Ergänzung zu: Der Fall Julien Reitzenstein vs. H-Soz-Kult und die Frage nach der Kritikfähigkeit in der Wissenschaft
von Ben Kaden (@bkaden)
Im Anschluss an den am Freitag veröffentlichten Beitrag Der Fall Julien Reitzenstein vs. H-Soz-Kult und die Frage nach der Kritikfähigkeit in der Wissenschaft korrespondierte ich ausführlich mit Julien Reitzenstein und erfuhr mehr zu den Hintergründen der Angelegenheit. Grundlegend lässt sich festhalten, dass die Sachlage differenzierter zu betrachten ist, als es zum Beispiel das Echo auf Twitter vermuten lässt. Ich halte es daher aus zwei Gründen, also einerseits der Fairness halber, die allen Positionen Raum zugestehen soll und andererseits, um die Debatte mit aus meiner Sicht notwendigen Zusatzinformationen zu bereichern, für geboten, meinen Ursprungskommentar mit dem nachstehenden Text zu ergänzen.
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Ein aktuelles Geschehen, zumal eines sich noch entwickelndes, zeitnah zu kommentieren, birgt immer seine Gefahren. Anders als in der Rückschau sieht man immer nur einen Ausschnitt. Verrückt man diesen nur ein wenig, ändert sich eventuell die Grundlage dessen, was es zu beurteilen gab und relativiert oder revidiert damit die Beurteilung selbst. Andererseits möchte man gern zeitnah reagieren, gerade auch wenn man sein Medium als eines versteht, das Teil fortlaufender Diskurse ist. Im Fall des Falles Julien Reitzenstein vs. H-Soz-Kult gab es durchaus eine Hemmung, die offengestanden dadurch motiviert war, dass das Vorgehen in der verfügbaren Schilderung bei H-Soz-Kult und FAZ so eindeutig und eindeutig gefährlich schien, um von Anwaltspost ausgehen zu müssen, wenn ein Halbsatz verrutscht. Am Ende war diese Sorge zugleich Motivation, denn das Grundverständnis von LIBREAS ist seit je, dass es zum Diskurs gehört, furchtlos Position zu beziehen und in Kommentaren die persönliche Sicht auf einen Sachverhalt direkt zu formulieren. Dass das Vorgehen gegen einzelne Formulierungen in einer wissenschaftlichen Rezension per Unterlassungserklärung der Gegenstand der Anmerkung war, gibt der Sache einen Spin Richtung Metaebene. (more…)
Der Fall Julien Reitzenstein vs. H-Soz-Kult und die Frage nach der Kritikfähigkeit in der Wissenschaft
Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)
Update 27.02.2017: Im Anschluss an die Veröffentlichung des nachstehenden Beitrags korrespondierte ich ausführlich mit Julien Reitzenstein und erfuhr mehr zu den Hintergründen der Angelegenheit. Grundlegend lässt sich festhalten, dass die Sachlage differenzierter zu betrachten ist, als es zum Beispiel das Echo auf Twitter vermuten lässt. Ich halte es daher aus zwei Gründen, also einerseits der Fairness halber, die allen Positionen Raum zugestehen soll und andererseits, um die Debatte mit aus meiner Sicht notwendigen Zusatzinformationen zu bereichern, für geboten, meinen Ursprungskommentar mit weiteren Ausführungen zu ergänzen.
In dieser Woche kam eine, glücklicherweise, erstaunliche und aus Sicht der Herausgeberschaft einer Zeitschrift, die auch Rezensionen veröffentlicht äußerst unersprießliche Angelegenheit ans Licht. Auf der zentralen deutschsprachigen Webplattform für die Geschichtswissenschaften, H-Soz-Kult, war 2016 eine Besprechung des Historikers Sören Flachowsky erschienen, der sich mit der Arbeit mit dem Titel Himmlers Forscher : Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS (Paderborn: Schönigh, 2014) des Historikers Julien Reitzenstein auseinandersetzte. Julien Reitzenstein fand am Besprechungstext offenbar einiges unzulänglich. Diese Mängel schienen ihm gravierend genug, um die Ebene des fachlichen Disputs sofort zu verlassen und sowohl den Rezensenten wie auch die Herausgeber von H-Soz-Kult mit einer vom Landgericht Hamburg angesegneten Unterlassungserklärung zu konfrontieren.
