LIBREAS.Library Ideas

In weiter Ferne und nah. Über Dekonstruktion, Digitalkultur und Digital Humanities

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 27. Juni 2013

Ein Blick in aktuelle Diskurse.

von Ben Kaden / @bkaden

„So einen wie ihn wird es im digitalen Zeitalter nicht mehr geben.“

beendet der Verleger Michael Krüger seinen Nachruf auf Henning Ritter in der Mittwochsausgabe der NZZ (Michael Krüger: Leser, Sammler und Privatgelehrter. Henning Ritter – eine Erinnerung. In: nzz.ch, 25.06.2013) und lässt damit den Leser anders berührt zurück, als es ein Nachruf gemeinhin zur Wirkung hat. Denn in gewisser Weise spricht er damit der Gegenwart, die wenig definiert als von Digitalem dominiert gekennzeichnet wird, die Möglichkeit ab, eine intellektuelle Kultur hervorzubringen, für die Henning Ritter stand. Das klingt nahezu resignativ und ist aus dem tiefem Empfinden des Verlusts auch erklärbar. Die traurige Einsicht ist zudem Lichtjahre von dem Furor entfernt, der der Debatte um eine Lücke zwischen Netz und Denkkultur noch vor wenigen Jahren mit Aufsätzen wie dem über den Hass (!) auf Intellektuelle im Internet von Adam Soboczynski kurzzeitig beigegeben wurde. (Adam Soboczynski: Das Netz als Feind. In: Die ZEIT, 20.05.2009) Ich weiß nicht, ob das Netz mittlerweile als Freund verstanden wird. In jedem Fall haben sich drei Auslegungen durchgesetzt: das Netz als Medium (nüchtern-funktional), das Netz als Marktplatz und das Netz als sozialer Wirkungsraum.

Dass das Netz auch als Austragungsort intellektueller Diskurse geeignet ist, merkt man dagegen in Deutschland weniger, einfach weil die spärlichen Gegenstücke zu dem nahezu Überfluss der entsprechenden Magazinkultur im englischsprachigen Weltenkreis, die längst medial eine e– und p-Hybridkultur ist und vom New Yorker über The Point bis zur White Review reicht, kaum im Netz präsent sind. Vielleicht gibt es auch tatsächlich zu wenige (junge) Intellektuelle dieses Kalibers in Deutschland. (Einige reiben sich auf irights.info am denkbar undankbaren Themenfeld des Urheberrechts auf und manchmal rutscht bei perlentaucher.de  etwas ins Blog, was in diese Richtung weist.) Und sicher hat dieses Defizit eine Reihe von Gründen. Das wir mittlerweile digitale Medienformen in unseren Alltag eingebettet haben, dürfte jedoch kaum die Ursache sein.

Dass sich die intellektuelle Kultur einer jeweiligen Gegenwart von der der Gegenwarten davor und danach unterscheidet, liegt darüber hinaus bereits offensichtlich in der Verfasstheit von Kultur begründet. Das digitale Zeitalter wird auch keinen Giordano Bruno hervorbringen (höchstens eine Giordano-Bruno-Stiftung) und keinen Walter Benjamin (höchstens einen Walter-Benjamin-Platz) und keinen Pjotr Kropotkin (höchstens noch ein unpassend eingeworfenes Zitat eines Oberschlaumeiers im politikwissenschaftlichen Proseminar). Aber „Postkarten mit aufgeklebten Zeichnungen oder vermischten Nachrichten, Briefe, die aus nichts als Zitaten bestanden“ zu versenden – das geschieht noch. Und zwar tatsächlich im Postkarten- und Briefformat und auch beispielsweise bei Tumblr, das diese Kulturpraxis des Collagierens, die an anderer Stelle selbst als Niedergang der abendländischen Kultur gesehen wurde, nahezu entfesselt erlebbar macht.

Auch intellektuelle Bohemiens gibt es erfahrungsgemäß und jedenfalls in Berlin nicht zu knapp. Nur sitzen sie – einige Jungfeuilletonisten ausgeklammert – nicht mehr bei «Lutter & Wegner», wohl aber manchmal im Verlagsprogramm bei der edition unseld und ansonsten, wenn sie noch etwas progressiver sind, doppelt exkludiert (freiwillig und weil die Verkaufskalkulatoren diesem Denken neben der Spur keinen Markt zusprechen) vom herkömmlichen Verlagsestablishment in ihren eigenen Diskursräumen (oft mehr Kammern). Und sogar den „unabhängigen Privatgelehrten, der mit einer gewissen boshaften Verachtung auf die akademischen Koryphäen herabblickt[…]“, findet man auf beliebigen Parties der Digital Boheme fast im Rudel. Die Zeiten, dass man Avantgarde war, wenn man sich von biederen Funktionswissenschaftlerei in den Hochschulen abgrenzte, waren schon vorbei, bevor man E-Mails schrieb. Der Hipsterismus hat aus dieser Einstellung sogar fast ein Freizeitutensil gemacht. Dass progressives Denken und Hochschulkarriere keine kausale Verknüpfung eingehen, sondern eher zufällig zusammenfinden, weiß mittlerweile auch jeder, sind das Universitäts- wie auch Wissenschaftssystem als rationaler Funktionskorpus doch geradezu naturgemäß darauf zugeschnitten, Denken zu normieren und in recht schmalen Kanälen zu führen.

Die Melancholie des Hanser-Verlagschefs Michael Krüger ist zweifellos nachvollziehbar. Neutral gesprochen wäre der Ausstiegssatz völlig zutreffend und selbstevident. Die Versuchung der Verklärung der persönlich verlebten Zeit als der besten aller möglichen Daseinsvarianten bedrängt sicher irgendwann fast jeden. Und einmal wird sicher eine Koryphäe der digitalen Geisteskultur einen ähnlichen Satz voller Trauer über einen Netzintellektuellen schreiben. Man darf ihm allerdings wünschen, dass er den Satz ohne Benennung der Nachfolgezeitrechnung (also ohne das dann aktuelle „digitale Zeitalter“) verfasst. Denn wie wahrer wäre die Aussage, wenn sie schlicht: „So einen wie ihn wird es nicht mehr geben.“ Oder besser noch: „Es gibt ihn nicht mehr.“ hieße. Große Persönlichkeiten, zu denen Henning Ritter, Homme de Lettres und Mensch als Mensch, zweifellos zählte, brauchen keine vergleichende Wie-Verortung im Zeitlauf.

II

Womöglich wird der „Methodenfreak“ (Süddeutsche Zeitung) Franco Moretti in diesem „einmal“ der Rückschau als eine Leitfigur der Geisteswissenschaften im Zeitalter ihrer digitalen Re-Evozierbarkeit gelten. Lothar Müller widmet dem Vorzeige-Digital-Humanist aus Stanford bereits heute im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch einen satten Sechsspalter (Lothar Müller: Ein Methodenfreak. In: Süddeutsche Zeitung, 26.06.2013, S. 14) mit einer eindrucksvollen Porträtaufnahme aus der Kamera der mit ihren Aufnahmen der deutschen Fußballnationalmannschaft ziemlich bekannt gewordenen Regina Schmeken. In der Bildrepräsentation spielt der Literaturwissenschaftler also bereits in einer oberen Liga. Isolde Ohlbaum dagegen, von der das zentrale Nachruffoto von Henning Ritter stammt (u. a. Dienstag im FAZ-Feuilleton), kennt man eher von ihren Aufnahmen von Alberto Moravia, Susan Sontag und Elias Canetti. Der Kulturbruch scheint sich bis ins Lichtbild einzuschreiben.

Franco Moretti, der ursprünglich (und „am liebsten“) theoretischer Physiker werden wollte, bricht nun tatsächlich und vielleicht noch stärker als jede These vom Tod der Autorenschaft in die stabile Kultur der Literaturanalyse ein, in dem er das Close Reading mit seiner quantitative Lektürepraxis, vorsichtig formuliert, in Frage stellt.

