliothek betritt, was von dem anwesenden Bibliothekar als Provokation verstanden wird. Ob es eine solche ist, ist unklar, allerdings macht Merklen mit der mehrfachen Diskussion klar, dass die Bibliothek und die Beziehung zu ihrer Umgebung unterschiedlichen Deutungsrastern und Erfahrungen unterliegen: Ist es zum Beispiel eine rassistische oder kulturalistische Interpretation des Bibliothekars? Ist es wirklich eine Provokation? Ist es ein normaler Gruss? Ist es ein Angriff auf den säkularen französischen Staat? Ist es unbewusst oder ist es gewollt gesagt worden?

Grundsätzlich gelangt Merklen dazu, die Situation zwischen Bibliothek und Banlieue als Konflikt zu beschreiben. Der Augenmerk sollte sich nicht auf den Akt der Zerstörung legen, sondern dieser Akt sollte als Teil einer tiefergehenden Auseinandersetzung verstanden werden. Diese Auseinandersetzung ist komplex, es gibt keine einfach richtigen, guten oder auch nur konsistenten Positionen. So ist zum Beispiel auch unter der Bevölkerung in den Banlieues nicht klar, ob die Bibliothek eine Chance und ein Angebot ist oder ein Eindringling. Klar ist allerdings am Ende der Studie, dass die Bibliotheken sich nicht als neutrale Einrichtungen begreifen können. Sie vertreten eine Kultur – zumal mit der Betonung des Buches als Kulturgegenstand, die zumindest vor den aktuellen Umbauten in den untersuchten Bibliotheken vorherrschten – und diese Kultur ist weder so offen, wie sie von Ihren Vertreterinnen und Vertretern verstanden wird, noch ist sie so universell, wie dies von der französischen Politik verstanden wird.

Ein wichtiger Hinweis, den Merklen anbringt, ist allerdings, dass es bei diesem Konflikt nicht per se um die Bibliotheken allein geht. Auch andere Einrichtungen haben kaum Kontakt zur Bevölkerung in den Banlieues. So sind die untersuchten Gebiete politisch von der PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, dominiert, bei der man erwarten würde, dass sie auf die Interessen der Personen in den Banlieues, die von Armut betroffen sind, genauso eingeht, wie sie darauf achten sollte, das die institutionellen Strukturen nicht rassistisch wirken. Aber auch dies ist nicht so einfach. Dass es immerhin 23 Bibliothek in diesem Gebiet gibt, ist auch der PCF zu verdanken, die solche Kultureinrichtungen als notwendig ansieht. Nur ist dies offenbar nicht unbedingt die Meinung der Bevölkerung. Allerdings geht auch nur eine sehr geringe Zahl dieser Bewohnerinnen und Bewohner, weit unter 50%, überhaupt wählen. Auch andere politische Bewegungen haben nur geringen Einfluss auf die Bevölkerung. Dies hat, so zumindest Merklen, auch damit zu tun, dass die Politik dieser Bewegungen – egal ob PCF oder organisierten Katholizismus – in Konflikten und Politikformen verfangen ist, die von dieser Bevölkerung so nicht gesehen oder akzeptiert werden. Praktisch alle Beziehungen zwischen offizieller Kultur und Banlieues sind konfliktgeladen, Bibliotheken sind da nur ein Teil des Konfliktes. Gewalt wird, wenn man Merklen in seiner Analyse folgt, in der einen oder anderen Form von allen Seiten angewandt, egal ob mit Steinen und Molotowcocktails, mit Polizeiaufgebot und Vorschriften oder strukturell. Das ist nicht mit besserem Bibliotheksmarketing oder anderen Strategien, die im Bibliothekswesen gerne besprochen werden, sondern nur mit einer Veränderung von Bibliothek, Gesellschaft und Banlieues zu erreichen, die auf einem Anerkennen der Situation – und nicht unbedingt einem reinen Skandalisieren von Gewaltausbrüchen allein – basieren muss.

Für mehr französisch in den deutschsprachigen Bibliotheken

Die Studie von Denis Merklen ist anders, als alles, was man in der deutsch- oder englischsprachigen Literatur zu Bibliotheken liesst. Sie ist eine Langzeitstudie, die mit soziologischem Instrumentarium „von aussen“ an die Bibliotheken herangeht und Dinge, die sich Bibliotheken immer wieder gegenseitig erzählen – Bibliotheken sind anders als Schulen, Bibliotheken sind offen, Bibliotheken sind soziale Zentren – einmal im gesellschaftlichen Zusammenhang als uneingelöste Ansprüche thematisiert. Das Buch ist unbedingt zu empfehlen. Es zeigt unter anderem, wie gefährlich es ist, sich beim Erkunden der Wirkung von Bibliotheken auf einfache Methoden wie Umfragen, Expertinnen- und Experteninterviews oder Social Audits zu verlassen; da diese fast immer nur ein Seite der Situation zeigen (ohne das diese als Konflikt begriffen werden kann).