Michael Wildt und Rüdiger Hohls haben den Vorgang mit sichtbaren Bemühen um Transparenz auf der Seite beschrieben und betonen, was eigentlich jedem Leser und jeder Leserin der problemlos über die amerikanische Mutterseite noch verfügbare Orginalrezension klar sein dürfte: (more…)
Nochmal zur Evidence Based Library and Information Practice. Ein neuer Startpunkt, um Forschung im bibliothekarischen Alltag zu verankern?
Zu: Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being evidence based in library and information practice. London: Facet Publishing, 2016
von Karsten Schuldt
Die Evidence Based Library and Information Practice ist ein Fakt. Nur nicht hier.
Das wird vielleicht einige Personen in den deutschsprachigen Bibliothekswesen überraschen, aber: Evidence Based Library and Information Practice (EBLIP) ist ein dynamisches, einflussreiches Feld, dass beständig wächst und das seit 1997 – also seit jetzt 20 Jahren. Um die einst im kleinen Rahmen propagierte Praxis ist nicht nur eine Zeitschrift (https://ejournals.library.ualberta.ca/index.php/EBLIP), sondern auch ein Community gewachsen. Und damit ist auch das Bibliothekswesen besser geworden. Das hier zu besprechende Buch, Being evidence based in library and information practice, ist nur der nächste Schritt zu diesem Wachstum.
Was an diesen Aussagen vielleicht irritierend ist, ist, dass das im deutschsprachigen Bibliothekswesen nie auch nur ansatzweise angekommen ist. Von Zeit zu Zeit hört man den Begriff: Evidence Based Librarianship. Bei uns in der LIBREAS-Redaktion tauchte er in den letzten Jahren immer wieder einmal als mögliches Thema für einen Schwerpunkt auf. Auch bei Gesprächen auf Konferenzen fällt er manchmal, besonders bei Kolleginnen und Kollegen aus Medizinbibliotheken. Mein Kollege Mumenthaler hat den Begriff mehrfach ausgesprochen, als er einmal ein Forschungsvorhaben vorschlug (auch wenn es dann in seinem Text zum Vorhaben nicht auftaucht,1 https://ruedimumenthaler.ch/2016/02/15/bibliotheken-und-digitaler-wandel-einige-fakten/). Aber mit Inhalt gefüllt wird der Begriff eigentlich nie. Das sich in der englischsprachigen Bibliothekswelt, und hier vor allem nicht vorrangig der USA oder Grossbritanniens, sondern Kanadas, der Begriff tatsächlich mit einer kleinen Bewegung verbindet, scheint nicht bekannt.2
Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. An sich möchte die EBLIP ein Problem lösen, dass sich selbstverständlich auch in den deutschsprachigen Bibliothekswesen findet, nämlich, dass eine ganze Zahl von Entscheidungen in Bibliotheken und Diskussionen über Entwicklungen im Bibliothekswesen nicht auf überprüfbaren Fakten (Evidenzen) basiert und auch nicht objektivierbar sind (d.h. so dargestellt, dass die Argumentationen, die zu einer Entscheidung oder Aussage führen, für andere nachvollziehbar wären), sondern halt oft immer neu auf Basis lokaler Wahrnehmungen getroffen zu werden scheinen – oder aber gar aus gar nicht richtig nachvollziehbaren Gründen. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Abneigung gegen „Theorie“ in Bibliotheken; vielleicht wird EBLIP nicht wahrgenommen, weil die deutschsprachigen Bibliotheken gerne in die USA, nach Grossbritannien und Skandinavien schauen und Dinge erst wahrzunehmen scheinen, wenn sie sich dort etabliert haben – und nicht nach Kanada (oder Australien oder Neuseeland oder Frankreich etc.3). Aber egal wieso, EBLIP entwickelte sich anderswo; jetzt scheint es sogar, folgt man dem besprochenen Buch, soweit zu sein, diese Praxis wieder einmal zu überdenken. Es wäre also auch ein guter Zeitpunkt, in diese Entwicklung einzusteigen.
Modelle der EBLIP
Denise Koufogiannakis und Alison Brettle (Koufogiannakis & Brettle 2016), die das zu besprechende Buch herausgeben und in ihm auch die programmatischen Texte geschrieben haben, schreiben ein Modell fort, dass grundsätzlich ersten Handbuch zu EBLIP von Andrew Booth und Anne Brice (Booth & Brice 2004) formuliert wurde.