Lange Zeit war die Nahlektüre bereits aus praktischen Gründen die einzig gangbare wirkliche gründliche Auseinandersetzung mit Text. Denn angesichts der seit je immensen Mengen an Publiziertem, führte ein intellektuelles Mitteldistanzlesen meist nur zu – oft sehr eindrucksvollem – Querschnittswissen, was für das Kamingespräch hervorragend, für die harte wissenschaftliche Diskursführung aber zu oberflächlich ist. Die minutiöse Kenntnis weniger Texte und dazugehöriger Kontexte galt lange als edles Ziel der deutenden Textdisziplinen – wenngleich die minutiöse Kenntnis vieler Texte besser gewesen wäre, in einem normalen Wissenschaftsberufsleben aber einfach nicht realisierbar. Daher Kanonisierung, daher Beschränkung auf die Schlüsseltexte und Leitfiguren. Daher gern auch noch das dritte Buch über Achim (z.B. von Arnim).

III

Digitale Literaturwissenschaft bedeutet nun, sich der Stärken der Rechentechnik (= der automatischen Prozessierung großer Datenmengen) zu bedienen, um auf dieser Grundlage – sie nennen es „Distant Reading“ – das Phänomen Literatur strukturell, idealerweise als Gesamtgeschehen, zu erfassen, zu erschließen und (zunächst) interpretierbar zu machen. Die Manipulierbarkeit – vielleicht als „distant writing“ – wäre als Zugabe im Digitalen problemlos denkbar. Moretti trägt damit die naturwissenschaftliche Idee des verlässlichen Modells in die Beschäftigung mit Literatur:

„Ich bin auf Modelle aus […] auf die Analyse von Strukturen. Was ich am ‚close reading‘ nicht mag, ist das in den meisten Varianten anzutreffende Wohlbehagen an der unendlichen Multiplikation von Interpretationen, zum Beispiel der ‚deconstruction‘, wo die Leute umso glücklicher sind, je mehr Widersprüche sie in einem Text entdecken. Diese Beschränkung auf die immer reichere Interpretation einzelner Werke hat mich noch nie gereizt.“

So Moretti, der damit selbstredend auch eine völlige Ausblendung des Zwecks der Dekonstruktion vornimmt, die sich ausdrücklich und aus gutem Grund gegen die Reduktion der Welt auf allgemeine Regeln und hin zur Anerkennung bzw. der Untersuchung des Spezifischen wendet. Diesen Ansatz auf Wohlbehagen und Glücklichsein zu reduzieren, zeigt vor allem, wie tief die Gräben zwischen den Schulen in den USA sein müssen. Wer sich nämlich an einem dekonstruktiven Lesen versucht hat, weiß, wie unbehaglich und zwangsläufig unbefriedigend diese unendliche Kärrnerarbeit in der stetigen Verschiebung des Sinns sein muss. Mit einer modellorientierten Wissenschaftsauffassung, vermutlich sogar mit einer auf Erkenntnis (statt Verständnis) und Kontrolle (statt Anerkennung) gerichteten Wissenschaft lässt sich die Dekonstruktion kaum in Einklang bringen. Diese Art von Auseinandersetzung mit Text produziert kein sicheres Wissen, sondern im Gegenteil, wenn man so will, bewusst verunsicherndes. Das mag sie so unbequem und auch kaum leicht verwertbar machen.

IV

Was Moretti macht, wenn er Textmassen quantitativ und statistisch auswertet, entspricht prinzipiell den digitalökonomischen Datenanalysen, die man, wie wir mittlerweile wissen, auch zur geheimdienstlichen Terrorabwehr verwenden kann. Sein Konzept – er nennt es Quantitativen Formalismus – dient gleichfalls zur Strukturerschließung des Dokumentierten, also des Empirischen, wobei sich systematisch Abweichungen isolieren lassen, die man dann bei Bedarf qualitativ durchleuchten kann. Damit gewinnt man fraglos eine solidere Basis für die Auseinandersetzung mit Texten in ihrer Gesamtheit (so sie in ihrer Gesamtheit digitalisiert und Teil des Korpus sind). Man erfährt bei der richtigen Analyse viel über die syntaktischen, mitunter auch konzeptionellen Relationen zwischen Textprodukten bzw. Äußerungen. Man kann Querverbindungen und Referenzen isolieren und nachverfolgen. Bisweilen deckt man auch Plagiarismus auf und Doppelschöpfungen. Es lassen sich Aussagen über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Texten treffen (zum Beispiel über das Mapping mit Ausleihstatistiken öffentlicher Bibliotheken). Aus vielen Perspektiven können wir zu den Gegenständen der Literaturwissenschaft so exakt wie noch nie in der Wissenschaftsgeschichte Aussagen treffen, Schlüsse und Querverbindungen ziehen und Einsichten vorbereiten. Wir sind in der Lage, aus einer Art Vogelperspektive ein riesiges Feld der Literatur zu betrachten und zugleich zu übersehen.

Allerdings, und das ist der Unterschied zwischen einem guten Close Reading und dem besten vorstellbaren Distanzlesen, bleibt die Literatur aus dem Korb dieses Heißluftballons unvermeidlich unbegreiflich. Wir können nicht gut mit unserer Wahrnehmung zugleich über den Dingen und in den Dingen sein. Im besten Fall können wir also in einer Kombination von close und distant Morettis Draufsichtverfahren als Drohne benutzen, um – je nach Erkenntnis- und Handlungsinteresse – den Zugriff zu präzisieren. In dieser Hinsicht sind statistische Zugänge eine grandiose Erweiterung des wissenschaftlichen Möglichen. Die Dekonstruktion könnte sich des Quantitativen Formalismus sogar ganz gut bedienen, wenn es darum geht, etablierte Perspektiven der Dekonstruktion zu verschieben. Als Alternative wäre das Verfahren der statistisch erschlossenen Vollempirie dagegen offensichtlich untauglich, da es schlicht etwas ganz anderes in den Blick nimmt, als die Praxis der Nähe.

V

„ ‚Persönlichkeit‘ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient“, schreibt Max Weber, Morettis Idol, und dies reproduziert kaum verschleiert eine religiöse Bindung in die Wissenschaft, die hiermit die Sache zum Gottesersatz erhebt. Die Identität der Wissenschaftlerpersönlichkeit ergibt sich allein aus dem Dienst am Objekt. Mit Aufklärung hat die sich daraus leider bis heute oft ableitende Empiriefrömmelei jedoch wenig zu tun. Ein Dogma kämpft hier nur gegen das andere und für wirklich Intellektuelle war dieses Preisboxen um die Wahrheit noch nie ein besonders attraktives Spektakel, zumal sie meist nur von den billigen Plätzen zusehen durften. Nun wäre eine post-sachliche, also konsequent entdogmatisierte Wissenschaft nicht mehr Wissenschaft wie wir sie kennen, schätzen und als sinnvoll erachten. Sondern vielleicht systematisierte Intellektualität. Oder eben das, was man im besten Sinne meinte, als man Humanities eben nicht als Sciences konzipierte.

