LIBREAS.Library Ideas

LIBREAS – Call for Papers: Post-Digital Humanities aus bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Sicht

Posted in LIBREAS Call for Papers by libreas on 4. Mai 2016

Update: Aus mehreren Gründen, zu denen in nicht geringem Umfang die Leichtigkeit des Sommers gehört, wird der Call for Papers für die Ausgabe zu den postdigitalen Geisteswissenschaften bis zum 31. Oktober 2016 verlängert. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von anderen aktuellen Calls aus dem Digital-Humanities-Umfeld und bleiben uns zugleich treu. Es können also nach wie vor Aufsätze, Rezensionen und andere Beiträge an redaktion@libreas.eu geschickt werden. Wir freuen uns darauf, grüßen herzlich und wünschen schöne Spätsommertage.

Ihre / Eure LIBREAS-Redaktion, 31.08.2016


“[C]omputational technology has become the very condition of possibility required in order to think about many of the questions raised in the humanities today.”

David M. Berry (2011): The Computational Turn: Thinking about the Digital Humanities, S.2

 

a) Wer braucht die Digital Humanities?
Ein Ballon schwebt über der Landschaft der Geisteswissenschaften. Er trägt die Aufschrift “Digital Humanities” und führt bei denen, die ihn sehen, zu unterschiedlichen Reaktionen. Einige sind begeistert und laufen ihm nach. Andere sind verschreckt. Wieder anderen erscheint er unerreichbar. Und schließlich gibt es noch die, die ihn gleichgültig seiner Wege ziehen lassen.

Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein Trugbild. Unverkennbar arbeitet heute nahezu jede Geisteswissenschaftlerin und jeder Geisteswissenschaftler mit digitalen Werkzeugen. Das Verfassen, Publizieren, Kommunizieren und Visualisieren von Wissenschaft ohne digitale Werkzeuge ist im 21. Jahrhundert schlicht unmöglich. Handelt es sich dabei bereits um Digital Humanities? Das ist fraglich.

Werden andererseits aber digitale Werkzeuge, die forschungsunterstützend wirken und eine Art “Laborifizierung der Geisteswissenschaften” nach sich ziehen könnten (vgl. zu dieser These auch diesen Beitrag), zum allumfassenden akademischen Alltag wie Textverarbeitungs- und E-Mail-Software? Auch das scheint unwahrscheinlich.

Wahrscheinlicher ist, dass sich etwas zwischen diesen Polen als zielführend herausstellt: digitale Anwendungen setzen sich dort durch, wo sie einen konkreten Bedarf bedienen und eine nennenswerte Verbesserung der wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen beziehungsweise Erkenntnisbedingungen versprechen. Die Erfindung des digitalen und damit schnell und ortsunabhängig im Volltext durchsuchbaren Bibliothekskatalog beispielsweise stellte einen grundsätzlichen Schritt für eine effiziente Informationssuche dar und ist heute Standard aller Bibliotheken. Er ist natürlich zugleich ein Arbeitswerkzeug der Geisteswissenschaften. Als Baustein der Digital Humanities wird er dagegen selten benannt und wahrgenommen.

Für die kommende Ausgabe von LIBREAS stellen wir u.a. gerade deshalb die Frage: Welche Rolle können Informationseinrichtungen wie Bibliotheken und Informationsspezialisten innerhalb des Digital Humanities-Spektrums übernehmen? Bleiben sie bei ihren Aufgaben des Sammelns, Erschliessens und Anbietens? Oder gehen sie darüber hinaus? Es gab in den letzten Jahren mehrere Projekte in die Richtung des „Heraustretens“ – aber was ist aus ihnen geworden? Viele Projekthomepages sind heute verwaist, was üblich ist – aber gibt es feststellbare langfristige Nachwirkungen der Projekte selbst? Oder ist eine solche aktivere Rolle nur ein Wunschdenken der Bibliothekarinnen und Bibliothekare und die Forschenden begnügen sich eigentlich mit besseren Zugriffen auf (digitalisierte) Bestände?

Wer die Digitalisierung der Geisteswissenschaften mitgestalten will, sollte Bedarfe identifizieren und Angebote entwickeln und vermitteln, die auf diese Bedarfe passen. Um den Ansprüchen der Wissenschaft zu genügen, sollte dies systematisch und erkenntnisorientiert geschehen. Es gibt bereits eine Disziplin dafür, die sich freilich dieser Aufgabe auch bewusst widmen (wollen) muss: die Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Und diese muss vermutlich als Erstes die Frage nach dem Bedarf konkretisieren: Um wessen Bedarfe geht es? Die der Einrichtungen, die der Forschungsfördereinrichtungen oder die von Forschenden? Oder gar die der Gesellschaft?

b) Digital Humanitäres – Label oder wissenschaftliche Revolution?

Das Konstrukt Digital Humanities mit dem Bemühen um den Status als eigene Disziplin, was sich unter anderem in der Benennung von einigen interdisziplinären Lehrstühlen manifestiert, soll bekanntlich inter- oder transdisziplinäre Kooperationen ermöglichen. Die unvermeidliche Kooperation mit der Informatik ist dabei eher formaler oder methodischer Natur und inkludiert kein gemeinsames Forschen. Aber erforschen die verschiedenen Geisteswissenschaften unter dem Titel DH überhaupt gemeinsame Phänomene oder Objekte? Die Einführungsliteratur zur DH betont gerne, dass sich der Begriff auf (a) den Einsatz von Methoden, (b) auf Digitales als Untersuchungsobjekte und (c) auf das Leben mit dem Digitalen als Untersuchungsgegenstand bezieht. Aber wird damit nicht ein gemeinsames Label auf viel zu unterschiedliche Forschungsfragen und -praxen bezogen? Was bringt das Label bei diesem Umfang noch und vor allem, wie sollen Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen damit umgehen?

Es scheint, als sollten unter dem Label “Digital Humanities” unterschiedliche und teilweise unvereinbare Akteure und in vielen Fällen auch mit einem Revolutionsversprechen zusammengeführt werden. Das Neue steht vor der Tür und trägt derzeit ein glitzerndes Shirt auf dem Big Data, gern vor einer Cloud, steht. Das sieht en vogue aus, ist aber nicht immer zwingend sinnvoll. So bleibt offen, ob das Anliegen eines unifizierenden trans- und disziplinären Überbaus unter der Bezeichnung “Digital Humanities” überhaupt tauglich sein kann, um die mannigfaltigen Verschiebungen im Bereich der digitalen Wissenschaft zu umfassen. Brauchen wir das Label “DH”?

Eine erste Unklarheit taucht im deutschsprachigen Raum bereits bei der Übersetzung und den damit verbundenen Aktivitäten dieser „Wissenschaft“ auf. Umfasst dieses Label nun die Digitalisierung (Digitalization) von beispielsweise Kulturobjekten oder eher die Einführung EDV-basierter Arbeitsprozesse (Digitization)? Die tatsächliche Forschungspraxis, also die Studien, die unter diesem Label publiziert werden, scheinen eher in eine andere Richtung zu deuten. Oft wird in kleinen Forschungsgruppen, teilweise auch alleine, an Einzelfragen gearbeitet, häufig an einzelnen oder wenigen Digitalisaten. Ist das nun eine Revolution? Oder nicht doch eher eine Weiterentwicklung, aber weniger, wie etwa in den Naturwissenschaften, zu einer „datengetriebenen“ Forschung, sondern zu einer Forschungspraxis, deren konkrete Ausgestaltung noch grundsätzlich zu klären wäre?

c) Die Bibliotheken als Ort oder als Zulieferer für die Digital Humanities?

