It’s the frei<tag> 2013 Countdown (24): Blick zurück nach vorn. 1993 als Schlüsseljahr der Digitalkultur.
von Ben Kaden
„We were on tour and this guy came backstage and showed us the Internet. We were very impressed.” – Mike D., ca. 1993
Im April 1992 erschien das Album Check your head der Beastie Boys. Es dauerte wie immer eine Weile, bis jemand aus unserer kleinstädtischen Mitte in die Großstadt fuhr, die CD besorgte und wir anderen uns, wie üblich, Kassettenkopien für den Walkman erstellten. Wie es sich für Berufsmusiker gehört, tourten die Jungs aus New York im Anschluss. Aber natürlich nicht in unserer Nähe. Uns blieb nur, ausdauernd MTV in der Hoffnung zu schauen, dass sich zwischen den 4 Non Blondes, Soul Asylum und Ugly Kid Joe eines ihrer Videos zeigte. Irgendwo auf ihrer Bühnenrundreise begegneten die Beastie Boys anscheinend einem Nerd der ersten Stunden und sahen die Zukunft. Deshalb kann nun, um die 20 Jahre später, das New York Magazine Mike D.s Erinnerung in einer für uns Zeitzeugen erstaunlichen Collage unter der Überschrift Did 1993 Change Everything? abdrucken.
Das Jahr war tatsächlich eigenartig irgendwo zwischen Menace II Society, Björks Debut, dem Friedensnobelpreis für Nelson Mandela und Willem de Klerk (und damit dem Ende der Apartheid), Bill Clinton, der Entfesselung des Neoliberalismus (beispielsweise privatisierten die kurzsichtigen Briten ihre Eisenbahn), dem Vertrag von Maastricht, der Auflösung von a-ha und dem Tod von Kobo Abe, dem von Hans Jonas und dem von Pablo Escobar eingehängt. Natürlich bekommt man diese Fakten auch ohne Internet noch zusammen und weiß gar nicht, ob man sich darüber freuen soll, dass man so live dabei war, zu Siamese Dream mitträumte, zu Nuthin‘ but a „ G“ Thing mitbouncte und nicht wusste, dass man ein Jahr darauf von einer Downward Spiral noch ganz anders mitgerissen werden würde. (Und wie melancholisch stimmt es einen, wenn man beispielsweise realisiert, dass Isolda Dychauk, die das Gretchen in Alexandr Sokurovs Faust spielte, in diesem berühmten Jahr geboren wurde. Und wie erschütternd es ist, zu sehen, dass Justin Biebers Geburt damals sogar erst noch bevorstand.)
Es war das Jahr, in dem America Online (für Macintosh und Windows) kam, damit Amerika online geht. Allerdings wusste man in der ostdeutschen Provinz 1993 und noch ein wenig länger nur vom Hörensagen, was dieses Internet eigentlich sei. Dass jedoch alles, was in den USA geschieht, erst mit einem 10-Jährigen Nachhall Deutschland erreicht, stimmte selbstverständlich überhaupt nicht mehr. (Falls es überhaupt je zutreffend war.) Irgendwann hatte schließlich jemand ein Modem und eine Linkliste der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, die es ermöglichte, zielsicher von ganz unten in die schon früh vorhandene Vielfalt der Netzkultur einzusteigen.
Netscape also und nicht Mosaic hieß das erste (Keller)Fenster zur virtuellen (Unter)Welt. Abgerechnet wurde die Einwahl zum Minutentarif und daher assoziierte niemand das Web mit dem Schlag- und Dreschwort der Kostenloskultur. Es war eher ein Rummelplatzerlebnis, bei dem man Eintritt zahlt, um danach durch ein Verrücktes Haus zu stolpern.
Das digitale Himmelreich zeigte sich allerdings auch bald und der erste Zugriff auf Amazon.com wirkte tatsächlich als Zäsur. Denn die dort abfragbare Vielfalt an (potentiell und nur in Amerika) verfügbaren Büchern über alle denkbaren und unvorstellbaren Themen erschien uns jedenfalls schlicht als Wunder. Die uns bekannten Versandhäuser führten biedere Namen, wie sie auf Klingelschildern in der Nachbarschaft hätten stehen können und zeigten in ihren Katalogen eine Ausstattungspalette für kleinbürgerliche Vorstadtexistenzen, die von Filmen auf VHS-Videokassetten (eine Doppelseite) über Fahrräder und Heimtrainer bis zu Massagestäben reichte, die man sich anscheinend an die Wange oder Schulter halten musste. Aber unserer Sehnsucht nach Welt boten diese aufgeräumten und hausbackenen Konsumquellen keinen adäquaten Horizont. Die verästelten Flussläufe der Nischenangebote des amerikanischen Buchmarkts dagegen erlebten wir in gewisser Weise als eine mittelschwere Erweckung und neue Welt.
Amazon war zu diesem Zeitpunkt, also etwa 1995, fast noch eine Garagenunternehmung, ein Broker, der eine Datenbank zwischen Buchkunden und externen Auslieferern schaltete. Im Juni 1996 verkaufte Amazon.com dann 5000 Bücher – am Tag. (vgl. dazu auch Lyster, 2012) Vermutlich ahnte Jeff Bezos spätestens zu diesem Zeitpunkt ziemlich sicher, dass er auf das richtige Pferd gesetzt hatte und es nur auf den langen Atem (und auf das Long Tail) ankam. Ganz ohne Wagemut ging es sicher nicht, denn wohin und wie das zarte Pflänzchen WWW tatsächlich wuchern sollte, war zu diesem Zeitpunkt nicht vollends absehbar. Allerdings konnte man den 20sten Jahrestag einiger Basisinnovationen für die neue Mediennutzungskultur verbuchen: Der Strichcode nach dem UPC-Standard wurde in den USA 1973 eingeführt, machte Gegenstände maschinenidentifizierbar und somit elektronisch gestützt prozessierbar , das ARPANET überwand dank Satellitentechnik im selben Jahr den Atlantik und wurde entsprechend global und mit den Videospielen wurde eine erste Praxis der direkten Bildschirminteraktion populär, ca. 13 pralle Jahre bevor Elizabeth Grant aka Lana del Rey geboren wurde, die uns 2011 zeigte, wie man mit der Referenz auf Video Games furchtbare Nostalgiegefühle auslösen kann. Außerdem war ab 1993 die Entfaltung des E-Commerce unter der neuen Regierung Clinton/Gore in den USA mehr als gewünscht.
Dass das Web ziemlich schnell den Nimbus einer hippen Zukunftssache erhielt, ist jedoch einer Printpublikation zu verdanken, die am 02. Januar 1993 on-kiosk ging. Die Metapher „Rolling Stone of Technology“ bedeutete für Wired einen Auftakt mit Ritterschlag, denn in diesen Jahren stand das Rolling Stone Magazine auf Papier für das, was MTV auf dem Fernsehschirm galt: Das Zentralorgan der Populärkultur. Noch hipper ging es nur im Untergrund und da es noch 14 Jahren bis zur Erfindung von Issuu und Tumblr dauern sollte, fehlte den Zines selbst bei liebevollster Gestaltung die Politur, die als Brücke zu den Massen taugte. Mit Wired wurde nicht nur das Web cool sondern zugleich ein Lebensstil, der auf Digitaltechnologie und die darüber vermittelte Kommunikation (bzw. Selbstentfaltung) setzte. (Grob zwanzig Jahre zuvor (in den frühen Jahren des Barcodes) gab es übrigens mindestens drei Maßstäbe setzende Kabelagen: den Bird on a Wire (Leonhard Cohen), den Man on Wire (Philippe Petit) und natürlich die World on a Wire (von Rainer Werner Fassbinder), wobei nur der dritte Film wirklich ins Wired-Schema passt.)

