LIBREAS.Library Ideas

CfP LIBREAS. Library Ideas #33: Ortstermin. Reportagen aus der tatsächlichen Bibliotheksarbeit

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 4. Oktober 2017

Die bibliothekarische Literatur hat einen erstaunlichen Bias: Der Alltag, also das, was in Bibliotheken Tag für Tag, Woche für Woche gemacht wird, kommt in ihr kaum vor. Neue Projekte, innovative Veranstaltungen, erstaunliche Bauten finden immer wieder Platz in den bibliothekarischen Zeitschriften, Überlegungen zur Zukunft der Bibliotheken und Medien erst Recht; aber das, was nicht sofort als innovativ, verändernd oder erstaunlich beschrieben werden kann, ist in der Literatur fast unsichtbar. Dabei ist es diese alltägliche Arbeit, die überhaupt erst die Basis für alle neuen Projekte bietet; es ist auch diese Arbeit, die von den Nutzerinnen und Nutzern wahrgenommen wird. Zu vermuten ist, dass sie die Bibliotheken vor allem wegen diesem alltäglichen Funktionieren als Institution, als Raum, als Idee besuchen – und nur zu einem kleinen Teil wegen der so oft beschriebenen Innovationen. (Und selbst diese Innovationen werden schnell zum Alltag, wenn sie funktionieren.) Auch das Personal in den Bibliotheken ist vor allem mit dem Alltag befasst. Nur eben die bibliothekarische Literatur (und bibliothekswissenschaftliche Forschung) selten.

 

Ein Grund dafür ist selbstverständlich, dass das Neue, Innovative, Verändernde oft erst einmal interessanter klingt und dadurch für die Publikation geeigneter. Aber der Alltag ist eher das, was interessant ist, wenn man verstehen will, warum Bibliotheken funktionieren, wie sie funktionieren, warum sie bestimmte Entscheidungen treffen, warum sie so beliebt sind bei einer doch erstaunlich großen Anzahl von Menschen. Mit dem Fokus auf Innovationen und Veränderungen entsteht oft der Eindruck, der bisherige Alltag wäre rückständig, mitunter falsch und vor allem zu überwinden. Während es auch nicht richtig wäre, Veränderungen abzulehnen, scheint dieser Fokus doch auch viel zu übersehen. Es wird Gründe geben, warum Bibliotheken bestimmte Dinge immer und immer wieder tun. Diese werden jedoch nur sichtbar, wenn man sich den Alltag anschaut. Es gibt in den Bibliotheken immer wieder lokale Lösungen, die an diesen konkreten Orten besonders sinnvoll sind und auch etwas darüber sagen, wie Bibliotheken in ihren jeweiligen Communities funktionieren. Und es gibt immer wieder Veränderungen in Bibliotheken, die weniger sichtbar sind, auch weil sie kleinteilig oder natürlich oder trivial erscheinen. Aber dass Bibliotheken heute viel offener erscheinen, als vor einigen Jahrzehnten ist nicht nur das Ergebnis von radikalen Veränderungen, sondern von zahllosen so kleinen wie wirksamen Schritten. Auch das wird nur sichtbar, wenn man den Blick auf den Alltag der Bibliotheken lenkt.

Ben Kaden: Das Licht. / 07.07.2017 (CC BY-NC 2.0, https://www.flickr.com/photos/benkaden/36227519221) #Berlin
#Marzahn #Victor-Klemperer-Platz #Freizeitforum Marzahn #Wolf-Rüdiger Eisentraut #Bibliotheksbau #Bibliotheksarchitektur #Architektur der DDR #Architektur #2017 #07.07.2017 #Ostmoderne

Nicht zuletzt aber ist es der Alltag, der viele Kolleginnen und Kollegen dazu bringt, Tag für Tag und Jahr für Jahr weiter aktiv und begeistert in ihrer Bibliothek zu arbeiten und nicht die Stelle oder das Feld zu wechseln. Es gibt auch immer persönliche Erfolgsgeschichten, es wird immer auch ein Sinn in der eigenen Arbeit gesehen.