Sicher können Bibliotheken und die Bibliotheks- und Informationswissenschaft Rollen und Aufgaben übernehmen, die als Digital Humanities gekennzeichnet werden. Aber ist die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht sogar die genuine digitale Geisteswissenschaft? So lässt sich jedenfalls eine denkbare These fassen. Und eine zweite ergänzt, dass sie dies ganz natürlich tun kann, da zumindest die Gegenstandsseite vieler Geisteswissenschaften sowie die Digitalisierung dieser Forschungsobjekte von vornherein von Bibliotheken verwaltet und gesteuert wurde. Sie bieten also Material, Literatur und Infrastruktur. Böten sie auch die Analysewerkzeuge, also das “Labor”, schlösse sich der Kreis. Dies wurde bereits initiiert, beispielsweise mit der Digitalen Forschungsplattform des Hathi-Trusts. Aber – genauso wie bei anderen Virtuellen Forschungsumgebungen – stellt sich die Frage, welcher konkrete Nutzungsmöglichkeiten damit verbunden sind und ob eine Weiterentwicklung sinnvoll wäre. Entsprechen diese Angebote tatsächlich dem, das Forschende – die zumeist auch selber in ihren eigenen Arbeitsumgebungen mit digitalen Werkzeugen umgehen können – wollen und nutzen, oder eher etwas, von dem sich vor allem die Forschungsfördereinrichtungen und die Bibliotheken als Anbieter wünschen, dass sie es täten?

Gleichzeitig stellen sich Bibliotheken mit solchen Projekten in ein Konkurrenzverhältnis. Dass sie Digitalisieren können ist richtig. Aber das heisst nicht, dass Forschende in ihren Projekten nicht auch en masse selbst Digitalisieren. Dass Bibliotheken Infrastrukturen zur Verfügung stellen können ist ebenfalls richtig. Aber ebenso realisieren Forschende selbst immer mehr digitalen Infrastrukturen für sich selber oder ihre Community. Was ist daraus zu lernen? Sollen Bibliotheken die Forschenden verstärkt adressieren oder soll man entsprechende Bemühungen von Bibliotheken besser zurückfahren? Und für Bibliothekswissenschaft lautet die Frage: Wie soll man dieses Phänomen untersuchen?

d) Die Post-Digital Humanities als Idee

Betrachtet man die Entwicklung der Wechselbeziehung von Digitalität und Gesellschaft, so erkennt man, dass sich viele Bereiche längst in einem Zustand befinden, den man als zum Postinternet gehörig beziehungsweise als postdigital bezeichnen kann. Insofern liegt es nahe, einen Begriff der “Post-Digital-Humanities” – als die Zeit nach den großen Versprechen, in der die DH in den Allgemeinbetrieb übergeht – analog zur “Postinternet”-Kultur ins Spiel zu bringen. Die Chance in eines solchen, eventuell, Gegenlabels, liegt in der Öffnung eines dekonstruktiven und damit das Selbstverständnis hinterfragenden sowie zugleich voranbringenden Ansatzes. Denn ein allen Geisteswissenschaften gemeinsames Merkmal ist der Diskurs, der auch das Hinterfragen der eigenen Methoden beinhaltet. Daher entscheiden wir uns sehr bewusst für diese Bezeichnung sowohl zur Bestimmung des gegebenen Zustands als auch als, hoffentlich, Bezugspunkt und Auslöser für entsprechende Reflexionen.

Postdigitale geisteswissenschaftliche Arbeit ist also eine wissenschaftliche Praxis, die sich unter dem Einfluss und auch mit den Mitteln digitaler Technologien, Netzwerken und Kultureffekten vollzieht. Das Spektrum reicht von n-gram-Analysen über große und kleine Digitalisierungsprojekte bis zu Altmetrics, beinhaltet also in etwa all das, was in der vordigitalen Wissenschaft nicht umsetzbar, oft nicht einmal konzipierbar war. Damit lässt sich die Reflexion sinnvoll über das engere Feld der DH-Anwendungen erweitern, das de facto vor allem im Bereich der Analyse großer Datenmengen, beispielsweise der Korpuslinguistik oder auch der digitalen Mustererkennung für die Kunstgeschichte ihre sichtbarsten Konkretisierungen erfährt.

Wir versuchen zu ergründen, wie sich Bibliotheken in diesem Komplex positionieren (können), wie sie entsprechende Bedarfe ansprechen (können) und welche theoretischen Grundlegungen diese Anwendungspraxis aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft erwarten kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Digital Humanitäres seit ihrer Etablierung als Diskurs immer von Kritiken begleitet werden, auf die sie bislang nur bedingt Antwort geben können. Beispielsweise besteht die Gefahr auf Strukturen aufzubauen, die so nur im Globalen Norden vorhanden sind, ohne dass diese Rahmung informationsethisch reflektieren wird. Auch können die Digital Humanities bislang kaum auf den Einwurf antworten, dass sie für kritische Forschungsmethoden und -fragestellungen, die aktuell große Teile der Geisteswissenschaft prägen, kaum Hilfestellungen geben. Das Distant Reading, also die Analyse großer Corpora, scheint das Close Reading von Dokumenten beispielsweise für post-koloniale Fragen oder Fragen der Konstitution von Subjektidentitäten kaum ersetzen zu können.

e) Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Meta-Akteurin

Schließlich wollen wir die Schraube noch weiterdrehen und fragen, inwieweit die Bibliotheks- und Informationswissenschaft mit ihrem Metafocus auf die Idee von Information, Wissen und Wissensvermittlung, selbst eine modellhafte, bewusst digitale Phänomene und Folgen reflektierende quasi postdigitale Geisteswissenschaft sein kann? Kann sie womöglich durch eine systematische Beschäftigung mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen digitaler Geisteswissenschaft zu einer allgemeinen Normalisierung des Verständnisses solcher Prozesse beitragen und damit zu einer Art “Leitdisziplin” für die Geisteswissenschaften werden?

Für die Ausgabe #30 von LIBREAS suchen wir Beiträge (Artikel, Essays, Kommentare, Ideen), die sich in diesem Reflexionsfeld bewegen und idealerweise auch aufzeigen, welche Rolle die in der jüngeren Vergangenheit tief verunsichterte Bibliotheks- und Informationswissenschaft in der und für die Landschaft der Geisteswissenschaften übernehmen könnte. Der Termin für Einreichungen ist der 31. August Oktober 2016 über die Adresse redaktion@libreas.eu.

Redaktion LIBREAS. Library Ideas

Berlin, Bielefeld, Chur, Dresden, München im Mai 2016

Die Forschung zum Diskurs als Wörterbuch. Eine Besprechung.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 30. August 2014

zu: Daniel Wrana, Alexander Ziem, Martin Reisigl et. al [Hrsg.] (2014): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp. (Seite zum Titel beim Verlag)

von Ben Kaden (@bkaden)

Nach einen an Fachliteratur eher armen und mit anderer Literatur wundervoll gesättigten August fällt es nun, da die Himmel eher milchig sind und die Abende wieder häufiger ernüchternd kühl, wieder Zeit sich kühlen Blutes den Spuren der wissenschaftlichen Diskurse zuwenden und die den Hundstagen etwas eingeschlafenen LIBREAS-Zwischenmedien (Tumblr, Weblog) zu wecken.

Frisch auf dem Schreibtisch findet sich das im Juli bei Suhrkamp erschienene Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung ein, dessen Herausgeber ihm nahe liegend Weise den Namen ihres Forschungsverbundes zum Titel gaben: DiskursNetz. Das Buch selbst entstand ganz zeitgemäß und kollaborativ in einem Wiki (www.diskursanalyse.net), wobei es noch zeitgemäßer wäre, stände dieses zugleich Open Access und dynamisch erweiter- und vernetzbar zur Verfügung.

