Eine Ansichtskarte aus Woodstock, NY.
Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)
Die Kleinstadt Woodstock, NY muss seit nun mehr fast 48 Jahren damit auseinander setzen, dass sie primär mit einem epochemachenden Musikereignis synonym gesetzt wird, das gar nicht in ihrem Stadtgebiet statt fand. In diesem Schatten schwebt zugleich ein anderes Fest, dass sich in wenigen Tagen zum 86sten Mal jährt: Die Woodstock Library Fair, deren Zweck es traditionell nicht zuletzt ist, Fundraising für die Woodstock Public Library zu betreiben und dieses Jahr das Motto „Woodstock – Citizens of the World“ trägt. Der Rahmen konnte und könnte für so eine Veranstaltung nicht besser sein. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, besser gesagt, seit der aus Yorkshire stammende Textitelerbe Ralph Radcliffe Whitehead mit seiner Jane Byrd McCall die Künstlerkolonie Byrdcliffe begründeten, entwickelte sich die kleine Gemeinde zum Schnittpunkt äußerst weltläufigen Kunst- und Kulturschaffens, auch wenn Byrdcliffe selbst nur etwa 30 Jahre blühte. Als Echoraum (und touristische Attraktion) wirkt die Kolonie aber bis heute. Und in diesem hört man jedes Jahr im fortgeschrittenen Juli die Rummelplatzmusik des Bibliotheksstadtfestes an der Library Lane.
Wie es dort Mitte des 20. Jahrhunderts zuging, zeigt eine Ansichtskarte, die es gerade noch rechtzeitig vor dem 22. Juli in unsere Sammlung von Bibliotheksansichtskarten schaffte. Der Blick in diese offenbart zugleich, dass die Sammlungsnische des Bibliotheksfests aktuell exklusiv von diesem einem Exemplar besetzt wird. Grund genug, zukünftig aktiver Ausschau nach derartigen Zeitdokumenten zu halten.
Die Ansichtskarte wurde bei Dexter, West Nyack, NY gedruckt. Der Verlag war Bob Wyer Photocards, Delhi, NY, der nicht zuletzt für seine Ansichtskarten zu Bildungseinrichtungen bei Sammlerinnen und Sammlern bekannt und beliebt ist. Die Geschichte des Fotografen – auch der gezeigten Szenerie – Robert Selden Wyer ist dabei selbst sehr spannend. Ursprünglich Journalist u.a. für den Oneonta Daily Star wurde er von der Zeitung 1936 in gewisser Weise als Pilot für den Test erster Schritte in Richtung Fotojournalismus beauftragt. Dadurch lernte er fotografieren und wechselte in den 1940ern ganz auf dieses Feld, bald auch mit eigenem Studio. In den 1940ern Jahren erkannte sein Frau Wilhelmina, dass es lohnend sein könnte, ins Ansichtskartengeschäft einzusteigen. Was es dann auch war. Die Delaware County Historical Association berichtet, dass Bob Wyer Photocards um die 20% des Marktes für College Postcards abdeckte. Und überliefert weiterhin, dass Bob Wyer selbst schätzte, dass um die 56 Millionen seiner Ansichtskarten verschickt wurden. Im Vergleich zu den wirklich großen Herstellern bleibt das freilich überschaubar und deshalb sind sie auf dem Sammlermarkt auch nicht gerade in penetranter Häufigkeit zu finden. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Ansichtskarten an sich am Ende doch zu den Ephemera zu zählen sind und entsprechend schnell verloren gingen. Dies ist im Fall Bob Wyer auch deshalb sehr bedauerlich, weil viele der Karten trotz ihrer Rolle als Medium kurzer persönlicher Nachrichten doch durchaus mit Aufnahmen geschmückt sind, die von einem guten Auge für Komposition und den richtigen Augenblick zeugen. Gerade weil das Medium verlangt, Szenerien möglichst generisch zu fassen, lassen sich Bildwinkel und vor allem der Platzierung von Menschen im gezeigten Raum leicht Besonderheiten einschreiben. Für viele Karten Bob Wyers scheinen gewisse typische Merkmale identifizierbar, deren Erläuterung allerdings an anderer Stelle erfolgen muss.
Die Aufnahme der Woodstock Library Fair fällt in seinem Gesamtwerk nämlich ein wenig heraus und steht vielmehr in der Bildtradition der Lokalberichterstattung, wie man sie heute auch noch in der Lokalpresse findet. Es ist ein klassisches Wimmelbild, nah am Schnappschuss, wenn auch mit guter Linienführung und hinsichtlich der schwierigen Beleuchtung dadurch gerettet, dass der schattige rechte Bildrand zwei strahlende Sonnenschirme aufweist. Das Medium Buch spielt keinerlei Rolle, umso mehr das Medium der Geselligkeit, unterstrichen durch die Ballons und dadurch, dass die Festwiese wirklich gut gefüllt ist. Die Wolkenkratzerattrappe signalisiert das amerikanische Nationalgefühl, das Eckchen Haus als Gegenpol und vor allem der Bewuchs weisen die Situation allerdings als durch und durch kleinstädtisch, eventuell eher sogar ländlich aus. Ein clichéhaft – im besten Sinne – amerikanisches Sommerfest für Jung und Alt und damit ist auch die Essenz dessen erfasst, was die Woodstock Library Fair sein möchte, wie man auch dem aktuellen Programm entnehmen kann.
Die umseitig angebrachte Nachricht auf der von Woodstock nach Bradford, New Hampshire verschickten Karte passt prima in dieses Stimmungsbild: „We are having such a nice visit with our friends over here.“ Das Datum des Poststempels – der 14. August 1961 – macht es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Library Fair Anlass des Besuchs war. Sondern um eine gänzlich davon unabhängige Erholungsreise, bei der auch ein Pferd eine Rolle spielte, die sich leider 56 Jahre nachdem die Ansicht verschickt, nicht mehr spezifizieren lässt. Dass Bibliothek und Bibliotheksfest darin involviert waren, ist unwahrscheinlich, weshalb an dieser Stelle ein Hinweis auf die Woodstock Library TV Show #47 angebrachter ist, die ein interessantes Beispiel für Öffentlichkeitsarbeit mittels Social Media darstellt und in der unter anderem das ausdrücklich politische Motto der diesjährigen Festivität erläutert wird.
(Berlin, 16.07.2017)
Den Zugang zu Büchern einschränken, um die Community zu retten
Zu: Knox, Emily J. M. (2015) / Book Banning in 21st-Century America (Beta Phi Mu Schloars). – Lanham ; Boulder ; New York ; London : Rowman & Littlefield, 2015
Karsten Schuldt
In den USA – aber nicht nur da, sondern auch in anderen Staaten des globalen Nordens – werden Bücher in Bibliotheken und Schulen in unterschiedlicher Form zensuriert: Mal werden sie aus dem Bestand einer Schulbibliothek oder einer Öffentlichen Bibliothek genommen, mal von Leselisten von Schulen gestrichen oder von obligatorischer zu fakultativer Schullektüre erklärt, mal werden Systeme aufgebaut, um den Zugang zu einem Buch von der expliziten Zustimmung der Eltern von Schülerinnen und Schüler abhängig zu machen. Emily J.M. Knox untersucht in ihrem Buch Book Banning in 21st-Century America (Knox, 2015) – und zuvor schon in einem Artikel (Knox, 2014) – die Denkweisen und Argumente derjenigen Personen, die solche Verbote initiieren oder es zumindest versuchen, indem sie sich bei Library Boards oder School Boards beschweren. (more…)
Über die Diskursfigur des Niedergangs.
Eine Kritik zu Colin Robinson: The Loneliness of the Long-Distance Reader. In: New York Times, January 5, 2014, SR6. online
von Ben Kaden / @bkaden
I
In der ersten Wochenendausgabe der New York Times des Jahres 2014 veröffentlichte der Verleger Colin Robinson (OR Books) einen Artikel über Stand und Perspektiven der Lesekultur. Dies betrifft selbstverständlich zunächst die Lesekultur der USA, die sich zum Teil doch deutlich von der in Europa bzw. Deutschland unterscheidet. Bestimmte Trends schlagen allerdings auch hier durch. Der „staccato communication of the Internet“ kann man sich jedenfalls auch hier kaum entziehen. Kurz zusammengefasst lautet seine Einschätzung, dass sich auf dem Literaturmarkt eine Art Matthäus-Effekt abzeichnet („Rich get richer.“), dass es für die Leser zuviel Auswahl (und damit Rauschen) und zu wenige Filter gibt (Ein Indikator: „The New York Times Book Review is now just a third of the length it was in its 1970s heyday.“) und dass daher zwischen Nische und Blockbuster wenig überleben kann:
„In this bifurcation, the mid-list, publishing’s experimental laboratory, is being abandoned.“
Ob das stimmt, wird er am besten wissen, entscheidet er doch als Verleger bei jedem Titel, auf welches Pferd er setzt bzw. welches Buch er macht. Mir geht es hier nur um einen kleinen Aspekt seiner Überlegungen. In einer Passage beschreibt Colin Robinson, wie er die Lage der Bibliotheken in den USA:
Seiner Ansicht nach entspricht die Rolle der Bibliotheken ähnlich der der Literaturkritik, Lesern eine Orientierung in der Vielfalt der verfügbaren Publikationen zu geben. So wie unabhängige Buchhandlungen verschwinden und die New York Review of Books zwei Drittel ihres Umfangs verliert, trägt entsprechend auch der Niedergang des Bibliothekswesens dazu bei, dass, wenn man so will, Ranganathans Formel „every book his/her reader“ nicht mehr greift.