 

LIBREAS. Library Ideas möchte in ihrer Ausgabe #33 vor allem diesem Alltag auf die Spur kommen. Uns interessieren Berichte aus diesem Alltag: Was passiert da eigentlich Tag für Tag in der Bibliothek? Was machen die Menschen sowie die Kolleginnen und Kollegen vor Ort wirklich? Dabei geht es nicht um die großen Geschichten, die massiven Veränderungen, sondern um das vermeintlich Kleine, Nebensächliche, Alltägliche. Also das, was passiert, wenn die Türen geöffnet werden, wenn Veranstaltungen, welche die Bibliothek regelmässig durchführt, stattfinden, wenn die Schulklassen in die Öffentliche Bibliothek kommen oder die neuen Studierenden in die Wissenschaftliche Bibliothek. Wie ist das in Ihrer Bibliothek, wenn das Wetter wechselt und die Tage länger oder kürzer werden? Wie ist das, Medien einzustellen am Morgen oder am Informationspult zu sitzen am Nachmittag oder die Bibliothek am Abend zu schließen und die letzten Personen in den Abend zu entlassen?

 

Es geht um persönliche Erfahrungen und Berichte, um Reportagen – gerne auch improvisiert, gerne auch mit vielen Bildern und wenig Text –, um Interviews über die persönliche Motivation von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren (zum Beispiel Ihren direkten Kolleginnen und Kollegen oder auch gerade Ihnen selber). Nichts ist zu klein, zu unwichtig oder zu wenig relevant, sondern gerade das, was oft als normaler Alltag in der Bibliothek angesehen wird, interessiert uns. Die Ausgabe #33 “Ortstermine” soll genau das sein: Besuche vor Ort, in den Bibliotheken, großen und kleinen, Öffentlichen und Wissenschaftlichen, auf dem Land und in der Stadt. Jede Bibliothek glänzt mit ihrem Alltag, nicht nur mit ihren Innovationen.

 

Wir rufen alle Kolleginnen und Kollegen in den Bibliotheken auf, solche Reportagen einzureichen. Gerne unterstützen wir Sie bei beim Verfassen der Texte oder diskutieren Ideen für Beiträge. Einreichungsschluss ist der 31.01.2018.

 

Eure / Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Chur, Dresden, Hannover, München)

Über Philatelie, Bibliophilatelie und eine Briefmarke aus Kansai.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 1. Oktober 2017

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

„I got rid of my stamp collection the other day.“ So begann der Journalist Eugene L. Meyer unlängst ein Opinion-Piece in der New York Times (Stamped Out. NYTimes.com, Sept. 29,2017). Bemerkenswert daran ist bereits, dass das Thema Philatelie überhaupt noch in die Diskurssphäre einer Tageszeitung gelangt. Andererseits stellte ebenfalls die New York Times unlängst in ihrer Rubrik „Stamp Notes“, die sie offenbar im Schnitt einmal pro Jahrzehnt bestückt, eine wunderbar zeitgemäße Neuausgabe vor, die sogar in den erweiterten Horizont der Bibliophilatelie passt, da sie ein Kinderbuch würdigt: The Snowy Day von Ezra Jack Keats (siehe Maria Russo: ‘The Snowy Day’ Captured in New Stamp Series. NYTimes.com, Sept. 22, 2017). Maria Russos kleine Kolumne über Peter im Schnee adressiert natürlich auch und zwar nicht ohne Melancholie einen Erinnerungsraum – The Snowy Day erschien 1962. Zugleich zeigt sie jedoch, wie wichtig und sinnvoll Erinnerungskulturen sind und welche eigenwillige und positive Rolle Postwertzeichen dabei spielen können:

„More than half a century later, that world hasn’t arrived — not even in children’s books, where brown children are still far underrepresented, relative to their percentage of the population. Peter is still, in a sense, a figure out of a dream. But those stamps will remind us that the dream still stands strong.“

Eugene L. Meyers Text ist dagegen eine eher typische Abhandlung, die man in ähnlicher Form leider schon Dutzende Male lesen konnte und zwar auch ziemlich identisch zum behaupteten Niedergang der Kultur des gedruckten Buches. Das Sammeln von Briefmarken ist, so das Bild, eine vergehende Leidenschaft, ähnlich vielleicht wie Modelleisenbahnen, der eine davonalterende Generation noch ein wenig nachhängt. Aber an sich ist es schon so gut wie ausgestorben, weshalb seine eigene Sammlung nun nichts mehr wert ist, wie ihm Händler versichern. Die Briefmarkensammlung ist aus dieser Warte eine unglückliche Fehlinvestition, die man längst hätte abstoßen sollen. „[T]here was a time when people cared about stamps“ hebt der Schwanengesang an und führt zum Briefmarkenkundler Franklin D. Roosevelt zurück und zu einer Zeit, in der es an jeder Schule eine Arbeitgemeinschaft der jungen Philatelisten gab. Heute wird „Junge Philatelie“, wie Meyer von der Fachhändlerin Judy Johnson erfährt, in einer anderen Altersspanne verortet: „“Trying to bring in the younger 30-to-50-year-old crowd is really difficult,” she said.“ Ähnlich dem Antiquariatsmarkt scheint auch der Briefmarkenhandel ein sterbendes Gewerbe zu sein. Der Blick daheim auf drei Regalmeter geerbte Alben, deren Wert sich auf ein persönliche Zuschreibung eingedampft ist, bestätigt dies.

Stamped Out offenbart aber zugleich, wo das Problem liegt und zwar in der selben Form, die einem auch auf Sammlerbörsen unmittelbar ins Auge springt: Die Welt der Philatelie schafft es kaum, das Medium der Briefmarke und die Aktivität eines vertiefenden Umgangs mit ihr neu zu interpretieren. Die Frage, was Philatelie im 21. Jahrhundert sein kann, wird von der Empirie in der Regel beantwortet als: Ein Echo des 20. Jahrhunderts mit den Protagonisten, die damals schon dabei waren.

Abgesehen von einer schmalen Hochpreiselite ist das Sammeln von Briefmarken in der Tat eine sehr unwirtschaftliche Betätigung. Andererseits sind die Einstiegskosten so gering, dass es auch nicht viel kostet, Für den Preis eine semi-professionellen digitalen Kamera oder auch eines aktuellen iPhones kann man sich mit philatelistischen Material für eine Dekade ausstatten. Bleibt die Frage, was man damit will.

Möglicherweise kann man mit der Bibliothekswissenschaft kann eine Antwort finden. Briefmarken sind hochdichte Informationsträger und Zeugnisse. Genauso wie andere Publikationen lassen sie sich sie sammeln, erschließen und verfügbar machen. Die Ebene des Sammelns ist die traditionell ausgeprägteste. Mit Album, Vordruckblättern und Michel-Katalog saßen jahrzehntelang die Sammler und in geringerem Maße Sammlerinnen an Sonntagnachmittagen in ihrer Wochenendstille und versuchten alle Marken, die in einem bestimmten Land oder zu einem bestimmten Motiv erschienen sind, zusammenzutragen, einzusortieren und somit für sich zu bewahren. Es ging um Vollständigkeit und eine der schönsten Seiten diese Tätigkeit war mutmaßlich ihre inhaltliche Leere, die so regenerativ wirkte wie anderen ein stundenlanges Warten an einem Waldsee auf einen anbeißenden Fisch.