Die Suche nach einer unbedingt vorhanden geglaubten Wired-Ausgabe im privaten Zeitschriftenarchiv wirbelte zwar Staub auf, erwies sich insgesamt leider als erfolglos. (Alternativ fand sich zwar die generell hochinteressante Ausgabe des Playboy No. October 1969, die mit Jean Bell die erste dunkelhäutige Frau als Centerfold dieser Zeitschrift präsentiert, aber auch ansonsten wenig bis gar nichts mit Bezug zur elektronischen Medienkultur enthält – Anzeigen für zeitgenössische Unterhaltungselektronik wie den 8-Track-Stereo-Track-Recorder Panasonic Symphony 8 – „This is our answer to the scratchy phonograph record.“ – ausgenommen, wobei im Ergebnis die kratzige Schallplatte auch diese hochgespulte Ansage gelassen überpringen konnte). Daher wird die frei<tag>13-Karte hier anders inszeniert gezeigt. Nämlich vor einem soliden, goldbetupften Stückchen Pâtisserie-Kunst im nicht mehr so ganz angesagten Prenzlauer Berg. Man muss ja auch nicht immer mit dem Zeitgeist gehen. Und wie beruhigend ist doch die Undigitalisierbarkeit einer Canache.
Wer nun heute in die erste Ausgabe von Wired vermutlich eher hineinklickt als blättert, findet einen hochinteressanten Text mit dem Titel Libraries Without Walls for Books Without Pages: Electronic Libraries and the Information Economy vom für Europa zuständigen Wired-Redakteur John Browning. Aus 20 Jahren Distanz haben wir gut reden, könnte man meinen. Aber eigentlich haben wir nicht. Denn erstaunlicherweise sind sehr viele der damals formulierten Aussagen zur elektronisch und noch nicht digital genannten transformierten Bibliothek verblüffend aktuell:
Das Einstiegsthema des Artikels waren Digitalisierung und E-Books:
„Why not, the logic goes, cut out unnecessary page-turning and work directly with the electronic version of the document?”
konnte man lesen und außerdem erfahren, dass die BnF in einem Digitalisierungsprojekt (“perhaps the most ambitious”) einen Kanon von 100.000 Büchern binarisieren wollte.
E-Zeitschriften allerdings waren noch nicht unbedingt Online – sondern mehr Print-on-Demand-Journals:
„Instead of receiving a printed journal from publishers, for example, it [the British Library] now receives a CD-ROM containing digitized images of the articles from which it prints out a new hard copy each time one is requested.”
Dagegen wurde die Konkurrenz durch Konvergenz zu diesem Zeitpunkt absehbar:
„If someday in the future anybody can get an electronic copy of any book from a library free of charge, why should anyone ever set foot in a bookstore again? But if the books on a library’s electronic shelves are not free, what is left of the distinction between library, printer and bookstore – and what is left of the library’s traditional raison d’etre: namely, making information available to those who cannot afford to buy it?”
Eine schwierige Sachlage, die bis heute unter den Sigeln § 52a und § 52b auch die deutsche Gerichtsbarkeit in urheberrechtliche Auslegungsbredouillen bringt.
Wobei sich der Autor zu diesem Zeitpunkt die Elektronischen Leseplätze weitaus progressiver vorstellte, als sie das deutsche Urheberrechtsgesetz derzeit offensichtlich ermöglicht:
„The workstations will provide a network link to the card catalogs, note- taking and bibliography software, and, most ambitious, a sort of electronic notebook customized for work in electronic libraries. The workstations are still in the early prototype stage, but the plan is to allow a researcher to scan pages of text directly into a personal database instead of photocopying them for hard files. Scanned text can then be annotated, indexed, and searched by a variety of means.”
Indes füllen mittlerweile Dienste wie Scribd (Selbstbeschreibung: „a digital documents library“) die Lücke, die die Bibliotheken oft lassen müssen. Dennoch (bzw. deshalb) bleibt zeitkonstant die Aussage aktuell:
„One of the more vexing questions concerns copyright.”
John Browning wusste ebenfalls bereits von der Zeitschriftenkrise zu berichten:
„Problem is, libraries can no longer afford to have all the books and journals they feel they should have on their shelves. Over the past few decades, the number and cost of academic journals has skyrocketed.”
und sah gleich eine Lösung voraus, die freilich auch 20 Jahre später noch nicht allzuweit etabliert ist, nämlich
„to find new ways that enable researchers to get and to pay for only those journal articles that are needed. Here’s where new technology can help.“
Insgesamt enthält der für ein Rolling-Stone-Pendant eher nüchterne Text nur wenige Stellen, die aus der Zwei-Dekaden-Distanz erwartungsgemäß etwas drollig wirken. Eine davon betrifft die technologische Vorreiterposition der Grande Nation:
„For better or worse, that is how the country got the Concorde, the Airbus, its nuclear power program, Minitel – and now the electronic book.”
Zu E-Books stellte der Guardian im vergangenen Sommer immer noch fest:
„When it comes to reading books, the French are determinedly bucking the digital trend and sticking to paperbacks.”
Die Concorde und Minitel sind dagegen musealisiert, das Atomprogramm ist als Zukunftstechnologie eher ausgeglüht und wird durch die großen Urgewalten Sonne, Wind und Wasser bedroht und der Airbus besitzt in der Öffentlichkeit in etwa so viel Sex Appeal wie ein Citroën. Er soll heute vor allem störungsfrei befördern.
Ähnlich, aber erfahrungsgemäß nicht gänzlich überholt, ist auch die Aussage:
„The electronic image of a book is still a few gigabytes worth of information, and a gigabyte is a helluva lot of data – several times more than what fits into most of today’s computers or flows conveniently through computer networks.”
Es ist bemerkenswert, dass zwar elektronische Aufsätze durchaus auch als digitaler Text gedacht wurden, das Medium Buch jedoch in diesem Kontext beständig als Bilddigitalisat.
Andererseits war das Ausstiegsszenario des Aufsatzes das der Bibliothek als publizierendem Akteur – ein Thema, welches im Zusammenhang mit der Datenpublikation wieder richtig brisant werden könnte. John Browning führte diese sich abzeichnende Rolle zur Formulierung eines Dilemmas:
„If libraries do not charge for electronic books, not only can they not reap rewards commensurate with their own increasing importance, but libraries can also put publishers out of business with free competition. If libraries do charge, that will disenfranchise people from information – a horrible thing. There is no obvious compromise.“
Zwei Absätze vorher notierte er nicht unpassend eine denkbar zeitlose Einsicht, die man durchaus – in vielleicht etwas poetischeren Worten – auch über ein Bibliotheksportal in den Sandstein meißeln könnte:
„None of these changes will happen overnight.”
Einige der prognostizierten Veränderungen stehen nämlich auch 20 Jahre später noch ziemlich aus.
Was gleichwohl zunehmend bemerkbar wird und woran die von Wired mitforcierte kulturelle Transformation der Gesellschaft nicht ganz unschuldig ist, ist die wachsende Unvorstellbarkeit der prädigitalen Welt. Carl Swanson rapportiert in seinem Beitrag zum Jahr 1993 im New York Magazine eine Anekdote aus der Familie des Wired-Mitbegründers Kevin Kelly. Dieser berichtete, so Swanson:
„My youngest son is 16, and when he was 10 or 11, he asked, ‘How did you get on the Internet without computers?‘ He kind of understood how computers might not exist […] but he couldn’t imagine the Internet not being there.”
Und Swanson ergänzt:
„It’s not easy for me, either, an I was there, calling the reference desk at the library.”