Die Digital Humanities und die quantitative Literaturwissenschaft sind nicht, wie man häufig vermutet, eine Weiterentwicklung der geisteswissenschaftlicher Praxen, sondern eine neuartige Annäherung an deren Bezugspunkte. Was dann durchaus sympathisch ist, wenn nicht Max-Weber-Adepten im gleichen Zug, diese weicheren Ansätze als inferior herausstellen, weil sie davon ausgehen, dass auch Literatur vor allem empirisch ist und damit in die Irre wandern. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert sind der Literatur und der Kunst die Ansprüche der Empirie nämlich vor allem eins: gründlich suspekt. Literatur geht es – wie übrigens auch der Dekonstruktion – nicht mehr um die Spiegelung der Welt, sondern darum, sich den Spiegeln so gut es geht zu entziehen, das Bild zu biegen, um das sichtbar zu machen, was dahinter liegen könnte. Diese Art von Literatur zielt nicht auf Wahrheit und vermutlich macht sie diese für viele unheimlich und für ein paar Freunde des Close-Readings eben doch reizvoll. Wenn diese kreativ genug sind, nicht auf Wahrheitsanspruch zu lesen, gelingt es sogar, etwas Fruchtbares und Anschlussfähiges daraus abzuleiten, das keine Statistik jemals hergibt.

VI

Nun ist zu beantworten, worin dieses Fruchtbare bestehen könnte. Hinweise liefert vor allem der Blick in die Gegenwart bzw. in die etwas jüngere Vergangenheit, also in die Entfaltungszeit des Michael Krüger’schen „Digitalen Zeitalters“ (als besäße der Äonen-Bezug noch irgendeinen diskursiven Wert). Wer sich die Entfaltung der digitalen Kultur der vergangenen zwei Jahrzehnte ansieht, erkennt unschwer, dass ihr Erfolg durch die Kombination zweier Grundprinzipien begründet ist: das des Narrativen und das der Statistik. Plattformen wie Facebook sind biografischer Abbildungsraum und Sozialkartei herunteradressiert auf die kleinste kulturelle Einheit: Das Individuum. Während uns die Zahlen (Freunde, Likes, Shares, etc.) – Übernahme aus der Ökonomie – unseren Erfolg bei der sozialen Einbindung (Netzwerk) unseres Lebens präzise nachweisen, benutzen wir die Narration unserer Selbste dazu, diese Zahlen (unsere soziale Akzeptanz) zu beeinflussen. Selbstverständlich zählt im nächsten Schritt nicht nur die Quantität, sondern auch – FOAF – die Qualität unserer Kontakte.

Etwa in der Mitte dieser zwei Jahrzehnte öffentliche Netzkultur liegt eine Zäsur. Die ersten zehn Jahre etablierten den digitalen Kommunikationsraum noch weitgehend nach dem Muster der analogen Welt (massenmediale Kommunikation hier, private Kommunikation per E-Mail, Chat, P2P-Filesharing da und obendrauf noch ein paar Versandhäuser mit Online-Katalogen) wogegen mit dem sogenannten Web 2.0 die Trennwände nach und nach durchlässig wurden, so dass mittlerweile auf unseren Privatprofilen sichtbar wird, welche Zeitungsartikel wir abgerufen und welche Musiktitel wir abgespielt haben. Das Besondere als Basis der Handlungsstrukturen rückt in den Vordergrund. Wir schwanken zwischen Me-too und Me-first, letzteres mit der Chance, ganz früh im Trend zu sein und damit zu punkten (das Pyramidenspiel des Sozialprestiges) und zugleich mit dem Risiko, fehl zu gehen.

Diese relativ leicht erfass- und visualisierbare Statistik unseres Kulturverhaltens hilft uns einerseits, einen statistisch stabilisierten Überblick über unsere Nutzungsaktivitäten in äußerst komplexen Medien zu gewinnen und andererseits, dies in die Autofiktion unserer Identität einzubinden. Was wir von Max Weber also übernehmen können, ist der subjektive Sinn und das darin Eingebettete, das irreduzibel ist auch vor der Summe des einzeln Geteilten. Dieser subjektive Sinn geht, so eine Ergänzungsthese, nämlich nicht vollständig darin auf, was wir denken, was andere in unser Handeln hineinlesen sollen, sondern er wird auch permanent eigeninterpretiert und zwar vor dem Horizont unserer Selbstwahrnehmung und in Hinblick auf die Stimmigkeit unseres Eigennarrativs.

Die Explizierungsmedien für unser soziales Handeln helfen uns nun, die permanente Fortschreibung dieser Identitätserzählung so systematisch zu pflegen, wie es sonst bestenfalls mit einem penibel geführten Tagebuch möglich gewesen wäre. Das Reizvolle für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist in diesem Zusammenhang die zu beobachtende Ausweitung dokumentarischer Praxen in die Selbstverwaltung der Identität. Wo wir unser Leben, die Spuren, aus denen wir Erinnerung generieren können, expliziert aufzeichnen und damit, teilweise öffentlich sichtbar, nachprüfbar machen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir unsere Lebensgestaltung im Sinne eine dokumentierten Kontinuität und Stimmigkeit dieser Gesamtverläufe ausrichten. Dass der Sozialdruck, entstehend aus den geteilten Reise-, Konsum- und Aktivitätsbilanzen der Anderen, eine erhebliche Rolle spielt, ist unübersehbar.

Unser Web-Selbst wird so auf bestimmte Effekte hin manipuliert bzw. manipulierbar und unser, nennen wir es mal so, Offline-Selbst daran angepasst. Gerade bei Phänomenen wie dem Online-Dating entstehen erfahrungsgemäß häufig Differenzen aus dem geweckten Erwartungsbild (oder dem angenommen geweckten Erwartungsbild) und dem tatsächlich einlösbaren Offline-Original. Rein strukturell unterstützen die Plattformen die Verwandlung unserer sozialen Repräsentation in eine vermeintlich objektiv (Statistik) bewertbare Warenförmigkeit. Dies gilt also nicht nur in Hinblick auf unsere Adressierbarkeit für Werbung, sondern auch hinsichtlich des Repräsentationsdrucks auf unsere sozialen Kontakte, die uns jederzeit aus ihrem expliziten Netzwerk entfernen können, wenn wir ihnen als unpassend oder irrelevant erscheinen.

An der Schnittstelle zum professionellen Umfeld sind entsprechende Effekte noch deutlicher. Wo potentielle Arbeitgeber in den Besitz von Partyfotos und auf dieser Grundlage zu für uns realweltlich negativen Entscheidungen kommen können (eine große Debatte vor einigen Jahren), wirken diese Strukturen automatisch auf unser Verhalten zurück. Jedes aktuelle Mobiltelefon hat eine Kamera – wir können also überall fotografiert werden und müssen entsprechend überall adäquat wirken. Fast freut man sich, dass diese Spitze der Verhaltenslenkung noch nicht in Umsetzung ist und sich die Partytouristen in Berlin-Mitte nach wie vor benehmen als gäbe es weder Instagram noch ein Morgen. Und schließlich gibt es noch diejenigen, die keine Lust (mehr) auf die Nutzung dieser Verwaltungsmedien haben, denen die Gefahr der Fremdbeobachtung und / oder der Aufwand solcher Selbst(bild)kontrolle zu hoch ist. Offen ist allerdings, was wird, wenn eine virtuelle Repräsentation normativ wird, vielleicht sogar staatlich gesteuert. Wer das für absurd hält, der sollte sich einmal mit der Geschichte des Personalausweises befassen. Dann erscheint fast folgerichtig, dass früher oder später eindeutige digitale ID-Marker für unsere virtuellen Repräsentationen als notwendig eingeführt werden.

VII

Eine schöne Herleitung der generellen digitalkulturellen Entwicklung bis heute bietet in einer nahezu enzyklopädischen Form (immerhin nach dem Untergang der Enzyklopädien und damit der Vorstellung, man könne einen allgemeinen Kanon des Faktenwissens in einer geschlossenen Form abbilden) eine im Mai erschienene und noch erhältliche Sonderausgabe des zentralen Begleitmediums der Netzkultur – der Zeitschrift Wired: Wired. The first 20 years. (Interessanterweise wurde das mittlerweile zum popkulturellen Parallelmedium etablierte und weitaus anarchischere Vice Magazine fast zeitgleich gegründet. Wer die Jahrgänge dieser Publikationen bewahrt hat, dürfte für eine Genealogie der populärkulturellen Gegenwart mitsamt der dazugehörigen Kulturindustrie eine solide Forschungsgrundlage besitzen.)