Booth und Brice führten 2004 die EBLIP noch aus zwei Quellen her: einerseits aus der evidence basd medicine, die als Praxis einfordert, dass bei medizinischen Entscheidungen jeweils die besten verfügbaren wissenschaftlichen Ergebnisse genutzt würden; anderseits aus einer Kultur des Accountability und ständiger Begründung mit Evidenzen – also mehr oder minder fakten-basierten Argumenten –, wie sie unter den Blair-Regierungen („New Labour“) in Grossbritannien – wo Booth und Brice damals tätig waren – zum Geschäft aller öffentlichen Einrichtungen gehörte. Dieses Modell basierte sehr dezidiert auf wissenschaftlichen Wissen und setzte sich aus den folgenden Schritten zusammen:
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„Define the problem
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Find evidence
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Appraise evidence
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Apply results of appraisal
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Evaluate change
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Redefine problem“ (Booth & Brice 2014:61)
Es ging ihnen darum, dass gerade wissenschaftliche Quelle genutzt werden, um Fragen zu klären, die im bibliothekarischen Alltag aufkommen.
Das Modell wurde aufgegriffen, wie gesagt vor allem in Kanada, wo 2006 – gehostet an der University of Alberta – die namensgebende Zeitschrift gegründet wurde. Insbesondere in dieser wurde nicht nur Quellen beurteilt und Projekte beschrieben, die mit diesem Modell durchgeführt wurden, sondern auch Projekte, welche das Modell grundsätzlich erweiterten. Offenbar gibt es genügend Kolleginnen und Kollegen in Bibliotheken, die dem Prinzip des EBLIP folgend arbeiten und publizieren wollen. Denise Koufogiannakis und Alson Brettle sind beide seit der Gründung Teil des Editorial Teams der Zeitschrift und sitzen damit – abgesehen von eigenen Publikationen zum Thema, die beide vorgelegt haben – quasi an der Quelle der Entwicklungen im Bereich.
Die Überarbeitung des Modells basiert auf diesen Erfahrungen (wobei sie aus dem Buch von Booth und Brice ein noch früheres Modell zitieren, dass diese schon erweiterten). Das neue, erweiterte Modell verstehen sie als Kreis mit den folgenden fünf jeweils aufeinander bezogenen Schritten:
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„Articulate (Come to an understanding of the problem and articulate it.)
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Assemble (Assemble evidence from multiple sources that are the most appropriate to the question/problem at hand.)
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Assess (Place the evidence against all components of the wider overarching problem. Assess the evidence for its quantity and quality.)
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Agree (Determine the best way forward and, if working with a group, try to achieve consensus based on the evidence and organizational goals.)
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Adapt (Revisit goals and needs. Reflect on the success of the implementation.)” (Koufogiannakis & Brettle 2016:15)
Die beiden Modelle unterscheiden sich unter anderem in folgenden Punkten:
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IM erste Modell ist zwar auch die Arbeit in Gruppen möglich, aber, so die Kritik bei Koufogiannakis & Brettle (2016), letztlich darauf angelegt, dass eine Person ein Projekt durchführt und auch die jeweiligen Entscheidungen trifft. Das neue Modell soll sich eher für die Arbeit in kleinen Gruppen eignen (z.B. durch den Schritt „Agree“, der in einer Gruppe sinnvoller ist, weil hier ein informierter Konsens gebildet wird, als bei Projekten von Einzelpersonen).
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Das erste Modell legte grossen Wert auf wissenschaftliche Quellen. Eigentlich wurde nur diese als Evidenz akzeptiert; andere Quellen waren höchstens als Anregung für die Formulierung von Fragen zugelassen. (So zumindest die Interpretation von Koufogiannakis & Brettle (2016), der betreffende Artikel von Alison Winning „Identifying sources of evidence“ in Booth & Brice (2004:71-88) kann in diese Richtung interpretiert werden, lässt aber doch Platz für andere Quellen.) Das neue Modell legt Wert auf eine Mischung von Quellen, die ihre jeweils eigenen Wert haben: Wissenschaftliche Quellen, local evidence und professional knowlegde (Koufogiannakis & Brettle 2016:14). Für eine Entscheidung (siehe nächstes Punkt) in einer Bibliothek müssen alle Arten von Quellen herangezogen werden.