Die Zeit vor der Allgegenwart des Digitalen lässt sich 2013 (in der westlichen Lebenswelt) fast nur noch als Geschichte vermitteln. Wohin die Wege führen in 20 Jahren geführt haben werden, scheint derzeit ungewisser, als – in der Rückschau – jede Vorhersage aus dem Jahr 1993. Mutige Science-Fiction-Szenarien abseits finsterer Dystopien gibt es kaum. Offensichtlich ist sicher der Trend von wired zu wireless. Offensichtlich ist ebenfalls, dass ein Quantensprung ins Digitale (oder im Digitalen), wie er 1993+ erfolgte, heute nicht mehr mit einer Printpublikation begleitet werden wird. Nicht mal mit einer, die Wireless heißt. Die Avantgarde-Zeitschriftengründungen der letzten Jahre berühren vielmehr eine Art kritische Ausrichtung bis Gegenkultur zur Digitalität. Möglicherweise ist damit auch ein Trend für die nähere Zukunft bestimmt: Postbinäre und neoanaloge Kommunikationsformen. Im Jahr 2033 wird sicher jemand mehr darüber schreiben können. Aber wie und wo und welcher Form vermag ich nicht vorherzusagen. Dabei wird es schon spannend sein, zu sehen, wie er sich an die Medienkultur 2013 erinnert.
Quellen
John Browning (1993) Libraries Without Walls for Books Without Pages. Electronic Libraries and the Information Economy. In: Wired 1.01. Online: www.wired.com/wired/archive/1.01/libraries_pr.html
Angelique Chrisafis (2012) Why France is shunning the ebook. In: Guardian / Shortcuts Blog, 24.06.2012. Online: www.guardian.co.uk/books/shortcuts/2012/jun/24/why-is-france-shunning-ebooks
Clare Lyster (2012) The Logistical Figure. Apathy, individualism, power. In: Cabinet Magazine. Issue 47 (Fall 2012) S. 56-62
Carl Swanson (2013) Are we still living in 1993? In: New York Magazine. Februar 11, 2013, S. 28-37
It’s the frei<tag> 2013 Countdown (25): Die deutsche Perspektive
von Karsten Schuldt
Einst war das Deutsche eine der wichtigsten Wissenschaftssprachen. Diese Zeiten sind vorbei und dafür gibt es auch gute Gründe. (Unter anderem der, dass in Osteuropa vom Deutschen vor allem noch Sätze wie: „Halt, stehenbleiben oder ich schiesse.“, „Achtung!“, „Blitzkrieg“, und „Hände hoch. Nicht schiessen.“ bekannt sind und eben nicht: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ oder „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ – Wir müssen das, glaube ich, nicht weiter ausführen.) Dennoch ist Deutschland, auch nach der Wiedervereinigung 1990, immer noch nicht der einzige Staat der Welt, in welchem Deutsch gesprochen wird. In immerhin sieben Staaten ist das Deutsche Amtssprache (Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Belgien, Italien) in zahlreichen anderen Minderheitensprache. Insbesondere in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein (und Südtirol) ist es die am häufigsten gesprochene Sprache.
Das weiss man aber nicht, wenn man in die bibliothekarische Literatur schaut. Sicherlich haben die Bibliothekswesen in diesen Staaten (bis auf Liechtenstein) eigene bibliothekarische Zeitschriften, auch haben sie eigene bibliothekarische Strukturen ausgebildet, die es erlauben, von unterschiedlichen Bibliothekswesen zu sprechen. Aber: Diese Bibliothekswesen sind nicht so gross, dass sie eine eigene Standardliteratur hervorgebracht hätten. In der Ausbildung wird vornehmlich die Literatur aus Deutschland verwendet. Also, genauso wie in Berlin, Leipzig, Hamburg und Stuttgart lesen auch Studierende in Chur das Bibliothekarische Grundwissen, die Basiskenntnis Bibliothek, setzen sich mit dem Erfolgreichen Management von Bibliotheken und Informationseinrichtungen auseinander und kritisieren die zahlreichen Sammelbände, die sich Handbücher nennen und in den letzten Jahren im De Gruyter und im Bock+Herchen Verlag erschienen sind. Nebenbei, aber auch das ist zu erwarten, setzen sie sich mit englisch-sprachiger Literatur auseinander. (Interessanterweise nicht so sehr mit französisch- oder italienischsprachiger.) Ist das schlecht?

Sieht vielleicht aus wie eine süddeutsche Stadt mit gut erhaltenem altem Stadtkern, ist aber eine schweizerische Grossstadt namens Zürich mit eigenen Strukturen, eigenen Problemen, eigenem Charme und eigenen Bibliotheken. Problem zum Beispiel: ETH Zürich, Universität Zürich, Zentralbibliothek Zürich und Pestalozzi Bibliothek liegen alle in Laufweite. ETH Zürich und Universität nebeneinander, ZB einfach fünf Minuten den Berg runter, Pestalozzi-Bibliothek nochmal fünf Minuten die Strasse runter. Aber es sind vier Bibliotheken. Die Nutzerinnen und Nutzer sehen das nicht ein; sie wollen einfach alle Medien an allen Orten einsehen, entlehnen und retournieren können. Also muss man sich was einfallen lassen, wie die vier zusammen kommen. Kopfbahnhöfe, unterirdisch, sind hier eher kein Problem (dafür Flugschneissen).
Nun: Man muss einmal versuchen, diese Literatur aus der schweizerischen (oder österreichischen, liechtensteinischen etc.) Perspektive zu lesen. Dann stellt man etwas fest: Es sind fast nur deutsche Beispiele besprochen, fast nur deutsche (oder halt übergreifend internationale) Strukturen. Die Schweiz kommt nicht vor. Österreich kommt nicht vor. Liechtenstein, Südtirol, Luxemburg, Belgien kommen nicht vor. Dabei wäre es kein Problem, vielmehr: Es wäre sogar etwas zu lernen. Ein Beispiel: In Erfolgreiches Management gibt es einen Abschnitt zu Bibliotheksverbünden. Aufgezählt werden da nur deutsche Bibliotheksverbünde, obwohl man auch über die schweizerischen Einiges sagen könnte. Schweizerische Bibliotheksverbünde sind ähnlich wie deutsche, aber nicht gleich. Sie haben sich zum Beispiel mit der Viersprachigkeit der Schweiz zu arrangieren (was darauf hinausläuft, dass die Svizzera Italiana einen eigene Verbund hat, die Romandie auch und das Rätoromanisch mal wieder praktisch unterschlagen wird). Zudem gibt es ein schönes Übereinander von Verbünden, dass dazu führt, dass einige Bibliotheken Mitglied mehrerer Verbünde sind. Dies ist als Beispiel gewiss interessant.
Die bibliothekarische Literatur vergibt nicht nur eine Lernchance wenn sie fast nur über deutsche Beispiele und deutsche Strukturen nachdenkt. Sie ist auch absurd unhöflich. Absurd, weil es nicht nötig wäre (Schon gar nicht in einem Europa, dass Zusammenwachsen soll, auch wenn sich Schweiz und Liechtenstein dagegen verwahren. Aber Österreich nicht.) und weil es gewiss auch nicht gewollt ist. Eine Aufforderung also an die zukünftige bibliothekarische Literatur: Auch an „die Ränder“ schauen, nicht nur vom eigenen Mittelpunkt ausgehen und von Zeit zu Zeit mal schauen, was in den USA passiert. Das, was von Berlin und Stuttgart aus als Rand erscheint, ist auch der Lebens- und Arbeitsraum von Menschen, die ausgeschlossen bleiben (nicht zum Sprechen gebracht werden), wenn sie nicht mit beim Konzipieren und Schreiben von Texten mit in Betracht gezogen werden.
It’s the frei<tag> 2013 Countdown (26): Theorie.
von Karsten Schuldt
Theorie ist nicht normativ
„Von der Theorie zur Praxis“ ist eine im bibliothekarischen Bereich in Texten, Weiterbildungsveranstaltungen und Vorträgen gerne genutzte Formulierung, die mich ehrlich gesagt immer wieder irritiert. Was ist damit eigentlich gemeint? Mir scheint, dass das, was in solchen Texten (verstehen wir strukturalistisch Veranstaltungen und Vorträge auch als Text) als Theorie gilt, etwas anderes ist, als eine wissenschaftliche Theorie. Oder anders: Es scheint zwei Theoriebegriffe zu geben.