II
Die verlinkten Quellen sind (1.) der State of America’s Libraries Report 2012 der ALA und (2.) die im Weblog der Oxford University Press präsentierten Ergebnisse des Zensus Librarians in the U.S. from 1880-2009 von Sydney Beveridge, Susan Weber und Andrew A. Beveridge (2011). Die Metapher vom Bibliothekar als Tankwart des Geistes stammt aus Richard Powers Wissenschaftsromanze Gold Bug Variations aus dem Jahr 1991.
Der Abschnitt lautet:
„I used to break up the routine of human contact. Librarian is a service occupation, gas station attendant of the mind. In earlier age, I might have made things. Now I only make things available. Another blit of the bulge of the late-capitalist job curve. […] By the millenium half of all service professionals will specialize in processing data. My Question Board then, is both living fossil and meta-mammal.“ (S.35, zitiert nach der Ausgabe von HarperCollins aus dem Jahr 1992)
Abgesehen davon, dass der Bibliothekarsberuf daher nicht unbedingt eine besonders anerkennende Zuschreibung erfährt, wird die – in ihrer Prognose erstaunlich zutreffende – Ansicht dort natürlich von der Protagonistin, der Auskunftsbibliothekarin Jan O’Deigh, getroffen, und zwar aus Gründen, die dem Plot dienen sollen. Sie muss daher nicht notwendig Richard Powers‘ Verständnis der Profession repräsentieren. Was als Nebentatsache sehr erstaunt, ist, dass Richard Powers diesen Zeilen in exakt dem Zeitraum verfasste, zu dem die Zahl der BibliotekarInnen in den USA ihr Allzeithoch erreichte.
Bekanntermaßen ist Richard Powers, wenn es um Fakten geht, äußerst genau:
„The day is easily recreated. Everything about September, 23, 1983, is on microfiche or magnetic disc. Only ask one of the quarter million librarians in the country – 85 % women – for help in retrieving it.“ (S.161)
Diese Werte decken sich weitgehend mit denen des oben erwähnten Zensus (vgl. diese Grafik).Dennoch gibt es auch hier naturgemäß eine Differenz zwischen statistischen Werten und einer subjektiven Einschätzung einer Romanfigur.
Man darf folglich durchaus fragen, ob es zulässig ist, die Position einer Romanfigur als Basis für eine allgemeine Aussage über die Wirklichkeit zu benutzen. Es bleibt der Verdacht, Colin Robinson hätte einen guten Gewährsmann (den Erfolgsschriftsteller) und ein griffiges Detail vor allem gebraucht, um seiner These zusätzlich rhetorische Rotation zu verleihen. Das Schöne an der Metapher eines Tankwarts des Geistes bleibt, dass sie so stimmig scheint. Denn auch an den Zapfsäulen wie bei der Informationssuche bedienen wie heute selbst den Einfüllstutzen bzw. Suchmasken. Wobei die Treibstoffwelt den Vorteil hat, uns nur sehr wenige Wahlmöglichkeiten aufzubürden. Andererseits ist der menschliche Geist auch nicht auf die Funktionalität eines Verbrennungsmotors reduzierbar…
Wenn Colin Robinson also in der New York Times zwei hemdsärmlig verknüpfte Statistiken nicht gerade zielgenau verlinkt und dazu die sachlich bestenfalls begrenzt überzeugende Selbsteinschätzung einer Romanfigur als Maßstab zum Beleg seiner These nimmt, dann entstehen fast unvermeidlich Zweifel an der argumentativen Belastbarkeit des Gesamttextes.
III
Es ist selbstverständlich nicht zu leugnen, dass Bibliotheken bei Einsparkämpfen besonders weiche Ziele sind. Häufig genug wird zudem verkündet, sie seien durch die Informationstechnologie zu Auslaufmodellen geworden (vgl. dazu auch hier) und das Berufsbild „Bibliothekar“ führe in eine Sackgasse.
Es verblüfft jedoch einigermaßen, wenn Diskursakteure wie Colin Robertson, dem offensichtlich an einer vitalen Lese- und damit mutmaßlich auch starken Bibliothekskultur gelegen ist, derart kleinmütig und vielleicht sogar ungeschickt in bestimmte Stimmungen einschwingen, denen man auch anders und selbstbewusster entgegen schreiben könnte.
Schon ein zweiter, nämlich qualitativer Blick sowohl auf die Bibliotheks- wie auch auf die Literaturlandschaft zeigen, dass allzu allgemeine Schlüsse gern ins Leere laufen. Bestimmte Transformationseffekte (Digitalisierung, Vernetzung) betreffen zwar nahezu alle Bibliotheken. Aber die Wirkungen wie auch der Umgang mit diesen Veränderungen sind so vielfältig wie die Handlungsrahmen der jeweiligen Bibliotheken und zugleich, nach welchen Maßstäben auch immer gemessen, unterschiedlich erfolgreich.
Das Problem der Kommunikation über die Gegenwart und Zukunft des Bibliothekswesens liegt meist gar nicht so sehr in dem, was tatsächlich geschieht, sondern in der Tendenz schematischen Denken und Schließen sowie im oberflächlichen, unkritischen, daher bisweilen falschen Übernehmen von Allgemeinplätzen und weitläufig auslegbaren Statistiken. Das Problem, dass sich für die Bibliotheken praktisch daraus ergibt, ist, dass in einer diskursökonomisch stratifizierten Kommunikationswelt Entscheidungsträger prominent platzierte und einfache Stellungnahmen bisweilen lieber zur Meinungsbildung heranziehen, als sich der Mühe einer zusätzlichen Differenzierung auszusetzen. Wenn Kathrin Passig in der ZEIT verkündet, dass die Zeit der Bibliotheken vorbei ist, ist der Einschlag in der Öffentlichkeit riesig. Und wenn man Pech hat, dann entwickeln sich haltlose Zuschreibungen wie „Papiermuseum“ memetische Qualitäten.
Die Stakkato-Kommunikation, die auch die großen Qualitätsmedien sehr intensiv füttern, verlangt wahrscheinlich zwangsläufig nach simplifizierten und drastischen Aussagen. (Weshalb Colin Robinsons Titel The Loneliness of the Long-Distance Reader gar nicht verkehrt ist. Solche Leser finden im Twitterversum eher nicht, was sie suchen. Aber wenn sie dort suchen, suchen sie eben auch an der falschen Stelle. Und wenn man sie im Gegenzug selbst doch sucht, ist auch das aller Wahrscheinlichkeit vergeblich.)
Tatsächlich arbeiteten, laut dem zitierten Zensus, 2009 in den USA nur „noch“ 212.742 BibliothekarInnen, verglichen mit 307.273 am Vorabend des Internets, nämlich 1990. Damit bewegt man sich in etwa auf dem Stand von 1970. Spannend wäre es, zu untersuchen, inwieweit die rasante Steigerung in den Jahren 1970 bis 1990 mit dem Ausbau des Fachinformationswesens und der zunehmenden ökonomischen Bedeutung der Ressource Information in Beziehung gesetzt werden kann und ob folglich die betroffenen Stellen überhaupt mit der von Colin Robinson diskutierten Frage der Lektürevermittlung durch (öffentliche Bibliotheken) in Zusammenhang stehen. Immerhin bemerken die AutorInnen des Zensus-Berichts:
„Thus a large fraction of the decline in the number of librarians has come from their decline in the non-public sectors.“
was ebenfalls die Deutung zulässt, dass vor allem viele Institutionen und Unternehmen ihre Reference Services drastisch abgebaut haben.
Und schließlich ist eine Branche mit 200.000 Beschäftigten auch nicht gerade klein.