Wired - das weiße Heft

Wired. Das weiße Heft, hier platziert auf einem Retro-Liegekissen. Auf der soeben erfundenen Moretti-Skala Close-Distant-Reading lautet die Leseempfehlung für diese Ausgabe: Mittel. Wer leichtgängigen kalifornischen Selbstbespiegelungsjournalismus mag, findet exakt was er erwartet, muss es also eigentlich nur überfliegen. Wer sich gern erinnern möchte, wie alles begann mit der Netzkultur, entdeckt die richtigen Schlüsselwörter (bzw. seine Madeleines wie Proustianer sagen würden). Wer sanftmütige Insiderscherze zur Ted-Talk-Präsentationspraxis sucht, bekommt Unterhaltung für die Länge von etwa 10 Tweets. Insgesamt ist die Ausgabe ein schmuckes Sammlerstück und wir werden in zehn Jahren sicherlich mit einigem Erstaunen und nicht wenig Freude an der Nostalgie wieder hineinblättern.

Diejenigen, die in den 1990ern mit der Netzkultur anbandelten, finden zudem im Jubiläumsheft eine Dokumentation einschlägiger Leitphänomene der eigenen Vergangenheit. Die Anknüpfungspunkte von A wie Angry Birds, Apps und Arab Spring über Friendster, Microsoft (sehr ausführlich), Napster (anderthalb Spalten), Trolling („But when skillful trolls do choose to converse with their critics, they poison the discussion with more over-the-top provocations masquerading as sincere statements.”, S. 160) und Wikileaks bis Z wie ZeuS sind jedenfalls vielfältig.

Ein schöner Trigger ist natürlich das Stichwort Blogs: 1998, als die meisten nutzergenerierten Inhalte noch bei Freespace-Anbietern wie Geocities oder tripod.com lagen, existierten, so erfährt man auf Seite 34, 23 Weblogs. Webweit. Ein Jahr später waren es ein paar zehntausend und der Schlüssel war eine vergleichsweise simple Webanwendung namens Blogger eines Zwei-Personen-Unternehmens namens Pyra Labs.

Diese Geschichte, genauso wie Google, das 2003 Blogger übernahm, zeigt den faszinierenden Kern der Digitalkultur. Die entscheidenden Entwicklungen waren immer durch das Engagement weniger Akteure (eine Porträtgalerie vom Präsidenten-Fotografen Platon präsentiert von Marissa Mayer bis Tim Cook all diese Lichtgestalten in Schwarz-Weiß), sehr simple Ideen, wenig langfristiger Planung und glücklicher Fügung geprägt. All diese Spuren sind so umfassend wie bei keiner anderen mächtigen Kulturentwicklung in der Menschheitsgeschichte dokumentiert. Die heutigen Big Player der Netzkultur begannen alle mit wenig mehr als vergleichsweise minimalem Budget und einer Idee. Wo man planvoll vorging und viel Geld investierte (kottke.com), ging es meist schief.

In die vom Ende der Geschichte erschöpften 1990er Jahre drang mit dem Internet eine frische Woge Zukunft und das Versprechen lautete, dass jeder, wenn er nur einen Computer und ein Modem und etwas Fantasie hatte, eine neue Welt nicht nur betreten, sondern sogar gestalten kann. (Und außerdem mit nur einer Idee sehr reich werden.) Für die Kulturindustrie wurden zu diesem Zeitpunkt die Karten neu gemischt, was viele Vertreter der etablierten Zweige weder verstanden noch überhaupt wahrnahmen. (sh. auch Sony, S. 136)

Das konnte natürlich auch scheitern, wie beispielsweise die Idee dank Hypertext nicht-lineare Narrationsformen durchzusetzen. „You can see this as a classic failure of futurism“, schreibt Steven Johnson zum entsprechenden Stichwort (S. 92), „Even those of us who actually have a grasp of longterm trends can’t predict the real consequences of those trends.” Wirkliche Webliteratur hat sich nirgends ein Publikum erobert und selbst wer nicht-lineare Texte liebt, liest seinen Danielewski (jedenfalls nach meiner Erfahrung) doch lieber als Blattwerk.

Die Übertragung des Vernetzungsprinzips auf die Reproduktion einer Verwaltungskartei für persönliche Kontakte wurde jedoch zum derzeitigen Zentralhabitat der Webpopulation. (sh. Facebook) Das man das Hauptgewicht tatsächlich auf Identität (das Gesicht) und nicht nur auf den Kontakt (ein Rolodex 2.0 hätte gewiss allein klanglich versagt) legte, ist Teil der Rezeptur.

Das weiße Wired-Heft selbst entspricht dem flockigen, anekdotengeschwängerten und niemals langweiligen Stil, der dem Web eigen ist, ist also auch ein gutes Zeitdokument journalistischer Standards der Netzkultur und lässt sich obendrein prima am Strand lesen. Idealerweise an einem mit Netzabdeckung, denn der Artikel zum Thema QR Code ist konsequent als QR Code-Verknüpfung eingedruckt. Mindestens so erstaunlich erscheint, dass die Firma 1&1 aus Montabaur auf Seite 193 eine Anzeige schaltet, deren Anmutung schon im Jahr 1993 in Wired altbacken gewirkt hätte. Aber vielleicht gerade deshalb.

VIII

Weiß man nach der Lektüre der Ausgabe präziser, wo wir nach 20 Jahren Wired (bzw. 20 Jahren Netzpopulärkultur) stehen? Vielleicht so viel, wie man über die Literatur einer Literaturgattung weiß, wenn man den Brockhaus-Artikel oder einen Moretti-Aufsatz zum Thema gelesen hat. Man hat einen Überblick und ein paar separate Fakten. Aber ohne unmittelbare Erfahrung bleibt es blanke Oberfläche. Die unmittelbare Gegenwartserfahrung zeigt eine gewisse Konsolidierung der Nutzungspraxen, die dafür mit dem Alltag verschmelzen. Die Wired-Ausgabe zeigt auf, was die vergangenen 20 Jahre eigentlich verschoben haben und nun sitzen wir hier vor den Macbook-Air und finden es eigentlich ganz okay, wenn es einen kleinen Sprung im Display gibt, also eine Brechung der Fassade. Im Hypertext-Eintrag heißt es: „and in the long run the web needed the poets and philosophers almost as much as it needed the coders.“ (S. 92)

Das Verhältnis scheint mir längst gekippt zu sein. Digitale Frühaufklärer wie Jewgeni Morosow und Gegenrevolutionäre wie Jaron Lanier sind längst im Metadiskurs auf Augenhöhe und in gleicher Dauerpräsenz wie die lange dominanten Futuristen und Heilsverkünder anzutreffen. Diese Vielstimmigkeit ist keine schlechte Entwicklung. Auch dahingehend geschah in den vergangenen Jahren sehr viel auch an Reifung. Alle, die über zwanzig sind, wissen, dass zwanzig Jahre überhaupt kein langer Zeitraum sind. Hält man sich vor Augen, wie grundlegend und disruptiv die Kulturverschiebung eigentlich wirkt (das Wired-Heft deutet es nur an), dann lief es – auch vor dem Horizont des geschichtlichen Wissens um kulturelle Verwerfungen) – geradezu friedlich und naiv ab, was sicher auch das Resultat einer schnellen und ziemlich umfassenden Bemächtigung, Steuerung, Moderation und Gestaltung dieser Prozesse durch einen nun digitalen Kapitalismus ist.

