LIBREAS – Call for Papers: Post-Digital Humanities aus bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Sicht
Update: Aus mehreren Gründen, zu denen in nicht geringem Umfang die Leichtigkeit des Sommers gehört, wird der Call for Papers für die Ausgabe zu den postdigitalen Geisteswissenschaften bis zum 31. Oktober 2016 verlängert. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von anderen aktuellen Calls aus dem Digital-Humanities-Umfeld und bleiben uns zugleich treu. Es können also nach wie vor Aufsätze, Rezensionen und andere Beiträge an redaktion@libreas.eu geschickt werden. Wir freuen uns darauf, grüßen herzlich und wünschen schöne Spätsommertage.
Ihre / Eure LIBREAS-Redaktion, 31.08.2016
“[C]omputational technology has become the very condition of possibility required in order to think about many of the questions raised in the humanities today.”
David M. Berry (2011): The Computational Turn: Thinking about the Digital Humanities, S.2
a) Wer braucht die Digital Humanities?
Ein Ballon schwebt über der Landschaft der Geisteswissenschaften. Er trägt die Aufschrift “Digital Humanities” und führt bei denen, die ihn sehen, zu unterschiedlichen Reaktionen. Einige sind begeistert und laufen ihm nach. Andere sind verschreckt. Wieder anderen erscheint er unerreichbar. Und schließlich gibt es noch die, die ihn gleichgültig seiner Wege ziehen lassen.
Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein Trugbild. Unverkennbar arbeitet heute nahezu jede Geisteswissenschaftlerin und jeder Geisteswissenschaftler mit digitalen Werkzeugen. Das Verfassen, Publizieren, Kommunizieren und Visualisieren von Wissenschaft ohne digitale Werkzeuge ist im 21. Jahrhundert schlicht unmöglich. Handelt es sich dabei bereits um Digital Humanities? Das ist fraglich.
Werden andererseits aber digitale Werkzeuge, die forschungsunterstützend wirken und eine Art “Laborifizierung der Geisteswissenschaften” nach sich ziehen könnten (vgl. zu dieser These auch diesen Beitrag), zum allumfassenden akademischen Alltag wie Textverarbeitungs- und E-Mail-Software? Auch das scheint unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist, dass sich etwas zwischen diesen Polen als zielführend herausstellt: digitale Anwendungen setzen sich dort durch, wo sie einen konkreten Bedarf bedienen und eine nennenswerte Verbesserung der wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen beziehungsweise Erkenntnisbedingungen versprechen. Die Erfindung des digitalen und damit schnell und ortsunabhängig im Volltext durchsuchbaren Bibliothekskatalog beispielsweise stellte einen grundsätzlichen Schritt für eine effiziente Informationssuche dar und ist heute Standard aller Bibliotheken. Er ist natürlich zugleich ein Arbeitswerkzeug der Geisteswissenschaften. Als Baustein der Digital Humanities wird er dagegen selten benannt und wahrgenommen.
Für die kommende Ausgabe von LIBREAS stellen wir u.a. gerade deshalb die Frage: Welche Rolle können Informationseinrichtungen wie Bibliotheken und Informationsspezialisten innerhalb des Digital Humanities-Spektrums übernehmen? Bleiben sie bei ihren Aufgaben des Sammelns, Erschliessens und Anbietens? Oder gehen sie darüber hinaus? Es gab in den letzten Jahren mehrere Projekte in die Richtung des „Heraustretens“ – aber was ist aus ihnen geworden? Viele Projekthomepages sind heute verwaist, was üblich ist – aber gibt es feststellbare langfristige Nachwirkungen der Projekte selbst? Oder ist eine solche aktivere Rolle nur ein Wunschdenken der Bibliothekarinnen und Bibliothekare und die Forschenden begnügen sich eigentlich mit besseren Zugriffen auf (digitalisierte) Bestände?
Wer die Digitalisierung der Geisteswissenschaften mitgestalten will, sollte Bedarfe identifizieren und Angebote entwickeln und vermitteln, die auf diese Bedarfe passen. Um den Ansprüchen der Wissenschaft zu genügen, sollte dies systematisch und erkenntnisorientiert geschehen. Es gibt bereits eine Disziplin dafür, die sich freilich dieser Aufgabe auch bewusst widmen (wollen) muss: die Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Und diese muss vermutlich als Erstes die Frage nach dem Bedarf konkretisieren: Um wessen Bedarfe geht es? Die der Einrichtungen, die der Forschungsfördereinrichtungen oder die von Forschenden? Oder gar die der Gesellschaft?
b) Digital Humanitäres – Label oder wissenschaftliche Revolution?
Das Konstrukt Digital Humanities mit dem Bemühen um den Status als eigene Disziplin, was sich unter anderem in der Benennung von einigen interdisziplinären Lehrstühlen manifestiert, soll bekanntlich inter- oder transdisziplinäre Kooperationen ermöglichen. Die unvermeidliche Kooperation mit der Informatik ist dabei eher formaler oder methodischer Natur und inkludiert kein gemeinsames Forschen. Aber erforschen die verschiedenen Geisteswissenschaften unter dem Titel DH überhaupt gemeinsame Phänomene oder Objekte? Die Einführungsliteratur zur DH betont gerne, dass sich der Begriff auf (a) den Einsatz von Methoden, (b) auf Digitales als Untersuchungsobjekte und (c) auf das Leben mit dem Digitalen als Untersuchungsgegenstand bezieht. Aber wird damit nicht ein gemeinsames Label auf viel zu unterschiedliche Forschungsfragen und -praxen bezogen? Was bringt das Label bei diesem Umfang noch und vor allem, wie sollen Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen damit umgehen?
Es scheint, als sollten unter dem Label “Digital Humanities” unterschiedliche und teilweise unvereinbare Akteure und in vielen Fällen auch mit einem Revolutionsversprechen zusammengeführt werden. Das Neue steht vor der Tür und trägt derzeit ein glitzerndes Shirt auf dem Big Data, gern vor einer Cloud, steht. Das sieht en vogue aus, ist aber nicht immer zwingend sinnvoll. So bleibt offen, ob das Anliegen eines unifizierenden trans- und disziplinären Überbaus unter der Bezeichnung “Digital Humanities” überhaupt tauglich sein kann, um die mannigfaltigen Verschiebungen im Bereich der digitalen Wissenschaft zu umfassen. Brauchen wir das Label “DH”?
Eine erste Unklarheit taucht im deutschsprachigen Raum bereits bei der Übersetzung und den damit verbundenen Aktivitäten dieser „Wissenschaft“ auf. Umfasst dieses Label nun die Digitalisierung (Digitalization) von beispielsweise Kulturobjekten oder eher die Einführung EDV-basierter Arbeitsprozesse (Digitization)? Die tatsächliche Forschungspraxis, also die Studien, die unter diesem Label publiziert werden, scheinen eher in eine andere Richtung zu deuten. Oft wird in kleinen Forschungsgruppen, teilweise auch alleine, an Einzelfragen gearbeitet, häufig an einzelnen oder wenigen Digitalisaten. Ist das nun eine Revolution? Oder nicht doch eher eine Weiterentwicklung, aber weniger, wie etwa in den Naturwissenschaften, zu einer „datengetriebenen“ Forschung, sondern zu einer Forschungspraxis, deren konkrete Ausgestaltung noch grundsätzlich zu klären wäre?
c) Die Bibliotheken als Ort oder als Zulieferer für die Digital Humanities?
Sicher können Bibliotheken und die Bibliotheks- und Informationswissenschaft Rollen und Aufgaben übernehmen, die als Digital Humanities gekennzeichnet werden. Aber ist die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht sogar die genuine digitale Geisteswissenschaft? So lässt sich jedenfalls eine denkbare These fassen. Und eine zweite ergänzt, dass sie dies ganz natürlich tun kann, da zumindest die Gegenstandsseite vieler Geisteswissenschaften sowie die Digitalisierung dieser Forschungsobjekte von vornherein von Bibliotheken verwaltet und gesteuert wurde. Sie bieten also Material, Literatur und Infrastruktur. Böten sie auch die Analysewerkzeuge, also das “Labor”, schlösse sich der Kreis. Dies wurde bereits initiiert, beispielsweise mit der Digitalen Forschungsplattform des Hathi-Trusts. Aber – genauso wie bei anderen Virtuellen Forschungsumgebungen – stellt sich die Frage, welcher konkrete Nutzungsmöglichkeiten damit verbunden sind und ob eine Weiterentwicklung sinnvoll wäre. Entsprechen diese Angebote tatsächlich dem, das Forschende – die zumeist auch selber in ihren eigenen Arbeitsumgebungen mit digitalen Werkzeugen umgehen können – wollen und nutzen, oder eher etwas, von dem sich vor allem die Forschungsfördereinrichtungen und die Bibliotheken als Anbieter wünschen, dass sie es täten?