Was den ähnlich oft analog verkündeten Niedergang des Buches betrifft, entdeckt man übrigens, dies nebenbei, aktuell in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine ganz beruhigende Aussage des neuen Hanser-Verlegers Jo Lendle:
„Und Bücher sind mächtig wie eh und je. Die großen Diskussionen gehen fast immer von Büchern aus, da können die Talkshows reden, so viel sie wollen. Und bei allem Jammern: Der Buchmarkt macht in Deutschland so viel Umsatz wie Kino, Musik und Computerspiele zusammen, fast zehn Milliarden Euro im Jahr.“
Dem kann man vielleicht entgegenhalten, dass sich die Situation, besonders in des Buchmarkts, in den USA nicht mit der in Deutschland vergleichen lässt. Aber offenbar setzte der arg von der Konkurrenz bedrängte stationäre Buchhandel in den USA (ohne die Ketten Barnes & Nobles und Books-A-Million) 2012 immerhin auch noch 5,76 Milliarden Dollar um (Quelle). Für eine Branche, die vermeintlich schon in den Abgrund stürzt, scheint das gar nicht so schlecht.
Eigentlich hätte Colin Robinson schließlich am Ende der Präsentation des Zensus eine für die Bibliotheksprofession in den USA fast zuversichtliche Aussage auffallen müssen. Die Autoren schließen nämlich mit dem Satz:
„That decline seems to have slowed substantially since 2000, as librarians adjust to and find new roles in the internet age and the extensive increase in information that it has brought about.“
Nun könnte man aus den neuen Rollen tatsächlich folgern, dass sich BibliothekarInnen in ihrer Berufspraxis kaum mehr als Lektüreratgeber für eine Zielgruppe verstehen, die ihr Leseentscheidungen mehr an Goodreads-Rezensionen ausrichtet. Allerdings waren Bibliotheken, was Richard Powers Reference Librarian ja deutlich zeigt, bereits schon länger weitaus mehr als Navigatoren durch die Listen mit literarischen Neuerscheinungen. Und doch zeigt sich selbst dieser Zweig bibliothekarischer Angebote recht lebendig. So konnte sich Douglas Rushkoff, Autor des OR Books-Titels Program or Be Programmed: Ten Commands for a Digital Age, nur im hervorragenden BOOKFORUM präsentieren (und sein Buch auch sonst weithin von der Literaturkritik besprochen) sondern erhielt immerhin erst gestern die Gelegenheit, seinen neuen Titel vorzustellen – in der Mid-Manhattan Zweigstelle der New York Public Library.
09.01.2014
Mondfahrer von heute. Über den Sputnikschock und Diversität.
von Ben Kaden / @bkaden
I
Eine bestimmte (=meine) Generation von Studierenden des Instituts für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin erlebte jeweils meist im ersten Semester ihren Sputnik-Schock. Und zwar in einer Vorlesung bei Professor Umstätter, der dieses Ereignis berechtigt aber soweit erinnerlich auch als einziger der Dozierenden in Beziehung zu dem setzte, was man damals unter Bibliothekswissenschaft verstand, also einer Annäherung an die Informationsversorgung vor allem als Fachinformation mit dokumentationswissenschaftlichem Schwerpunkt.
Aus diesem Zeithorizont begleitet uns das Echo der Dokumentation noch bis heute im Titel des informationswissenschaftlichen Standardhandbuchs Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation und der Leitzeitschrift Journal of Documentation. Ansonsten scheint sich das Phänomen der Dokumentation wenigstens in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft weitgehend in anderen Themen und Schlagwörtern zwischen Informations- und Wissensphänomenen, der Digital Library und dem WWW aufgelöst zu haben. Wo Vladimir Nabokov einmal die schöne Metapher für eine Organisation wählte, die „nur noch ein Sonnenuntergang hinter einem Friedhof sei“, steht über dem Konzept einer Dokumentationswissenschaft schon lang der Abendstern.
Das ist insofern etwas bedauerlich, als dass mit dem bereits vor der Jahrhundertwende zwar etwas abgetragenen aber dafür auch sympathisch unpathetischen Begriff der Dokumentation ein anschauliches Bindeglied für die Gegenstandswelt zwischen Bibliotheks- und Informationswissenschaft existierte:
Bibliotheken befassten sich mit publizierter Information und verwalteten recht grobrasternd Bestände, die Dokumentation interessierte sich für alle greifbare Information, wenn sie nur relevant genug wahr, und verwaltete diese thematisch mittels Deskriptoren (der Datenträger als Objekt war zweitrangig) und die Informationswissenschaft blickte aus einer Metaebene darauf, was Menschen mit Information machen, also auf die Prozesse die den Gegenständen von Bibliotheks- und Dokumentationswissenschaft vorausgehen.
Damit gab es eine klar aufgefädelte Kette und Studierende des Faches wussten, wenn sie wollten, ziemlich genau, womit sich welche Facette beschäftigt. Heute scheint es, als würde die Informationswissenschaft mehr noch als die Bibliothekswissenschaft an dieser Hürde etwas straucheln, was nicht zuletzt daran liegt, dass die digitale vernetzte Gegenwartskultur uns permanent in Mischräumen allgegenwärtiger und diverser Formen von Information, Redundanz, Rauschen und also mehr oder weniger erfolgreicher Kommunikation hält. Soziale Netzwerke wie Facebook sind dabei eigentlich nichts weiter als Radikalisierungen der Dokumentation, wobei die Größe Thema durch die Größe persönliche soziale Identität ersetzt wurde. Selbstverständlich existieren die Erschließungssysteme auf der Zugangsebene höchstens simplifiziert (dafür aber für jeden sofort erschließbar). Auf der Verwaltungsebene der Anbieter sind sie dagegen kaum für Außenstehende einsichtig aber angenommen ziemlich elaboriert.
Eine solche Vermutung scheint jedenfalls insofern naheliegend, da die eigendokumentierten und von den Betreibern zielgerichtet nacherschlossenen Datenmengen dieser Kommunikationsnetzwerke, wir wie lange ahnten und heute sogar wissen, nicht nur Basis von Geschäftsmodellen sind, sondern auch zahlreichen Geheim- und Nachrichtendiensten ein Anwendungs- und Entwicklungsfeld für gesellschaftliches Steuerungswissen bieten. Darüber, wohin wir steuern bzw. gesteuert werden, besteht derweil bei weitem nicht gleichermaßen intensiv elaboriertes Wissen. Und wenn man hört, dass die Europäische Union die Forschungsförderung im geisteswissenschaftlichen Bereich rein auf Projekte aus dem Bereich der Digital Humanities konzentrieren möchte, dann scheint das übergeordnete Interesse an solchen metafunktionalen Fragestellungen auch nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.
II
Im Jahre 1957 und lange vor der Polyexzentrik der Postmoderne hatte man es dahingehend noch gut. Denn man besaß den Kalten Krieg mit seiner bipolaren Ordnung als Orientierungsmuster. Sein Pendant ist heute vielleicht der Krieg gegen den Terror, der allerdings, so wie die Kommunikationsstrukturen, weitaus weniger schematisch aufgegliedert wirkt und auch nicht vergleichsweise mittels (Geheim)Diplomatie verhandelt werden kann. Glaubt man der Zeitung, haben wir es eher mit neoarchaischen Lösungen (und Denkmustern) zu tun, die sich dankbar auf Hochleistungstechnologie stützen. Wir streiten derweil aber auch nicht mehr um die Entwicklung eines besseren Gesellschaftssystems, sondern für die Konsolidierung des erreichten.
Die aktuellen Überwachungspraxen spiegeln das ausgezeichnet wieder und wo früher die Auslöschung der ganzen Erde im Raum steht, bleibt heute nur die Drohung, dass jeder gerade das ein Zufallsopfer sein kann. Über diesen Umweg gelingen eine Konkretisierung der gefühlten Gefährdung und eine weitaus überzeugendere Legitimation von kontrollierenden Eingriffen in das, was man sich einmal als Privatheit erkämpft hat.
Nicht die großen Entwürfe kollidierender Gesellschaftssysteme sondern individuelle Verstrickmuster, wie man sie aus der griechischen Tragödie erinnert und die sich in bester Passung vor einem ständig raunenden Chor aus sozialen und Massenmedien entfalten, dominieren die Stories unserer Gegenwart, wobei wir uns die damit verbundenen klassischen Fragestellungen schenken und rein auf die Fakten konzentrieren. Insofern ist die Umstrukturierung der Geisteswissenschaften von der Deutung hin zur Empirie vollauf konsequent.