- In „von der Theorie zur Praxis“-Texten scheint „Theorie“ für fast alles Geschriebene zu gelten, dass kein Beispiel ist. Eine Theorie, so scheint es, ist das, was etwas vorgibt: Standards, normative Texte, Aufrufe, politische Dokumente. Schreibt eine Kommission des dbv oder des BIS einen Text, indem sie beispielsweise sagt, dass Urheberrecht in Deutschland oder der Schweiz müsste so und so geregelt werden, gilt das als „Theorie“. Von dieser Theorie, so scheint die Vorstellung, erfährt man im Studium oder der Ausbildung, hört sie auf Veranstaltungen und wendet sie dann im bibliothekarischen Alltag mehr oder minder an.
- Theorie in der Wissenschaft dahingegen entzieht sich dem Normativen (sie sollte es zumindest, obgleich es genügend Beispiele dafür gibt, dass Theoretikerinnen und Theoretiker aus ihrem Theoriemodell ableiten, Normen für die Welt vorgeben zu dürfen). Vielmehr erklärt eine Theorie etwas, zum Beispiel das Verhalten von Nutzerinnen und Nutzern an der Informationstheke. Eine gute Theorie ist dabei (a) aus der Realität gebildet (also nicht einfach aus dem Bauch heraus behauptet, sondern reflexiv auf der Basis von überprüfbaren Daten erstellt), (b) getestet (also ebenso nicht einfach aus dem Bauch heraus aufgestellt, sondern reproduzierbar daraufhin angeschaut, ob sie wirklich erklärt, was sie erklären soll), (c) in der Lage, Voraussagen zu machen, die sowohl reproduzierbar eintreffen als auch erklärbar sind (also in der Lage, auch verständlich zu machen, warum etwas passiert, warum sich zum Beispiel Nutzerinnen und Nutzer so und so verhalten).
Das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Nicht nur, dass man bei vielen normativen Dokumenten in Bibliothekeswesen gar nicht weiss, wie und wieso sie zustande kommen (Fragen wir doch mal: Wieso steht in den Dokumenten zur Bibliothekethik in Deutschland und bald auch in der Schweit das, was in ihnen steht?), sie haben auch gar nicht den Anspruch, zu erklären und Voraussagen zu ermöglichen. Hingegen wollen wissenschaftliche Theorie gar nicht vorgeben, was zu tun ist, sondern (knapp gefasst) verständlich machen, was warum so ist wie es ist.
Das Problem bei den am Anfang genannten bibliothekarischen Texten ist nun, dass sie die Funktion wissenschaftlicher Theorien gar nicht vorzusehen scheinen. Steht irgendwo „von der Theorie zur Parxis“ wird zumeist erwartet, dass einige Überblicksaussagen gemacht und dann Beispiele genannt werden. (Mir ist ehrlich gesagt oft der Wert solcher Beispiele nicht ganz klar. Aber das ist ein anderes Thema.) Eine Theorie hingegen, die darauf abzielt, zu erklären und somit zur Selbstaufklärung zum Beispiel der bibliothekarischen Profession (tatsächlich im Sinne der Aufklärung, die Kant et al. hochhielten) beizutragen, hat in diesem Setting gar keinen richtigen Sprechort. Mit Judith Butler ist das zu beschreiben als ein Position, die im Diskurs nicht intelligibel ist und damit immer qua Definition missverstanden wird; nämlich nicht als Erklärung dessen was ist, sondern als normative Vorgabe wie es sein soll.
„Nichts genaues weiss man nicht“
Ein Effekt dieser Theorielosigkeit – im Sinne des zweiten Verständnisses von Theorie – scheint sich mir in solchen Aussagen wie „nichts genaues weiss man nicht“, „die Theorie ist auch nicht weiter“ und ähnlichen widerzuspiegeln, die sich oft nach Vorträgen und Workshops, dies es doch wagen zum Beispiel auf Bibliothekskongressen die zweite Position einzunehmen, auf den Fluren hören lassen. Mir scheint das ein Spiegel eines grundlegenden Missverständnisses zu sein. Da von „Theorie“ erwartet wird, Vorgaben zu geben – zum Beispiel Kennzahlen für einen Bibliotheksbestand zu nennen – und nicht zu erklären – zum Beispiel wie ein Bestand in einer Bibliothek überhaupt zusammen gekommen ist – sind viele Zuhörende nicht gewohnt, die Funktion der Theorie wahrzunehmen. (Teilweise vermittelt sich zudem der Eindruck, dass der Wille nicht vorhanden ist, die Interpretationsleistung zu erbringen und – was der Effekt einer richtigen Erklärung sein kann – Dinge zu verändern. Aber das mag ein falscher Eindruck sein.) Eine Theorie im zweiten Verständnis will gar nicht sagen, etwas müsste so und so gemacht werden, sondern sie will dazu beitragen, dass wir etwas verstehen.
Das ist eine gewisse Zumutung. Eine Zumutung an die Bibliotheken zum Beispiel, wahrzunehmen, was wir erklären können und dann eine eigene Leistung der Interpretation zu leisten, sich nämlich zu fragen, ob ein theoretisches Modell, wenn es Voraussagen ermöglichen kann, auch Aussagen liefert, welche für die Gestaltung einer Bibliothek sinnvoll anzuwenden sind. Das ist etwas gänzlich anderes als der Text einer Kommission, die oft davon auszugehen scheint, die aktuell sinnvollste und genaueste Aussage über einen Gegenstand getroffen zu haben. Bei einem solchen Text ist die Interpretationsleistung ganz anders: Zumeist sollen dann „nur“ die Aussagen an Stakeholder einer Bibliothek verkauft werden. Aber: Das hat oft mit dem Verstehen, warum etwas ist, wie es ist, nichts zu tun.
Eine wissenschaftliche Theorie erfordert erst einmal nichts. Die Menschen und die Institutionen (die ja aus Menschen bestehen) müssen sich selber dazu bilden, aus den Erklärungen eine Identität und eine Handlung abzuleiten. (Und das eigentlich in der Ausbildung erlernen.) Aber zum Beispiel kann eine wissenschaftliche Theorie erklären, warum Menschen mit sozial schwachem Hintergrund kaum in die Bibliothek kommen und sogar getestet Voraussagen dazu treffen; ohne das dies gleich heisst, die Bibliotheken müssten etwas gegen diesen Fakt unternehmen. Hingegen kann ein Text einer Kommission genau das tun: Fordern, die Bibliothek hätte etwas dagegen zu tun. (Da aber auch diese Kommissionen selten die Funktion von wissenschaftlichen Theorien akzeptieren, sind deren Forderung dann meist unterkomplex und bestehen zum Beispiel darin, dass man mehr Marketing machen sollte, welches auf sozial Schwache zielen soll, was nicht viel bringt, wenn das Problem eigentlich in der Bibliotheksstruktur angelegt ist. Aber auch das ist eine andere Frage.) Das erstere ist eine Erklärung, das zweite eine Forderung.
Insoweit sind aber die Aussagen, die Theorie wüsste auch nicht zu sagen, was zu tun ist, ein systematisches Missverständnis. Das ist nicht ihre Aufgabe. Eigentlich. Aber, wie gesagt, wenn es keine Sprechposition für eine Theorie gibt, die erklärt und voraussagt, sondern nur eine für normative Texte, dann ist auch die Vorstellung einer forderungslosen Theorie nicht möglich.

„Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selber ist Macht – sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist.“ (Foucault, Michel (1978) / Wahrheit und Macht : Interview mit A. Fontana und P. Pasquino. In: ders.: Dispositive der Macht : Michel Foucault Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin : Merve Verlag, 1978, 54)
Theoriearbeit ist professionell
Andere Felder scheinen mit Theorie anders umzugehen. (Vielleicht ist das nur der Blick von aussen, beispielsweise auf die von mir eh oft heranzitierte Bildungs- oder Museumspraxis.) Wissenschaftliche Theorie wird dort als Sammlung von Erklärungsmodellen rezipiert; normative Texte als normative Texte. Die Profession selber ist sich dann bewusst, dass es eine weitere Leistung ist, aus den Erklärungsmodellen Anforderungen, Umsetzungen und so weiter zu generieren; sie schiebt diese Aufgaben nicht auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ja per Definition nicht in der Arbeitspraxis stehen, ab, um dann im Anschluss zu urteilen, die Theorie wäre praxisfern, damit für die Praxis irrelevant und letztlich kaum notwendig. Diese Professionen verfallen auch nicht so schnell der Überzeugung, es wäre vor allem Aufgabe normativer Texte, eine gewünschte Praxis an Stakeholder zu verkaufen.
Oder ganz knapp gesagt: Eine Profession, die sich professionell verhält, bietet unterschiedliche sinnvolle Sprechorte für normative und für theoretische Texte. In diesem Sinn – nicht in anderen – verhalten sich die bisherigen Bibliothekswesen bislang kaum professionell. Das zu ändern würde den Bibliothekswesen mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen (und sie, nebenher, spannender und komplexer machen).
It’s the frei<tag> 2013 Countdown (27): Einfach teilnehmen und Themen vorschlagen
von Matti Stöhr
„Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ (Karl Valentin)
Wer wird dabei sein? Welche Themen werden behandelt? Was erwartet mich? Naturgemäß ist eine Unkonferenz im allgemeinen – frei<tag> im speziellen – davon charakterisiert, dass jede Person mit Interesse an Konzept und Motto ohne Anmeldung kostenfrei teilnehmen kann, und das inhaltliche Programm ad hoc gemeinsam vor Ort festgelegt wird. Es ist ebenso jedoch stets Bedürfnis zu wissen worauf, auf wen, auf was man sich einlässt. So besteht nun mit zwei eigens dafür eingerichteten Etherpads ohne Anmeldung oder andere Hürden die einfachsten Möglichkeiten die Teilnahmeabsicht kund zu tun sowie mögliche Sessionthemen zu benennen und sich gleichzeitig über den aktuellen Teilnahme- und Themenstand zu informieren:
- frei<tag>2013 – Teilnahme (oder alternativ via Facebook)
Lose Themenideen; ausgefeilte Konzepte und Forschungsfragen; Aspekte des vorangegangen Hauptprogramms der ISI-Tagung, zu welchen man mehr erfahren und / oder sich intensiver austauschen möchte – jegliche Formen sind denkbar und erlaubt. Seien Sie / seid herzlich eingeladen schon jetzt der Unkonferenz und ihrem Motto „raum:shift [information science]“ Gestalt zu verleihen!

Ob im ICE oder daheim, bei Nacht oder bei Tag, angeregt von den New York Times oder von einem Fachartikel – Themenideen für die frei<tag> 2013 können überall entstehen …
PS: Der Hashtag zur Veranstaltung ist übrigens unlängst festgelegt: #frei13
It’s the frei<tag> 2013 Countdown (28): A long time ago, in a galaxy far, far away.
von Christoph Szepanski und Karsten Schuldt
„Der Mensch sollte sich besser bemühen, selber intelligent zu werden.“ (Stanisław Lem)
„You were the chosen one!“ (Obi-Wan Kenobi)
Episode IV
Die Zukunft, der Weltraum, der Ozean: Offen, voller Abenteuer, unerwarteter Wendungen. Auch voller Gefahren. Doch auch das normale Leben ist voller Gefahren, ohne das es neue Welten aufschließt, neue Erfahrungen machen lässt, neue Horizonte erreicht. Das was ist, der Status Quo, ist immer ein wenig unbefriedigend; insbesondere wenn wir wissen, dass da draußen ein Raumschiff auf uns wartet: Enterprise oder Rebellenflotte, X-Wing oder Millenium Falcon, Sputnik oder Curiosity. Und mit dem Raumschiff wartet neues Wissen auf uns. Wissen, Erkenntnis, Reflexion.
Sicherlich: Das Raumschiff ist uns hier eine Metapher für die Wissenschaft; der Status Quo bleibt aber Status Quo. Es geht immer irgendwie weiter, aber manchmal ist uns das nicht schnell genug, erst recht nicht weit genug. Zu oft haben wir das Gefühl, dass unsere Wissenschaft und die Praxis, auf die sie sich bezieht, sich in etwas zu kleinen Kreisen dreht. Denn das reine Kreisen bringt nichts.
Wenn man das Gefühl hat, dass es nicht weiter geht, muss man manchmal aufbrechen; die Sachen packen; den Warpantrieb bedienen; den Fortschritt mit tiefster Leidenschaft vorantreiben. Das kann schief gehen, besonders auf individueller Ebene. Hat man Pech, sitzt man nach einigen Sprüngen auf einem einsamen Mond fest, hat das Handtuch verloren oder auch den Babelfisch. Aber, zumindest wenn man nicht leise war, steht was man gesehen hat auf dem Weg im Anhalter durch die Galaxis verzeichnet und hilft den anderen Anhalterinnen und Anhaltern weiter zu kommen. Der gesamtgesellschaftliche Fortschritt beginnt zumeist mit einer persönlichen Reise – oft genug ins Unerwartete, nicht selten Unbequeme. Hauptsache man hat gewagt.
Möglich, dass uns da der Untergang erwartet. Aber wir wissen auch: Wenn es am unendlich Unwahrscheinlichsten ist holt uns die Herz aus Gold an Bord (was wieder eine Metapher ist, für den rettenden Artikel, das unerwartete Stückchen Text, dass unser Denken noch einmal vor dem Absturz rettet). Zaphod lässt uns nicht im Stich. Die Neugierde treibt uns weiter, dorthin, wo noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat.
Und wir möchten nicht alleine sein auf dieser Reise. Vielmehr:
Alle die wollen, sollen mitkommen können und sind dazu aufgerufen sich aktiv zu beteiligen (denn ohne Euch geht es nicht). Alle sollen an Bord kommen können. Kostenfrei natürlich. Wir wollen eine Nautilus anbieten. Durchs Wasser, durchs All, durchs Wissen. Ihr sollt den Weg mitbestimmen.
Episode V
Unsere These ist erst einmal, dass es der Bibliotheks- und Informationswissenschaft gut bekommen würde, wenn sie sich nicht nur selbst bespiegelt, sondern einmal mehr radikal durchgeschüttelt wird. Streitet sich denn niemand mehr richtig? Tritt denn niemand mehr laut auf und sagt, dass alles besser oder anders werden muss? Bezieht sich niemand mehr auf Andere? Ist es egal, was die Anderen in unserem Feld sagen?
Kein Tank Girl fährt durch unsere Gefilde. Oftmals scheint es fast so, als ob wir in einem Quasi-Paradies leben. Manchmal bedroht, aber auch nie so richtig. Sicher: Input kann zuweilen unerwartet von außen kommen. Tscheljabinsk kann gerade etwas darüber erzählen – und vielleicht können uns die Trümmer demnächst etwas über das frühzeitliche Sonnensystem mitteilen.
Unsere These ist weiter, dass ein Durchstarten dazu führen kann, dass die gesamte Wissenschaft sich neu findet. Nicht mehr nur im Nebeneinander von unterschiedlichen Modellen und Methoden, sondern in einem neuen Netzwerk mit neu artikulierten Rollen und neuen, langfristigen Forschungsprogrammen sowie Transdisziplinarität an deren Ende im Idealfall die Integration universeller Erkenntnisse für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft steht.