Gleichzeitig stellen sich Bibliotheken mit solchen Projekten in ein Konkurrenzverhältnis. Dass sie Digitalisieren können ist richtig. Aber das heisst nicht, dass Forschende in ihren Projekten nicht auch en masse selbst Digitalisieren. Dass Bibliotheken Infrastrukturen zur Verfügung stellen können ist ebenfalls richtig. Aber ebenso realisieren Forschende selbst immer mehr digitalen Infrastrukturen für sich selber oder ihre Community. Was ist daraus zu lernen? Sollen Bibliotheken die Forschenden verstärkt adressieren oder soll man entsprechende Bemühungen von Bibliotheken besser zurückfahren? Und für Bibliothekswissenschaft lautet die Frage: Wie soll man dieses Phänomen untersuchen?
d) Die Post-Digital Humanities als Idee
Betrachtet man die Entwicklung der Wechselbeziehung von Digitalität und Gesellschaft, so erkennt man, dass sich viele Bereiche längst in einem Zustand befinden, den man als zum Postinternet gehörig beziehungsweise als postdigital bezeichnen kann. Insofern liegt es nahe, einen Begriff der “Post-Digital-Humanities” – als die Zeit nach den großen Versprechen, in der die DH in den Allgemeinbetrieb übergeht – analog zur “Postinternet”-Kultur ins Spiel zu bringen. Die Chance in eines solchen, eventuell, Gegenlabels, liegt in der Öffnung eines dekonstruktiven und damit das Selbstverständnis hinterfragenden sowie zugleich voranbringenden Ansatzes. Denn ein allen Geisteswissenschaften gemeinsames Merkmal ist der Diskurs, der auch das Hinterfragen der eigenen Methoden beinhaltet. Daher entscheiden wir uns sehr bewusst für diese Bezeichnung sowohl zur Bestimmung des gegebenen Zustands als auch als, hoffentlich, Bezugspunkt und Auslöser für entsprechende Reflexionen.
Postdigitale geisteswissenschaftliche Arbeit ist also eine wissenschaftliche Praxis, die sich unter dem Einfluss und auch mit den Mitteln digitaler Technologien, Netzwerken und Kultureffekten vollzieht. Das Spektrum reicht von n-gram-Analysen über große und kleine Digitalisierungsprojekte bis zu Altmetrics, beinhaltet also in etwa all das, was in der vordigitalen Wissenschaft nicht umsetzbar, oft nicht einmal konzipierbar war. Damit lässt sich die Reflexion sinnvoll über das engere Feld der DH-Anwendungen erweitern, das de facto vor allem im Bereich der Analyse großer Datenmengen, beispielsweise der Korpuslinguistik oder auch der digitalen Mustererkennung für die Kunstgeschichte ihre sichtbarsten Konkretisierungen erfährt.
Wir versuchen zu ergründen, wie sich Bibliotheken in diesem Komplex positionieren (können), wie sie entsprechende Bedarfe ansprechen (können) und welche theoretischen Grundlegungen diese Anwendungspraxis aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft erwarten kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Digital Humanitäres seit ihrer Etablierung als Diskurs immer von Kritiken begleitet werden, auf die sie bislang nur bedingt Antwort geben können. Beispielsweise besteht die Gefahr auf Strukturen aufzubauen, die so nur im Globalen Norden vorhanden sind, ohne dass diese Rahmung informationsethisch reflektieren wird. Auch können die Digital Humanities bislang kaum auf den Einwurf antworten, dass sie für kritische Forschungsmethoden und -fragestellungen, die aktuell große Teile der Geisteswissenschaft prägen, kaum Hilfestellungen geben. Das Distant Reading, also die Analyse großer Corpora, scheint das Close Reading von Dokumenten beispielsweise für post-koloniale Fragen oder Fragen der Konstitution von Subjektidentitäten kaum ersetzen zu können.
e) Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Meta-Akteurin
Schließlich wollen wir die Schraube noch weiterdrehen und fragen, inwieweit die Bibliotheks- und Informationswissenschaft mit ihrem Metafocus auf die Idee von Information, Wissen und Wissensvermittlung, selbst eine modellhafte, bewusst digitale Phänomene und Folgen reflektierende quasi postdigitale Geisteswissenschaft sein kann? Kann sie womöglich durch eine systematische Beschäftigung mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen digitaler Geisteswissenschaft zu einer allgemeinen Normalisierung des Verständnisses solcher Prozesse beitragen und damit zu einer Art “Leitdisziplin” für die Geisteswissenschaften werden?
Für die Ausgabe #30 von LIBREAS suchen wir Beiträge (Artikel, Essays, Kommentare, Ideen), die sich in diesem Reflexionsfeld bewegen und idealerweise auch aufzeigen, welche Rolle die in der jüngeren Vergangenheit tief verunsichterte Bibliotheks- und Informationswissenschaft in der und für die Landschaft der Geisteswissenschaften übernehmen könnte. Der Termin für Einreichungen ist der 31. August Oktober 2016 über die Adresse redaktion@libreas.eu.
Redaktion LIBREAS. Library Ideas
Berlin, Bielefeld, Chur, Dresden, München im Mai 2016
Slow Politics und Bibliotheken. Notizen zu einem (hoffentlich) entstehenden Dialog.
von Ben Kaden (@bkaden)
I
Gestern hatte ich die nicht geringe Freude, am fortgeschrittenen Nachmittag mit den Kollegen von der Berliner Gazette und einigen weiteren Akteuren mehr oder weniger aus dem Bereich Open Knowledge/Digitale Avantgarde/Bibliothekswesen in der Bibliothek des Institute for Cultural Inquiry (ICI) zu einer Brainstorming-Sitzung zusammenzufinden. Das raumgebende Institut selbst trägt bereits, wenn auch in diesem Fall eher zufällig, im Namen, worum es geht: Die kritische Untersuchung der Kultur der Gegenwart, konkretisiert vor den Regalen und am Bezugspunkt Bibliothek.
Das offene Querdenken solcher Brainstorming-Sitzungen hat den Vorteil, eine Vielzahl von Themen und Perspektiven zusammenfließen zu lassen. Die Menge ist freilich zugleich, was herausfordert. Der nächste Schritt wird ein zielgerichtetes Eindeichen bis Kanalisieren der Vielfalt von Themen und Anregungen sein. Was man momentan bereits festhalten kann und sollte, ist überhaupt die Tatsache der möglichen Verknüpfung von „(slow) politics“ und Bibliotheken, also die Frage, wie politisch Bibliotheken als Institutionen sein können, sein sollten und sein wollen.
Das Konzept der „Slow Politics“ käme den prinzipiell auf Communities welcher Art auch immer bezogenen Bibliotheken entgegen. Jedenfalls sofern man es mit C. Christopher Smith als eine Politik versteht:
„that is concerned more with local than state and federal politics, and that prefers dialogue and co-operation to rigid partisanship.“ (Smith, 2012)
Das Prinzip eines langfristigen Dialogs mit einem konkretisierten Wirkungs- und Gestaltungsraum, in dem es mehr um Zusammenarbeit (Edward Said spricht auch von „coalition-building“, Said, S. 363) als um Durchsetzung und Konfrontation geht, dürfte dem Konzept und Selbstbild der Bibliothek jedenfalls nicht allzu fern liegen. Dies gilt auch, wenn sich im Zuge des Digitalisierungsdiskurses bisweilen technische Innovation vergleichsweise sehr intensiv in genau den Vordergrund schieben, in den eigentlich gesellschaftliche Fragestellungen gehörten.
Entsprechend scheint gerade der Dialog (oder womöglich eine Art Koalition) mit der Netzavantgarde auch dahingehend sinnvoll, dass man besser versteht, wie trivial die Fragen der Technologie im Vergleich mit den Fragen der Technologiefolgen für Öffentlichkeit, gesellschaftliche Konsenskonstruktion und auch Wissenspraxen sind und wie wichtig dabei ist, die Differenz zwischen einer öffentlichen Rolle des Bibliothekswesens und der wachsenden Abhängigkeit von und Integration in Markt-, Marken- und Marketingstrukturen immer wieder herauszustellen. Bibliotheksdienstleistungen sind eben mehr als Produkte, die es gegen oder mit Konkurrenzangeboten zu vermitteln oder zu verkaufen gilt. Oder können jedenfalls mehr sein.