Nun gibt es in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Library Quarterly einen kleinen (offensichtlichen Rede-)Text, der auf den ersten Blick fast ein Stück aus der Zeit gefallen zu sein scheint. (Totten, 2013) Denn er schlägt den Bogen in eine Zeit zurück, in der Individualität an sich noch kein allzu großer gesellschaftlicher Wert war, zugleich aber sogar Naturwissenschaftler vereinzelt noch, in den Spätausläufern der Little Science, als Persönlichkeiten (bzw. Eminenzen) galten (und diese Rolle auch Anstrebten), bevor die Big Science sie in Laborteams zum Dienste der Gesellschaft zusammendampfte. Die Invertierung der erfolgten Wertzuschreibung ist soziologisch sehr interessant: Während auf der Ebene des Privaten die persönliche Entfaltung zum Maßstab erwuchs (mit allen bekannten Folgen und Neu-Vermassungen) und die Menschen reihenweise die Fließbänder verließen, entwickelte sich im 20. Jahrhundert für die Wissenschaftler der Anspruch, sich möglichst jeder Idiosynkrasie entkleidet quasi wesensnackt an die Assembly-Line zu stellen und planmäßig Innovation oder wenigstens neues Wissen Projekt für Projekt (erfolgreich) zusammenzuschrauben. Dieser Prozess entfaltet sich bis heute, wobei José Ortega Y Gasset schon wieder recht frisch wirkt, während die Forschungs- und Wissenschaftspolitik noch beschäftigt ist, ihre Moderne zu Ende zu führen.
III
Dass Herman L. Totten, u. a. Dean des College of Information der University of North Texas, Chair der iConference 2013 und Träger des Melvil Dewey Award, nun abstrakt Diversität als Vorteil herausarbeitet, hat leider rein gar nichts mit einem humanistisch geprägten Konzept der Andersheit zu tun. (siehe Totten, 2013) Sondern schlicht mit der Totalverwertung aller Verschiedenheiten zum Wohle eines übergeordneten Ganzen. Sein Einstieg ist eine Erinnerung an den Sputnik-Schock, dem er einst über das Twitter seiner Studienzeit – dem aufgeregten gemeinsamen Zeitungslesen im Wildcat Inn auf dem College-Campus – erfuhr: „Russia Launches the First Satellite!“ Die Scham über den Sieg der Sowjetunion (kurz: Russia) im Space Race der sich dereinst für die fortschrittlichere Hälfte der Welt haltenden Amerikanern, ging tief und sorgte für einige Verstörung. Wie aus – je nach Wetterlage auch buchstäblich – heiteren Himmel wurde das Selbstbild der technologisch führenden Nation erschüttert und, so fürchtete man, das Fremdbild ebenso:
„The United States was humilated. No longer would the world deem America as the superior nation in science and technology.“
Dass es dabei gar nicht mal so sehr darum ging, dass irgendwo am Himmel ein Satellit piepst und blinkt, sondern darum, dass dieselbe Raketentechnologie mutmaßlich aufwandsarm Nuklearsprengköpfe zum Zwecke der Detonation um die halbe Welt schicken konnte, erwähnt der Autor leider nicht. Vielleicht war der Atomkern des Technologiewettstreits im Kalten Krieg den Freshmen dieser Jahre aber auch nicht so bekannt.
Mit der Demütigung entfaltete sich jedenfalls eine große Verwunderung, etwa vergleichbar mit dem inneren Aufruhr des feschen Abschlussballkönigs, der zusehen muss, wie der farblose introvertierte Trottel aus der letzten Bank auf einmal Arm in Arm mit der Prom Queen aus der Ballsaal scharwenzelt – ebenfalls ein uramerikanisches Kulturnarrativ, das sich in zahllosen Generationen prägenden Teenagerfilmen findet, das jedoch heute, da diese einst gehänselten Nerds mit Mitte Zwanzig zu den reichsten Menschen des Landes gehören, weitgehend überlebt erscheint.
Im Jahr 1957 blieb die Frage im Raum:
„How could a country where the majority of the population had only learned to read and write in the last fifty years outdo the United States, the most innovative country in the world?“
Wie haben die Sowjets das gemacht? Herman L. Totten verspricht im Sommer 2013 eine Antwort zu geben und das Originelle an seiner Antwort ist, dass er die Lösung ausgerechnet in der Diversität sieht. Wobei Diversität in seiner Welt folgendermaßen beschrieben wird:
„Diversity includes gender, ethnicity, religion, cultural background, sexual orientation, age, and disabilities.“
Eine Aussage, die, da weitgehend unerläutert, dem Leser mehr als drei Fragezeichen auf den Weg gibt. Zumal die Sowjetunion der 1950er Jahre, wie sogar jeder Readers-Digest-Leser wissen konnte, schon ein paar Jahrzehnte Kulturentwicklung hinter sich hatte, die nicht unbedingt als diversitätsfördernd bekannt waren. Im Gegenteil: Zur Blütezeit Stalins vermochte man nicht selten sogar mit hochkonformen Verhalten als Diversant durchgehen und musste sich in diesem Fall glücklich schätzen, wenn man sich weiterhin in hochdruckhomogenisierten Straflagerkolonnen am Sieg des Sozialismus beteiligen durfte. Für Wissenschaftler gab es zu diesem Zweck der fortgesetzten Teilhabe, wie wir von Solschenizyn wissen, einen eigenen Höllenkreis namens Scharaschka.
Dass Russland gerade für Großprojekte vom Fern- und U-Bahn-Bau über Stahlwerke und Stauseen im Niemandsland bis zum Weltraumprogramm unbegrenzt Menschenmaterial zur Verfügung stand, das man vergleichsweise flexibel nutzen konnte, bemerkt Herman L. Totten genauso wenig, wie, dass die sowjetische Wissenschaft aus naheliegenden Gründen weitaus zentralisierter und also frühzeitig an der Kandare politisch vorgeschriebener Zielstellungen arbeitete. Das erleichterte nicht nur die Abstimmung der Forschungspläne, sondern verkürzte auch Entscheidungsketten.
IV
Für Herman L. Totten ergibt sich der sowjetische Erfolg beim Wettlauf zu den Sternen vorwiegend daraus, dass die Rote Armee (kurz: Russia) 1945 tausende deutsche Wissenschaftler und versprengte jüdische Intellektuelle („the brightest and best minds in Europe“) nach Russland brachte. „Behind the Iron Curtain, Russia abducted and exploited the brilliant minds of these people.“ Das Quantum Wettbewerbsvorteil lag also im rücksichtlosen Import vielfältiger Expertise und so verkehrt ist das gar nicht. Denn Sergei Koroljow, DER (Scharaschka erfahrene) ingenieurtechnische Weltraumpionier der Sowjetunion dieser Zeit, brachte sich tatsächlich aus Deutschland ein paar kluge Assistenten aus dem Umfeld Wernher von Brauns auf sein abgeschiedenes Forschungseiland. Von Braun dagegen fand als einer von „some [abducted] German scientists“, die aber offenbar eine vergleichsweise überschaubare Rolle spielten in Fort Bliss, Texas dank zweier Integrationsprojekte namens Overcast und Paperclip sein Aus- und Einkommen. Die deutschen Denker im sowjetischen Raumfahrt-Think-Tank durften in den 1950er wieder zurück zu ihrer Heimaterde, nachdem sie ihren Anteil zum Wettbewerbsvorteil („The advantage of harnessed diversity! This advantage always leads to success.“) beigesteuert hatten.
In der Folge des Textes erwähnt Herman L. Totten dann doch noch das Vermixen von Diversität in der sowjetischen Kultur zu etwas, was er „Soviet puree“ nennt, dem er den „tossed salad“ (offensichtlich und hoffentlich in Unkenntnis der Slang-Bedeutung dieser Wendung) der USA entgegensetzt. Spätestens hier verliert die Brücke zwischen Sputnik-Schock und Diversität vollends ihr Geländer. Was erwiesenermaßen stimmt, ist, dass die USA als Schlussfolgerung aus dem ersten menschengemachten Erdtrabanten massiv in ihr Bildungs- und natürlich Fachinformationswesen investierten. Ein Effekt war offensichtlich auch die forcierte Entwicklung des Online Retrieval (Umstätter, 2000, S. 191), was aus heutiger Sicht erstaunlich geradlinig zum Googleversum führte.
Hermann L. Totten erwähnt die enorme Steigerung der Ressourcen, die der National Science Foundation (NSF) vom Kongress zugewiesen wurden,
„to promote the progress of science; to advance the national health, prosperity, and welfare; to secure the national defense“.