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Während Booth & Brice (2004) EBLIP noch aus den Anforderungen der Blair-Regierung (Accountability) und dem Fakt, dass sich Ähnliches in der Medizin durchzusetzen schien, begründeten, begründen es Koufogiannakis & Brettle (2016) nun als einen „structured approach to decision making“ (Koufogiannakis & Brettle 2016:7), also als Hilfsmittel für die Entwicklung von Bibliotheken. Dabei wollen sie EBLIP als einen ständig neu wiederholten Prozess verstehen, nicht als rein projekt-bezogenes Mittel. In der Vorstellung der beiden Autorinnen ist EBLIP ein Mittel, mit dem Bibliotheken ständig ihre Entwicklungen und Entscheidungen kritisch hinterfragen können.
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Koufogiannakis & Brettle (2016) verstehen EBLIP auch als eine Aufforderung an Bibliotheken, diese als Betriebskultur zuzulassen (d.h. von Seiten der Leitung, die Zeit dafür einzuräumen und solche Quasi-Forschungstätigkeiten ihres Personals zu fördern) sowie zu leben (also auf Seiten der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, tatsächlich Probleme und Fragen zu definieren, Forschung zumindest auf der Ebene der Quellenanalyse durchzuführen und diese in die lokale Praxis zu übersetzen). Obwohl sie selber (nicht alleine) die Zeitschrift am Modell wissenschaftlicher Zeitschriften ausgerichtet haben und eine einzelne Bibliotheken übergreifende Community organisieren, verstehen sie EBLIP offenbar vorrangig als Mittel, die Entscheidungen in einzelnen Bibliotheken besser und fundierter zu machen – und damit auch besser.
Aber: Wozu?
Koufogiannakis & Brettle (2016) erheben den Anspruch, mit ihrem Buch quasi das Handbuch vorgelegt zu haben, welche des Handbuch von Booth & Brice (2004) ersetzt. Ob das gelungen ist, ist wohl nur im Rahmen von Bibliotheken zu bestimmen, die ihre Praxis an EBLIP orientieren – also keinen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum. Es gibt aber eine grosse Anzahl an Gemeinsamkeiten. Beide Bücher unterteilen sich in einen Teil, der das jeweilige Modell und die Arbeitsschritte in diesem dezidiert darstellt und einen Bereich, der EBLIP anhand von einzelnen Studien in der Praxis zeigt. Das frühere Buch hat einen Teil zur Geschichte und Begründung der EBLIP. Das jüngere Buch handelte diese Themen im Vorwort ab. Ansonsten scheint vieles tatsächlich einfach ein Update zu sein, mit einer genaueren Struktur und einem grösseren Selbstbewusstsein, das EBLIP eine etablierte Praxis ist. Gleichwohl wird bei Koufogiannakis & Brettle (2016) nicht so sehr auf die noch bei Booth & Brice (2004) im Zentrum stehende Wahl und Wertung von Quellen für Evidenzen eingegangen. Das ist ein Defizit des neuen Buches. Es scheint, als wäre es sinnvoll, falls man EBLIP im lokalen Bibliotheksrahmen umsetzen möchte, in beiden Büchern die jeweiligen methodischen Kapitel wahrzunehmen und zu nutzen.
Ein Schwachpunkt beider Bücher ist, dass sie vor allem über ihre Beispiele überzeugen wollen: In beiden finden sich Darstellungen von Bibliothek, die mittels EBLIP zu Lösungen für alle möglichen Probleme gefunden haben. Bei Koufogiannakis & Brettle (2016) sind sie besser strukturiert, da die betreffenden Kapitel – die nach Bibliothekstypen gegliedert sind – jeweils einen Überblick zu verschiedenen Studien liefern können, die es heute einfach mehr gibt, als vor 13 Jahren. Aber was die Beispiele zeigen ist eigentlich nur, dass EBLIP angewandt werden kann, um Entscheidungen im Rahmen der Bibliotheksentwicklung zu treffen; nicht, dass es besser ist, sie mit EBLIP zu treffen als mit anderen Methoden. Das ist nur soweit überzeugend, dass man es ausprobieren könnte; aber nicht, dass man es unbedingt müsste.