II
Auch wenn das Planspiel, was wäre, wenn ein Edward Snowden mit seinen Leaks, von denen der CARTA-Mitherausgeber Wolfgang Michal gerade in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meint, dass sie gar nichts enthüllen, zu einer Bibliothek gegangen wäre, etwas ins Leere lief: Die Frage, inwieweit Bibliotheken sich überhaupt in der Gemengelage von Interessen in der Welt nach Snowden, der immerhin öffentlichkeitswirksam sichtbar machte, wie bestimmte Errungenschaften des Rechts von staatlichen Seiten offenbar nach Gusto ausgehebelt werden, positionieren können, wird derzeit weder im (deutschen) Bibliothekswesen noch in der (deutschen) Bibliothekswissenschaft sichtbar aufgegriffen.
Die Aufregung, die es im Zuge des Patriot Act einmal gab, hat es zur NSA-Affäre nicht gegeben, was vielleicht auch daran liegt, dass sich Bibliotheken nicht betroffen sehen. Ein anderer Fall zeigt aber, dass sie es durchaus sein könnten. Dabei geht es nicht um nationale Sicherheitsinteressen sondern um die eines Wirtschaftszweigs. Wie würde sich eine Bibliothek positionieren, an der sich der Fall Aaron Swartz wiederholt?
In einem äußerst lesenswerten Artikel in The Baffler beschreibt John Summers nicht nur wie sich Cambridge, Mass. der Innovationsindustrie an den Hals wirft, wo es nur kann (wer das Echo zur Eröffnung des Factory-Campus‘ im hippen Herzen Berlins verfolgt (vgl. exemplarisch Zimmer-Amrhein), ahnt, dass in der deutschen Hauptstadt ganz ähnlich zugehen könnte), sondern auch, wie schwer (oder eben nicht) sich das MIT mit der Angelegenheit tat.
„Swartz’s alleged crime, which allegedly took place at MIT in 2010, was evading its network security for the purpose of downloading about 4.8 million journal articles from an academic database. Swartz, that is, had a distinctly Zuckerstanian flair for accessing unauthorized data sets. But unlike our hero Zuckerberg, he was not let off with an adminsitrative warning from confused but tolerant elders, and he did not start up a social networking company or see his hacking made into a celebrated movie.“ (Summers, S. 44)
Wo der Student Mark Zuckerberg mit Facemash das Recht am eigenen Bild (und vielleicht der eigenen Würde) von Studierenden für den Jux eines „hot or not“-Spiels verletzte, eine kleine Rüge kassierte und am Ende, nun Milliardär geworden, von seiner eigenen Universität mit einigermaßen bestürzender Servilität als Idol gefeiert wird, wurde Aaron Swartz mit seinem „We need to fight for Guerilla Open Access.“ von zwei MIT-Polizisten und einem Spezialermittler auf einem Parkplatz verhaftet und wegen Hausfriedensbruch und Diebstahl in Untersuchungshaft genommen, bevor er sich schließlich der maximalen Strafverfolgung mit einer aus europäischer Sicht grotesken Strafandrohung von 95 Jahren Gefängnis und drei Millionen Dollar Strafgeld ausgesetzt sah.
Wir haben spätestens seit Napster gelernt, dass eine Digitalkopie den Status eines Kapitalverbrechens bekommen kann. Aber dieser Fall, bei dem es nicht um Inhalte des popkulturellen Entertainments ging, sondern um Fachpublikationen, die ausschließlich an Bibliotheken verkauft werden und mutmaßlich selbst nach einer Deliberation auf einem Filesharing-Server brav weiter von Bibliotheken zu den entsprechenden Lizenzbedingungen erworben und vermittelt worden wären, zeigte in außerordentlicher drastischer Weise, wohin die Kämpfe um die Kontrolle über das so genannte geistige Eigentum führen können. Und wie sich diese verselbstständigen:
„Nachdem Swartz die Daten wieder an JSTOR ausgehändigt hatte, kündigten diese an, keine zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Aktivisten zu stellen. Der Fall wurde von der Staatsanwaltschaft trotzdem weiter verfolgt.“ (Geiger, 2013)
III
Nachdem sich Aaron Swartz am 11. Januar 2013 das Leben nahm, geschah folgendes:
„And though the U.S. Attorney’s Office went off to assail other bogus threats to the sanctity of scientific data in behalf of the business class, MIT was forced by public opinion to investigate what, if any, responsibility it had for [Swartz’s] death.“ (Summers, S. 45)
Das Ergebnis dieser MIT-internen Untersuchung war, dass das MIT keine Schuld trifft und dass es sich mit seinem Ansatz, als neutrale Instanz in Fall Swartz (also weder Opfer noch Fürsprecher) korrekt verhalten hat. Allerdings listete der Bericht, so Summers, zugleich auf, wie das MIT die Strafverfolgungsbehörden in diesem Fall unterstützte und Beweismittel schon vor der Anforderung durch die Ermittler bereitwillig übermittelte. Wie das MIT einen ihrer potentiellen nächsten Zuckerbergs derart auslieferte, erstaunte nicht nur Summers, der schreibt:
„Swartz family repeatedly requested that MIT say something on his behalf during the long prosecution. But MIT refused even to announce it had adopted neutrality.“
Er liefert im Anschluss einen Erklärungsversuch für das Kopfeinziehen des MIT und der schließt den Kreis zu der aggressiven Innovations(wirtschafts)politik, die in Cambridge stattfindet, die den eigentlichen Gegenstand seines Textes darstellt:
„[I]t may help to remember, that Swartz’s two-year prosecution took place at at time when hundreds of millions of dollars were filtering into Innovation Economy institutions. His alleged downloading of academic articles may have seemed innocuous to outsiders, but the lords of these networks knew better. In a climate of imperial expansion, his infraction was too trivial to let go.[…]
[N]obody had more to lose over those few years than MIT, which proceeded to overtake Harvard as the number-one-ranked university in the world. That MIT climbed to the tippity top of the influential „QS World University Ranking“ from 2011 to 2014 is a testament to the strategic value of science and technology deployed in startup cities around the world, as well as the Institute’s ability to recruit major donors [….]
Taking a stand for Swartz would have dragged MIT down from its rising position in the Innovation Economy’s fable of a classless utopia. Advocating leniency for this particular rule-breaking entrepreneur would have mired the school in the murky world of conflicting interests. How much safer to do nothing.“ (Summers, 46)
Neutralität bedeutet hier also: auf keinen Fall anecken und investitionsfeindlich wirken. Fraglos erkennt man John Summers Verbitterung, die in der anschließenden Passage noch deutlicher wird:
„What does the Innovation Economy require of MIT? To be a global pacesetter in entrepreneurship? Check. A local real-estate kingpin? Check. An institution that’s prepared to discuss what philanthropy is really for, how cultural power masquerades as „economic development,“ or why Aaron Swartz was prosecuted? No, not really.“ (ebd.)
Ob die geschilderten Tendenzen tatsächlich so zutreffen und das MIT sich vor allem als Interessenmultiplikator einer bestimmten Gruppe von Stakeholdern bzw. einer spezifischen Ideologie (Summers schreibt von einem „innovator’s dogma“) ausrichtet, lässt sich von außen schwer einschätzen. Unbestritten ist jedoch die traditionelle Nähe des Instituts zum Pentagon und zur CIA, zu dem sich nun die Tech– und Intellectual-Property-Industrie gesellt:
„science is now migrating, like every other field of marketable intellectual endeavor, to the donor class. And to this shakeout MIT’s leadership brings a noticably fine track record of adaption, one that guarantees large parts of Cambridge will be the intellectual property of the 1 percent […]“ (ebd.)
Was daraus folgt, so John Summers und so leider auch beobachtbare Trends an anderer Stelle, ist eine Eindimensionalität, die innovierende und Produkt gerichtete Wissenschaft zum Leitmuster der Universitäten und letztlich auch der Kultur, wie sie die Kulturindustrie vermittelt, erhebt. Was dort zählt, ist ein verkaufbares Ergebnis:
„In the system of rewards and incentives surrounding the Innovation Economy, talent in the fine arts has no place, and criticism is a special order of dubious. It’s not creativity unless it employs cutting-edge technology, recruits a big donor, or rewards investors.“ (ebd. S. 48)
Heute ist so gut wie jedem einsichtig, wie die Digitalkultur ganz grundständig spätestens seit den frühen 2000er Jahren ein Investitions- und Umverteilungsmarktplatz wurde, bei dem die Kultur der Partizipation des einst von Tim O’Reilly verkündeten Web 2.0 am Ende nur eine Facette dieser Kulturindustrie bleibt, in der „Nutzer“ als „Prosumer“, mit spärlicher Aufmerksamkeit und ab und an kleinen sozialen Aufstiegsversprechen entlohnt, in Selbstausbeutung permanent Inhalte und Metadatenströme für Marktanalytik und Produktentwicklung bereitstellen und wie nebenbei Berufsfelder wie den klassischen Journalismus vielleicht nicht auslöschen aber doch irgendwie deprofessionalisieren.