Die Entfaltung der Schattenseiten der Technologie, ihre Intrusivität hat sich bisher mit dem Emanzipationspotential die Waage gehalten. Ihres dystopischen Gehalt sind wir uns bewusst (und wer Nachholbedarf hat, sollte Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story lesen).

Die Einblicke in Tempora und Prism durch Edward Snowden sind sicherlich eine nächste Zäsur und ein wichtiger Schritt zum Verständnis der Risiken eine Omnikodifizierung und Vernetzung unserer Lebenswelten. In jedem Fall zeigen sie die Notwendigkeit einer übergeordneten Gegenkontrolle zum angeordneten Monitoring unserer digitalen Handlungen. Entsprechend wichtig ist auch die Rolle der Intellektuellen und eines dekonstruierenden intellektuellen Diskurses dazu. Der muss nicht zwingend in der Wissenschaft geführt werden. Aber es würde natürlich der Wissenschaft nicht schaden, wenn sie ihn führte.

Das Fruchtbare dieses Bremsdiskurses wäre übrigens, dass die Gesellschaft beständig die gesamte Bandbreite ihrer Wertvorstellungen, Wünsche und Ängste gegenüber dem digitaltechnisch Machbaren und der Digitalkultur reflektiert, um früh und deutlich genug Einspruch erheben zu können, wenn etwas aus dem Ruder läuft und wenn neue Totalisierungstendenzen gleich welcher Art entstehen. Die Literatur schafft es, uns dafür sensibel zu halten, gerade in dem sie in der Nahlektüre berührt. Ich bin mir nicht sicher, wie die Stilanalytik des Distant Readings aus dem Stanford Literary Lab dafür einsetzbar wäre.

26.06.2013

Kryptomnesie, schweig. Über das Phänomen des unbewussten Plagiats.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 12. Juni 2013

Eine Reflektion zu Oliver Sacks (2013) Erinnerung, sprich. In: Sinn und Form. 3/2013, S. 341-350

von Ben Kaden / @bkaden

„The present work is a systematically correlated assemblage of personal collections…“ (Vladimir Nabokov (1947 / 1989) Speak, Memory: an autobiography revisited. New York: Vintage Books.)

Der Literaturzeitschrift Sinn und Form verdanke ich, den von mir im Februar übersehenen (oder vergessenen) Beitrag des Neurologen Oliver Sacks in der New York Review of Books doch noch gelesen zu haben. Denn sie druckt ihn in ihrer aktuellen Ausgabe in Übersetzung und noch schönerem Satz (dafür ohne Fußnoten) ab. Oliver Sacks schreibt prinzipiell über das Vergessen, über die Lücken in der Erinnerung sowie das zugleich plötzliche Auftauchen verschüttet geglaubter Bilder und allein schon um sich mit der lebhaften Erfahrung dieser Phänomene nicht allein zu fühlen, lohnt die Lektüre.

Ich weise auf den Artikel hier jedoch noch aus einem anderen Grund hin. Er stellt nämlich einen sehr sinnvollen Beitrag zur derzeit etwas abgeflauten Plagiatsdebatte dar, die unlängst dank einer Verkettung mit hohen politischen Akteuren nicht nur in der Bundesrepublik über die Dauer von vielleicht zwei Jahren sogar titelseitentauglich war.

Unbestritten stellt ein vorsätzliches Plagiat sowohl auf dem Markt der Kulturproduktion wie auch in der Wissenschaft einen gravierenden Verstoß gegen eine ganze Reihe impliziter und expliziter Regeln dar. Gerade im wissenschaftlichen Betrieb führt ein Plagiat gemeinhin ähnlich wie die Fälschung fast unabwendbar zum Ausstoß aus der Diskursgemeinschaft.

Streiten kann bzw. sollte man allerdings über das Phänomen der Kryptomnesie, also, so Oliver Sacks, des „unbewussten Plagiat[s]“, bei dem das Wissen darum fehlt, dass sich bestimmte konkrete Gedanken, Ideen oder eine Formulierung nur so anfühlen, als stammten sie von einem selbst. Eigentlich jedoch, so das Prinzip wie ich es verstehe, wurden sie bei einer Lektüre oder einem Gespräch vom Gehirn, das eben nicht karteihaft präzise verbuchend arbeitet, ohne ausdrückliche Urheberangabe in irgendeinen Frontallappen gewickelt und warten nun dort so lange, bis sie durch einen assoziativen Querschläger erweckt plötzlich dienstbeflissen im Denkraum stehen, als hätten sie gerade erst jetzt und endlich ihre Formation gefunden. Wer meint, ihm wäre dies noch nie passiert, sollte mal in den Büchern und Exzerptmappen seiner Jugend blättern und wenn er keine hat, einfach bewertende Aussagen zum Thema meiden.

Oliver Sacks jedenfalls kann gut mitreden, denn:

„Wenn ich meine alten Notizbücher durchschaue, stelle ich fest, daß viele der dort skizzierten Gedanken jahrelang vergessen blieben, um später wiederbelebt und neu bearbeitet werden.“

Worin auch die Wurzel der höchst kuriosen Erfindung des Eigenplagiats liegt.

Ich vermag nicht zu bewerten, wo die Grenze des systematisch überschaubaren Schaffens liegt, aber es erscheint aus eigener Erfahrung äußerst nachvollziehbar, dass man im Leben nach einer gewissen Menge an verfassten Texten nicht mehr ganz genau weiß, welche Formulierung man wo eventuell bereits gesetzt und welche Idee man wie schon einmal geäußert hat. Oliver Sachs verweist auf ähnliche Erfahrungen:

„Manchmal führt dieses Vergessen zum Autoplagiarismus und ich ertappe mich dabei, ganze Phrasen und Sätze aus meinen früheren Arbeiten als neu zu präsentieren.“

Meine eigene Schreibpraxis legt mir den Verdacht nah, dass die Schwelle eher niedrig ist. Mit gezielter Volltextsuche könnte man möglicherweise gegenhalten. Mit forcierter Progression im Denken auch. Während ersteres schlicht albern aufwendig erscheint, dürfte das Zweitgenannte aus dieser Motivation heraus auch wenig mehr als eine Schrulle abgeben.

Nun fällt es Viellesern, zumal wenn sie querdenken, mitunter zu, dieselben Phänomene auch mit Äußerungen anderer zu erleben. Und Kindern sowieso. Oliver Sacks schildert den interessanten Fall der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller, die erst mit sechs Jahren zur Sprache fand und mit elf eine Geschichte mit dem Namen „The Frost King“ schrieb, die relativ exakt Magaret Canbys bereits zuvor erschienener Geschichte „The Frost Fairies“ entsprach.

Helen Keller sagte aus, dass ihr die Geschichte Magaret Canbys unbekannt sei – vermutlich hatte man sie ihr aber drei Jahre vorher in die Hand buchstabiert. Es kam dann, wie es gemeinhin bei solchen Fällen kommt:

„Die junge Helen wurde einer erbarmungslosen Inquisition ausgesetzt […].“

Wobei sich Magaret Canby menschlicherweise auf die Seite des Mädchens schlug.