Andererseits versteht man, wenn man selbst einmal etwas in Buchform herausgegeben hat, dass man schon lieber kontrolliert eine redaktionell abgeschlossene Fassung als alleinigen Referenzpunkt für die Öffentlichkeit haben möchte und den bietet nun der Band mit seinem fast 450 Seiten breiten Nachschlagebereich für Artikel vom Lacan’sche A (le grande Autre) zum allgemeinen Zweck:

“ein telisches Konzept, das vor allem in der Funktionalen Pragmatik verwendet wird“. (Reisigl, S. 447)

Die Linguistik heiligt bei diesem Stichwort trotz allem interdisziplinären Anspruch sehr offensichtlich die Wortwahl und es sagte ja auch niemand, dass Diskursforschung für diejenigen einfach zugänglich sein muss, die Telizität erst einmal noch an anderer Stelle nachschlagen müssen. Wer an Telos denkt, denkt – so glaube ich jedenfalls – schon in die richtige Richtung. Wobei der telische Blick wohl einer zurück auf das bereits erreichte Ziel ist. Worum es bei der Analyse von Diskursen ja oft genug geht. In jedem Fall ist Telizität durch einen Prozess  gekennzeichnet und durch eine zeitliche Abgrenzung bzw. Abgrenzbarkeit desselben. Aber eigentlich ist das für das Verständnis des Zweck-Begriffs gar nicht übermäßig wichtig.

Denn wenn man sich in diesem Fall telisch einfach auf die Bedeutung zielgerichtet reduziert, kann man ganz unbeschwert und wahrscheinlich nicht völlig irrend im Stichwort fortschreiten und lesen:

Zweck ist

“ein […] Konzept […] um eine gesellschaftlich verallgemeinerte, in der Lebenspraxis des Menschen verankerte Finalität eines sozial etablierten Mittels […] zu bezeichnen, das nicht nur der Befriedigung eines individuellen Ziels, sondern eines gesellschaftlichen Bedürfnisses unter institutionellen Bedingungen dient.“(ebd.)

Das sozial etablierte Mittel ist im Fall von DiskursNetz das Nachschlagewerk und die Finalität ist, dass man nach dem Nachschlagen in der Lage ist, das Wort “Zweck” in der Bedeutung, die ihm die Diskursforscher (und die Sprachwissenschaftler) (=institutionelle Bedingungen) geben, verwenden und verstehen kann.

DiskursNetz Cover

Fällt das Licht passend, dann erkennt man, dass sogar die Materialität, auf der die zurückgenommene Willy-Fleckhaus-Ästhetik der Taschenbuchreihe suhrkamp-wissenschaft (hier:Band 2097) aufsetzt, durchaus eine Gitternetz-Struktur verbirgt. Was sehr gut zum vorliegenden Titel passt.

Der vergleichsweise harte Einstieg über das letzte Stichwort des Wörterbuchs in das Diskurs(forschungs)netz besitzt freilich den unbestreitbaren Vorteil, dass andere Einträge, unter anderem das gleich zuvor gesetzte und ebenfalls von Martin Reisigl bearbeitete Konzept des Zitats („eine spezifische Form der absichtsvollen Redewiedergabe […]“, S. 446) plötzlich außerordentlich klar und eingängig erscheinen. Möglicherweise bewahrheitet sich auch schlicht, dass die scheinbar einfachsten Konzepte am schwierigsten gefasst werden können. (–> Ambiguität)

Bibliotheks- und informationswissenschaftlich bewegt man sich mit dem Wörterbuch natürlich weit in einem transdisziplinären Grenzgebiet. Der Begriff der Information wird leider nicht definiert. Ein Stichwort „Informationseinheit“ (von Felicitas Macgilchrist, S.196f) gibt es dagegen und der Text dazu lässt erkennen, dass „Information“ in der Diskursforschung ziemlich zweckmäßig und mehr als eine Benennung als als ein eigenes spezifisches Phänomen zur Anwendung kommt:

“In verbalen Texten bildet […] ein Gliedsatz (clause) eine Informationseinheit; in gesprochener Sprache signalisieren Intonation und Rhythmus Informationseinheiten.” (Macgilchrist, S. 196)

Nach Michael Halliday differenziert man zudem Informationen nach given und new:

“Given teilt den alten und schon »gegebenen« Teil der Information mit; new bezieht sich auf die neue, wichtige oder interessante Information.” (ebd.)

Redundanz-sozialisierte Informationstheoretiker haben da mutmaßlich eine andere Vorstellung.

Aber genau das ist ja das Sinnvolle an Verdichtungen und zielgerichteten Reduktionen, wie sie Wörterbücher gemeinhin darstellen: Man bekommt eine handliche und überschaubare Basis für die Vorstellungen, die sich Andere bzw. andere Disziplinen von vermeintlich vertrauten Konzepten machen. Solange die Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Diskursforschung bestenfalls und selbst das nur in Randlage als reiner Anwender bestimmter Elemente der Diskursanalyse entgegentritt, darf sie sich jedoch nicht beschweren. Selbstverständlich könnte sie, die sich im Grunde umfänglich wie sonst fast niemand mit soziosemiotischen Ordnungsprozessen (der Zeichen, der Texte, des Wissens, der Kultur) auseinandersetzt, sehr gut und gestaltend auf das Programm der Diskursforschung einwirken. Aber es bleibt bislang nur bei der Möglichkeit und alle die sich in der Bibliothekswissenschaft mit der Diskursforschung befassen wollen, kommen zwangsläufig gar nicht darum, Publikationen wie die vorliegende als Ausgangspunkt für ihre Arbeit heranzuziehen.

Der Wissensbegriff schließlich, hier gefasst von Boris Traue (S.440f.), dem man sofort und fast ein wenig dankbar anmerkt, dass er Soziologe und nicht Linguist ist, differenziert die bekannte Zweiteilung von explizitem (in diesem Fall formuliert als “symbolische objektiviert”) und implizitem (=”habituell verfestigte Praktiken”) Wissen, benennt kurz die gegenwärtige Perspektive auf das Wissen als “dreistellige Relation […] Ergebnis einer Vermittlung von Subjekt, Praxis und Materialität” und referiert danach leider nur kurz Positionen zum Konzept von Karl Mannheim bis Quentin Meillassoux, was zweifellos den Grenzen des Formats “Wörterbuch” geschuldet ist. Eine ergänzende Online-Version hätte gerade bei einem komplexen Phänomen wie dem Wissen, dessen Definition weitaus komplexer ist als beispielsweise die des „Zwecks“ und dessen Rolle für die Diskursforschung trotz allem in der Buchfassung sicher nicht erschöpfend dargestellt ist, erheblich Sinn.

Dennoch zeigt bereits die Erwähnung der Vermittlung (in der Praxis unter anderem vollzogen in und durch Bibliotheken), wo die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sofort einen Zugang zu diesem Forschungsfeld finden kann. Denn alle Prozesse, bei denen über materialisiertes (symbolisch objektiviertes) Wissen Subjekte tatsächlich, also praktisch verknüpft sind, sind Informationsprozesse und traditionell sind die Bibliotheken hier als Vermittler, also als (auch die Diskurse lenkende) Infrastruktur, innerhalb der man zu dem Ergebnis “Wissen” gelangt”, aktiv.

Man muss das Wörterbuch „DiskursNetz“ gar nicht groß rezensieren. Es ist nicht zuletzt dank der Bibliografie und allein des Verzeichnens von einschlägigen Belegquellen ein derzeit nahezu unverzichtbares Nachschlagewerk, wenn man derzeit, in welcher Disziplin auch immer, diskursforschend arbeitet. Wie von so gut wie jedem wissenschaftlichen Werk geht auch von diesem weder ein besonderer Zauber noch die Aura höherer Wahrheit aus. Aber es ist eine exzellente Basis. Wer methodische Zugänge zum Forschungsfeld sucht, muss noch ein paar Tage warten: Für September ist ein “interdisziplinäres Handbuch” zur Diskursforschung aus dem gleichen Herausgeberumfeld angekündigt. (Angermuller, Nonhoff, Herschinger, et al, 2014, Seite zum Titel beim Verlag) Bis dahin eignet sich erstaunlich gut funktionierende, Suhrkamp-typisch handliche Druckausgabe in jedem Fall als prima Begleiter, um in den letzten Tage des Sommers 2014 in einem Stadtpark zwischen der Serendipidität der Diskursforschung und der der restlichen Lebenswelt wohlbalanciert hin- und herzuschwenken.