Ganz in der Nähe zu den Diskussionen der Think Tanks um die Berliner Gazette, kommt John Summers am Ende seines Textes bei Bertrand Russel und dessen Konzept eines „vagabond’s wage“, also einer Art bedingungslosem Grundeinkommen an und der Notwendigkeit „to insist on our collective right to the city.“ (Summers, 49) Berlin und sein Tempelhofer Feld wären übrigens schöne Anschlusspunkte für diese Feststellung, die gesondert diskutiert werden können und sollten.
Für den Brückenschlag zur Frage, wie sich Bibliotheken vor dem Horizont der Totalkommerzialisierung von Erkenntnis- und Kulturproduktion verhalten sollen, wirkt nämlich zunächst eine andere Aussage interessanter, ein Ausstiegsszenario für den sehr ernüchternden, fast deprimierenden Aufsatz:
„Another countercultural bohemia could serve as the avant-garde of consumerism developing all the new forms of expression and pleasure to be simulated by the next generation of corporate technologists and monetized by the next generation of investors.“ (ebd.)
Wir können dem Wirken des Marktes offenbar nicht entgehen und was Summers für Cambridge beschreibt, ist mehr noch die Entwicklungsgeschichte um den Mythos Berlin. Im nachfolgenden Satz wird dies noch ein wenig deutlicher:
„But at the very least, a campaign would highlight the entrepreneur’s utter dependence on unpaid labor and public goods and give us time to come up with alternative forms of social change that do not continue to deplete the diversity of the human environment.“ (ebd.)
Ganz ungeachtet des Fatalismus, der auch in dieser Perspektive mitschwingt, scheint die Rolle einer engagierten Bibliothek in dieser Konstellation idealerweise die zu sein, die Erinnerung an und die Möglichkeit der Alternative offen zu halten und einen Raum für Diversität und Vielfalt zu bieten, für Kritik, das vermeintlich, weil wirtschaftlich nicht nutzbare, Nutzlose und auch das Nein. Denkbar ist zudem sogar, dass sich Bibliotheken im Zweifelsfall auf die Seiten der Aaron Swartzs schlagen, dass sie sich als Plattform und als Multiplikator für Widerstreit und womöglich sogar Widerstand und Subversion anbieten.
Ob die Institution Bibliothek derart wirken kann, sollte und möchte, ist völlig offen. Gerade deshalb wäre eine breitere Problematisierung der Frage ihrer Rolle als Ort für „(Slow) Politics“ in einer reifenden digital-vermittelten Gesellschaft notwendig. Gerade deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass dieses Thema nach dem Komplizen-Workshop von Berliner Gazette (vgl. auch Haas, Rusch, 2014; Kaden, 2014) auf der Agenda bleibt. Noch begrüßenswerter wäre es freilich, wenn es die Konferenzräume und kleinen Bibliothekskreise Berlins verlassen würde. Nun ja, der Ausdruck slow politics enthält ja nicht zuletzt auch einen deutlichen Hinweis auf die zu erwartende Dauer solcher Prozesse.
(12.06.2014)
. Leonie Geiger (2013) Jenseits der Tastatur: Es knallt, wenn Digital Natives mit dem Rechtsstaat in Konflikt geraten. In: Berliner Gazette. 15.06.2013
. Corinna Haas, Beate Rusch (2014) Piraten und Kapitalisten denken eine globale digitale Bibliothek. Eindrücke von der „Complicity – Berliner Gazette Konferenz 2014. In: LIBREAS. Library Ideas, 24 (2014)
. Ben Kaden (2014) Eine kurze Nachlese zum KOMPLIZEN-Workshop der Berliner Gazette vom 06.04.2014. In: LIBREAS.Tumblr, 18.04.2014
. Wolfgang Michal (2014) Whistleblower Edward Snowden: Der hat doch gar nichts enthüllt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung / faz.net, 10.06.2014
. Edward E. Said (Gauri Viswanathan, Hrsg.) (2002) Power, Politics, and Culture. Interviews with Edward W. Said. New York: Vintage
. C. Christopher Smith (2012) The Urgent Need for Slow Politics. In: Relevant Magazine / relevantmagazine.com, 13.11.2012,
. John Summers (2014) The People’s Republic of Zuckerstan. In: The Baffler, No. 24, S. 20-49.
. Florian Zimmer-Amrhein (2014) Startup-Campus: Berlin will Silicon City werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung / faz.net, 12.06.2014
Im Siliziumwindfang.
Eine kurze Anmerkung zu
Roland Reuß: Sie nennen es Service, dabei ist es Torheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.2013 , S. 25.
( Social-Media-Echo zum Artikel bei rivva )
von Ben Kaden / @bkaden
In ihrer Dienstagsausgabe veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach fast überraschend langer Zeit wieder einmal einen mahnenden Artikel von Roland Reuß (u.a. Mitinitiator des Heidelberger Appells, mehr zum Thema bei LIBREAS, Bibliografie zum Thema bei iuwis.de ). Der Teaser klingt dramatisch:
„Was ist aus den Bollwerken europäischer Bildung geworden? Bibliotheken strecken vor den IT-Konzernen die Waffen und geben Leserdaten massenhaft weiter. „
die Spannungsführung des Textes fängt dies nicht ganz auf und das Ende des Textes ist ein wenig arg bemüht:
„Am Phantasma einer selbsternannten „digitalen Bohème“ teilzuhaben, mag einmal cool gewesen sein. Jetzt weht aus dieser Richtung ein tatsächlich sehr kalter, grauer Siliziumwind, und die Luft in der Wolke riecht nach Vorladung.“
Ein öffentlicher Schlagabtausch von Roland Reuß und Kathrin Passig verspräche zweifelsohne ein Spektakel, denn der Heidelberger Germanist streitet bekanntermaßen mit einer Intensität für ein bestimmtes Bibliotheksbild, die Kathrin Passigs Frankfurter Dialogpartner Frank Simon-Ritz schon allein aus seiner Rollenverpflichtung als Vorsitzender des dbv nicht einbringen könnte.
Auf eine umfassende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text von Roland Reuß will ich verzichten, da Roland Reuß aus wackligen Prämissen brüchige Zuspitzungen formuliert, die sicher an vielen Stellen einen bedenkenswerten Kern enthalten, mit ihren unverhältnismäßigen Pauschalvorwürfen wie:
„Man muss nicht jedes Feature in seinen Webkatalog integrieren, bloß weil der Hausprogrammierer das schon immer einmal ausprobieren wollte.“
jedoch kaum zum Dialog einladen. Dass Hausprogrammierer, wen auch immer Roland Reuß damit meinen mag, häufig anders denken als die Bibliothekare, ist bibliothekarische Alltagserfahrung. Dass sie aber partout die Webdienste der Bibliotheken als Spielwiese für eigene Juxereien gebrauchen haben sie im Normalfall gar nicht nötig. Nicht selten fehlt ihnen am Abend eines langen Tages des regulären Bugfixings und Absicherung des Basisbetriebs für solche Eskapaden sogar die Muße. Wer solche Aussagen trifft, so steht zu befürchten, hat noch nie wirklich in den Alltag der EDV-Abteilung einer deutschen Universitätsbibliothek geblickt.
Andererseits sind es gerade diese Spitzen bis hin zum völlig unsinnigen Brückenschlag zur „Digital Bohème“, die den unbedingt zu diskutierenden Zusammenhang zwischen Big Data, Datenschutz und der Rolle der Bibliotheken in einem Potpourri der Polemik verquirlen, was bisweilen den Eindruck hervorruft, hier triebe jemanden mehr die Freude an der Debatte als die Sache selbst. Da Teile meiner Leserschaft mir bisweilen ähnliches zu unterstellen scheinen, was hin und wieder auch nicht völlig verkehrt ist, wäre mir das gar nicht einmal unsympathisch. Denn der Genuss am Diskurs ist als Motivation zur Teilnahme nicht zu unterschätzen.