Ansonsten ist die Beschreibung der einzelnen Schritte des Modells – in beiden Büchern – jeweils sehr kleinteilig, aber nie wirklich erstaunlich. Eigentlich werden nur Schritte einer einfachen Forschungsplanung für Praxisprojekte gezeigt, die so wohl wöchentlich in Fachhochschulen und Universitäten der ganzen Welt für Bibliotheken erstellt werden. Nur, dass sie einmal so beschrieben werden, dass sie direkt von Bibliotheken, d.h. Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, geplant und durchgeführt werden können. Das ist ein Vorteil von EBLIP: Zu klären, dass Forschung oder Wissenschaft keine Magie ist, sondern einfach auch selber vor Ort durchgeführt werden kann, vor allem, wenn man durch selbst gestellte Fragen motiviert wird.
Grenzen
Um das (neugefasste) Konzept von EBLIP zu verstehen, reicht eigentlich das Lesen des ersten Textes („A new framework for EBLIP“) von Koufogiannakis & Brettle (2016:11-18). Alle anderen Texte sind erklärendes Beiwerk. Gleichzeitig ist dieses Buch auch von einer etwas sehr starken Überzeugung getragen, dass EBLIP eine immer einsetzbare Lösung für Probleme und neue Fragen bei der Bibliotheksentwicklung bieten und gute Ergebnisse – d.h. Vorarbeiten für gute Entscheidungen – liefern würde. Vielleicht ist das die Erfahrung der Autorinnen, aber es vermittelt zum Teil den Eindruck, den vehemente Vertreterinnen und Vertreter anderer Methoden auch erzeugen: Das ungute Gefühl, dass der Anspruch nicht gehalten werden kann, die Methode doch nur manchmal etwas taugt und vor allem nicht darüber gesprochen wird, was für negative Effekte die Methode haben könnte.
Was die Wirkung des Buches im deutschsprachigen Raum weiter einschränken könnte, ist der Fokus auf Kanada, die USA und Grossbritannien (nur eine Autorin des Buches kommt mit Schweden aus einem anderen Land) und damit auch den dortigen Kulturen in den Bibliotheken – insbesondere deren professionellen Debatten, die nicht die gleichen sind, wie im DACH-Raum – sowie gesellschaftlichen Fragen, welche den Blick der jeweiligen Texte prägen.
Eine auffällige Leerstelle von EBLIP – in allen bislang vorliegenden Büchern und Texten – ist die Stimme der Nutzerinnen und Nutzer. EBLIP gibt die Agency, die ansonsten oft bei Forschenden an Fachhochschule und Universitäten liegt, in die Hand von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren; diese üben in den aktuellen Konzepten dann aber die gleiche Macht darüber, was und wie gefragt oder untersucht wird, aus, wie es sonst in Forschungsprojekt die Forschenden tun. Angesichts dessen, dass in vielen EBLIP-Projekten Nutzerinnen und Nutzer untersucht, befragt etc. werden, wäre zu erwarten, dass auch diesen Agency zugestanden wird. Eventuell ist eine solche Partizipation von Nutzenden der nächste Schritt in der Entwicklung von EBLIP.
Wer nur einmal einen Blick darauf wegen will, wie EBLIP funktionieren kann, benötigt nicht dieses Buch, sondern kann stattdessen ein paar Nummern der mehrfach genannten Zeitschrift lesen (https://ejournals.library.ualberta.ca/index.php/EBLIP). Diese zeigt eher die tatsächlichen Potentiale, vermittelt aber nicht das angesprochene Modell.
Ansonsten scheint EBLIP, besonders der Fakt, das diese Community schon über einen so langen Zeitraum existiert, ein Ansporn darzustellen, es auch einmal im lokalen Rahmen in deutschsprachigen Bibliotheken zu versuchen.