Die zweite Dimension, also die Erschließung, verweist auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einzelnen Objekten und zwar über die bloße Registratur nach Katalognummer hinaus. Man achtete darauf, wer eine Marke entworfen hat, welche Ereignisse sich mit einer Ausgabe verbanden und betrat damit einen deutenden Raum, wenngleich nicht zwingend einen interpretativen und kommunikativen. Die Briefmarke wurde immerhin zum Zeichen, dass auf etwas außerhalb ihrer bloßen Objekthaftigkeit verweist und dass sich zu lesen lohnt. Sie spiegelte Welt und erwies sich als Zugangsmedium zu dieser, das umso mehr an Aussagekraft gewinnt, je mehr man sich der Bedingungen ihrer Produktion und Zweckzuschreibung befasst.

Diese Funktion erfüllt sie nach wie vor, auch wenn die traditionelle Form der Ausstellung von Briefmarken in entsprechend komponierten Schautafeln auf Briefmarkenausstellungen, also in etwa einer Darstellungsform die man in der Wissenschaft von konferenzbegleitenden Postersessions kennt, ihre Anziehungskraft weitgehend verlor. Diese Tafelkunde markiert einen Übergang zur dritten Interaktionsform mit dem Medium Briefmarken: dem Verfügbarmachen, das heute leichter mit digitalen Mitteln bewerkstelligt werden kann. Das Briefmarkensammeln als solitäres Hobby mag seine kontemplativen Reize haben, die allerdings, wie Stamped Out treffend herausstellt, nur noch in der Nische Lieberhaberinnen und Lieberhaber findet. Es wird aber wie alle Kulturartefakte nur überleben können, wenn eine Aktualisierung gelingt. Dafür braucht es Sichtbarkeit und Kommunikation.

Eine andere und aus meiner Sicht fruchtbarere Herangehensweise wäre folglich, Formen von Diskursen, vielleicht eine Art Social Reading von Briefmarken zu entwickeln, in denen diese mit ihrer Spezifität sowohl medial wie auch inhaltlich einer Rolle spielen können. Naheliegend sind hier design-theoretische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Twitter-Timelines wie Kitteclub zeigen, wie erfrischend, gegenwärtig und anziehend Briefmarken potentiell dargestellt werden können. Ein Diskurs ist das eher noch nicht. Aber Sichtbarkeit wird erreicht. Und er Aspekt der Freude an der Beschäftigung wird sehr unterstrichen.

Ein Problem der, wenn man so will, Diskursivierung der Philatelie könnte in der Abgeschlossenheit der bisherigen Kommunikationen zum Gegenstand liegen. Die Kanäle sind entweder die verkehrten oder sehr exklusiv. Sehr aussagekräftig ist zum Beispiel, dass viele der wenigen Aufsätze zur Philatelie, die sich im Web of Knowledge finden lassen, mit der Darstellung beispielsweise großer Mediziner auf Briefmarken befassen und irgendwo unter Vermischtes in den Zeitschriften der entsprechenden Wissenschaftsgebiete erschienen sind. Die Zitationshäufigkeiten für solche Nebenaufsätze liegen erwartungsgemäß oft bei Null.

Einschlägige philatelistische Fachpublikationen sind entsprechend oft zwar sorgfältig und quasi-wissenschaftlich aufgearbeitet – zumindest im monografischen Bereich – werden aber kaum aus dieser Warte gesehen. Zudem ist die Philatelie meist bestenfalls eine Feierabendwissenschaft, weshalb sie zwar als Disziplin gedacht aber nicht praktiziert werden kann. Es fehlt jegliche akademische Rahmung. Die wenigen philatelistischen Spezialbibliotheken kämpfen regelmäßig um ihren Erhalt.

Die Publikumszeitschriften dagegen versammeln recht breite, im besten Fall populärwissenschaftlich aufbereitete Artikel und Berichte, die sich als Nebenbeilektüre für die Sammler_innengemeinschaft eignen, meist jedoch so gut wie keinen Appeal für Außenstehende besitzen. Diese eigenartige Exklusivität, die man auch sehr auf den Briefmarkenmessen atmen kann, ist aus meiner Sicht einer der großen Gründe, warum die philatelistische Welt so sonderbar überholt wirkt, massenmedial oft in einer Linie mit dem Klischee der Bibliotheken mit ihren Attributen staubig und funktional obsolet.