Allerdings bretzelt sich die Reuß’sche Fassung immer in die Sphären einer derart konfrontativen Übertreibung auf, dass das Messer am Ende stumpf und der Werfer als der Realität etwas enthobener Solitär wirkt. Nehmen wir beispielsweise diese Passage:
„Denn dass „digital“ nicht billiger für eine Bibliothek ist, sollte sich selbst in die letzten Hochburgen der eben durch die NSA und die GCHQ ihrer Naherwartung beraubten Erweckungsbewegung herumgesprochen haben. Wie bei der Berechnung der Kosten für Atomkraftwerke kam bislang ja immer nur die Jungfernfahrt (und nie die Wartung und die Folgekosten) in den Rechenansatz. Anders als dort muss sich die Vorstellung eines GAU im Bibliotheksbereich aber erst noch bilden. Aber da helfen uns schon, wie eben zu beobachten, die Onkels aus Amerika.“
Der sachliche und wichtige Kern ist, dass man in der Tat kaum langfristige Kostenabschätzungen für digitale Infrastrukturen vornehmen kann und auf der grundlegenden Ebene bereits deshalb, weil wir kaum wissen, wie digitale Kommunikation in 10 Jahren detailliert aussehen wird. Momentan extrapolieren wir nach wie vor von einer Printkultur geprägte Bedingungen und denken digitale Bibliotheksbestände weitgehend entweder als Digitalisate oder – wie bei E-Books und E-Zeitschriften – als digitale Nachbildungen von Druckmedien. Wie allerdings die Wissenschaftskommunikation 2020 aussieht, welchen Anteil zum Beispiel die Publikation von Forschungs- und anderen strukturierten Daten unsere derzeitigen Normvorstellungen von einer wissenschaftlichen Publikation verschiebt, kann man derzeit kaum absehen. Zu behaupten, dass sie billiger zu organisieren sei, als die gegenwärtige, wäre schlicht unseriös.
Wir müssen also die denkbaren Bedingungen und Folgen gerade in der Bibliothekswissenschaft intensiv reflektieren, Szenarien entwickeln, Kritik üben, vor Gefahren warnen und Empfehlungen formulieren. Das ist eine Aufgabe dieses Faches. Zweifellos spielen Kostenkalkulationen dabei eine wichtige Rolle. Aber es besteht kein Anlass und es existiert kein erkennbarer Nutzen für die Diskussion, für diesen Hinweis die Keule der Atomkraft zu bemühen (das stimmige Anschlusswortspiel wäre dann Biblioshima), das Bibliothekswesen als zwangsgeläuterte Jünger einer Art Sekte zu diffamieren, dem Bibliothekswesen blinden Fortschrittsglauben und grundständige Naivität vorzuwerfen, um schließlich, nicht ohne auch noch auf die Gefahr einer Kernschmelze hinzuweisen, eine wohlfeile Amerika-Schelte in einer Wortwahl à la Karl-Eduard von Schnitzler ins Spiel zu bringen.
Das Mysterium der FAZ, die Roland Reuß ja offensichtlich sehr wohlwollend gegenüber steht, bleibt, warum sich in ihrer Redaktion kein Journalismus-Profi findet, der seinem Gastautor erklärt, dass man das hehrste Anliegen verbrennt, wenn man es auf einem derart schwarzen Kanal in die Öffentlichkeit rudert.
Zur Sachkorrektur sei hier abschließend der Kommentar von Michael Voss, Leiter der EDV in der von Roland Reuß direkt adressierten Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, zitiert, der mit seiner Richtigstellung dem Heidelberger Mahner einen Großteil des konkreten Fundaments seiner Argumentation beraubt:
„Der Artikel ist zwar insgesamt recht interessant, ist aber in den Passagen zur Humboldt-Universität zu Belrin [sic] völlig falsch. Daher wird der Wert dieses Artikels arg reduziert.
Es gibt zwar das „Google-Institut“ an der Humboldt-Universität, aber dieses hat keinerlei Zugriff auf die Daten, die auf den Servern der Universitätsbibliothek gespeichert sind.
Auf Suchhistorien kann nur der Leser selbst zugreifen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn er diesen Service bewußt nutzen möchte – in Form von Speicherung von Treffermengen oder Suchanfragen. Wer dies nicht tut, hinterläßt auch keine dauerhaften Spuren. Diese gespeicherten Daten hat der leser voll unter seiner Kontrolle, wenn er sie löscht, dann sind sie auch gelöscht.
Log-Files werden nach 7 Tagen gelöscht, damit auch nicht aus Betriebsdaten Rückschlüsse gezogen werden können.
Michael Voss
(zuständig für den Betrieb des Katalogs und der Recherche-Software an der UB der Humboldt-Universität zu Berlin)“
P.S. Weil Bilder immer ziehen, hier noch eine Visualisierung der 1094 verschiedenen Wörter (von insgesamt 2230) des gestrigen Feuilleton-Aufmachers der FAZ, generiert mit dem von TextGrid bereitgestellten Voyant-Werkzeug. Im direkten Häufigkeitsvergleich schlagen die Bibliotheken (n=13) erwartungsgemäß sowohl Google (n=9) als auch Daten (n=7).

Die Beunruhigung als Sprachbild: Voyant-Wortwolke zu Roland Reuß‘ Sie nennen es Service, dabei ist es Torheit (FAZ, 12.11.2013)
Über Kathrin Passigs Bibliotheksbild und was wir daraus lernen können.
Ein Kommentar von Ben Kaden / @bkaden
Kathrin Passig wird offensichtlich gern und regelmäßig als Impulsgeberin zur Diskussionen über die Zukunft der Bibliotheken eingeladen, vielleicht gerade, weil sie von sich zu berichten weiß: „Ich bin nicht so vertraut mit den internen Diskussionen der Bibliotheksbranche.“
Aktuell berichtet sie in ihrer Kolumne für die ZEIT von einer offenbar für sie wenig erfreulichen Konversation mit Frank Simon-Ritz, Bibliotheksdirektor und Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands. Die Veranstaltung lief unter der wohl alliterarisierend gemeinten Überschrift Apps und Auratisierung: Ein Gespräch zur Zukunft der Bibliothek und anscheinend, wie häufig bei solchen Sitzungen auf Messepodien, ziemlich ins Leere.
Allerdings wurde ich leider nicht Zeuge dieser Dreiviertelstunde, da ich meinen Wochenbedarf an Prognosediskussion bereits weitgehend in meiner eigenen Diskussionsrunde zum Social Reading gestillt hatte, die ebenfalls, vorsichtig formuliert, eher ergebnisoffen endete.
Lieber überzeugte ich mich etwa zeitgleich in den Hallen davon, dass Print wenigstens als Printmarkt so agil wie selten zuvor ist. Es erstaunt im Herbst 2013 tatsächlich, in welcher materialen und handwerklichen Güte auch Parallelausgaben zu den E-Books, deren Absatz mittlerweile sogar im Mutterland des elektronischen Lesens seine Sättigung erreicht zu haben scheint, in Deutschland produziert ver- und gekauft werden. Belege dafür, dass Kathrin Passigs bereits an anderer Stelle gezeigte Papierfeindlichkeit ansteckend ist, fanden sich keine. Auch die Hysterie der Verlagswelt angesichts des Über-Mediums E-Book scheint nicht mehr akut, seit sie gemerkt haben, dass Hardcover trotz allem ganz gut geht, besonders, wenn man sich beim Einband und Satzbild mal etwas einfallen lässt.
Aber vielleicht ist es ja auch eine Ausnahmeort und man trifft dort ohnehin nur Leute, die besonders druckaffin sind, so wie man in einer Bibliothek meist eben nur Bibliotheksnutzer trifft. Das sind in öffentlichen Bibliotheken in Deutschland wahrscheinlich irgendetwas um die 30 Prozent der Gesamtbevölkerung, was aus meiner Sicht kein allzu niedriger Wert ist. Aber wahrscheinlich keiner, der in Kathrin Passigs digitalen Paralleluniversium allzu bedeutsam wäre:
„Es ist schön, dass es öffentliche Orte gibt, die so vielfältige Nutzungsmöglichkeiten eröffnen wie Bibliotheken, ohne dass man im Gegenzug auch nur einen Kaffee bestellen müsste. Aber in einem Paralleluniversum, in dem öffentliche Bibliotheken nie eingeführt worden sind, dürfte es heute schwerfallen, plausible Gründe für die Einführung solcher Einrichtungen zu benennen. Dass gerade allenthalben prestigeträchtige Megabibliotheken neu gebaut werden, ist kein Gegenargument, denn dahinter stehen etablierte Argumentations- und Finanzierungsstrukturen. Die Steuerzahler des Paralleluniversums würden fragen, ob man nicht stattdessen direkt Coworkingspaces, Veranstaltungsorte, Digitalisierungsprojekte oder eine private Internet-Grundversorgung für Bedürftige fördern und die großen Gebäude mit dem Papier weglassen könnte.“
Nun ist es sehr schwer, mit der abstrakten Pflaume „die Steuerzahler des Paralleluniversums … würden fragen“ argumentativ zu spekulieren. Denn die Steuerzahler sind schon in unserem Universum ein ziemlich heterogener Haufen. Obendrein dürfte die Größe „Steuerzahler“ anders als beim Großflughafen BER, beim Thema Bibliotheken vom eingefleischten Bibliothekshasser bis zum spendablen Bibliotheksliebhaber alle Schattierungen dessen aufweisen, wie man zu solchen Themen stehen kann. In einem Paralleluniversum mag das anders sein. Aber möglicherweise käme man in diesem auf die kuriose Idee, die Co-Workingspaces und öffentlichen Veranstaltungsorte mit Räumen zu flankieren, in denen ein Zugang zu Medien möglich ist.