Vor einigen Monaten besprach ich schon ein ebenso soziologisches Werk aus Frankreich zu Personen ohne festen Wohnsitz in der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris sehr positiv (Paugam, Serge ; Giorgetti, Camila (2013) / Des pauvres à la bibliothèque : Enquête au Centre Pompidou. – Le lien social. – Paris : Presses Universitaires de France, 2013, Besprechung hier), des Weiteren empfehle ich immer wieder gerne „Du lecteur à l’usager“ (Roselli, Mariangela ; Perrenoud, Marc (2010) / Du lecteur à l’usager : ethnographie d’une bibliothèque universitaire. Socio-logiques. Toulouse : Presses universitaires du Mirail, 2010) über die Nutzerinnen und Nutzer in der Universitätsbibliothek Toulouse als eine der tiefgreifendsten Untersuchungen über die Nutzung von Bibliotheken. Auch der vor kurzem aus dem Französischen übersetzte Text Die Bibliothek, eine Frauenwelt (Roselli, Mariangela (2013) / Die Bibliothek, eine Frauenwelt. Analyse und Folgen der Segmentierung des jungen Publikums in den Bibliotheken. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 37 (2013) 3, 322-330) scheint mir herausragend im Sachen Erkenntnis über Bibliotheken und deren gesellschaftliche Wirkung zu sein. Grundweg wird für mich immer mehr sichtbar, dass die deutschsprachigen Bibliothekswesen mehr über die gesellschaftlichen Wirkungen von Bibliotheken lernen können, wenn sie diese Literatur sowie die darin enthaltenen Forschungsfragen, -methoden und -haltung wahrnehmen. Insoweit ist diese Besprechung auch ein Aufruf, mehr Französisch zu lesen.

Statt Standards, Handlungshilfen für Bibliotheken

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 11. April 2012

Zu: Ministère de la culture et de la Communication, Direction générale des médias et des industries culturelles, Service du livre et de la lecture ; Collignon, Laure (ed.) ; Gravier, Colette (ed.) / Concevoir et construire une bibliothèque : Du projet à la réalisation. Paris : Éditions du Moniteur, 2011. 75 €.

Von Karsten Schuldt

In Deutschland, aber auch der Schweiz und zuletzt in Österreich, versuchten und versuchen bibliothekarische Verbände, mal alleine, mal in Kooperation mit anderen Organisationen Masterpläne für ein nationales Bibliothekswesens aufzustellen. Diese Masterpläne folgten zwar immer wieder neuen, zeitgenössischen Vorstellungen und Sprachmoden, waren mal mit mehr, mal mit weniger Zahlenmaterial bestückt, mal mehr, mal weniger in PR-Sprache gehalten. Grundsätzlich sollten sie nicht nur einen Rahmen für das Bibliothekswesen bieten, sondern auch die Politik und Gesellschaft davon überzeugen, die Bibliotheken sich in die jeweils gewünschte Richtung entwickeln zu lassen und diese Entwicklung zu finanzieren. Fraglos immer mit dem Wunsch, dass jeweils bestdenkbare Bibliothekswesen zu schaffen. Gleichzeitig aber scheiterten diese Masterpläne – Bibliotheksplan ’73, Bibliotheken ’93, Bibliotheksplan 2000, Bibliothek 2007, Die Zukunft gestalten: Chance Bibliothek et cetera – an diesem Anspruch. Sie waren Thema der bibliothekarischen Ausbildung, aber (bislang zumindest, gerade in Österreich wurde vom Parlament im letzten Jahr bekanntlich anderes beschlossen) kaum der Politik. (more…)

It’s the frei<tag> Countdown. Noch 25 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 16. Mai 2011