Interessant ist dabei, dass anscheinend die Form der Rezeption Auswirkungen darauf hat, wie man sich an etwas Erfahrenes erinnert. Oliver Sacks schreibt:

„Keller selbst sagte, besonders häufig sei es zu solchen Aneignungen gekommen, wenn man ihr Bücher in die Hand buchstabierte, sie die Worte also passiv aufnahm. Manchmal könne sie in solchen Fällen die Quelle nicht identifizieren und sich auch nicht an sie erinnern, nicht einmal daran, ob die Anregung ihr selbst entsprungen oder von außen gekommen sei. Derartige Unklarheiten gab es selten, wenn sie aktiv, unter Verwendung der Blindenschrift las und die Finger übers Blatt bewegte.“

Wer sich bewusst mit Sprache und der sprachlichen Fassung von Ideen auseinandersetzt, weiß, wie schwer bis unmöglich es ist, etwas so zu sagen, wie es noch nie gesagt wurde (Formulierung) und noch viel schwerer, etwas zu in bekannter Form auszusprechen, das noch nie zuvor geäußert war (Idee). Unsere Existenz, besonders die Existenz in der Sprache, ist eine variable Entität, wobei es bei der Kommunikation naturgemäß gerade darauf ankommt, eine gemeinsame Sprache zu finden, um sich verständlich machen zu können. Eine Kernaufgabe schöpferischen Schaffens ist es fraglos, hier immer wieder kleine Verschiebungen zur Ausweitung des Denk- und Wahrnehmbaren zu versuchen. Eine Welt ohne Redundanz wäre nicht nur unmöglich, sondern auch sinnlos.

Was wir also bewerten, ist nicht die Schöpfung des gänzlich Neuen, sondern ein gelungenes Spiel mit der Variabilität. Die einfachste Option ist dabei die Verschiebung des Kontexts. Der berühmte, Karl Valentin zugeschriebene Satz „Es wurde schon alles gesagt – nur noch nicht von jedem.“ ist eine possierliche (und gelungene) Variation dieses. Jedes Individuum ist ein neuer Kontext. Verteidigt Margaret Canby Helen Kellers Variation des Frostkönigs mit den Worten:

„What a wonderfully active and retentive mind that gifted child must have!”

dann adressiert sie exakt die Tatsache, dass es mehr geben muss, als die Ankettung an die Schimäre einer Einzigartigkeit in der Fügung von Wort und Idee. Bei orthodoxen Urheberrechtlern dürfte solch eine Einstellung freilich zu poliertem Entsetzen führen. Und wie gelassen Margaret Canby geblieben wäre, wenn The Frost King nicht von Helen Keller sondern von George MacDonald geschrieben worden wäre, muss hier zum Glück nicht betrachtet werden. Aber der schrieb zur gleichen Zeit bekanntlich mit seinem Bibliotheksmärchen Lilith bereits in einem ganz anderen Universum.

Marc Augé / UdK / 11.06.2013

Ein Teil der Welt von Gestern. Die Publikation dieser kleinen Betrachtung zu Oliver Sacks verzögerte sich ausgerechnet, weil ein Vortrag mit dem Titel „Die Formen des Vergessens“ anstand. Marc Augé präsentierte in der Universität der Künste Berlin eine sehr von Literatur  (Stefan Zweig, Michel Leiris, Julien Gracq,  Simone de Beauvoir, Walter Benjamin) geprägte Abhandlung in Anschluss an sein dieser Tage erscheinendes Buch gleichen Namens. Form und Thema lassen sich vielleicht als eine spürbar von Altersmelancholie durchzogene Reflektion über Örtlichkeit und Erinnerung, also der Verortung erfahrener Zeit, beschreiben. Wer sich bereits mit der autofiktionalen Konstruktion des Erinnerns, mit der narrativ strukturierten retrospektiven Identitätsproduktion und der Aufnahme- und -gabe von Tagebüchern und persönlichen Journalen befasste, fühlte sich auf sehr angenehme Weise vor allem an das erinnert, was den Kanon der zentraleuropäischen Auseinandersetzung mit der Frage der Biographie als Spiel im Innersten ganz allgemein zusammenhält. Intellektuell blieb es daher mehr ein Abendspaziergang mit Marc Augé am Ufer der Syrten als eine erinnerungstheoretische Erschütterung. Die in der Ankündigung als “ besonders virulent“ bestimmte Frage nach „Vergessen und Erinnern in unserem digitalen Zeitalter“ kam leider nur im Nachhaken der Moderation zur Sprache und dabei nicht unbedingt sehr konstruktiv, weil die dazu herangezogenen Prämissen nicht differenziert genug und im Gegenzug im Versuch zu suggestiv waren, um überhaupt einen konstruktiven Halt für diese sicher gut gemeinten Haken bieten zu können. Marc Augé bewältigte aber auch diese Verständnishürde im Diskurs in herzlicher Alterssouveränität und schaffte es fraglos, sich als eine sympathische Lichtgestalt (sh. Abbildung) in die Erinnerung seines Publikums einzuschreiben.

Als Erfahrung bleibt: Je allgemeiner und narrativer die vertextende Auseinandersetzung mit egal welchem Gegenstand der Kultur wird, desto schwieriger ist es, die Abgrenzungs- und Originalitätsverpflichtung sauber umzusetzen, die vermutlich das Hirschhornsalz unserer Innovationskultur darstellt und zugleich nach dem Motto „Wer hat’s erfunden!?“ auch des Verwertungsprinzips, auf dem unsere Gesellschaft nicht minder fußt.

Besonders die Innovationswissenschaften basieren auf dem Me-first-Prinzip mit allen Vorteilen und allen harten Bandagen und schließlich der Erniedrigung, die man empfindet, wenn man nach jahrelanger Forschung kurz vor dem Durchbruch steht, auf eine Konferenz fährt und dann dort die Ergebnisse verkündet hört, zu denen zu gelangen man in den kommenden ein oder zwei Monaten erhoffte.

Die vergessene Referenz kennen allerdings auch weichere Disziplinen und besonders die Übergänge von einer kulturellen Nische in eine andere, wie Oliver Sacks am eigenen Beispiel erläutert. In diesem Fall hatte der Irische Dramatiker Brial Friel ein Stück – Molly Sweeney – verfasst, indem eine früh erblindete und trotzdem ziemlich zufriedene Physiotherapeutin in späteren Jahren, gedrängt von Ehemann und Chirurg, dank eines Eingriffs plötzlich sehen kann und damit all das Glück verliert, was sie vorher empfand.

Shirl Jennings war 51 und seit 48 Jahren ohne Augenlicht, als ihn seine Freundin zu einer Rekonstruktion der Sehfähigkeit drängte. Er konnte zwar sehen, sein Gehirn kam damit aber überhaupt nicht zurecht. Oliver Sacks verarbeitete die Geschichte für den New Yorker in einem Aufsatz, den er, wahrscheinlich an der weit verbreiteten und auch mir bekannten Selektivamnesie leidend, bei der man die Regel vergisst, dass nicht immer eine Wortspielerei erzwungen werden muss, „To See and Not to See“ nannte.

Oliver Sacks entdeckte also plötzlich Teile seines Textes als Formulierungen für die Bühne und

„schrieb an Friel, und er antwortete, er habe meinen Text tatsächlich gelesen und sei davon sehr berührt gewesen, zumal er damals selbst gefürchtet hatte, sein Augenlicht zu verlieren. Über die Wiederherstellung der Sehkraft habe er auch noch viele andere Krankenberichte gelesen. Friel kam zu dem Schluß, er müsse versehentlich einige Phrasen meines Berichts verwendet haben. Dies sei jedoch gänzlich unbewußt geschehen […]“

Der Psychologe, in Kenntnis des kryptomimetisierenden Eigensinns des Gehirns, akzeptierte das bzw. fand es sogar spannend. In der Tat wäre der New Yorker die denkbare unglücklichste Vorlage für ein Plagiat mit Vorsatz. Vergleichbar wäre höchstens noch, den sprechenden Titel eines Memoiren-Bands von Vladimir Nabokov für einen Aufsatz heranzuziehen, in der Hoffnung, es würde niemand merken.

Erinnerung, Sprich folgt zweifellos Eugene Garfields Uncitedness III. (Garfield, Eugene (1973): Uncitedness III. The Importance of Not Being Cited. In :Current Contents, 8 /1973, S.5-6) In gewisser Weise könnte man diese Form des Nicht-Zitierens als eine Art Ehrenplagiat verstehen: Eine Arbeit, eine Formulierung, eine Formgebung ist dann derart in der Kultur verinnerlicht wie der Wortschatz der natürlichen Sprache und damit allgemeiner Grundstock (eine Art Merton’sche Gigantenschulter) für alle darauf folgende Kulturschöpfung.