Das das Forschungsteam zum DiskursNetz sich ebenfalls auf eine Art fröhliche Wissenschaft (na ja, vielleicht sogar eher alberne Wissenschaft) versteht, zeigt ein in das Verweisgefüge des DiskursNetzes plötzlich hereinbereichender diskurspomologischer Eintrag, der leider etwas zu durchsichtig ist, um nicht vielleicht doch ganz unverhofft eine fachwissenschaftliche Karriere anzutreten: der der Diskursbanane.

DiskursNetz: Diskursbanane

Zwei Apfelsinen im Hirn und der Diskurs ganz Banane? Die Adressierung der Konzept auf James Bond [JBo] ist leider sofort der Pointe Assassine (assassin pun) dieser neckischen Idee, wo es doch eine franco-gallische Diskursforscherin namens Rosita la Banda  [RLB] (eigenartigerweise, so einen Namen kann man sich kaum ausdenken) wenigstens früher oder später zu einer Zitation in der Wikipedia hätte bringen können.

(Berlin, 30.08.2014)

 

. Angermuller, Johannes; Nonhoff, Martin; Herschinger, Eva et. Al [Hrsg.] (2014) Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bd. Bielefeld: transcript, Eintrag bei der DNB

. Macgilchrist, Felicitas (2014) Informationseinheit. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 196-197

. Reisigl, Martin (2014): Zitat. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 446-447

. Reisigl, Martin (2014): Zweck. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 447-448

. Traue, Boris: Wissen. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 440-441

EIS, newlis und LIBREAS. Ein Blick in die INETBIB und darüber hinaus.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte by Ben on 29. Juli 2014

von Ben Kaden (@bkaden)

Am vergangenen Donnerstag (24.07.2014) bestätigte Rainer Kuhlen in der Mailing-Liste INETBIB, dass das geplante Projekt einer neuen europäischen Open-Access-Zeitschrift bzw. Kommunikationsplattform für die Informationswissenschaft (European Journal of Information Science bzw. EIS-ICP bzw. Open-Access-Zeitschrift/Publikations-, Informations- und Kommunikationsplattform EIS – European Information Science (OA-PIKP-IW)) keine Förderung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu erwarten hat. Damit ist das Projekt vorerst gescheitert. Rainer Kuhlen verfügt als emeritierter Professor zwar über Expertise und Kontakt jedoch eben nicht über Infrastruktur und Mittel. Und ohne diese lässt sich ein Unterfangen dieses Zuschnitts nicht bewältigen. (vgl. Kuhlen 2014, Antragstext: Kuhlen, Womser-Hacker,2014)

Die Reaktionen in der Mailing-Liste auf die Mail Rainer Kuhlens verdeutlichen, wie die Frage eine Reorganisation der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fachkommunikation (de facto fallen beide Facetten in Deutschland sehr häufig sogar noch mit der bibliothekarischen und informationspraktischen Fachkommunikation zusammen, wenngleich es sich beim Kuhlen’schen Vorhaben um ein dezidiert informationswissenschaftliches handelte) unter dem Ansprach des Open Access verhandelt wird. Da dies unmittelbar auch für LIBREAS interessant ist, sollen die bisher verfügbaren Positionen hier kurz dokumentiert, sortiert und kommentiert werden.

Rainer Kuhlen selbst mutmaßte in seiner Erstmeldung nur indirekt über die Gründe, die die DFG möglicherweise zur Ablehnung gebracht haben („nicht gut genug“, „zu ambitiös“, „ob die Informationswissenschaft in der DFG keine Lobby hat“, vgl. Kuhlen, 2014).  Thomas Krichel, der sich ein paar Vortragsfolien von Rainer Kuhlen angesehen hat, meinte in einer ersten Reaktion, dass die DFG-Entscheidung, wenn der Antrag den Folien ähnelte, wenig überraschend sei, spezifizierte die Aussage aber nicht weiter. (Krichel, 2014a) Nun ist das Spiel des Mutmaßens zwar sehr unterhaltsam, am Ende aber auch müßig, zumal die leider nicht zugänglichen Gutachten die Wahrheit bzw. eine unabweisbare offizielle Begründung für den abschlägigen Bescheid enthalten, die wir voraussichtlich nie erfahren werden, so dass auch niemand die Freude empfinden wird, beim Orakeln richtig gelegen zu haben.

Die drei Überlegungen Kuhlens klingen allerdings wahrscheinlicher als die Vermutung, die Eric Steinhauer ins Spiel bringt. Diese weist dafür über den Antrag hinaus in die oft betrübliche Realität der Redaktionspostfächer:

„Wäre es eine zu abwegige Vermutung, dass ein Grund dafür vielleicht auch in dem Umstand zu suchen sein könnte, dass es für ein neues Fachorgan einfach nicht genügend Autoren gibt?“  (Steinhauer, 2014a)

1. Publikationskultur (Eric Steinhauer)

Der von ihm angesprochene Punkt, nämlich wie man überhaupt im deutschen LIS-Feld genügend Beiträge für eine ganze Bandbreite von Publikationsformen (also auch die Neugründungen Neugründungen Informationspraxis  und o-bib sowie für Nanopublikationen, wie Eric Steinhauer ergänzt, das Sortiment der Social-Media-Welt), verfehlt zwar etwas den geplanten Zuschnitt von EIS, da dieses Journal als wissenschaftliche Fachplattform nicht unbedingt auf bibliothekspraktische Texte blicken sollte. Er greift mit der Frage „Wer schreibt?“ aber dennoch eine grundlegende Herausforderung auf, die sich jeder Fachzeitschrift für Bibliothekswesen bzw. Bibliotheks- und Informationswissenschaft stellt.

Für Eric Steinhauer beginnt das Problem freilich noch früher bzw. auf der anderen Seite des Publikationskreislaufs. Was publiziert wird, so sein Eindruck, wird oft so gut wie gar nicht rezipiert:

„eine Lektüre, geschweige denn eine produktive Rezeption publizierter Arbeiten [findet] kaum statt[…]“  (Steinhauer, 2014a)

Entsprechend nachvollziehbar ist sein Appell, den Blick weniger auf die Publikationsorgane als auf die Publikationskultur selbst zu richten. Daran, wie sich Informationspraxis und o-bib entwickeln, wird sich auch empirisch zeigen, ob in der deutschen Fachgemeinschaft genügend Platz für eine solche Vielzahl von Publikationsorganen ist. (Steinhauer 2014b)

Ursächlich für die mangelnde Rezeption bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Publikation sind für ihn „selbstreferenzielles Projektdenken und zuviel quasi-politisches Gehabe“ und ein zu gering ausgeprägtes Bewusstsein für Interdisziplinarität beispielsweise mit den Kulturwissenschaften, die bibliothekswissenschaftlich relevante Sachverhalte äußerst rege aufgreifen.