Es überrascht einerseits, dass an dieser Stelle das Schlagwort “Big Science” nicht fällt und dass andererseits der Dean einer informationswissenschaftlichen Einrichtung die Folgen für die Fachinformation – unter anderem den Ausbau von Metadokumentationen wie Referatediensten – nicht erwähnt. Beispielsweise wurde die Indexierung der Chemical Abstracts in den frühen 1960er computerisiert, was im Anschluss an den von Herman L. Totten ebenfalls unerwähnten Weinberg-Report nur folgerichtig war. Denn der Bericht stellte dezidiert die potentielle Bedeutung von (standardisierten) Referate- und Nachweisdiensten heraus. (Weinberg et al., 1963, S.4) Wobei diese Erkenntnis zugegeben weniger exklusiv von Alvin M. Weinberg und seinem Team hervorgebracht wurde, sondern als generelle Notwendigkeit schlicht in der Luft lag.
Aber immerhin hatte es so die Regierung der USA auch noch einmal expliziert auf dem Tisch, genauso wie die formulierte Notwendigkeit, die Fachinformationsflüsse an zentraler Regierungsstelle um Blick zu haben – also eine Art „Planning Tool for Resource Integration, Synchronization, and Management” – von Informationsflüssen. Es liegt eine gewisse schicksalshafte Ironie in der Tatsache, dass Alvin Weinberg gut zehn Jahre später von Präsident Nixon aus seiner Wissenschaftskarriere als Kernforschungsinstitutsdirektor geworfen wurde, weil er sich zu fortschrittsbremsend-technologiefolgenabschätzend (so die Einschätzung der Regierung) bei der Entwicklung Nuklearreaktoren zeigte. Am Ende eines Tages läuft es ja trotz aller Diversitätsversprechend des „tossed salads“ auf die Frage nach der Verteilung von Entscheidungsmacht heraus.

Der Juli 1960 führte in den USA zu einigen Neuerungen. Unter anderem wurde das Prä-Touchpad Etch-a-Sketch auf den Markt gebracht. Zuvor jedoch, am 04. Juli, wurde die offizielle Flagge mit den 50 Sternen (nach dem Entwurf des 17-jährigen Robert G. Heft ), die es auch auf den Mond schaffte, erstmalig aufgezogen. Am selben Tag erschien die berühmte 4 Cent-Briefmarke (Scott-Katalog-Nummer 1153, gestaltet vom neusachlich geprägten Künstler Stevan Dehanos), produziert nach dem Monsignore des Wertzeichendrucks des 20. Jahrhunderts, Gualtiero Giori, benannten Druckverfahren (zweifarbiger Stichtiefdruck). Zwei Tage zuvor war die American Woman Issue (Scott-Nr. 1152) an den Postschaltern gelangt, die Mutter und Tochter hinter einem aufgeschlagenen Buch zeigt und als „a tribute to American women and their accomplishments in civic affairs, education, arts and industry“ dienen sollte. Die Briefmarkengeschichte ließe, wie sich zeigt, auch in diesem Fall eine wunderbare sozialgeschichtliche Zeitanalyse zu. Der gezeigte Beleg markiert nur eine Perspektive, die aber fast wie geplant die Verknüpfung von Nationalstolz, Wert der Diversität und optimierter Verwaltung kombiniert. Auf welcher Grundlage der Sender des Briefes aus Minneapolis ausgerechnet diese drei Marken wählte, ist leider nicht mehr ermittelbar. In jedem Fall griff er zu der im Juni 1981 ausgegebenen Sondermarke zum „International Year of the Disabled“ (Scott Nr. 1312) der UNO, die von der Zeichnerin und Streiterin für die Rechte Behinderter streitenden Martha Perske entworfen wurde. Interessant ist an der Marke die Betonung die Verknüpfung mit dem Erkenntnisinteresse unter dem Slogan der trotz der körperlichen Einschränkung gegebenen Befähigung. Wirklich aussagekräftig wird jedoch erst der Vergleich mit einer am 19.07.1960 ausgegebenen Briefmarke. Die vom eher für seiner Cover-Gestaltung für Groschenromane bekannten Carl Bobertz entworfene Ausgabe (Scott Nr. 1155) zeigt ebenfalls einen Mann im Rollstuhl, der jedoch nicht ein Mikroskop sondern eine Bohrmaschine bedient. Die damit verbundene Aufforderung las sich: „Employ the Handicapped“. Zur Motivation der Marke ist mir nichts bekannt. Da der gezeigte Industriearbeiter jedoch beinamputiert zu sein scheint, könnte ein Bezug zur Sorge um Kriegsveteranen vorliegen. Für unsere kleine Nebenanalyse zeigt sich in den 20 Jahren Differenz zwischen Briefmarkenausgaben aber vor allem der Schritt von der Beschäftigung in der Industrie zur Teilhabe an einer Wissenschaftsgesellschaft. Die dritte Briefmarke auf dem Beleg zeigt schließlich die von Rudolph de Harak ziemlich lieblos gestaltete Figur des Metallmagnaten Joseph Wharton, der hier als Stifter der Wharton School an der University of UPenn geehrt wurde. (Scott Nr. 1920) An die Schalter kam die Ausgabe ebenfalls im Juni 1981. Die Wharton School zählt bis heute zu den Topadressen, die man für einen MBA in Betracht ziehen kann. Die derzeit dort lehrende Professorin für Informationsmanagement, Shawndra Hill, wurde zudem in diesem Jahr dadurch international bekannt, dass sie den Beruf das „Data Scientist“ zum mutmaßlich „sexiest job of the 21st century“ erklärte. (Allerdings zitierten sie nicht alle Quellen, die über diese Aussicht berichteten, als Quelle.) So schließt sich einstweilen der Kreis vom Nationalgefühl über die Integration in Wissensgenerierungsprozesse hin zu Ökonomisierung und Big Science, die eigentlich schon immer notwendig auch Big Data war. Dass die US-Post allerdings noch eine Briefmarke zu Ehren der Big Data Scientists herausbringen wird, ist angesichts ihrer wirtschaftlich prekären Lage nicht sicher. Wenn sie es jedoch tut, wird sie deren Verwendung wahrscheinlich minutiös dokumentieren. So ist sie also selbst bereits längst im Big-Data-Business aktiv.
V
Herman L. Tottens Volte pariert diese Aspekte durch die bekannte Praxis des Ausblendens. Sein Diversitätsbegriff ist, vorsichtig formuliert, unterreflektiert. Seine Schlüsse wirken teilweise fast rührend. Die zentrale Folge des Sputnik-Schocks ist für ihn eine Öffnung des Bildungssystems „to include all races and cultures living in the United States“, was ebenfalls eine gewisse Verkürzung der Geschichte des Bildungswesens der USA darstellt. Und vielleicht dann einen Hauch schönrednerisch wirkt, wenn man sich beispielsweise an die Kämpfe um die Desegregation des Schulbesuchs erinnert, die sich etwa zeitgleich mit dem Space Race entfalteten. Die Rassentrennung an US High Schools wurde nicht aus der Erkenntnis, dass Diversität die Wissenschaft befördert, aufgehoben. Sondern schlicht weil sie verfassungswidrig war. (Brown vs. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954))
In der aufgeräumten Argumentationswelt von Herman L. Totten liest man dagegen:
„Monies were used to promote inclusiveness, which is the embracing and harnessing of a diverse talent pool. As a result of this harnessed diversity, the United States beat the Russians to the moon! In other words, diversity is an advantage to the nation as well as an advantage to all of you who are given the opportunity of an education to promote this inclusiveness.”
Es ist nicht ganz klar, wen der Dean hier adressiert, aber sein Text liest sich insgesamt wie eine Programmrede, die er vor möglicherweise betroffen zu Boden blickenden Absolventen des mehrfach erwähnten Institute of Museum and Library Services (IMLS) hielt, dessen Weblog einen solchen Termin vermerkt. (Cherry, 2012)
Doch selbst wenn man eine solch verkürzte Darstellung der Entwicklung der amerikanischen Bildungspolitik zur Integrativität und Diversitätsförderung in einer kleinen Festansprache zugunsten eines in jedem Fall hehren Anliegens hinnimmt, bleibt unklar, warum The Library Journal diesen Holzschnitt auch noch abdruckt. Und ob Sätze wie,
„People of diverse cultures, religionsm and social status founded the United States. Do you realize that this diversity has made the United States the strongest and greatest nation on earth?”,
in den USA tatsächlich das Kriterium für „scholarship about libraries as organizations that connect their communities to information” und „ research that explores the changing roles of libraries as they pertain to the growing influence of information in policymaking, equity, access, inclusion, human rights, and other societal issues.” erfüllen, bleibt wenigstens vor dem Horizont kontinentaleuropäischer Ansprüche an einen intellektuellen Diskurs fraglich.