II
Ernster als die aus irgendeinem persönlichen Anstoß resultierende Abneigung gegen Papier ist in Kathrin Passigs Kolumne die Kritik an der häufig tatsächlich zu beobachtenden Hilflosigkeit bibliothekarischer Selbstlegitimationsversuche zu bewerten. Es ist natürlich grotesk, dass sich eine Institution mit ziemlich guten Durchsatz (etwa 470 Millionen verliehene Medien / Jahr) überhaupt permanent als bedeutsam präsentieren und rechtfertigen muss. Es ist sicher fürchterlich erschöpfend, wenn man dies ständig zudem gegenüber Kleinkämmerer, Papierfeinde und Digitalideologen zu tun verpflichtet ist Aber dies ist wohl die Realität. Vielleicht würde der kritische Steuerzahler eines Paralleluniversums aber fragen, wie teuer die Volkswirtschaft eigentlich die in permanente Evaluation und stetiges Reporting eingebundenen Ressourcen zu stehen kommt.
Kathrin Passig geht es jedoch, so glaube ich, gar nicht so sehr um die Kostenrechnung. Möglicherweise hat sie einfach Freude daran, die Bibliotheken zu necken, in dem sie in den renommiertesten Medien des Landes verkündet, dass die Bibliotheken „kaum noch eine Existenzberechtigung“ haben, wenn sie sich nicht bald wandeln. Das wenig spezifizierte „Wohin“ ist in diesem bekannten Schwarzmalbild vermutlich irgendeine digitale Form. Interessanter ist allerdings das „Warum“ und zwar das Warum in der Frage, warum sich Kathrin Passig so eifrig auf das Thema stürzt. Offen gesagt erscheint mir die Vehemenz, mit der sie stabil und seit Jahren für eine Welt in E-Only missioniert, schwer nachvollziehbar. Von mir aus mag sie sogar Recht haben. Aber warum muss man 2013 noch so kämpfen, als stände man noch immer den bornierten Fortschrittsverweigerern des Jahres 1997 gegenüber, denen die Virtualität digitaler Kommunikation in keiner Form greifbar wird und die deshalb alles ablehnen, was binär anmutet. (So etwas gab es auch in Bibliotheken in dieser Zeit und die wahren Helden sind die Enthusiasten, die in zermürbenden Diskussionen abseits der Öffentlichkeit für ein freies W-Lan im Lesesaal und ähnliche Innovationen stritten.) Auf mich jedenfalls, der ich Vielfalt, Offenheit und die gleichzeitige Existenz von mehr als einer Wahrheit gerade durch Aufenthalte in Bibliotheken, die wunderschön all die Irrtümer und Glaubenskämpfe der Menschheitsgeschichte nachvollziehbar vorhalten, kennen lernen durfte, wirkt diese Selbstüberhöhung mit heftig artikulierten Anspruch auf Deutungshoheit irgendeiner Zukunft nicht wenig unzeitgemäß. Aber vielleicht bin ich es ja auch selbst.
III
Wenn es um die Alltagslegitimation der Bibliotheken geht, die eigentlich ein wenig mehr umfasst, als die Frage, wie digital die Bibliothek der Gegenwart mit ihren Diensten sein will, stehen die handelnden Akteure natürlich unter dem Zwang der Machtstrukturen. Es erklärt aber dennoch nicht, warum man sich auf dem enthobenen Parkett der Buchmesse wieder auf die völlig zu Recht kritisierte und objektiv hanebüchene Argumentationslinie, die (physische) Bibliothek sei doch irgendwie besser als das Internet, einlässt. Sie ist es nicht und wo sie es behauptet, hat sie bereits verloren. Jedenfalls wenn es um Information und Informationsversorgung geht. (Das Bildungsargument greift dagegen nur bei denjenigen, die auch denken, dass MOOCs die Universität als Begegnungsort ersetzen können – ich bin gespannt wann, immer unter dem Argument des Sparenmüssens, die Debatte um die Notwendigkeit der Universität als Ort ausbricht…)
Digitaltechnologie eignet sich fraglos hervorragend für eine bestimmte Art der Informationsnutzung, auch für eine bestimmte Art der Serendipity sowie für eine bestimmte Art der Kommunikation. Mutmaßlich niemand in der Wissenschaft möchte heute bei der Recherche auf die Volltextsuche oder multidimensionales Browsing verzichten. Ich kann ohne Probleme in einer Stunde eine Anzahl von Publikationen einem Screening unterziehen und meist als irrelevant aussortieren, für die ich in vordigitaler Zeit wahrscheinlich zwei Wochen allein zur Beschaffung gebraucht hätte. Das Internet bietet uns die die beste und umfänglichste Informationsinfrastruktur, die die Menschheit für explizite Informationsprozesse jemals hatte. Die digitalen Sozialen Netzwerke schaffen es sogar, unser Sozialleben in maschinenlesbare Information zu verwandeln, in Graphen zu visualisieren und uns in einen permanenten Prozess der Selbstoptimierung zu führen – jedenfalls wenn wir wollen. Die Frage ist nun, ob wir es wollen.
Meine Erfahrungswerte mit Menschen verschiedenster Couleur ist, dass den meisten diese Debatten auch um das E-Book oder das Printbook herzlich egal sind. Viele verstehen die Debatte überhaupt nicht. Die Trägheit der Käufer ist sicher genauso ein Hemmschuh auf der Rutschbahn von Kathrin Passigs These eines „Untergang alles Papierenen“ wie die Hipster-Entscheidung, E-Reader, Smartphone und Buch gleichberechtigt neben dem Bett liegen zu haben.
Mir wird nicht klar, was Kathrin Passig als Argument gegen Bibliotheken vorschwebt, wenn sie schreibt:
„Bibliotheken sind dann niedrigschwellig, wenn man in ihrer Nähe wohnt, nicht in seiner Mobilität eingeschränkt ist, lesen kann, generell damit vertraut gemacht worden ist, dass eine Bibliothek nicht beißt und sich in einem Umfeld bewegt, in dem das Aufsuchen solcher Orte nicht als albern gilt.“
Im Umkehrschluß bedeutet dies nämlich, dass die Bibliothek für den überwiegenden Teil der Menschen in Deutschland mehr oder weniger niedrigschwellig ist. Für alle anderen gab es einmal so etwas wie Soziale Bibliotheksarbeit. Warum also ausgerechnet die Digitaltechnologie für die Masse niedrigschwelliger sein soll, erklärt sie eigentlich auch nicht, wo sie meint:
„Das Internet ist dann niedrigschwellig, wenn man Zugang zu einem internetfähigen Gerät hat und nicht glaubt, dass das Internet seine Nutzer ausraubt und verdirbt. „
Jedoch ist der Zugang genau genommen nicht zum „symbolischen Preis“, wie es in Kathrin Passigs Welt der Fall ist, zu haben, sondern kostet schnell dreißig bis fünfzig Euro im Monat (+ Hardware), was für viele Menschen schwerer zu stemmen ist, als die Busfahrkarte zur Stadt- oder Universitätsbibliothek, in der man bei guter Führung auch ohne Gebühr den Freihandbereich benutzen darf. Allerdings hat die Digitalwirtschaft seit je diese Zielgruppen nicht im Blick. Insgesamt blendet Kathrin Passig in ihrer Frankfurter Kolumne aus, dass das Internet wie wir es heute kennen, vor allem ein Wirtschaftsraum ist, in dem vielleicht noch ein paar Nischen des offenen Webs der 1990er übrig sind, dass generell aber keine Schnittmenge mit dem im Kern nach wie vor am Gemeinwohl orientierten Grundversorgungsauftrag öffentlicher Bibliotheken besitzt. Das letztere diese besondere Rolle für die Gesellschaft häufig selbst kaum mehr reflektieren und das Thema auch nirgends auf der Agenda der Fachkommunikation auftaucht, macht die Sache natürlich nicht besser. „Apps und Aura“ haben naturgemäß mehr Sexappeal und sind auf dem Jahrmarkt Buchmesse zwischen Wolfgang Joop und Boris Becker bestimmt am richtigen Ort. Der Bibliotheksalltag sollte aber vielschichtiger sein. Und er ist es auch.