2. Kein Peer Review,  dafür ein Referateblatt (Walther Umstätter)

Walther Umstätter sieht angesichts der Zahlen der Absolventen in den Ausbildungs- und Studiengängen durchaus noch Raum für eine weitere Publikationsplattform. (Umstätter, 2014a)

Er kritisiert jedoch, dass im Vorfeld keine bibliometrische Profilierung der geplanten Publikation stattfand. Er bezieht sich dabei auf eigene Vorarbeiten (Mayr, Umstätter, 2008), die zu dem Ergebnis führten:

„Gerade mit der immer stärkeren Abnahme an deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften wächst die  Bedeutung derer, die noch existieren, insbesondere für den Nachwuchs.“ (Mayr, Umstätter, 2008)

Größere Probleme bereitet ihm jedoch der Ansatz des Open Access selbst. Die von Eric Steinhauer erwähnten Publikationen und besonders Social-Media-Kanäle erscheinen ihm stärker als Angebote für „bestimmte Interessengruppen und „Indies““, wogegen die Diskussion der so genannten newlis-Debatte eine übergreifende, „zentrale“ Lösung anstrebte. Im Kern fehlen Zentralorgane, wie es naturwissenschaftliche Disziplinen mit den Übertiteln Nature oder Science besitzen, in den Geisteswissenschaften, zu denen Walther Umstätter offenbar auch die Bibliotheks- und Informationswissenschaft zählt. Der Grund dafür ist aus seiner Sicht, dass es hier keine auf harte Fakten bezogene Streitkultur gibt. Man bleibt beim Feststellen von Meinungen und deshalb, so Walther Umstätter, ist die Publikationskultur in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft nur schwach ausgeprägt:

„Es geht in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu wenig um die Fakten und Konsequenzen der Informationstheorie als Hard Science, und zu oft nur um das Geplauder um moderne Schlagworte.“ (Umstätter, 2014a)

Weiterhin erweitert Walther Umstätter im Anschluss an Eric Steinhauer die Debatte um den Aufruf, dass die in internationalen Zeitschriften erschienenen Publikationen in der deutschen Bibliotheks- und Informationswissenschaft intensiver als bisher – idealerweise mit den „besten Wissenschaftlern als Reviewern“ – „fundiert und kritisch“ einem Art Post-Peer-Review unterzogen werden. Sehr deutlich spricht er sich also für eine Art Referatezeitschrift der deutschen Bibliotheks- und Informationswissenschaft aus, dass über aktuelle Fachentwicklungen informiert und zugleich einen fehlenden Zugang zu diesen Titeln kompensiert.(Umstätter, 2014c)

Ein Post-Publication-Peer-Review ist für Walther Umstätter auch generell für neugegründete Zeitschriften das Mittel zur Qualitätssicherung. (Umstätter 2014b) Er argumentiert, dass beim Pre-Publication-Peer-Review  in der Wissenschaft in immerhin 4,5% der Fälle (vgl. Cawley, 2011) zum Review eingereichte Erkenntnisse durch die Reviewer selbst nachverwertet (bzw. gestohlen) wurden. Darüber hinaus könnte der Vorteil, frühzeitig und teilweise auch inspirierend den Forschungsstand der Fachkollegen zur Kenntnis nehmen zu können, auch generell eine zentrale Motivationsgröße für die Mitarbeit am zumeist nicht vergüteten Reviewing für Fachzeitschriften darstellen. Er wird in diesem Punkt durch Thomas Krichel unterstützt, der auf das Fachrepositorium E-LIS verweist. (Krichel, 2014b)

Schließlich betont Walther Umstätter in einer dritten Positionierung, dass er ursprünglich LIBREAS in der Rolle des aus dem newlis-Umfeld heraus forcierten neuen Open-Access-Organs sah. (Umstätter, 2014c, Umstätter, 2012) Er interpretiert dabei einen Text von Ben Kaden als diesbezüglich abschlägig. (Kaden, 2012, mehr dazu unten) LIBREAS hätte aus seiner Sicht als eine Art Referateorgan mit einer entsprechenden Unterstützung und einem Anschluss an die Idee von EIS durchaus das passende Produkt für den festgestellten Bedarf werden können:

„Natürlich hätten die Mitstreiter bei LIBREAS noch weit mehr ihre Arbeit aufteilen müssen, hätten Rechte und Pflichten abgeben müssen, um die anfallende Arbeit zu schaffen, hätten einiges an Arbeit auf die Softwareebene delegieren müssen, und gerade das müsste man der DFG klar machen, wo die eigentliche Projektidee liegt, die bei Kuhlens Antrag nicht deutlich genug wurde, weil er anderenfalls hätte angenommen werden müssen.“ (Umstätter, 2014c)

3. Kein Förderbedarf (Klaus Graf)

Für Klaus Graf besteht schlicht kein Bedarf für eine DFG-Förderung. Eine bezahlte Redaktion wäre ein netter Bonus, die Open-Access-Praxis zeigt aber, dass es einerseits infrastrukturelle Unterstützung durch Hochschulen (Open-Journal-Systems u.a. der Universitätsbibliothek Heidelberg gibt) und andererseits der hauptsächlich ehrenamtliche Ansatz „der beiden angekündigten deutschsprachigen OA-Journals […] moderner und zukunftsweisender“ ist. (Graf, 2014a)

Zur Frage des Reviewing positioniert sich Klaus Graf mit der Einstellung „publish first, filter later“. (Graf, 2014b) Ein „gründliches traditionelles Review” stellt dabei eine Art Erstfilter dar. Die weitere Qualitätsbewertung eines Beitrags erfolgt idealerweise als Post-Publication-Review und damit dürfte zu diesem Aspekt ein Konsens bestehen.

4. Das Problem des Nebenbei (Annette Kustos)

Anette Kustos rekurriert auf das von Eric Steinhauer eingebrachte Problem des „Wer schreibt?“  bzw. „Wer schreibt wissenschaftlich?“ und ergänzt die Debatte um die Position, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare mit einer „ständige[n] „Breitenperformance““ oftmals kaum mehr an Text zu produzieren in der Lage sind, als solchen in der wenig geliebten Form der Praxisberichte. Für eine tiefe Quellenrecherche und wissenschaftliches Ausarbeiten der Beiträge bleibt im Arbeitsalltag kaum Gelegenheit.

Sie betont zudem den Aspekt, dass die Arbeit des Publizierens in den vorliegenden Open-Access-Strukturen ohne direkte Entlohnung und quasi nebenbei, finanziert durch anderweitige Erwerbsarbeit erfolgt. Open Access, so betont sie, kann eigentlich nur funktionieren, wenn die grundsätzlichen Betriebsressourcen der Publikationsplattformen finanziert sind. Deshalb ist sie auch Mitglied im LIBREAS-Verein und unterstützt diesen mit einem Jahresbeitrag. Das Fehlen eines solch abgesicherten „institutionelle[n] Unterbau[s] mit Grundmitteln für den Fachkontext Informationswissenschaft“ könnte, so die Vermutung, im Fall von EIS der Kern des Problems sein. Ihr Best-Practice-Beispiel aus dem bibliothekarischen Bereich ist die Zeitschrift GMS Medizin-Bibliothek-Information.

5. Kommentar (Ben Kaden)

Ob die INETBIB-Diskussion um die Nichtbewilligung einer DFG-Förderung für EIS-ICP die generelle Debatte um die Publikationsstrukturen in Bibliothekswesen, Bibliotheks- und Informationswissenschaft bzw. Informationswissenschaft, die unter der Überschrift newlis eine erfreuliche intensive Kommunikation und schließlich, nicht minder erfreulich, gleich zwei konkrete Publikationsprojekte nach sich zieht, wieder intensiver aufflammt, ist nach vier Tagen noch nicht absehbar. Dass eine Diskussion stattfindet spricht aber deutlich für eine Vitalität der Fachgemeinschaft, auch wenn die TeilnehmerInnen weitgehend bekannt und von vergleichsweise geringer Zahl sind. Aus den bisherigen Stimmen lassen sich folgende Kernpaspekte extrahieren:

  • Es gibt zu wenige (gute) Autoren bzw. Beiträge.
  • Es wird zu wenig bzw. zu wenig aufmerksam und kritisch gelesen.
  • Open-Access-Publikationen sind relativ kostengünstig einzurichten.
  • Open-Access-Publizieren erfolgt fast notwendig ehrenamtlich.
  • Das Peer-Review-Verfahren sollte durch ein Post-Publication-Review abgelöst werden.
  • Eine Referateblatt, dass Forschungsergebnisse besonders aus internationalen Publikationen an das Fachpublikum vermittelt, wäre wünschenswert.