Es könnte freilich sein, dass die Perspektive auf den Text durch eine mangelnde Kenntnis der lokalen Bedingungen in Denton, Texas verzerrt sind und dass die Aversion gegen Superlative bündelnden Aufbruchsappelle wie
„[b]y embracing diversity you will become a part of strongest nation in the world’s quest for knowledge, security, and peace.”
aus dem Ennui eines sehr diversitätsgeforderten Berliner Alltags resultiert. In jedem Fall gibt es die iConference 2014 an der Berlin School of Library and Information Science unter dem denkbar um Lokalkolorit bemühten Motto „Breaking down walls“ und Beiträge wie der von Herman L. Totten deuten die Möglichkeit eines kommenden kräftigen Kulturschocks mehr als an.
(Berlin, 04.07.2013)
Literatur
Brown et al. vs. Board of Education of Topeka et al. (1952-1954) Appeal from the United States District Court for the District of Kansas. No. 1 Entscheidung vom 17. Mai 1954, http://caselaw.lp.findlaw.com/scripts/getcase.pl?court=US&vol=347&invol=483
Kevin Cherry (2012) Things are Going SWIM-ingly Out West. In: UpNext: The IMLS-Blog. 07.12.2012, http://blog.imls.gov/?p=2009
Herman L. Totten (2013) The Advantages of Diversity. In: Library Quarterly. Vol. 83, No. 3, S. 204-206. http://www.jstor.org/stable/10.1086/670694
Walther Umstätter (2000) Die Nutzung des Internets zur Fließbandproduktion von Wissen. In: Klaus Fuchs-Kittowski, Heinrich Parthey , Walther Umstätter, Roland Wagner-Döbler (Hrsg.) Organisationsinformatik und Digitale Bibliothek in der Wissenschaft: Wissenschaftsforschung Jahrbuch 2000. Berlin: Gesellschaft für Wissenschaftsforschung 2010. S. 179-199 / 2. Auflage 2010 verfügbar unter http://www.wissenschaftsforschung.de/JB00_179-200.pdf
Alvin M. Weinberg / The President’s Science Advisory Committee (1963) Science, Government, and Information. The Responsibilities of the Technical Community and the Government in the Transfer of Information. Washington: US. Government Printing Office
Utopie und Praxis. Anmerkungen zur Digital Public Library of America.
von Ben Kaden
Am Anfang steht in gewisser Weise ein Remix, was gut passt, sind doch die USA per se so etwas wie eine grundständige Remixkultur. In zwei nahezu mythischen Bausteinen des Selbstverständnisses der USA verankerte Robert Darnton die Idee der Digital Public Library of America (DPLA, www.dp.la). Erstens in dem Streben nach einer an den Ideen der Aufklärung ausgerichteten Utopie, also einer zukünftigen und besseren Welt, die zugleich mit diversen religiösen Strängen, Zwängen und Ethiken durchsetzt wurden. Und zweitens in einer pragmatischen Einstellung, die die Tat höher schätzt als den Diskurs, was sich vielleicht auch in einer Gegenüberstellung des administrativen Apparats von Europeana und DPLA ablesen lässt und ziemlich präzis die Differenz zwischen der alten und der neuen Welt sichtbar macht.
In gewisser Weise führt Darnton das Beste aus beiden Welten in dem Motto „Think big, begin small” zusammen. Und dies vor allem schnell. Von der Idee zur Plattform mit zwei Millionen Objekten in zweieinhalb Jahren ist fraglos ein bemerkenswertes Tempo. Dokumentiert sind diese Zwischenschritte in einigen Aufsätzen vor allem in der New York Review of Books, die sich mittlerweile in gewisser Weise als ein Making-Of lesen lassen und in der aktuellen Ausgabe noch einen vorläufigen Endpunkt finden. (vgl. z.B. Darnton, 2010, 2011a, 2011b, 2013 bzw. auch Kaden, 2011)
Wobei die nackte Taktung noch nichts über die Qualtität aussagt. Die Deutsche Digitale Bibliothek brauchte auch kaum drei Jahre von der Erstankündigung bis zur Freigabe des BETA-Portals. Andererseits begann die DPLA fast als eine Art Liebhaberprojekt, also durch private Initiative. Vergleiche zwischen US-, europäischen und deutschen Projekten dürften allerdings insgesamt notwendig unfair sein, denn zu unterschiedlich sind die Erstellungskontexte von urheberrechtsräumlichen bis hin zu förderpolitischen Aspekten. Dessen ungeachtet muss man Darnton und seinen Mitstreitern Respekt zollen, wenn sie ein kerneuropäisches Bildungsideal in eine rasant umgesetzte und weitgehend funktionierende Lösung gießen. Wobei die DPLA wir wie sie heute antreffen tatsächlich erst der kleine Anfang sein soll. Und die Begrenzung auf die USA müsste sich genau genommen von selbst auslösen, sind Land und Kultur nicht nur historisch ohne die vielfältigen Verbindungslinien zu europäischen, afrikanischen und asiatischen Kulturen nicht vorstellbar.
Darnton ist weltgewandt genug, um dies zu sehen, denn wie kaum einer seiner Landsleute kennt sich der Historiker aus eigener Anschauung auch mit den Bedingungen der europäischen Wissenschaft und aus eigener Forschung mit den Prinzipien der Aufklärung und also dem Frankreich des 18. Jahrhunderts aus. Außerdem hat es sicher einen Grund, dass die Interoperabilität mit Europeana von Beginn an ein Ziel der Entwicklung ist. So existiert auch bereits eine App mit der sich DPLA und Europeana zugleich durchsuchen lassen (http://www.digibis.com/dpla-europeana). Das Signal der Koexistenz statt Konkurrenz dürfte damit schon gesetzt sein.Es ist mehr als bemerkenswert, wie Darnton es (nicht zuletzt mit unermüdlicher Lobby-Arbeit) nach seiner Emeritierung unternimmt, die von ihm beforschte Idee der Aufklärung in eine konkrete Anwendung zu gießen. Ein Enzyklopädist muss und kann er nicht mehr werden. In dieser Weise waren ihm Jimmy Wales und Larry Singer mit der Wikipedia ein Jahrzehnt voraus.
Die DPLA verkörpert (falls das Wort „verkörpert” auf immaterialle Kontexte anwendbar ist) jedoch etwas viel Offeneres und daher möglicherweise viel Größeres. Auch sie verwirklicht eine in Analogkulturen gewachsene Idee mit der Hilfe neuer Technologien in einem virtuellen Raum. Steht die Wikipedia für die offene, aber streng an Faktualitäten rückgebundene Dokumentation des Bekannten, so steht hinter der DPLA das Drängen hin zu einer ungehinderten Zirkulation der Ideen. Nicht die Datenbank, sondern der öffentliche diskursive Fluss ist die Zieladresse dieses Konzeptes, wobei Darnton sich beim Begriff der Öffentlichkeit eher unentschieden zwischen Michel Foucault und Jürgen Habermas hielt und sich am Ende eher zu Gabriel Tarde hingezogen fühlte. (vgl. Darnton (2002), S.11f.)
Medientheoretisch zeigt sich Darnton erwartungsgemäß auf der Höhe der Zeit, denn dem von ihm gesteckten Ziel der Diffusion von Ideen kam die Drucktechnologie zwar sehr entgegen, zugleich besaß sie jedoch ihre Schwachstellen bezüglich der Reichweite, die erst mit den elektronischen Massenmedien gemindert und – so die Hoffnung – mit dem Internet weitgehend ausgeglichen werden können:
„We have the technological and economic ressources to make all the collections of all our libraries accessible to all our fellow citizens – and to everyone everywhere with access to the World Wide Web. That is the misson of the DPLA.” (S. 4)
Dass die winzige Bedingung „access to the World Wide Web” der zentralen Hürde der Streuung von Printprodukten („low rate of literacy”, „high degree of poverty”) nicht unbedingt entbehrt, weiß Robert Darnton vermutlich auch, reflektiert dies aber im vorliegenden Text nicht weiter. Ein blinder Fleck? Ein trüber vielleicht. Der Digital Divide mag in den USA bei einer Internetversorgung von nahe 80 % der Bevölkerung (Warf, 2013) überschaubar sein, aber ist dennoch nach wie vor gegeben. (ebd.)
Und auch die Idee, dass die derzeitigen Ideen- und Wissenskulturen nicht zwangsläufig in Bibliotheksbeständen repräsentiert werden – die Born-Digital-Materialien spielen in diesen bisher bestenfalls eine Nebenrolle. Den einigermaßen profanen Grund dafür benannte Robert Darnton in einer Replik auf eine entsprechende Anmerkung durch Joseph Raben: „I emphasized written texts, because we face a problem of feasibility.” (vgl. Raben, Darnton 2010)
Er schließt jedoch an derselben Stelle diese Materialien als unbedingt relevant in die Planungen für die DPLA ein. Wenn man schließlich in die aktuellen Materialien hineinbrowst, findet man entgegen der Vermutung überraschend (und bei zweiten Gedanken auch aus offensichtlichen Gründen) viel Archivgut und eine Menge sehr heterogenen Materials, das direkt von archive.org eingebunden wird.