„I would also like my own flag made for me, one with the evolution of man, except with me at the end of the line! Oh, and I would also like my own ice cream parlor. There’s never an ice cream stand around when you really need one. Oh! And it better goddamn well have chocolate chocolate chip! God help you if you don’t have chocolate chocolate chip!“ (Dr. Insano)
Episode VI
In jeder guten Geschichte, die nach dem ersten Untergang der Menschheit spielt, gibt es jemand, eine kleine Gruppe, die sich wieder ins Freie traut. Stalker läuft in die Verbotene Zone, trotz allem Ungemach geht Paul Atreides in die Wüste zu den Freemen, George Taylor läuft und läuft und läuft, bevor er vor der Freiheitsstatue zusammensinkt und der Neomensch Daniel25 gibt sein gesichertes pflanzenartiges Dasein für einen Flirt in der atomaren Ödnis auf. Wer nicht losgeht erlebt keine Abenteuer lehrt uns das. Wer nicht losgeht kann schnell untergehen, im Ewig gleichen verharren, ohne etwas unternommen zu haben.
Wir wollen das nicht. Wir wollen fröhlich und offen und so punkig-vorwärtstreibend wie möglich einladen: Zu einer weiteren Unkonferenz. Die frei<tag> – raum:shift [information science] soll – metaphorisch gesprochen – unser Raumschiff sein, dass uns weiter und weiter durch den Raum trägt, dass uns andocken lässt an so unterschiedliche Raumstationen wie die Diskursanalyse, die Informatik, die Sozialwissenschaften, die Kognitionswissenschaft, die Mathematik und nicht zuletzt die Systemtheorie(en). Dieses Raumschiff – zwischengeparkt am Rand Potsdams -, ist offen. Hört die Signale.
Es wird den Funk bringen wie das Mothership. Wir laden alle Irritierten und Interessierten ein, vorbeizukommen und mit uns zu schauen, wie weit wir kommen. Und vorher versuchen wir zur Einstimmung auf die Zukunft unserer Zunft zu verweisen. Wie gesagt: Manche Sprünge, sagt Wang-lun, sind nicht weit, bringen aber die Welt in eine neue Phase.
Wir brauchen vielleicht keine neue Kritik des immer wieder Alten, keine Forderung dessen, was wir schon haben, nochmal und noch mehr zu haben. Wie gesagt: Die Zukunft, der Weltraum, der Ozean sind offen. Offen für das Scheitern, offen für neue Erkenntnisse, offen für das Ausprobieren. (Und ja, am Ende, wenn der Große Bruder regiert hat, wenn die letzten Angriffe geflogen, die letzten Pläne umgesetzt, die letzten Orte erreicht sind, wird uns die Liebe retten. Die Liebe (zur Weisheit), sie bleibt am Ende, egal wo wir landen und als was.)
Potsdam und Chur, 22.02.2013
Einen Schritt weiter. Jan Hodel zur „Groebner-Kontroverse“ und was die Bibliothekswissenschaft daraus ableiten sollte.
von Ben Kaden
Im Weblog histnet erschien heute ein Text von Jan Hodel (Die Groebner-Kontroverse. Oder: Zu Sinn und Unsinn von Wissenschaftsblogs. In: histnet. 11.02.2013) zur mittlerweile offenbar so genannten Groebner-Kontroverse. Muss man ihn lesen? Ich denke, man sollte. Denn Jan Hodel nimmt im Bemühen um eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Aussagen Valentin Groebners eben auch die Möglichkeiten zum Umgang mit dem Problem „Muss ich das alles lesen?“ in den Blick. Er verweist dabei unter anderem auf die Funktion sortierender und filternder Akteure in der wissenschaftlichen Kommunikation:
„Intermediäre Instanzen, wie sie etwa Redaktionen darstellen, dienen auch der Entlastung der beteiligten Individuen durch Arbeitsteilung. Damit wir nicht alles selber verifizieren und überprüfen, oder auch nur zusammensuchen und im Hinblick auf seine Bedeutsamkeit im wissenschaftlichen Diskurs beurteilen müssen, nutzen wir intermediäre Instanzen, die diese Aufgaben für uns übernehmen. Dies hilft uns, das rare Gut der Aufmerksamkeit gezielter einzusetzen. Ob solche intermediären Instanzen in Zukunft im Stile fachredaktioneller Expertise, dank schwarmintelligenten Zusammenwirkens von adhoc-Kollektiven oder computergestützt mithilfe elaborierter Algorithmen agieren werden […] scheint mir völlig offen.“
Das ist sowohl für die newlis-Überlegungen wie auch natürlich für uns bei LIBREAS bedeutsam. Die bei ihm skizzierte Typologie der Intermediären verweist auf drei Konzepte:
- ein traditionell redaktionelles der intellektuellen Vorauswahl durch Experten (wie wir es bei Fachzeitschriften, in Editorial- und Peer Review-Verfahren, Herausgeberschaften u.ä. finden),
- ein auf Netzwerk- und Hinweiseffekte und Post-Peer-Review-Prinzipien setzendes, dass auch auf Multiplikationseffekte über Social Media setzt,
- automatische Filterverfahren, die von Algorithmen basierten SDI- und Monitoring-Diensten bis hin zu (z.B. webometrischen) Impact-Kalkulationen reichen.
Der Bezug auf die grundsätzliche Unabsehbarkeit der zukünftigen Etablierung eines dieser Ansätze wäre für die Bibliothekswissenschaft allerdings ein zu einfacher und daher inakzeptabler Ausstieg. Denn das Potential für eine bibliothekswissenschaftlich elaborierte Unterstützung von Wissenschaftskommunikation über die Spekulation hinaus wird in diesem Kontext sofort deutlich.
Besonders, wenn man davon ausgeht, dass die Informationsfilterung und -vermittlung in der Wechselwirkung von Mensch und Maschine differenziert entwickelt werden muss, zeigt sich hinsichtlich der Punkte zwei und drei die Notwendigkeit einer Kombination dreier Methodologien als nahliegend, die in diesem Fach eine Rolle spielen (bzw. spielen sollten): Die Soziale Netzwerkanalyse, die Diskursanalyse und die Bibliometrie. In der Kombination lassen sich auf eine solchen Basis Analysestrukturen mit nahezu unbegrenzter Komplexität entwickeln. Wo schließlich die Grenzen zu ziehen und der Komplexität zu setzen sind, ist Sache der Konkretisierung, Ausentwicklung und Implementierung. An diesem Punkt sind wir in unserem Fach leider noch nicht, denn soweit ich sehe, verhandelt man derzeit überhaupt erst eine in diese Richtung weisende Forschungsagenda.
Wenn also Jan Hodel aus der Perspektive des Historikers schreibt:
„Doch wie genau sich dies vollziehen wird und welche konkrete Bedeutung für unseren jeweiligen Wissenschaftsalltag dies haben wird, darüber kann im Moment nur spekuliert werden.“
dann sehe ich den Ball (nicht nur) in die Dorotheenstraße rollen und die Verpflichtung, für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft diesen aufzunehmen und vielleicht nicht unbedingt die Lösung aber in jedem Fall den Nachweis einer wissenschaftlichen, d.h. systematischen Auseinandersetzung mit diesem Problem zu präsentieren. Es handelt sich hier nicht um ein Naturgeschehen sondern um eine – zugegeben nicht wenig komplexe – Ausdifferenzierung der Verfahren, Möglichkeiten und Praxen wissenschaftlicher Kommunikation. Dies ist ein Gestaltungsprozess, in dem diverse Akteure vom Wissenschaftler über die Bibliotheken bis zu Verlagen, Social Media-Unternehmen, Hardware- und Suchmaschinenanbietern mit teilweise auseinanderdriftenden Interessen interagieren. Auf die Gestaltung können wir durchaus Einfluss nehmen und sei es nur, indem wir sie strukturiert ent- und aufschlüsseln und abbilden. Für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die zweifelsohne eine große Expertise genau in diesen Fragen besitzt, ist die aktive Teilhabe an diesem Prozess über ein Mitspekulieren hinaus keine Option, sondern eine Verpflichtung. Das Forschungsprofil des Faches ist hier nämlich (wenigstens aus meiner Sicht) exakt die kritische Begleitung und Analyse des: „wie genau sich dies vollziehen wird und welche konkrete Bedeutung für [den] Wissenschaftsalltag dies haben wird.“
(Berlin, 11.02.2013)
History Repeating. Die Geschichtswissenschaft debattiert auch 2013 über die Legitimität des Bloggens.