Wie bei Bibliotheken stellt sich auch für die Philatelie die Herausforderung, sichtbar zu vermitteln, dass das historisch gewachsene und sich verhärtete Abziehbild eines bestimmten Typus nicht zwingend der Realität entsprechen muss. Gerade der Schwung, der mit der Visualisierung von Kommunikation und zum Beispiel der Erblühen der Bildtheorie, spürbar ist, lässt sich sehr gut auf das Medium der Briefmarken anwenden. Alles was man tun muss, ist Briefmarken als Text bzw. als semiotische Objekte zu begreifen.

Ihre Narrativität ist naturgemäß sehr begrenzt. Sie sind Funktionstexte, bei denen ein Aussagegehalt in einer formal hochbegrenzten im Detail aber erstaunlich variablen Form eigentlich sehr erstaunlich an eine andere Objektfunktion – der Freimachung einer Postsendung – gebunden werden. Sie sind Träger sowohl von Metadaten (einerseits des Funktionswerts als Postwertzeichen, andererseits einer geographischen und unmittelbar bzw. mittelbar zeitlichen Einordnung) sowie einer inhaltlichen Bedeutungsebene, nämlich dem Motiv. Hinter diesem steht meist ein Ausgabeanlass, mindestens jedoch die Feststellung, dass die zuständigen Stellen dieses konkrete Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen repräsentierenden Kommunikationsakt ausgewählt haben. Der Kern dieses Aktes ist auf der elementarsten Ebene: Das konkret Gezeigte ist adäquat und typisch genug, um als Repräsentation einer bestimmten Vorstellung in die Welt geschickt zu werden. Selbstverständlich spielen auch Aspekte der Verkaufbarkeit eine Rolle, was zu einem Mangel an negativ besetzten Motiven führt. Und wenn, dann mitunter nicht sehr klug. Für die in dieser Hinsicht sehr interessante Ausgabe zur Topographie des Terrors wurde zum Beispiel unglücklicherweise der Postkartenwert von 45 Cent gewählt, was sie für den Hausgebrauch (=Urlaubspost) im Jahr 2017 fast disqualifiziert. Ein Bestseller wurde die Marke naturgemäß nicht.

Die enge Bindung des Motivs an ein konkretes Land – bzw. im Bereich der modernen Privatpost oft an eine bestimmte Region – rückt das Phänomen der Briefmarkengestaltung also in den Kontext einer, wenn auch sehr niedrigschwelligen, Geschichts- und Identitätspolitik. Wenn sich so etwas wie Leitkultur an einer Stelle abbildet, dann hier. So widmen sich die aktuellen Briefmarkenausgaben der Deutschen Post zwei idyllischen Landschaftsdarstellungen (Badische Weinstraße und Markgräflerland), einem sehr einschneiden Ereignis aus der deutschen Fernsehgeschichte (Das Millionenspiel), der Tradition der deutschen Antikenforschung (300. Geburtstag Johann Joachim Winckelmann) sowie einer Würdigung der gesellschaftlichen Wirkung der katholischen Kirche (50 Jahre Justitia et Pax). An alle diese Ausgaben kann man die Fragen stellen, wofür genau die Motive stehen, warum sie 2017 als relevant erachtet werden und wie sie grafisch umgesetzt sind. Sie spiegeln, wenn auch in einem Zerrspiegel, die Gegenwart mit ihren Werten und ästhetischen Vorlieben. Richtet man die Fragen an ältere Ausgaben, erzählen diese folglich viel über eine Vergangenheit. Je mehr Hintergrundwissen man erwirbt, je besser man sie zu lesen lernt, desto komplexer werden diese Geschichten.

Briefmarke Japan General Library, Kansai University.