Sehr zentral aus meiner Sicht jedoch noch ein anderer Aspekt, der noch nicht expliziert wurde, aber ursächlich für viele Reibungspunkte sein dürfte: die mangelnde Abgrenzung. Genaugenommen ist es nämlich nicht unbedingt zutreffend, wenn man das geplante EIS-ICP mit LIBREAS, Informationspraxis und o-bib oder anderen bibliothekarischen Fachzeitschriften in einen unmittelbaren Zusammenhang setzt. Sowohl der geographische Zuschnitt (Europäische Union) wie auch die fachliche Konzentration (Informationswissenschaft) zielten nachvollziehbar doch vielmehr auf eine konkrete Wissenschaftsgemeinschaft und weniger auf eine Fachgemeinschaft, die bis in die Bibliothekspraxis reicht, was sich besonders bei der Art der einreichbaren Beiträge und deren Reviewing gezeigt hätte. Die Zielgruppe unterscheidet sich demnach grundlegend von der der genannten anderen Open-Access-Zeitschriften.

Herausforderung und Konkurrenz für EIS-ICP wären daher vielmehr die in der Fachdisziplin fest etablierten Titel, also Zeitschriften wie JASIST, das Journal of Documentation und sicher auch die IWP sowie eine gut sortierte Handvoll internationale Open-Access-Publikationen wie First Monday oder InformationR, in denen auch deutsche informationswissenschaftliche Autoren relative stabile und vor allem etablierte Strukturen für ihren Fachdiskurs vorfinden, in denen sie ihre Forschung kommunizieren können. Allerdings heißt es im Antrag bei der Bedarfsanalyse: „Faktisch publizieren deutsche WissenschaftlerInnen, bis auf Ausnahmen, kaum in den international führenden Journalen des Fachgebiets […]“ (Kuhlen, Womser-Hacker, 2014, S. 32) Hier eröffnet sich noch ein ganz anderes Feld für eine Debatte zur gegenwärtigen Publikationskultur der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, dessen Bearbeitung erst einmal vertagt werden muss.

Dass sich eine Vielzahl von VertreterInnen der Fachcommunity laut Liste im Antrag (Kuhlen, Womser-Hacker, 2014) zur Mitarbeit im Editorial Board bereiterklärten mag einerseits den Netzwerkkompetenzen der Antragsteller geschuldet sein. Andererseits zeigt es dennoch mindestens, dass die informationswissenschaftliche Community einer weiteren Publikationsplattform nicht abgeneigt gegenüber steht.

Interessant wäre es natürlich, die Gutachten mit der Ablehnungsbegründung einzusehen. Die Vermutung, dass EIS tatsächlich sehr, vielleicht zu komplex und zugleich im Gegensatz zu anderen, niedrigschwelligeren Open-Access- und Nanopublikationsformen ziemlich traditionell top-down-strukturiert angelegt war, stellte sich bereits bei den Präsentationsvorträgen von Rainer Kuhlen u.a. im BBK des Berliner Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft ein und bestätigt sich auch in gewisser Weise bei der Lektüre des Antrags. Jedoch sind auch die Erwartungen und formalen Ansprüche der DFG zu berücksichtigen und zweifellos steht einem informationswissenschaftlichen Projekt ein hoher informationswissenschaftlicher Innovationsanspruch in einem solchen Antrag sehr gut zu Gesicht.

Es bleibt dabei: auch mit Informationspraxis, o-bib, LIBREAS, 027.7 und anderen Publikationen fehlt eine deutschsprachige Open-Access-Zeitschrift für die Disziplin der Informationswissenschaft. Keine der genannten Open-Access-Publikationen erfüllt die Standards, die eine Wissenschaftsgemeinschaft berechtigt an ein für sie tragfähiges Leit- und Kommunikationsmedium stellt.

Aus Sicht von LIBREAS kann ich mich der Position von Annette Kustos sehr gut anschließen: Es ist mit den vorhandenen Mitteln und auf der Basis der Beiträge die uns erreichen unmöglich, ein hartes wissenschaftliches Journal herauszugeben, wie es Walther Umstätter und Rainer Kuhlen mutmaßlich vorschwebt. Das bedeutet keineswegs, dass nicht auch auf diesem Weg wissenschaftliche und andere relevante Erkenntnisse in diesen Medien ihren Weg zum Leser finden. Bei konsequenter Anwendung wissenschaftlicher Standards wäre bei LIBREAS jedoch die Ablehnungsrate selbst des Editorial Reviews so hoch, dass wir bestenfalls alle zwei Jahre eine Ausgabe publizieren könnten. Wir haben uns dagegen entschieden und folgen lieber Klaus Grafs Devise „publish first, filter later“.

Ich habe LIBREAS unlängst in einer Diskussion als Themenseismograph bezeichnet und ich denke immer mehr, dass es das ist, was wir aktuell mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln leisten können: wir zeichnen bestimmte Aspekte und Erörterungen dazu auf, in der Hoffnung, dass sie rezipiert werden und etwas darauf folgt.

Die Einnahmen des LIBREAS-Vereins decken derzeit die technischen Grundkosten und ermöglichen uns darüber hinaus hin und wieder Veranstaltungen wie den SWiF zu unterstützen. All die Ambitionen, die zweifellos darüber hinaus bestehen, müssen derzeit zurückgestellt werden.

Wenn Walther Umstätter in seiner Mail vom 27.07. explizit auf LIBREAS eingeht, dann ist auch diese Prämissen zu berücksichtigen. Es ist keinesfalls so, dass LIBREAS sowohl newlis wie auch EIS ablehnend gegenüberstand. Ganz im Gegenteil. Mit und zu newlis gelang es in einen Dialog zu treten (u.a. auf dem frei<tag> 2012). Dass unsere Erfahrungen und Ideen für EIS offenbar wenig Relevanz besaßen, ist am Ende wahrscheinlich doch dem sehr anderen Zuschnitt geschuldet. Soweit ich beurteilen kann, stand LIBREAS als Anschlusspunkt für den Projektantrag von Rainer Kuhlen nie zur Debatte. Zum Dialog auch zu EIS waren wir dennoch jederzeit bereit und haben dies auch signalisiert. Die bereits oben zitierte Aussage Wather Umstätters

„Natürlich hätten die Mitstreiter bei LIBREAS noch weit mehr ihre Arbeit aufteilen müssen, hätten Rechte und Pflichten abgeben müssen, um die anfallende Arbeit zu schaffen, hätten einiges an Arbeit auf die Softwareebene delegieren müssen, und gerade das müsste man der DFG klar machen, wo die eigentliche Projektidee liegt, die bei Kuhlens Antrag nicht deutlich genug wurde, weil er anderenfalls hätte angenommen werden müssen.“ (Umstätter, 2014c)

wirkt daher möglicherweise etwas verzerrend. Was wir nicht wollten und was ich in meiner Antwort auf Walther Umstätter schrieb (vgl. Kaden, 2012), war zu unserer laufenden LIBREAS-Arbeit mit unseren schmalen Ressourcen große und mittlere Pläne Dritter zu bedienen.

Was die Software-Lösung angeht, sind wir mit der Github-Lösung und der Variante für Langzeitarchivierung über den e-doc-Server der Humboldt-Universität eigentlich ziemlich zufrieden. Für die anderen Spielereien benutzen wir, was an Social-Media-Komponenten üblich ist und vermissen relativ wenig. Wir verstehen uns also auch an dieser Stelle durchaus als anschlussfähig.