Literatur
Booth, Andrew ; Brice, Anne (edit.) (2004). Evidence-based practice for information professionals: a handbook. – London: Facet Publishing, 2004
Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being evidence based in library and information practice. – London: Facet Publishing, 2016
Schuldt, Karsten (2013). Bibliotheken erforschen ihren Alltag. Ein Plädoyer. – Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen, 2013
Stock, Wolfgang G. (2009). Evidenzbasierte Bibliotheks- und Informationspraxis. EBLIP5, Stockholm, 2009. – In: Bibliotheksdienst 43 (2009) 8-9, 902-908
Fussnoten
1 Was sich aber beim ihm findet, ist eine Begründung, die sich so auch in den englisch-sprachigen Texten zur Evidence Based Library Practice finden könnte: „Die aktuelle Debatte zeigt, dass wir als Bibliothekscommunity und als Bibliothekswissenschaft schlecht aufgestellt sind. Wir haben Mühe, gegen offensichtlich falsche Äusserungen und plumpe Vorurteile zum aktuellen Stand des digitalen Wandels in Bibliotheken fundiert und sachlich zu argumentieren. Meine Aussagen sind bestimmt näher an der Wirklichkeit (finde ich…), aber eine wissenschaftlich überzeugende Argumentation sieht doch anders aus. Eigentlich müsste ich doch Fakten abrufen können, Studien zitieren können, die unmissverständlich solch absurde Behauptungen widerlegen würden. Aber ich kann nur einige Beispiele zitieren, die ein deutlich anderes Bild zeichnen. Die belegen, dass sich die Bibliothekslandschaft in Bewegung befindet, die zeigen, dass die Community die Probleme erkannt und die Herausforderungen angenommen haben.“ (https://ruedimumenthaler.ch/2016/02/15/bibliotheken-und-digitaler-wandel-einige-fakten/)
2 Bestimmt übersehe ich einzelne Nachweise in Fussnoten etc., aber richtig ist mir der Begriff nur einmal, bei einem Konferenzbericht von Wolfgang G. Stock (2009) aufgefallen. Und dann in meinem eigenen Buch zum thema Forschung in Öffentlichen Bibliotheken (Schuldt 2013).
3 Auch wenn ich dieses Argument schon mehrfach gebracht habe, gerne nochmal: Die Makerspaces waren in der australischen und kanadischen bibliothekarischen Literatur schon etabliertes Thema, bevor sie in den USA stark diskutiert wurden – aber erst dann, als sie auch in der US-amerikanischer Literatur auftuachten, wurden sie in der deutschsprachigen Literatur thematisiert. EBLIP wäre also kein Einzelfall.
Analogkultur / Digitalkultur. Über @handmedium und „real things and why they matter.“
Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)
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Derzeit sammelt sich Samstag für Samstag auf dem immergrauen Vorplatz der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main eine Schar Demonstranten, die sich für einen Erhalt der Möglichkeit eines Zugangs zum gedruckten Medium im Lesesaal der Bibliothek einsetzen. Ein Transparent komprimiert das Anliegen in eine Frage: Bibliothek ohne Bücher? Es ist eine kleine, aber sehr engagierte Gruppe, die der Stroemfeld-Lektor Alexander Losse per Megaphon zu aktivieren versucht und einen kleinen Niederschlag findet sich regelmäßig vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die in diesem Fall als Lokalblatt gelten kann. Aber auch in der wochentäglichen Abwesenheit bleibt die unter dem Kürzel @handmedium auf Twitter ihre Aktionen begleitenden, dokumentierenden und mit befreundeten Accounts retweetenden selbsternannte Mahnwache präsent. Außerdem sucht man das 140-Zeichen-Gespräch mit Twitternden, die man sich als passende Gegenüber für den Austausch von Positionen heraussucht.

„Digital vor gedruckt“ – der in diesem Fall farblich gut auf die Oberbekleidung der Besucher abgestimmte Aushang erläutert eigentlich sehr nachvollziehbar und in leichter Sprache, warum die Bibliothek lieber den Griff zur E-Book-Fassung sähe. Und zugleich regt sie die Nutzerinnen und Nutzer zum Nachdenken über ihr Nutzungshandeln an. Denn nun müssen sie sich bei jedem Verlangen überlegen, wie sich der Zweck ihrer gewünschten Lektüre zur Medialität des Objektes verhält.
Spricht man Mitarbeiter des Hauses auf die Mahnwache und ihre Ziele an, gibt es die Bandbreite des Lächelns von verzweifelt über mitleidig bis sogar nachsichtig zu sehen. Es ist schon ein Politikum, hört man. Und, vertraulicher, dass es durchaus Verbindungen aus dem Haus über die Frankfurter Allgemeine zur „Reuß’schen Gruppe“ gäbe, die in dem Vorplatzprotest etwas zu kanalisieren versuche. Was das genau ist, erfährt man nicht und möchte es eigentlich auch gar nicht wissen. Das Öl soll besser nicht weiter ins Feuer tröpfeln und die FAZ hat doch noch einen gewissen Einfluss auf die öffentliche Meinung der Stadt am Main. (more…)
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