Briefmarke Japan General Library, Kansai University.

Selbstverständlich kann man in der gleichen Weise eine Briefmarke befragen, die unlängst in meine Sammlung zur Bibliophilatelie fand. Leider – Stichwort Hintergrundwissen – erweist sich ihre Geschichte, die allein auf der Dechiffrierung des vorliegenden Objekts beruht, als eher flach.

Die aus Japan stammende Ausgabe zeigt die Hauptbibliothek der Universität von Kansai (関西大学総合図書館) und zwar getreu lokaler ästhetischer Präferenzen zur Zeit der Baumblüte. Das Idealbild wird durch den makellos blauen Himmel verstärkt. Ein kleine Gruppe Menschen ist mit etwas Abstand zum Eingang konzentriert als wartete sie auf eine Führung durch die Bibliothek oder über das Gelände. Die Szenerie ist idyllisch, keinesfalls dramatisch und harmoniert recht gut mit der sachlichen Architektur des Hauses. Das spektakulär auskragende Vordach über dem Haupteingang der Bibliothek erkennt man aus dieser Perspektive und Auflösung nicht und erahnt es nur, wenn man von seiner Existenz weiß.

Die Gestaltung der Marke und vor allem die Druckqualität lassen zugleich sofort erkennen, dass es sich bei dem Exemplar nicht um eine offizielle Ausgabe der japanischen Post sondern um eine selbst gestaltete Marke handelt, wie sie auch die Deutsche Post mit ihrem Dienst der „Briefmarke Individuell“ ermöglicht. Traditionelle Sammler verabscheuen solche Angebote meist zutiefst, da sie der auch von Eugene L. Meyer beklagten Briefmarkenflut („It is all just too much, even for the die-hards.“) noch einen völlig unüberschaubaren Ozean an individualisierten Postwertzeichen hinzufügt. Dieser als zusätzliche Einnahmequelle der Postdienstleister in vielen Ländern eingeführte Dienst sorgt jedoch für eine interessante und bisweilen sehr unterschätzte Wendung der philatelistischen Kultur, da er die Briefmarkengestaltung im Prinzip demokratisiert. Diese Marken verhalten sich zu den offiziellen Ausgaben in etwa wie Zines zu Verlagspublikationen. Und wie die Zines bleiben sie außerhalb jeder systematisierten Verzeichnis- und Archivierungskultur. Was das Phänomen eher noch spannender werden lässt.

Jeder kann nun, womöglich auch aber erfahrungsgemäß nicht zwingend motiviert durch ein Mimikry der traditionellen Exzeptionalisierung des Gezeigten durch das Zeigen, ein Motiv seiner Wahl zu einem zugelassen Postwertzeichen werden lassen. Aufgegriffen wird dies u.a. auch in der politischen Kunst. Im vorliegenden Fall der Kansai-Ausgabe wählte man den 1985 eröffnete Neubau der Universitätsbibliothek als Motiv. Verwendung fand vermutlich eine in ähnlicher Form bereits publizierte Fotografie, also denkbar eine offizielle Aufnahme aus dem Archiv der Hochschule. Daher ist davon auszugehen, dass die Einrichtung auch Auftraggeberin dieser Ausgabe war. Über den Ausgabeanlass und Verwendungszusammenhang der Marke ist leider nichts bekannt. Bemerkenswert ist jedoch, dass mit diesem Neubau auch in gewisser Weise die Hinwendung zur Digitalisierung an der Bibliothek eingeleitet wurde, ein Trend, der Phänomene wie individualisierte Briefmarken überhaupt erst technisch realisierbar macht. So schließt sich zumindest über Umwege ein Kreis. Zugleich ergänzt diese individualisierte Bibliotheksbriefmarke eine etwas vernachlässigte Nische in meiner Sammlung zur Bibliophilatelie.

Berlin, 01.10.2017

(Ich danke Takao Kobayashi für Informationen zur Kansai-Ausgabe.)