Das populäre Märchen, dass Migration schlecht für die Gesellschaft wäre, wird bekanntlich nicht erst in dieser Saison von ehemaligen Finanzsenatoren erzählt, denen das Rechnen und die Recherche offenbar schwer fällt. Vielmehr ist die deutsche Geschichte voll von Menschen und Gruppen, die dieses Ressentiment wieder und wieder erzählen. (Und nicht nur die deutsche.) Aber auch nicht immer.
Es ist einige Jahre her, das 1685 vom damaligen Kurfürst in Brandenburg ein Edikt erlassen wurde, welches – für die christlichen Gläubigen zumindest – die Glaubensfreiheit erließ. Dieses Arrangement animierte einen regelrechten Sturm auf die Stadt Berlin von Réfugiés, welcher einen Sarrazin zum Schreiben wutentbrannter Essays veranlasst hätte. 20.000 waren es ungefähr, eine Zahl, vor der italienische Inseln heute in die Knie gehen. Sie wurden aufgenommen, begrüßt gar, da das Debakel des 30-jährigen Krieges nicht überwunden war. Wie heute einige Landstrich östlicher Bundesländer waren damals in Brandenburg Gebiete weithin entvölkert, an Aufbau nicht zu denken. Aus dieser Misere befreite sich Brandenburg durch die Ansiedlung größtenteils armer Flüchtlinge. Handwerkersfamilien und Kleinhändler, die in ihrer Heimat auch der Kleinkriminalität verdächtig waren, wurden bevorzugt.
Die Bevölkerungsgruppe grenzte sich massiv ab, sprach ihre eigene Sprache, behielt ihre eigene Form des Christentums bei. Vielmehr verbrüderte sie sich mit einer ähnlichen Migrationsgruppe aus dem böhmischen, als das sie sich auf die deutsch- und polnisch-sprachige Bevölkerung ihrer Umgebung bezog. Sie bildete eigene Wohnquartiere, die auch heute noch im Berliner Stadtbild sichtbar sind, wenn man die Zeichen zu deuten weiß. Sie heirateten untereinander, bauten eigene Kultstädten und Schulen Ein Fünftel der Bevölkerung von Berlin und umliegender Städte wurde von diesen Réfugiés gebildet. Sie bildeten eine eigene Gerichtsbarkeit aus. Die Mitte Berlins war ein Neukölln-Kreuzberg mit französischer Sprache; ein Alptraum für jeden Deutsch-Nationalen und NPDler, hätte sie damals schon gegeben. Im Großen und Ganzen: Sie passten sich nicht an. Überhaupt nicht.
Es war ein Horror für jede Integrationsthese aus heutiger Zeit: Diese Migrantinnen und Migranten verweigerten eine die Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, mehr noch, sie legten ein Desinteresse der deutschen Sprache gegenüber an den Tag, forderten sogar implizit eine Zweisprachigkeit der brandenburgischen Gesellschaft ein. Lieber bauten sie ihre Cafés und Avenues nach, als deutsche Wirtshäuser. Lieber brachten sie ihre eigene Kultur des Arbeitens mit und weigerten sich, den geforderten Anpassungsmaßnahmen zum Eintritt in die Zünfte Genüge zu tun. Sie unterwarfen sich nicht. Kurzum: die brandenburgische Gesellschaft stand vor einer Aufgabe, die heute mit Sprachförderung, Forderungen nach Deutschtests, Behauptungen darüber, dass diese Réfugiés mit ihrer gesamten Bagage einen unhinnehmbarer Eklat darstellen würden, beantwortet würden. Die Feuilletons würden sich überschlagen, der Einsatz der Gendarmerie gefordert.
Was ist daraus eigentlich geworden? Eine Migrationsgruppe, die einen eigenen Glauben, eine eigene Sprache mitbringt, sich den pädagogischen Zuwendungen und Anforderungen der Gesellschaft widersetzt, eigene Quartiers baut, ein eigenes Leben lebt, sich explizit abgrenzt? Nur noch Omelette und Bulette? Interessanterweise ist sie tatsächlich verschwunden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, besser in die deutsche Gesellschaft hinein. Wie uns beispielsweise die ständige Ausstellung „…ein jeder nach seiner Façon?“ im Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg (dessen Besuch hiermit für alle Besucherinnen und Besucher Berlins empfohlen sei) belehrte, wäre Berlin nicht die Metropole geworden, die es heute ist, hätte es diese Migrationsgruppe der Hugenotten nicht gegeben. Gleichwohl, so lehrte uns die gleiche Ausstellung, wechselt sich die Bevölkerung in Berlins Mitte-Bezirken einmal pro Generation grundsätzlich aus. Wo früher das Hugenottenviertel war, finden sich heute touristische und kulturelle Zentren, die Akademie der Wissenschaften, Stadthäuser, das Auswärtige Amt. Wo heute andere Migrationsgruppen in Berlin leben, wer weiß, was dort in zweihundert Jahren sein wird?
Die interessante Frage dieser Geschichte ist aber: Braucht es eigentlich des ganzen Integrationszwangs, der heute auch von gut meinenden Einrichtungen auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt wird? Ist das Thema überhaupt Integration (und nicht vielleicht eher Armut)? Cem Özdemir hat einmal auf dem Höhepunkt einer der vergangenen „Integrationsdebatten“ angemerkt, dass es ganz normal ist, wenn sich Gruppen von Migrantinnen und Migranten in den ersten Generationen auf sich konzentrieren, zumeist in den gleichen Quartiers wohnen, ihre alte Sprache pflegen. Damit hatte er Recht. Er verwies auf die Deutschen in den USA im 19. und 20. Jahrhundert. Aber wir haben das Beispiel in Berlin auch vor der Nase. Sogar in die Redaktion der LIBREAS hat sich ein Nachfahre dieser störrischen und auf ihre Sonderrechte beharrenden Migrationsgruppe eingeschlichen, ohne das es noch auffällt (nicht mal am Nachnamen). Vielleicht muss man gar nicht so etepetete tun und genieren, wenn es um die Frage geht, wie das alles mal wird mit der Migration. Lan!

Mit unverschämter Selbstverständlichkeit baute die Migrationsgruppe mehrere Kultstätten für ihre Religionsausübung, wie dieses Gebäude, dass immer noch Touristinnen und Touristen tagtäglich dazu zwingt, es anzuschauen. Und wofür? Nur, weil sie Berlin groß gemacht und in die Brandenburgische Provinz Kultur gebracht haben, soll man das erlauben? Hoffentlich kriegt das der Sarrazin nicht mit, sonst startet er eine Kampagne, um den französischen Dom zu schließen.