Auch als Organisationsform LIBREAS ist mit dem LIBREAS-Verein so offen, wie es eben geht. Wir freuen uns selbstverständlich weiterhin auch, über weitere – verlässliche und belastbare – Mitglieder der Redaktion, vor allem in den Bereichen Autorenbetreuung und Review-Management. Wir freuen uns auch über AutorInnen.

Die Idee des Referateblatts (oder Abstract-Journals), wie sie Walther Umstätter in seiner Nachricht in der INETBIB als Desiderat beschreibt, nahmen wir übrigens im LIBREAS-Weblog auf und führen sie im LIBREAS-Tumblr weiter:

„Die Seite LIBREAS.tumblr.com dient also dem Zweck, selektiv und in betont knapper Form Erkenntnisse aus dem aktuellen Publikationsgeschehen in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu sammeln, zu bündeln und sorgsam auszutaggen.“ (Kaden, 2013)

Dass wir darin nicht einmal in Richtung eines Anspruchs auf Vollständigkeit gehen und nicht ontologiebasiert erschließen, was vielleicht ein toller Anspruch und zugleich die Erwartung der Fachwelt wäre, liegt nun leider auch daran, dass unser Tag mit allem Möglichen gefüllt ist – Annette Kustos weiß, was wir meinen – und wir uns daher erlauben, nur dass zu lesen und zu referieren, was uns wirklich interessiert. Doch auch dieses Format steht prinzipiell jedem offen und über ben@libreas.eu sind Ideen und fast lieber noch konkrete Referate sehr willkommen.

(Berlin, 29.07.2014)

 

 

Quellen

Valentine Cawley (2011): An Analysis of the Ethics of Peer Review and Other Traditional Academic Publishing Practices. In: International Journal of Social Science and Humanity, Vol. 1, No. 3, September 2011. S. 205-213. DOI: 10.7763/IJSSH.2011.V1.36

Klaus Graf (2014a) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53582.html

Klaus Graf (2014b) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 27.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53588.html

Ben Kaden (2013) Aus der Redaktion: LIBREAS microbloggt nun auch bei Tumblr. Aber warum? In: LIBREAS.Weblog. 24.01.2013 https://libreas.wordpress.com/2013/01/24/aus-der-redaktion-libreas-microbloggt-nun-auch-bei-tumblr-aber-warum/

Ben Kaden (2012) LIBREAS als Schweigbügelhalter? Eine Position zur newLIS-Debatte. In: LIBREAS. Weblog. 04.07.2014. https://libreas.wordpress.com/2012/07/04/libreas-als-schweigbugelhalter-eine-position-zur-newlis-debatte/

Thomas Krichel (2014a): Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014 http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53570.html

Thomas Krichel (2014b): Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53584.html

Rainer Kuhlen (2014): Kein EIS. In: INETBIB, 24.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53568.html

Rainer Kuhlen, Christa Womser-Hacker (2014) Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft aus dem Programm Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme, hier zu 12.11 Elektronische Publikationen Einrichtung einer Open-Access-Zeitschrift/Publikations-, Informations- und Kommunikationsplattform. Berlin, Hildesheim: 07.01.2014. Volltext: http://www.kuhlen.name/MATERIALIEN/Projekte/RK-antrag-EIS-unter-CC-BY3-0-27072014-PDF

Annette Kustos (2014) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 28.07.2014 http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53595.html

Philipp Mayr, Walther Umstätter (2008) Eine bibliometrische Zeitschriftenanalyse zu JoI, Scientometrics und NfD bzw. IWP. In: Information – Wissenschaft und Praxis. Jg. 59 Heft 6/7 (2008) S. 353-360. Volltext: http://www.ib.hu-berlin.de/~mayr/arbeiten/mayr-umsta_IWP08.pdf

Eric Steinhauer (2014a): Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53576.html

Eric Steinhauer (2014b)): Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53581.html

Walther Umstätter (2014a) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53580.html

Walther Umstätter (2014b) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 25.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53583.html

Walther Umstätter (2014c) Re: [InetBib] Kein EIS. In: INETBIB, 27.07.2014, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg53587.html

Walther Umstätter (2012) Re: [InetBib] BIBLIOTHEKSDIENST erscheint bei De Gruyter: Stellungnahme der BID. In: INETBIB, 02.07.2012, http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg47944.html

 

 

 

Kunst, Bibliothek und Medienwandel. Eine Sichtung aktueller Publikationen.

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Ben on 19. Mai 2013

von Ben Kaden

I

Heike Gfrereis, Ellen Strittmatter (Hrsg.) Zettelkästen : Maschinen der Phantasie. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, 2013.

Es ist nicht unbedingt neu, dass sich Künstler_innen aus diversen Perspektiven dem Phänomen Bibliothek nähern. Aber aus der Sicht derer, für die die Bibliothek nicht nur Ort oder Gegenstand müßiger Lohnarbeit ist, sondern die aus welchem aberwitzigen Grund auch immer eine Kammer ihres Herzens für dieses Kulturobjekt freigeräumt haben, ist dieser zumeist dekonstruierende Blick in der Regel hochinteressant.

Diese Menschen fahren ihrer Leidenschaft gemäß extra nach Marbach, um sich die exzellente Zettelkastenschau anzusehen, die vielleicht weniger das Label Kunst offen trägt, aber genau die Funktion erfüllt, die gute Kunst eben auch erreicht: durch Zusammenführen, Verschieben und Darstellen (oder Weglassen) von Material oder (wenn es Literatur ist) Sprache, Zwischenräume zu öffnen, die sonst verschlossen blieben, durch die sinnliche Aufladung einen Eindruck, ein Gefühl hervorzurufen, hinter das man nie wieder zurückgelangt und das nach und nach zu einem differenzierterem und reicherem Weltbild zu gelangen hilft.

Nun sind die in der Ausstellung Zettelkästen. Maschinen der Fantasie gezeigten, geöffneten und  eben tatsächlich dekonstruktiv eröffneten Objekte, die Kästen Hans Blumenbergs, Friedrich Kittlers, Peter Rühmkorfs, Arno Schmidts, Walter Benjamins, selbstverständlich Niklas Luhmanns sowie einiger weiterer Vertreter der deutschen Geisteselite die Ausstellung, etwas entfernt vom klassischen bibliothekarischen Zettelkatalog. Das verbindende Element ist einzig die Formähnlichkeit.

Jedoch weisen die Exponate einen viel zeitgenössischeren Bezug zur Bibliothek auf. Denn sie nehmen in aller Konsequenz und Verästelung die Idee der semantischen Netze, auf die Digitale Bibliotheken hinarbeiten, und den Gedanken des Hypertextes, aus dem Digitale Bibliotheken geformt werden, mit mechanischen Mittel voraus. W.G. Sebalds Gesichter-Index ist eine Prä-Tumblr-Sammlung von Fundfotos. Walter Kempowskis „Weltkrieg II“-Kartei ist ein nahezu idealtypischer Material-Mash-Up.  Von Hermann Hesses Postkarten-Kartei ist es nicht weit zu einer FOAF-Struktur. Siegfried Kracauers Sammlung zu Jaques Offenbach und dem Paris seiner Zeit nimmt schließlich fast ein wenig das Geospacing vorweg.