Anmerkungen zu:
– Valentin Groebner: Muss ich das lesen? Ja, das hier schon. In: FAZ, 06.02.2013, S.N5
– Klaus Graf : Vermitteln Blogs das Gefühl rastloser Masturbation? Eine Antwort auf Valentin Groebner In: redaktionsblog.hypotheses.org, 07.02.2013
– Adrian Anton Tantner: Werdet BloggerInnen! Eine Replik auf Valentin Groebner. In: merkur-blog. 07.02.2013
von Ben Kaden
Es gibt offensichtlich (erneut) eine erneute kleine Zuspitzung des Konfliktes um die Frage, inwieweit wissenschaftliche Kommunikation im Digitalen möglich sein darf oder soll. Anlass ist ein Vortrag des Historikers Valentin Groebner, der als Zeitungsfassung am Mittwoch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift Muss ich das lesen? Ja, das hier schon – schön historisierend mit dem Gemälde eines lesenden Bauerjungen des russischen Malers Iwan Iwanowitsch Tworoschnikow aus der Zeit des zaristischen Russlands illustriert – abgedruckt wurde.
Erstaunlich an der Debatte, auf die umgehend sowohl Klaus Graf im Redaktionsblog von Hypotheses.org wie Anton Tantner im Weblog der Zeitschrift Merkur und noch einige andere blogaffine Wissenschaftler antworteten, ist besonders, dass sie überhaupt noch bzw. wiederholt so stattfindet. Während Klaus Graf zum Ausstieg noch einmal einen Pinselstrich auf den üblichen, aber halt furchtbar überzogenen und daher eher wenig souverän wirkenden Kampf- und Fronttafelbildern (aber insgesamt vergleichsweise äußerst brav) setzt:
„Die Rückzugsgefechte der Buch-Fetischisten sollten uns nicht vom Bloggen abhalten.“
(Warum auch sollten sie?) findet sich bei Anton Tantner bereits die treffende Antwort:
„Dabei sind Verifizierung und Stabilisierung von Informationen – die Groebner als Aufgabe gedruckter Medien betrachtet – selbstverständlich auch digital möglich und kein Privileg des Papierbuchs; es braucht allerdings geeignete Institutionen dafür, wie zum Beispiel die Online-Repositorien der Universitäten, die die Langzeitarchivierung der von ihnen gespeicherten Dateien – nicht zuletzt wissenschaftliche Texte – zu garantieren versprechen.“
Für die Notwendigkeit von Druckmedien wiederholt man, seit man überhaupt den Gedanken der Abbildung geisteswissenschaftlicher Inhalte in digitale Kommunikationsräume andenkt, die Argumente der Langzeiterhaltung und des Qualitätsfilters – einem Wunschwerkzeug ersehnt schon lange vor dem WWW, um die so genannte Informationsflut (oder Publikationsflut) in den Griff zu bekommen. Valentin Groebners Artikel, der dies mit dem seltsamen Wort „Überproduktionskrise“ variierend anteasert, definiert denn auch: „Denn Wissenschaft kann gar nichts anderes sein, als Verdichtung von Information. […] Man ist als Wissenschaftler selbst ein Filter, ganz persönlich.“
Die Argumente dafür präsentieren sich im Verlauf der Debatte dabei jedoch von nahezu allen Seiten nicht sonderlich verdichtet, sondern vor allem redundant. Wir erinnern uns:
„So verteidigte Uwe Jochum (Konstanz) in seinem polemischen Einführungsreferat die Bibliothek als kulturellen Gedächtnisort, als konkret sicht- und begehbares Gebäude gegen ein orientierungsloses Surfen auf weltweit rauschenden Datenströmen. Aus der antiken Mnemotechnik leitete er die Notwendigkeit einer Lokalisierung der Erinnerung ab: Bei der Lektüre eines Buches im Netz hingegen sei kein Rückschluß auf den Standort des Computers oder gar des Originals möglich. Die Anpassung der Bibliotheken an die Informationsgesellschaft sei schon deshalb problematisch, weil der Informationsbegriff völlig unklar sei. Während in einer herkömmlichen Bibliothek die einzige „Information“ der Standort eines Buches sei, gehe in der simultanen Verschaltung von Sender und Empfänger jeder Inhalt verloren – kurz: Sammlung sei gegen Zerstreuung zu verteidigen.“
So las man es ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zwar am 09.10.1998. (Richard Kämmerlings: Lesesaal, Gedächtnisort, Datenraum Der Standort der Bücher: Auf dem Weg zur hybriden Bibliothek., S.46) Und auch das Thema der Langzeitarchivierung solcher Bestände stand damals mitten in der Auseinandersetzung.
Der Hauptunterschied zu dieser Zeit liegt vor allem darin, dass man 1998 noch nicht diskutierte, inwieweit es für Historiker zulässig ist, solche Debatten sowie andere Wissenschaftskommunikationen in Blogs und damit direkt und ohne redaktionelle Kontrolle abzubilden. Weil man Blogs und das Web als kommunikativen Partizipationsraum noch gar nicht wirklich kannte.
Ein Irrtum Valentin Groebners scheint dagegen darin zu liegen, dass er die „unerfreulichen Seiten der Gelehrtenrepublik […] nämlich […] den Kult der narzissistischen Differenz und […] Debatten, die ins endlose verlängerte werden“ grundsätzlich prinzipiell mit digitaler Kommunikation verknüpft. Genauso gut kann man sie nämlich, wenigstens in diesem Fall, beispielsweise gleichfalls mit der FAZ verbinden. Auffällig an diesem Diskurs ist zudem, dass ein paar etablierte Akteure gibt, die seit den frühen Tagen stabil dabei sind und parallel wechselnde neue Akteure, die offensichtlich jedes Argument für sich jeweils neu entdecken und ausführen. (Ich möchte übrigens nicht sagen, dass meine Texte durchgängig außerhalb dieses Prozesses stehen.) Zu vermuten ist jedoch ebenso, dass die Akteure, die tatsächlich intensiv Schlüsse ziehen, mit der Umsetzung ihrer Folgerungen so beschäftigt sind, dass sie gar keine Zeit und Lust mehr finden, sich in (De-)Legitimierungsscharmützeln aufzureiben.
Das Internet wirkt für Kommunikationen naturgemäß vor allem als Proliferationsimpuls: Es entfaltet all das, was ohnehin bereits angelegt ist. Die oft scheußlich selbstgerechten Lesekommentarhagel auf den Zeitungsportalen machen nur sichtbar, wie eben auch gedacht wird. Aus soziologischer Sicht ist das ungemein spannend. Dass das „Unfertige“, aus dem Wissenschaft per se besteht, nun direkt wahrnehmbar, referenzierbar und direkt nachnutzbar wird, verändert zwangsläufig die Wissenschaftspraxis. Das behagt vor allem denen, die dadurch etwas zu gewinnen haben (z.B. Diskurshoheit) und missfällt all denen, die sich darin überfordert bis bedroht sehen (z.B. nicht zuletzt einfach, weil ihnen in ihrer Lebensorganisation die Zeit zur Auseinandersetzung mit den Weblogdiskursen fehlt und sie nicht verstehen, warum sie nun zwangsläufig darauf einsteigen müssen. Auch das ist nachvollziehbar.)