Das anerkannte Ehrenplagiat setzt zweifellos eine außerordentliche allgemeine Bekanntheit voraus, die – der Natur des Wortes außerordentlich entsprechend – nur sehr wenige erringen. Insofern dürfte es nur auf einen Bruchteil der entsprechend Fälle bedienen. Es kann aber auch, und dann wird es knifflig, eine individuelle Angelegenheit sein.

An Samuel Taylor Coleridge und dessen – ungekennzeichneten – Schelling-Nachschriften und Jean-Paul-Identifikationen zeigt Oliver Sacks auf, dass neben einer hohen inneren Verstörtheit auch eine (so empfundene) extreme ideelle Harmonie als Anlass von Übernahmen wirken kann, bei denen sich der Übernehmende nicht bewusst ist, dass er (sich) gerade übernimmt.

In die selbstnarrative Weltwahrnehmung der betroffenen Individuen werden diese Übernahmen mehr oder weniger als eigene Schöpfungen stimmig eingepasst, weshalb ihnen der Nachweis selbiger vermutlich mehr noch als jede mögliche rechtliche oder sittliche Folge mit der schlagartigen Erkenntnis, dass sie ihrer Erinnerung nicht trauen können, einen gehörigen Schock versetzt.

Eventuell wirkt wenigstens ein Stück weit beruhigend, von der langen Traditionslinie derartiger Referenz-Lapsus zu wissen und dafür könnte man dann Oliver Sacks danken.

Für die Plagiatsjagdgesellschaften und vielleicht auch für die dementsprechend oft kräftig nachgeschärften Prüfungsordnungen an den Hochschulen wird die Angelegenheit, sofern sie die Möglichkeit Kryptomnesie bedingter Übernahmen überhaupt berücksichtigen wollen, schwieriger.

Ob Turnitin, Ephorus, WCopyFind und die anderen Kandidaten vom Marktplatz der Plagiatserkennungsoftware hier präzis differenzieren können, vermag ich nicht zu bewerten. Die Erfahrungen und Erkenntnisse von Oliver Sacks jedenfalls deuten darauf hin, dass es nicht nur um einen Zeichenabgleich gehen kann – der obendrein vergleichsweise leicht zu manipulieren ist – sondern im Zweifelsfall, nämlich dann, wenn es darum geht, dass den Betroffenen Türen zufallen, um einen mit – kein Kalauer zum Fall Helen Keller  – Fingerspitzengefühl zu ergründender Gesamtzusammenhang.

(Berlin, 10.06.2013)

Personen ohne festen Wohnsitz in der Bibliothek des Centre Pompidou

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 10. Juni 2013

Karsten Schuldt

[Zu: Paugam, Serge ; Giorgetti, Camila (2013) / Des pauvres à la bibliothèque : Enquête au Centre Pompidou. – Le lien social. – Paris : Presses Universitaires de France, 2013]

 

In Frankreich, so scheint es, werden interessantere Bücher zum Bibliothekswesen publiziert als im DACh-Raum. Die Studie Des pauvres à la bibliothéque von Paugam und Giorgetti ist nur eines davon. Auf der einen Seite untersuchten die beiden Forschenden eine sehr spezielle Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern einer sehr speziellen Bibliothek, nämlich Obdachlose in der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris. Diese Bibliothek ist eingelassen in das radikal-demokratische Grundkonzept des Centre, welches wiederum innerhalb einer Metropole – also auch einem Anziehungspunkt für sehr unterschiedliche Personen; die anderswo kaum ein sozial akzeptables Leben führen könnten – verortet ist. Auf der anderen Seite legen die beiden Forschenden etwas, was im deutschsprachigen Raum praktisch vergebens gesucht würde, vor: eine (ethnologische) Untersuchung der Nutzung einen Bibliothek, die auf soziologische Theoriebildung zurückgreift und diese widerum informieren kann.

Dies ist noch nicht einmal beispiellos im französischen Bibliothekswesen. So legten im Jahr 2000 drei Forschende eine ebenso soziologische Untersuchung zur Nutzung der gleichen Bibliothek vor. [Evans, Christophe ; Camus, Agnès ; Cretin, Jean-Michel (2000) / Les habitués : Le microcosme d’une grande bibliothèque. [Paris] : Bibliothèque publique d’information – Centre Georges Pompidou, 2000] Zugleich ist die Diskussion um die tatsächliche soziale Rolle der Öffentlichen Bibliothek in Frankreich weiter fortgeschritten als in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. [Dies gilt auch für das englisch-sprachige Bibliothekswesen, für das stellvertretend auf die erste Ausgabe 2013 der Library Review verwiesen werden soll, die sich vollständig mit dem Thema Public Libraries and the Homeless beschäftigt und in der sich auch eine englisch-sprachige Zusammenfassung des hier besprochenen Buches findet – leider alles hinter eine Paywall.] Grundsätzlich lohnt es sich, über den Rhein zu schauen.

Fragilité, Dépendance, Rupture

Paugam und Giorgetti legen eine Studie vor, deren Ergebnisse nur mit einiger Vorsicht – da es sich, wie gesagt, um eine sehr spezielle Bibliothek handelt – übertragen werden können, aber deren Design in anderen Bibliotheken sinnvoll angewendet werden könnte. Es werden in ihr soziologische Theoriebildung, Beaobachtung und Interviews verbunden. Aufgebaut ist die Studie auf ein in früheren Arbeiten von Paugam erarbeitet Struktur vom Leben in Obdachlosigkeit. Diese postuliert, dass es unterschiedliche Stufen der sozialen Desintegration beim Leben ohne festen Wohnsitz gäbe. Grob unterteilt in Fragilité ( Prekarität), Dépendance ( Abhängigkeit von gesellschaftlicher Unterstützung) und Rupture ( Bruch mit der gesellschaftlichen Integration) implizieren diese Stufen ein sehr unterschiedliches Verhalten und unterschiedliche Ziele, der Personen, die von ihnen betroffen sind. (Und dies selbstverständlich immer als Idealtypen, die in der Realität komplexer sind.)

Dabei darf Obdachlosigkeit in Wetseuropa nicht als das Leben auf der Strasse verstanden werden, sondern ist zumeist gekennzeichnet von Leben zwischen unterschiedlichen Unterkünften, die aber alle prekär sind (Heime, Unterkünfte, „Couchsurfing“ etc.).

Personen, welche der Stufe Fragilité zugeordnet werden, versuchen zumeist, direkt aus der Obdachlosigkeit auszusteigen. Diese Personen zeigen in der Untersuchung auch ein Verhalten, dass geprägt ist von Versuchen, in die französische Gesellschaft (wieder) einzusteigen. Gerade bei Flüchtlingen ist dies gezeichnet von Lernaktivitäten in der Bibliothek, insbesondere dem Französisch-Lernen. Die Bibliothek wird zudem aktiv genutzt, um Informationen über den Arbeitsmarkt oder über Unterstützungsleistungen einzuholen. Gleichzeitig wird von diesen Personen aktiv versucht, ihre ökonomische und gesellschaftliche Situation nicht offen darzustellen. Paugam und Giorgetti beschreiben einige Strategien, dies zu tun, beispielsweise das Besuchen der Bibliothek in Anzug und Kostüm. Gleichzeitig versuchen diese Personen in den Interviews, sich von den „echten Armen“ abzugrenzen und ihre eigene Situation als Übergang darzustellen. Dabei besuchen sie die Bibliothek auch wegen ihres Habitus als „intellektuelles Zentrum“. Das Arbeiten in der (grossen und bekannten) Bibliothek verleiht den Personen, so Paugam und Giorgetti, ein positive Identität. So stellt die Studie auch eine Höherorientierung der bevorzugtes Literatur durch diese Personen fest, die, wenn sie gefragt werden, betonen, eher Weltliteratur oder den französischen Literaturkanon zu bevorzugen als „einfache Belletristik“.