IV
Für die saturierte Mittelschicht, aus der sich die bundesrepublikanische Bevölkerung nach wie vor weithin zusammenfügt, dürften fünfzig Euro Zugangskosten im Monat vielleicht kein symbolischer aber doch ein überschaubarer Preis sein. Entsprechend ist es mittlerweile für weite Teile der Gesellschaft so normal, ein Touchscreen-Telefon zu haben, wie man im Bad einen Wasserhahn erwartet. Und natürlich liest man permanent auf den Displays, nämlich die Social-Media-Streams und ab und an eine Kolumne auf ZEIT online. Der einstige Statusgewinn, denn man mit solcher Technologie erzielen konnte, ist dagegen mittlerweile weitgehend verloren. Sie sind inzwischen Werkzeuge und darin für die meisten so faszinierend wie eine Elektrolokomotive. Alle anderen lesen, je nach Präferenz, das LOK Magazin oder Macworld.
Überraschend ist, dass das Vorhandensein heimischer Breitbandzugänge ebenso wenig wie frühere Medienkonkurrenten so viele Menschen nicht davon abhält, doch ab und an in die Bibliothek zu gehen. (Oder eine Computerzeitschrift in der Papierausgabe zu kaufen.) In Universitätsbibliotheken sind es häufig sogar ein bisschen zu viele. Will man also die Bibliothek und ihre Attraktivität beleuchten, braucht man eigentlich nur fragen, warum sie in die „Papiermuseen“ (Kathrin Passig) streben. Dann weiß man auch, was man an Eigenschaften erhalten muss, damit sie wieder kommen.
Man muss sich, so denke ich, aus Sicht der Bibliotheken gar nicht so sehr in dieses Binärschema der Diskursmühle einspannen lassen, das eine kleine Gruppe von Menschen, die bestimmte Technologien lieb(t)en und durchsetzen woll(t)en, in ihrem digitalen Revolutionskampf bis zur Mainstreamifizierung der re:publica entwickelten und heute auch bereits aus Tradition weiterpflegen und dessen Kern lautet: Entweder wir oder ihr. Aber besser wir.
Es geht hier nicht darum, wer Recht hat oder sich durchsetzt. So laut und wichtig die Stimme von Kathrin Passig ist – sie wird nicht maßgeblich darüber entscheiden, wie die Menschen lesen. Denn die meisten Menschen lesen nicht einmal sie. Wir tun es und zwar gern und hoffen auf Anregung. Es ist richtig, solch radikale und wie die meisten radikalen Positionen, anscheinend nur bedingt auf Eigenaktualisierung und Dauerreflexion gerichteten Ansätze, zur Kenntnis zu nehmen. Man sollte sich nur nicht von ihren Prognosen verrückt machen lassen. Zumal Kathrin Passig selbst einmal sagte:
„Ich glaube nicht, dass es das Qualitätskriterium für einen Gedanken ist, dass er auch in 300 Jahren noch richtig sein muss. Ich glaube, man kann sehr gute Ideen haben, die genau von jetzt bis nächsten Sommer richtig sind und danach nicht mehr. „
Derzeit jedenfalls blühen wenigstens im Publikationsbereich beide Kulturen, die des Materials und die des Digitalen, ganz gedeihlich miteinander.
V
Ein Hauptdefizit der Diskussion ist schließlich, wie sich die Vertreter des Bibliothekswesens auf den Aspekt, etwas besser oder billiger vermitteln zu können (oder müssen), festnageln lassen. Denn darum geht es in Bibliotheken idealerweise nur sehr am Rand. Bibliotheken sind, wie das Internet auch, Räume der Möglichkeit, jedoch im besten Fall nicht von Markt- und Renditeerwartungen getrieben. Sie stehen daher auch außer Konkurrenz. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Radikalkuren in das Bibliothekswesen brachte zwar einigen Beratern und einer Handvoll Akteuren aus der Bibliotheksbranche ein bisschen was, gab dem Bibliothekswesen selbst jedoch weniger Impulse, die es wirklich verwerten konnte. Wer hart kalkulieren und jede Ausgabe begründen muss, wird eben nicht flexibler und kann auch nicht gut experimentieren – also genau die Fertigkeiten entwickeln, die der Digitalkultur (und der Digitalwirtschaft) einst die entscheidenden Schübe gaben. Was das Bibliothekswesen wahrscheinlich viel stärker als eine vermeintliche Liebe zum Papier hemmt, ist die Kombination von umfassender Abrechnungsbürokratie und absoluter Zeitgeistigkeitserwartung.
Das Bibliotheken sich gerade nicht rechnen müssen, ist (war?) übrigens ein zentrales Argument für diese Einrichtungen und ihre Rolle in einer auf Inklusion gerichteten Gesellschaft, was unbedingt einschließt, dass sie einen solchen freien und offenen Raum auch so weit wie möglich in das Internet ausdehnen. Wer kann wirklich abschätzen, welche Effekte konkrete Erfahrungen mit öffentlichen (digitalen) Bibliotheken auf welchen ihrer Nutzer und mit welcher Langzeitwirkung haben? Es gibt zwar immer ein paar gesellschaftliche Leuchtturmfiguren, die als Kinder gern in Bibliotheken herumstöberten und darin die Grundlage ihres kulturellen Aufstiegs sehen. Es gibt zugleich genügend Erfolgsgeschichten in jungen Jahren sozial marginalisierter Outsider, die aus der Garage jeweils eine Technologie in die Welt brachten, der sich auf einmal ein Großteil der informationell engagierten Welt unterwerfen wollten. Beides ist nicht sehr repräsentativ.
Es existieren nämlich Millionen von ehemaligen Bibliotheksnutzern, die irgendwann ein ganz überschaubares Leben als Berufskraftfahrer oder Sachbearbeiter führten. Und zehntausende Nerds, die nicht zu Milliardären wurden, sondern als Brotprogrammierer Verkaufsplattformen am Laufen halten. Wahrscheinlich wollen die wenigstens Menschen Teil einer Wissenschaftsgesellschaft sein, in der sie ständig gehalten sind, informationelle Höchstleistungen zu erbringen. Sondern einen handhabbaren Lebensalltag. Ihnen gefällt vielleicht gerade das begrenzte Maß an Serendipity, das eine Freihandaufstellung oder sogar ihr Regal zuhause bereithält. Vielleicht mögen sie also Bibliotheken vor allem dann, wenn sie sich dort irgendwie ihren Bedürfnissen gemäß mit Medien oder auch nur der Kontemplation auseinander setzen können und nicht, wenn ihnen permanent Bildungs- und Aufstiegs- und Aktivitätsnotwendigkeiten aufgedrängt werden. Bibliotheken sollten wahrscheinlich beide Dimensionen, die Streuung und die Konzentration anbieten. Nicht selten tun sie es de facto auch. Dass man zur Konzentration im Internet schwer ein Gegenstück im WWW findet, wäre mir allerdings als Argument in der Auseinandersetzung, wer was besser kann, der Apfel Internet oder die Birne Bibliothek, ein bisschen zu preiswert.
Interessanter sind für mich nämlich zwei damit zusammenhängende Grundfehler, die ich in der Debatte erkenne. Einerseits modelliert man in der Regel einen auf ein sehr aktives und bewusstes Informations- und Rezeptionsverhalten ausgerichteten Menschen als Ideal. Man geht davon aus, dass der Mensche immer mehr Wissen will, quantifiziert also seine Bedürfnisse in einer vergleichsweise schlichten Form. In Bezug auf Kinderbibliotheken und Informationskompetenz strebt man bisweilen danach, genau solche Informations-Poweruser heranzuziehen. Andererseits stellt man immer den Anspruch einer Optimierung, nach technischer Höchstleistung und maximalem Durchsatz. Man reproduziert demnach Muster der Leistungsgesellschaft in eine Sphäre, in der diese gar nicht notwendig wären, eventuell sogar schädlich sind.