Eine Ursache der forcierten Bibliotheksbestandlastigkeit dürfte neben der grundsätzlichen Anbindung an das Bibliothekswesen der USA aber auch darin zu suchen sein, dass die DPLA eine Art direkte Reaktion auf das Google Books Project war. Der Traum einer kompletten Bestandsdigitalisierung existierte schon bevor es Google gab, aber erst die Alpha-Suchmaschine koppelte die entsprechenden Ressourcen mit dieser Vision und dies mit einer Überbetonung der uramerikanischen Handlungsprämisse. „Am Anfang war die Tat”, die das Projekt schließlich mit einigem Bohei an die gläserne Wand des Copyright Law donnern ließ. Darnton betont, dass es sich bei der DPLA nicht um eine Ersatzveranstaltung zum Google Books Project handelt, dass sie freilich durchaus durch dieses inspiriert wurde. (vgl. dazu auch Darnton, 2011a) Und dass Google als Partner nach wie vor gern gesehen wird.
Rein strukturell ist die DPLA eine verteilte Rechnerarchitektur mit einem zentralen Portal und tatsächlich erinnert einiges in der Beschreibung an die Europeana. Die Plattform greift zunächst auf vorhandene Digitalisate Anderer zurück, wobei dieser Bestand buchstäblich beständig erweitert werden soll, bis man von einer National Digital Library sprechen kann. Nicht nur deshalb ist es sicher auch für die DDB hochinteressant zu sehen, wie sich dieser Anspruch realisiert, wie die Koordination der zahlreichen „Content“ und „Service Hubs“ in der föderalen Struktur der USA funktioniert („forty states have digital libraries“) und welche Stolperdrähte sich erkennen lassen.
Die Leitplanken der Entwicklung der DPLA sind derzeit pekuniärer und urheberrechtlicher Natur: Die Sammlung “will grow organically as far as the budget and copyright laws permit.” Dass sich die Unternehmung als nachhaltig erweist, hängt besonders am Parameter „Geld“. Ein Großteil der Akutarbeit im DPLA-Umfeld wird daher unvermeidlich auf die Akquise von Mitteln zielen. Die üppige Präsenz von Stiftungen in den USA als Adressaten ist der Hauptansatzpunkt, der bereits allein deshalb aussichtsreich ist, weil bereits die Entwicklung der DPLA bis heute bereits zu großen Teilen über diese Kanäle finanziert wurde. Darnton hofft zudem auf die prinzipiell naheliegende Einbindung der Library of Congress in das Projekt, was ein maßgebliches Signal an mögliche Geldgeber sein dürfte.
Am Problemfeld Copyright wird dies vermutlich wenig ändern. Darnton führt aus, wie die derzeitigen rechtlichen Regelungen die Verfügbarmachung von Beständen auf Publikationszeiträume beschränken, welche vor der Prämisse eines Flusses von Ideen vorrangig für eine neohistorisierende Rückbesinnung geeignet sein könnten (die Grenze liegt in der Regel im Jahr 1923), den intellektuellen Esprit selbst der Blüte der goldenen Zwanziger allerdings heute noch nicht digital sichtbar werden lassen. (zum Aspekt des Urheberrechts sh. u.a. auch Dotzauer, 2013) Und auch sonst gilt, was Jeff John Roberts zum Start des Portals notierte:
„While the DPLA is a beautiful and important endeavor, it also feels woefully incomplete.” (Roberts, 2013)
Setzt man mit den Zielen etwas greifbarer an, dann finden sich bereits jetzt Einsatzfelder, die mutmaßlich vor allem im kuratorischen Bereich liegen werden. Das durch Neugier getriebene Stöbern und Entdecken aus Freude ist sicher eine Weile ersprießlich, bleibt aber dauerhaft nur reizvoll, wenn es sich relevant an eine entsprechende Arbeit mit dem Material anbinden lässt. Vermutlich wird dieser Aspekt bei der DPLA nur eine nachgeordnete Rolle spielen können.
Aus wissenschaftlicher Sicht, also vor der Prämisse einer erschöpfenden Materialsichtung, ist die Nutzung der DPLA-Bestände aufgrund der objektiv existierenden Lücken nur sehr eingeschränkt sinnvoll und die Fahrt zur Bibliothek oder ins Archiv wird auch zukünftig unerlässlicher Teil der Forschung bleiben.
Eine aufbereitete Vermittlung, Komposition und Kontextualisierung auf Grundlage der vorhandenen Bestände scheint dagegen etwas zu sein, was sich nahezu aufdrängt. Dass sowohl bei der DPLA wie auch der Europeana die Kulturvermittlung noch wichtiger als die Informationsbereitstellung ist, zeigt sich in gewisser Weise bereits in der Grundanlage.
Darnton betont weiterhin die Rolle der Einbindung der Bestände in die Lehre an den Colleges und auch wenn die Zahl der Studierenden, die sich länger mit digitalisierten Manuskripten von Emily Dickinson befassen, auf bestimmte Fachbereiche limitiert und daher übersichtlich bleibt, so deutet sich an diesem von ihm eingeführten Beispiel an, was die Sammlung zu leisten vermag:
„Teachers will be able to make selections form it and adjust them to the needs of their classes.” (S. 6)
Die DPLA kann so zur virtuellen Lernumgebung für die Geisteswissenschaften avancieren, braucht aber idealerweise entsprechende Werkzeuge zur digitalen Kuratierung. Dem Zeitgeist entsprechend bietet man dafür externen Entwicklern die Möglichkeit, APIs zu nutzen bzw. eigene Apps zu programmieren und in der App Library (der Terminus Library wird hier interessanterweise so verwendet, wie man es aus der Software-Entwicklung kennt und verzeichnet keine Bestände, sondern sozusagen Digital Library Applications) der Plattform zur Verfügung zu stellen. (vgl. zu den möglichen Erweiterungen u. a. Geuss, 2013)
Das Digital Humanities Zentrum der Havard University (metaLAB) bietet mit Library Observatory (http://www.libraryobservatory.org/ bzw. http://www.jessyurko.com/libob/) bereits ein Visualisierungswerkzeug für die DPLA an. Klar ist, dass man sich damit aktuell noch in der „begin small”-Phase befindet und das Angebot weit davon entfernt ist, wirklich als massentaugliches Produkt Teil der alltäglichen Informations- und/oder Kulturarbeit zu werden.
Darntons umfängliche Vorstellungen von der DPLA sollte man daher keinesfalls als Produktbeschreibungen, sondern differenziert als Perspektivlinie verstehen. Diese jedoch enthält deutlich eine ganze Reihe von Aspekten, die generell für die digitale Bibliotheksdienstleistungen bedeutsam sind. Digital Curation und das Hineinholen von Raum- und Objektkulturen in diese Umgebungen (wie es beispielsweise auch Projekte wie epidat angehen: http://steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat) dürften zentrale Bauteile dieser mehr digitalen Kulturräume als digitale Bibliotheken sein.
Textmedien sind in diesem Kontext nur eine von diversen Bezugsgrößen für Bibliotheken. Zukünftig dürften alle Artefakte, die digitalisierbar sind und zu denen Metadaten erfasst und relationiert werden können, legitime Bestände digitaler Bibliotheken sein. Die damit verbundenen Herausforderungen sind zweifelsohne immens. Und sowohl die Europeana, die DDB und die DPLA in ihrer aktuellen Ausprägung zeigen, dass wir von diesem Eisberg der digitalen Erschließung von Kultur bestenfalls die Spitze sehen. Und auch die vermutlich erst aus erheblicher Entfernung.