Personen, die auf der Stufe Dépendance verortet werden, nutzen die Bibliothek oft als Lebensraum und als Ort, von dem aus Unterstützungsleistungen organisiert, also recherchiert, werden können. Auch diese Nutzenden sind nicht per se auffällig, sondern versuchen, sich dem Alltag der Bibliothek (beziehungsweise des gesamten Centre Pompidou) anzupassen. Dabei kommt ihnen die Grösse des Centre zupass. Dennoch sind sie auffällig, da sie sich ständig in der Bibliothek, der auch als geschützter Raum wirkt, aufhalten. In der Studie werden Beispiele von Personen angeführt, die fast täglich acht Stunden in der Bibliothek verbringen. Hauptinteresse dieser Personen ist, neben der Recherche nach Unterstützungsleistungen zum Überleben und zum Ausstieg aus ihrer sozialen und ökonomischen Situation, die Strukutrierung ihres Alltags. Sich in der Bibliothek aufhalten und lesen gilt ihnen als sinnvolle Tagesgestaltung.

Nur Personen, die der Stufe der Rupture zugeordnet werden, stimmen überhaupt in Ansätzen mit den Vorurteilen über Obdachlose überein, aber auch das nicht wirklich. (Wie eigentlich auch zu erwarten war.) Zwar nutzen einige dieser Personen die Bibliothek auch als Aufenthaltsraum; aber nicht übermässig. Zudem stellen sie nicht die Mehrzahl der Personen sans domicile fixe. Die Bibliothek – und wieder eigentlich das gesamte Centre Pompidou – stellen für sie Aufenthaltsräume da, die zwar nicht vom Leben „auf der Strasse“ abgetrennt sind, aber doch im Gegensatz zu anderen Orten relativ sicher sind. Diese Personen versuchen immer wieder einmal, die Regeln auszutesten, sind aber auch schnell bereit, sich den Regeln, die sie getestet haben, unterzuordnen, um diesen Raum nicht zu verliehren. Ihr Interesse an der Bibliothek ist hauptsächlich der geschützte Raum.

Frage zur sozialen Beobachtungsgabe, vom Cover der Studie gestellt: In welcher sozialen Situation befindet sich die abgebildete Person?

Frage zur sozialen Beobachtungsgabe, vom Cover der Studie gestellt: In welcher sozialen Situation befindet sich die abgebildete Person?

Insgesamt zeigt die Studie, dass die Personen die Bibliothek sehr gezielt zur Gestaltung ihres eigenen Lebens nutzen und zwar immer wieder ausgehend von ihrer sozialen Situation und den Zielen, die sie sich realistisch zu setzen bereit sind. Sie alle sind der Bibliothek gegenüber positiv eingestellt. Gleichwohl die Bibliothek ganz explizit keine Sozialarbeit betreibt, erfüllt sie für diese Personen eine soziale Funktion und zwar durch die offene Angebotsstruktur.

Für die deutschsprachigen Bibliothekswesen (zumindest in der den Grossstädten und Metropolen) lässt sich lernen, dass die Interessen und Nutzungsweisen der Personen ohne festen Wohnsitz nicht mit so einfachen Modellen wie Zielgruppenanalysen oder einfachen Interviews zu erfassen sind. Die soziale Realität ist offensichtlich zu komplex. (Und gleichzeitig wirkt die Bibliothek als gesellschaftlich relevant positiv, ohne direkt daraufhin gestaltet zu sein.)

Forschungsdesign

Neben dem soziologischen Wissen, dass vor der Studie vorhanden war, nutzten die Forschenden ein grundsätzlich einfaches Forschungsdesign, welches allerdings eine relativ lange Forschungszeit und Offenheit für Beobachtungen und das sich Einlassen auf Situationen erforderte. Auf der einen Seite wurden Beobachtungen durchgeführt. Personen, die mehr oder minder auffällig waren und deren Verhalten in der Bibliothek wurden von einer Forschenden beobachtet und diese Beobachtungen in einem Forschungstagebuch eingetragen. Die Personen wurden so beschrieben, dass die Forschenden die Beobachtungen mehrere Tage zusammenfassen konnten; gleichzeitig waren die Personen anonymisiert.

Eine andere Forschende sprach im Verlaufe der Untersuchung Personen an, die beobachtet wurden und befragte sie, wenn diese zustimmten, in strukturiert-narrativen Interviews (also anhand eines Fragebogens durchgeführten Interviews, bei denen die Interviewten möglichst frei antworten konnten).

Die Auswahl der Personen, die beobachtet und interviewt wurden, bedurfte einer relativ grossen Beobachtungsgabe. Ansonsten wäre es zum Beispiel schwierig, Personen zu erkennen, die ihre soziale Situation gerade verstecken wollen. Sie bedurfte auch einiges an Fingerspitzengefühl bei den Interviews und den möglichst objektiven Beschreibungen der Beobachtungen, welches sich mit einer langjährigen Forschungspraxis erarbeitet werden musste.

Die Auswertung der Daten bedurfte ebenso einer grossen sozialen Offenheit. Die Einzelfälle durften nicht als reine (bedauernswerte) Einzelfälle betrachtet, aber auch nicht einfach subsumiert werden. Dabei half die soziologische Theoriebildung, auf die zurückgriffen wurde; welche die Forschenden bei der Zusammenstellung der Daten und Auswertung leitete, da sie nicht darauf angewiesen waren, einfach nur Daten zu berichten (etwas, was notwendig ist, wenn man ohne Theoriebildung einfach nur Umfragen macht), sondern in der Lage waren, Aussagen und Verhaltensweisen in ein Modell der gesellschaftlichen Nutzung von Bibliotheken als Ort und Infrastruktur zu integrieren, dieses Modell zu erweitern und aus diesem Modell Erklärungen für Verhaltensweisen abzuleiten.

Le Livre

Das Buch ist in einem eingängigen Französisch geschrieben. Zur Erläuterung der Ausführungen werden sowohl die Aufzeichnungen aus dem Beobachtungstagebuch als auch den Interviews angeführt. Weite Teile der Erklärungen bestimmter sozialer Ansichten werden überhaupt von Interviewaussagen getragen.

Paugam und Giorgetti sind beide sozialwissenschaftlich Forschende und halten sich deshalb auch erfrischend klar mit konkreten Handlungsanweisungen zurück. Während in deutschsprachigen Bibliothekswesen wohl sehr schnell der Ruf nach einer Praxisanleitung erhoben würde – im Sinne von: Was genau soll die Bibliothek tun? Wo sind die abzuarbeitenden Checklisten? etc. – beschränkt sich die Studie darauf, zu beschreiben und verständlich zu machen. Dies gibt den Kolleginnen und Kollegen in Paris die Aufgabe, die Erkenntnisse der Studie selber zu interpretieren; dabei aber sind sie dazu aufgefordert, diese nachzuvollziehen, was ein sinnvolles Zurücktreten von der Praxisfrage erzwingt beziehungsweise ermöglicht und vor Augen führt, dass die gesellschaftliche Situation so komplex ist, dass sie mit einfachen Werkzeugen nicht zu bearbeiten ist. Gleichzeitig legt die Studie damit die Möglichkeit an, über den – wie schon gesagt sehr speziellen – Einzelfall der Bibliothek im Centre Pompidou hinaus etwas über die tatsächliche Nutzung von Bibliotheken durch Personen in sozial und ökonomisch prekären Lagen zu lernen.