Obendrein betreffen beide Aspekte nur ganz bestimmte Milieus und angesichts der kognitiven Investitionen und den erstaunlicherweise nicht weniger sondern meist nur komplexer werdenden Entscheidungen, die ein Mensch in solchen Kontexten zu treffen hat, sind diese als Zielpunkte des Lebens nur noch mäßig attraktiv. Dadurch, dass fast jeder jederzeit Zugriff zu Unmassen von Daten, Informationen und Inhalten hat, wird dieser Zugang banal und die Verpflichtung zur Teilhabe an der informationellen Entfaltung fast zur Last geworden. Die großen Luxushotels dieser Tage integrieren fast alle einen Bibliotheksraum. Keines jedoch einen Computerpool. Es ist heute ein Kennzeichen der Elite, nicht permanent netzvermittelte Informationen verarbeiten zu müssen. Und ein wenig scheint mir, als sickere dieser Abstinenzgedanke schon wieder in andere soziale Schichten durch.
VI
Ich bin mir nicht sicher, ob wir bereits den Einstieg in ein postdigitale Kultur erleben, in der die digitale Vernetzung so nebenher läuft, wie es vor fünfundzwanzig Jahren das Radio und das Telefon taten. Digitale Informationsräume sind Teil der Infrastruktur, auf die wir permanent zurückgreifen, wenn wir einen Bedarf haben. Ansonsten, so vermute ich, sind die Menschen in Zukunft gar nicht unglücklich, wenn sie sie nicht mehr wahrnehmen. Die Google-Brille ist übrigens ein konkreter Schritt in dieser Richtung. Digitale Kommunikationsmedien sind damit aber völlig normal und damit auch grundsätzlich in die Bibliotheken integriert, denn die Nutzer tragen sie ja bereits am Körper.
Die Bibliotheken haben aber damit selbst wenig zu tun. Menschen, wenigstens die aus den Schichten vom Mittelstand aufwärts, gehen nicht in die Bibliothek, weil es keine Alternativen gäbe, mit denen sie ihr Informations- oder Unterhaltungsbedürfnis ansprechen und bedienen können. Sie gehen in die Bibliothek, weil bzw. wenn diese ihnen die für ihren Geschmack und ihre Stimmung passende Form anbieten. Es ist kurioserweise eine Konsumentscheidung – wie der Kauf von Zahnpaste, bei dem der konsumhedonistische Großstädter mal Dentagard, mal Aronal, mal Marvis ins Bad stellt, mal einen Film im Online-Streaming und ein anderes Mal im Kino ansieht oder heute zu Curry 36 und morgen ins Grill Royal maschiert. Dank Internetzugang und e-Commerce sind wir für alles, was digital oder im Postpaket transportabel ist, überall in Deutschland potentiell konsumhedonistische Großstädter. In jedem Fall haben wir eine Vielzahl von Optionen.
Das gilt genauso für das gedruckte Buch. Wir leben in der luxuriösen Situation, dass wir oft wählen können, in welcher Form wir einen Text lesen wollen. Wenn man sich heute die gebundene Ausgabe entscheidet, dann einfach, weil man es möchte. Solange sich diese Entscheidungen zu einem Volumen addieren, das einen Absatzmarkt mit nur minimaler Marge ergibt, wird es höchstwahrscheinlich jemanden geben, der diesen Markt auch bedient. Wer beobacht hat, was Menschen auf sich nahmen, um das furchtbar unbequeme und anachronistische Medium des Polaroid-Films nach der Einstellung der Produktion am Leben zu halten (und zwar mit Erfolg), den wird nicht überraschen, dass es außerhalb unserer kleinen fachbibliothekarischen und feuilletonistischen Diskurszirkel Millionen von Menschen gibt, die nicht aus Nutzenrationalität handeln und deshalb danach fragen, was die Bibliothek oder das Internet besser können. Sondern einfach tun, worauf sie gerade Lust haben. Daher lohnt es sich mittlerweile offenbar auch wieder, Hörbücher auf Schallplatten zu veröffentlichen.
Bei aller Liebe zum haptischen Appeal des Apple-versums. Wenn es um die Lust und also um ein erotisches Moment (in der Bedeutung von Sinnlichkeit) geht, dann haben die Bibliotheken einige Dimensionen mehr zur Verfügung als die Displays, die für die Digitalkultur wahrscheinlich auch nur eine Zwischenlösung darstellen. Da die Nutzer ohnehin ihre Tablets oder Smartphones mitbringen, reicht es fast, die Versorgung mit W-Lan und Lade-Docks sicherzustellen. Und vielleicht eine Handvoll Tablets in Reserve zu halten, falls jemand keines mitbringt. Und eine App als Marketinginstrument. So etwas mag nicht die edelste Strategie sein, an der man Bibliotheksentwicklungen ausrichten kann. Aber sie als über-funktionale, sinnliche Erlebnisräume für alle zu denken, kann sie womöglich derzeit viel zeitgemäßer und, auch das, auratischer wirken lassen, als es die ein- und abgeschliffenen Argumente aus dem Strahlenkreis der Informationsversorgung vermögen. Nebenbei könnte man dann in aller Ruhe beginnen, die eigentliche gesellschaftliche Rolle einer Bibliothek neu zu bestimmen.
04.11.2013
Call for Papers LIBREAS #19: Zensur und Ethik
[Der Call for Paper im PDF-Format LIBREAS CfP 19 Zensur und Ethik]
Während in den arabischen Staaten Diktaturen versuchen, die demokratischen Revolutionen unter anderem mittels direkter Zensur aufzuhalten – egal, ob mit dem Versuch, ein ganzes Land fast vollständig vom Internet abzuschneiden, wie in den letzten Tagen von Mubaraks Ägypten oder aber durch die Kontrolle des einzigen offiziellen Internetzugangs eines Landes durch eine Firma der Familie des Diktators, wie in Libyen – steht Deutschland im 21. Jahrhundert in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit sehr gut da. Das mag in Bezug auf die deutsche Geschichte, aber auch angesichts politischer Auseinandersetzungen der letzten Jahre, vielleicht überraschen.
Dennoch: die Grenzen des Erlaubten sind weit geworden, Rückschläge der Meinungsfreiheit werden offen skandalisiert. Ist da Zensur überhaupt ein Thema für Bibliotheken? Wir behaupten ja. Und das nicht nur im internationalen und historischen Kontext. Denn in einer Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit ein tatsächlich vorhandenes Gut geworden ist, werden subtilere Formen der Zensur thematisierbar. (more…)
Die Diversität und ihr Management. Eine Besprechung.
Wer mit dem Defensivspiel im Fußball aktiv vertraut ist, kennt das berühmte Phänomen des „Nimm Du ihn, ich hab ihn“ – also einem Abstimmungsmissverständnis, das gern dazu führt, dass ein Ball bar jedes Effets und mit geringem Tempo, den man gemeinhin, wie die Stehtribüne meint, „mit der Mütze hält“, über die Torlinie kullert.
Etwas ähnliches ist uns unglücklicherweise in der Redaktionsarbeit geschehen. Nur war das Ergebnis gegenteilig: ein Text gelangte gerade nicht in eine Ausgabe. Da es nun bist zur nächsten wieder eine Weile hin ist und die kleine Besprechung schon eine Weile auf ihre Publikation wartet, bringen wir sie jetzt und hier im Weblog und lernen etwas daraus.
Mut zum Abschied aus verstaubten Strukturen – Sensibilisierung für die Vielfalt in uns und der Gesellschaft
Rezension des Buches von Wolfgang Kaiser: Diversity Management. Eine neue Managementkultur der Vielfalt –für ein neues Image der Bibliotheken. Berlin: Simon Verlag, 2008. ISBN: 978-3940862020
von Friederike B. Haar
Das präzise und stringent gehaltene Buch des Autors Wolfgang Kaiser beleuchtet das Konzept des Diversity Managements im Rahmen der modernen Bibliotheksarbeit umfassend und detailliert, was als Fachkraft in diesem Bereich sehr wohltuend zu lesen ist. Da in der Literatur selten gelungene Zusammenstellungen über „diversity“ zu finden sind, ist es besonders lobenswert, wie es Kaiser im Wirr-Warr des Diversitäts-Geschäftes gelingt, zunächst in den ersten zwei Kapiteln sehr sorgsam den Begriff des „diversity Management“ herzuleiten, klare Eingrenzungen unter Nennung namhafter Vertreter des Ansatzes vorzunehmen und ihn schrittweise ins Bibliothekswesen zu implementieren. Er betrachtet im gesamten Buch die Umsetzung des Ansatzes als persönliche Herausforderung derjenigen Personen, die in Bibliotheken als Team daran arbeiten, soziale Vielfalt konstruktiv zu nutzen.
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