(Berlin, 22.04.2013 / @bkaden)
Literatur:
Robert Darnton (2002) Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Robert Darnton (2010) The Library: Three Jeremiads. In: New York Review of Books. Volume 57, Nummer 20. http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/dec/23/library-three-jeremiads/?pagination=false
Robert Darnton (2011a) Google’s Loss: The Public’s Gain. In: New York Review of Books. Volume 58, Nummer 7. http://www.nybooks.com/articles/archives/2011/apr/28/googles-loss-publics-gain/?pagination=false
Robert Darnton (2011b) Jefferson’s Taper: A National Digital Library. In: New York Review of Books. Volume 58, Nummer 18. http://www.nybooks.com/articles/archives/2011/nov/24/jeffersons-taper-national-digital-library/?pagination=false
Robert Darnton (2013) The National Digital Public Library is Launched! In: New York Review of Books. Volume 60, Nummer 7, S.4-6. http://www.nybooks.com/articles/archives/2013/apr/25/national-digital-public-library-launched/
Georg Dotzauer (2013) Virtuelle Bibliotheken: Aller Welts Wissen. In: Tagesspiegel / tagesspiegel.de, 13.04.2013 http://www.tagesspiegel.de/kultur/digital-public-library-of-america-eroeffnet-virtuelle-bibliotheken-aller-welts-wissen/8059852.html
Megan Geuss (2013) The Digital Public Library of America: adding gravitas to your Internet search. In: ars technica. 21.04.2013, http://arstechnica.com/business/2013/04/the-digital-public-library-of-america-adding-gravitas-to-your-internet-search/
Ben Kaden (2011) Die Materialsammlung. Über Robert Darntons Zwischenbericht zur DPLA in der NY Review of Books. In: LIBREAS.Weblog, 05.12.2011. https://libreas.wordpress.com/2011/12/05/051211/
Joseph Raben, Robert Darnton (2010): Digital Democratic Vista. In: New York Review of Books, 25.11.2010 / http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/dec/23/digital-democratic-vistas/
Jeff John Roberts (2013) America’s Digital Library launches — without a peep from Google. In: PaidContent.org. 19.04.2013 http://paidcontent.org/2013/04/19/americas-digital-library-launches-without-a-peep-from-google/
Barney Warf (2013) Contemporary Digital Divides in the United States. In:
Tijdschrift voor economische en sociale geografie. Volume 104, Ausgabe 1, S. 1–17, February 2013. DOI: 10.1111/j.1467-9663.2012.00720.x
Über die mögliche pädagogische Aufgabe von Universitätsbibliotheken, über Open Access, über die ALA, über die Ausbildung und was uns sonst noch so einfällt…
von Karsten Schuldt
Zu: T.D. Webb / Divided Libraries: Remodeling Management to Unify Institutions. – Jefferson, N.C.; London: McFarland, 2012
Divided Libraries ist ein Buch, das sich so liesst, als hätte es einmal einen Plan für eine Publikation gegeben, der nach dem dritten Kapitel aufgebenen wurde, damit die restlichen Seiten mit irgendwas gefüllt werden können. Oder anders: Der Anfang, genauer die ersten drei Kapitel des Buches, sind meinungsstark und diskussionswürdig, die restlichen fünf nicht. Sie scheinen eher einen relativ beliebigen Anhang darzustellen.
Dabei hat der Autor T.D. Webb, seit mehr als drei Jahrzehnten in US-amerikanischen und anderen englischsprachigen Bibliotheken u.a. als Direktor tätig, den Ruf, eine sehr klare und lautstark vertretene Meinung zu haben. Das trifft auch für dieses Buch zu. Nur: Diese Meinung überzeugt nicht wirklich, über das ganze Buch gesehen ist sie auch nicht konsistent, weil fast schon wahllos die Themen gewechselt werden.
Grundsätzlich ist Webb unzufrieden mit den US-amerikanischen Hochschulbibliotheken, der Publikationslandschaft, der ALA, der bibliothekarischen Ausbildung und anderen Dingen – was sein Recht ist. Aber es hätte nicht als ein – auch noch zusammenhängend präsentiertes – Buch verkauft werden müssen.
Weltgeist, ick hör dir trapsen. Wayne Bivens-Tatums Versuch, die Aufklärung zu instrumentalisieren
Karsten Schuldt
Zu: Bivens-Tatum, Wayne (2012). Libraries and the Enlightenment. Los Angeles: Library Juice Press, 2012
Libraries and the Enlightenment ist – fast kann man es erwarten, da es bei Library Juice Press erscheint – nicht wirklich ein Buch über die Aufklärung und ihre Beziehung zu Bibliotheken oder der Bibliotheksgeschichte. Vielmehr ist es ein Versuch, einen sehr reduzierten Satz an moralischen Regeln als Teil der Aufklärung zu erklären und diesen dann in die US-amerikanischen bibliothekspolitischen Diskussionen einzuführen.
Wayne Bivens-Tatum, der Autor des Buches, gibt vor, eine Beziehung zwischen den beiden Themenbereichen des Buchtitels herzustellen. Real allerdings möchte er eigentlich folgendes sagen: Die Aufgabe der Bibliotheken ist es (a) allen Menschen offen zu stehen, (b) alle Medien zur Verfügung zu stellen und (c) Bildung zu befördern. Dieser Meinung kann der Autor auch gerne sein, aber seine inhaltliche Herleitung funktioniert nicht richtig. (more…)
These: Die New Left ist Schuld am beklagenswerten Zustand der bibliothekarischen Literaturberatung
von Karsten Schuldt
Zu: Dilveko, Juris ; Magowan, Candice F.C. / Readers‘ Advisory Service in North American Public Libraries, 1870-2005. Jefferson, North Carolina ; London : McFarland, 2007.
Readers‘ Advisory Service in North American Public Libraries, 1870-2005 scheint auf den ersten Blick eine historische Studie über ein spezifisches Bibliotheksthema darzustellen. Realistisch betrachtet ist es aber eine in weiten Strecken unerfreuliche Ausbreitung eines einzigen ideologischen Arguments, nämlich dass die heutige Situation (beziehungsweise die Situation im Jahr 2007) der Literaturberatung in US-amerikanischen Public Libraries beklagenswert sei und die Schuld dafür bei der New Left der 1960er und 1970er Jahre zu verorteten ist. Oder mit anderen Worten: Das Buch ist ein politische Polemik aus der nordamerikanischen Rechten, welche sich allerdings nicht so sehr gegen die Linke, sondern gegen den vorgeblichen Werteverfall in Bibliotheken und Kultureinrichtungen richtet. (Zu vermerken ist, dass die beiden AutorInnen an der Universität Toronto und nicht in den USA angestellt sind beziehungsweise waren. Sie argumentieren aber, als wären sie vor allem Teil des US-amerikanischen Diskurses.) (more…)
Bibliotheken für Menschen in Armut, lokale Ansätze
Zu: Leslie Edmonds Holt ; Glen E. Holt (2010) / Public Library Service for the Poor : Doing All We Can. Chicago : American Library Association, 2010.
Von Karsten Schuldt
Würde im deutschsprachigen Bibliothekswesen ein Buch zum Thema „Bibliothekarische Dienste für Menschen in Armut“ publiziert, wäre das wieder nur ein Beispielsammlung (auch wenn sie „Best Practice“ genannt würde) oder aber irgendwer könnte sich nicht zurückhalten, ungeachtet des Inhalts das Buch gleich „Handbuch“ zu nennen und damit den Anspruch zu erheben, wirklich alles zum Thema zu sagen.
Glücklicherweise tun Leslie Edmonds Holt und Glen E. Holt weder das eine noch das andere. Genauer: Sie kritisieren, (more…)
It’s the frei<tag> Countdown. Noch 22 Tage.
„How desperately I wanted to forsake these facts, to open a smelly old book or to go down on a pretty young girl instead.” – Gary Shteyngart, Super Sad True Love Story, S. 79
“Another girl was going for that New Naked Librarian look, very little covering her body except glasses as thick as my storm windows, which I thought was funny because even a fine institution like Elderbird had recently closed its physical library, so what the hell was this girl even referencing” – Gary Shteyngart, dito, S. 204
Es ist noch gar nicht solange her, da galt das Bibliothekswesen der Vereinigten Staaten als vorbildhaft für jeden, der sich überhaupt mit Bibliotheken beschäftigte. Es war ein Land, in dem angeblich zum Wohle der Freiheit Milch und Honig in Gestalt von nahezu unabsehbaren Mittelzuweisungen in die sich entwickelnden Bestände flossen und der freie Zugang zu Informationen als de facto Menschenrecht galt. Das scheint sich in gewisser Weise zu ändern. Nun, da man in der Fortschrittswestzone Nummer Eins die Fahne mit dem Apfel und dem Flämmchen – to kindle bedeutet u.a. auch, etwas in Brand zu setzen – hisste, fühlt man sich als Betrachter ein wenig in einem schlechten Aufguss einiger Desk-Set-Szenenbilder. Allerdings sind Steve und Jeff bei weitem nicht so charismatisch wie Spencer Tracy (Ein Computer macht noch keinen Sumner) und man weiß, dass in den ladekabelhaften BDSM-Praktiken dieser Digital-Technophilie kein leicht-angeschmalztes Happy End zu erwarten ist, sondern nur ein sinnlich-reduziertes Dauerfensterln über kleine äppäräte einer Super Sad True Love Story. No country for old (and smelly) books, möchte man sagen. Und auch keins für mittelalte Männer wie Gary Shteyngarts Lenny Abramov, der in seinem bibliophoben Zukunftsreich nach wie vor nicht von bound, printed, nonstreaming Media artifacts lassen kann. (more…)
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