Dass ein nach festen Bezügen strebendes Wissenschaftsbild hier seine Stabilität gefährdet sieht, ist nachvollziehbar. Aber der Zusammenbruch aller überlieferten Wissenschaftswerte ist kein unvermeidliches Szenario, sondern ein vermutlich im Ergebnis eher harmloses Schreckensbild. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Digitalität prinzipiell diskursive Verfestigung und Absicherung verhindert. Der oben zitierten Stelle aus der Replik Anton Tantners ist fast nichts hinzuzufügen. Digitale Kommunikationsräume sind Räume, die wir programmieren und gestalten. Wenn wir bestimmte Qualitätskriterien für die Wissenschaftskommunikation erhalten wollen, dann sollte sich das durchaus unter intelligenten, rationalen Akteuren, wie man sie in der Wissenschaft zu vermuten angehalten sein sollte, aushandeln und perspektivisch etablieren lassen. Nicht jeder Geisteswissenschaftler muss dafür Quellcode schreiben lernen. Auch die einfach Verständlichkeit der Schnittstellen zwischen Mensch und Technik ist Teil der Entwicklungsagenda.
Es gibt sogar eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Fragen auseinandersetzt (bzw. auseinandersetzen sollte), wie diese Ansprüche der Wissenschaft (Verifizierbarkeit, Nachprüfbarkeit, Verdichtung) im Digitalen umgesetzt werden können: die Bibliothekswissenschaft (bzw. Bibliotheks- und Informationswissenschaft). Wenn man Karsten Schuldts Annahme zustimmt, es gäbe jeweils „ein Rezeptionsverhalten, dass zu bestimmten Situationen und Lesehaltungen passt“, und es gibt keinen Grund die Zustimmung zu verweigern, dann erscheint überhaupt die Idee, selbst- und fremderklärten „Buchfetischisten“ und „Masturbationsbloggern“ ihre gegenseitige Legitimation absprechen wollen, als völlig unsinniger Hemmschuh, wenn es tatsächlich um die Frage geht, wie ein zeitgemäße Wissenschaftskommunikation aussehen kann – die übrigens genauso nach wie vor Printprodukte und andere netzunabhängige Medien zulässt, wenn diese zu Situation, Lesehaltung und dem Bedürfnis nach Langzeitsicherung passen.
Hybrides Lesen – Marginalien zur Rezension des Handbuchs Informationskompetenz
von Lars Müller (Potsdam)
Das Handbuch Informationskompetenz [1] erscheint bei De Gruyter Saur zugleich als Print- und Onlineausgabe. Ich war gespannt, welche der beiden Ausgaben mir als Rezensionsexemplar für die Besprechung in LIBREAS zur Verfügung gestellt werden würde. Ich erhielt – ganz in meinem Sinne – ein gedrucktes Exemplar.
Schon beim ersten Betrachten hatte ich den Eindruck, eine Mischform in den Händen zu halten: Das gedruckte Buch ist nach den Anforderungen einer digitalen Publikation gestaltet. Jedes Kapitel kann vom Inhalt her für sich allein stehen, auch die Literaturangaben befinden sich jeweils am Ende des Kapitels. Das ist für den fragmentierten, kapitelweisen Download (und Verkauf) am praktischsten. Die digitale Version hinterlässt dagegen zugleich den Eindruck, eine PDF-Version der Printausgabe zu sein. Sie enthält – und das wirkt für ein eBook etwas anachronistisch – auch das Stichwortverzeichnis der Printausgabe als eigenständig erwerbbares Kapitel. Zum Glück bietet der Verlag eine funktionierende und kostenlose Volltextsuche an – freilich werden nur die zu den Fundstellen zugehörigen Kapiteltitel angezeigt.
Google Books hat demgegenüber bekanntlich den Vorteil, die Fundstellen im Kontext anzuzeigen. Ein Vorteil, der mir trotz meines positiven Gesamteindrucks vom Handbuch Informationskompetenz eine kleine Ernüchterung bescherte:
Wer, wie ich es getan habe, ein längeres Zitat im Einleitungskapitel von Wilfried Sühl-Strohmenger (S. 4f.) googelt (Google Books), stößt nicht auf die Originalquelle (Jürgen Mittelstraß, s.u.), auch nicht auf das Handbuch Informationskompetenz, sondern neben Teaching Library (Sühl-Strohmenger 2012) auch auf das Buch Informationsethik von Rainer Kuhlen.[2] Ein Zufall, dem ich genauer auf den Grund gehen wollte.
Auf Seite fünf im Einleitungskapitel von Sühl-Strohmenger löste ein im Zitat formal inkorrekt in doppelte Anführungszeichen gesetztes Wort eine Irritation aus und regte genaueres Nachschauen an. Bei der Überprüfung des Zitats [3] stellte sich mit der oben bereits erwähnten Google-Books-Recherche heraus, dass der selbe Abschnitt auch in einem längeren Zitat in Kuhlens Informationsethik [4] enthalten ist. Ein Buch, das zwar in der weiterführenden Literatur des Handbuchartikels aufgeführt, aber nicht in dem inhaltlichen Zusammenhang des oben genannten Zitats erwähnt wird.
In der Bibliothek meines Vertrauens bestellte ich mir die Originalquelle und bekam ein gedrucktes Suhrkamp-Bändchen aus den 1990er Jahren ausgehändigt. Genau wie Kuhlen gibt Sühl-Strohmenger die Fundstelle mit „S. 226f.“ an. Der Vergleich mit dem Original zeigte, dass der von Sühl-Strohmenger zitierte – kürzere – Abschnitt allerdings ausschließlich auf Seite 227 steht. Außerdem machte Sühl-Strohmenger neben einem zusätzlichen Zeichensetzungsfehler – ebenfalls wie Kuhlen – im Satz „Informationen muss man glauben, …“[5] einen Übertragungsfehler und aus dem Plural wird das Singular „Information muss man glauben…“[6]
Dies mag natürlich Zufall sein, es hat aber doch ein „Geschmäckle“. Ein Umstand, der angesichts der Tatsache, dass es sich ausgerechnet um die Einführung in ein Handbuch zur Informationskompetenz handelt, bedauerlich ist.
Nichtsdestotrotz zeigt das beschriebene Leseerlebnis, dass zum Rezensieren noch zum Analysieren weder allein die digitale noch die gedruckte Form ausgereicht hätte. Noch gehört zum hybriden Publizieren eben auch das hybride Lesen.
(Eine ausführliche Besprechung des Handbuch Informationskompetenz erscheint in der nächsten Ausgabe von LIBREAS.)
[1] Wilfried Sühl-Strohmenger [Hrsg.] Handbuch Informationskompetenz (Berlin: De Gruyter Saur, 2012). Seite zum Titel beim Verlag.
[2] Folgende Phrase habe ich am 5.2.2013 bei der Suche verwendet:
„Erforderlich sind vielmehr Verarbeitungskompetenzen und das Vertrauen darauf, dass die Information“
aus: Jürgen Mittelstraß: Leonardo-Welt: Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, 1st ed. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992), S. 227 nach Wilfried Sühl-Strohmenger, ed., Handbuch Informationskompetenz (Berlin: De Gruyter Saur, 2012), S. 5.
[3] Mittelstraß, S. 226f.
[4] Rainer Kuhlen: Informationsethik: Umgang mit Wissen und Information in elektronischen Räumen (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2004).
[5] Mittelstraß, S. 227.
[6] Ibid.S. 227. Zitiert nach: Kuhlen, S. 161 sowie Mittelstraß, S. 227. Zitiert nach Wilfried Sühl-Strohmenger, “Informationskompetenz und die Herausforderungen der digitalen Wissensgesellschaft,” Sühl-Strohmenger [Hrsg.], S. 5. Die selben Fehler macht Sühl-Strohmenger auch im Band Teaching Library – : Förderung von Informationskompetenz durch Hochschulbibliotheken. Berlin: De Gruyter Saur 2012. S. 10.
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