Was aber deutlich wird, ist, wie diese schöpferischen Zettelkästen immer gerichtet zumindest begonnen werden – je nach Disziplinen erweitern sie sich bisweilen zum reinen Selbstzweck – immer das Ziel verfolgen, eine enorme Informationsmenge zu strukturieren und beherrschbar zu machen. Die Flexibilität des Mediums Zettelkasten ist auch heute noch beeindruckend oder vielleicht umso mehr, da man sieht, wie so vieles, was heute als Innovation offeriert wird, schon an anderer Stelle mit unglaublicher Konsequenz durchgespielt wurde. Zugleich wird sichtbar, wie Komplexität und Eigensinn des Mediums die Ordnungsversuche immer wieder durchbrechen, wie die Zettelkästen dazu neigen, die, die sie pflegten, zu binden und zu beherrschen. Mehr noch als die Bandbreite der Möglichkeiten des Einsatzes von Zettelleien ist diese Macht des Mediums und seiner Struktur über die Inhalte und die sie nutzenden Menschen das Eindrucksvolle, das man aus der Marbacher Schau als Erinnerung mitnimmt.

Wer sich mit semantischen Netzen über einen schematischen Durchprogrammierwunsch beschäftigt, erhält aus diesem Blickwinkel außerdem einen ganzen Stapel Karteikarten als Inspiration zum Überdenken der eigenen Selbstverständlichkeiten. Aus dieser Perspektive gelingt der Ausstellung das, was man von Kunst idealerweise erwarten kann.

Wer es verpasst, verpasst zwar etwas, aber es ist ja nichts verloren. Denn Friedrich Kittler, der sich von den angesprochenen Zettelkästlern vermutlich am klarsten und bewusstesten mit der Medialität und der Transformation von Medialität befasste, antwortete in einem Interview in seinem Todesjahr 2011 mit der WELT am Sonntag auf die Frage „Erwartet uns eine Edition der gesammelten Festplatten?“

„Ich habe versucht, zumindest die Dateien aufzuheben. Aber die meisten alten CDs sind jetzt kaputt. Meine Zettelkästen dagegen stehen noch hier im Nebenzimmer. Mit Schreibmaschine verfasst, ganz ordentlich geführt.“ (zitiert nach dem besprochenen Band ,S.50)

Wenn also die Dateien alle zu unbezahlbaren Problemfällen der digitalen Langzeitarchivierung geworden sind, wird Friedrich Kittlers Mondfarbensammlung noch problemlos in einem kühlen Archivkeller konsultierbar sein. Der Katalog zur Ausstellung ist dagegen leider, und das ist wirklich der einzige Knackpunkt, so unglücklich klebegebunden, dass er sich nach einer intensiven Lektüre leider buchstäblich selbst verzettelt. Hier hätte man buchgestalterisch wenigsten den Bogen zu einem Karteikartennormformat schlagen können, damit es dem Leser möglich wird, die Seiten dem Prinzip der Maschinen der Fantasie folgend in einem eigenen Kasten neu zu ordnen.

Besprochene Bücher / Mai 2013

Von links nach rechts: Die erste Ausgabe des Bulletins of the Serving Library (sh. IV), der Marbacher Ausstellungskatalog (I) und Sara MacKillops Ex-library Book (III). Die New York Times (II) bekommt man selbst in Berlin gedruckt nur noch als Print-on-Demand.

II

Susan Hodara: An Old Technology, Transformed. ‘Artists in the Archives,’ at Greenburgh Public Library in Elmsford. In: New York Times / nytimes.com. 18.05.2013, Volltext

Wäre der Aufwand nicht so hoch, böte sich als Ergänzung die Reise in die im Vergleich zu Marbach am Neckar noch unscheinbarere Stadt Elmsford, New York an. Denn in der dortigen öffentlichen Bibliothek zeigt man bis zum September eine Ausstellung Artists in the Archives: A Collection of Card Catalogs, die sich weniger aus Gründen des persönlichen Kreativmanagements und mehr zum Zweck der Kreativität selbst mit Katalogkästen und –karten auseinandersetzt. Da Berlin aber doch selbst für das Pfingstwochenende zu weit vom Staate New York entfernt liegt, kann an dieser Stelle nur auf den gestern in der New York Times erschienenen Artikel verwiesen werden. Als Symptom für die Praxis der künstlerischen Annäherung an Medialität und Eigenschaften der Bibliothek eignet er sich allemal, auch wenn er nur wenig zeigt von Carla Rae Johnsons Alternet-Installation, der Arbeit einer Künstlerin, die bereits vor zwei Jahrzehnten recht kurios die Beziehung von Bibliothek und Beton auslotete.

Immerhin zwei Trends für die Kunst mit Bibliotheksbezug werden auch so deutlich: Re-Use, also die in diesem Fall rekontextualisierende Nachnutzung von an sich obsoleten Materialien und zweitens, wie im Fall des von der Fotografin JoAnne Wilcox angestoßenen Call to Everyoneeine partizipations-orientierte Kunstpraxis, wie sie auch bei der im vergangenen Jahr abgehaltenen Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst im Zentrum stand und dort so halb erfolgreich war. (Ich jedenfalls habe mit großer Freude zwei Bögen von Khaled Jarrars Briefmarken-Arbeit in die Welt verteilt. vgl. auch hier)

Von der Web-Anmutung her wirken die Arbeiten ästhetisch freilich sehr anders als die Auguststraßen-Galerie-Kultur. Andererseits ist es auch gar nicht schlecht, einmal nicht in dieser überpolierten Präsentationsästhetik zu schwimmen und die heute etwas eigenartig wirkenden Navigationsbuttons auf Barbara Pages Book Marks– und Buchkunstprojektpräsentation sollten nicht unbedingt von der Arbeit selbst ablenken.

III

Sara MacKillop: Ex-Library Book. Kopenhagen: Pork Salad Press, 2012, Informationsseite beim Verlag

Mehr von Berlin geprägt ist die Arbeit der britischen Künstlerin Sara MacKillop, allerdings eher kreuzbergisch und zwar deshalb weil ihr Ex-library Book in einer Anzeigenkunstaktion an der Normaluhr unweit der Amerika-Gedenkbibliothek (etwa dort, wo die Glitschiner Straße zum Halleschen Ufer wird) in den öffentlichen Raum leuchten durfte. Das Projekt Ex-library Book  beschäftigt sich mit dem Hauptproblem materialorientierter Bibliotheken, nämlich der Aussonderung, die, so der Beschreibungstext zum Clock-Tower-Projekt eine ganze kleine Industrie am Leben hält:

„Manilla book tickets (green or buff), cross ruled catalogue cards (punched), accession sheets (pack of 500), Sinclair display units (1200mm), and self­inking mini date stamps… an industry exists to support analogue archival processes with products that are new but lack newness, already tinged with obsolescence.”

Vielleicht wäre die Idee der Meta-Materialien um das ausgesonderte Buch herum noch origineller fokussierbar. Aber Sara MacKillop entschied sich anders und versammelt in ihrer Publikation zum Thema eine sehr gemischte Abbildung von Spuren, Illustrationen, Flecken und Stempeln, die zweifellos irgendwie mit ausgesonderten Titeln in Verbindung stehen. (LIBREAS selbst hatte einmal eine ähnliche Reihe, allerdings e-only: Ben Kaden: Aussonderungsvermerke. 16 fotografische Variationen über ein Thema. In: LIBREAS 10/11, 2007)  Auch der Zettelkatalogkasten findet in dieser Pin-Wand-artigen Kollektion seine Würdigung.

Die Publikation selbst ist leicht bibliothekssubversiv angehaucht. Jedenfalls deutet die Projekterläuterung auf eine solche Überdrehung:

„An affirmation of a negation: an advertisement for something which is described by what it is no longer; a deadpan statement not of intent but of conflicting ideologies. Exactly what it says it is and not some awful pun; the Ex­library Book is difficult to place.”

Diese an sich sehr originelle Volte wirkt leider in der Publikation nicht so ganz markerschütternd umgesetzt – schlicht weil sich die kleine Arbeit kaum in Bibliotheksbestände verirren wird. Die Kongelige Bibliotek in Kopenhagen immerhin fand für den Titel jedenfalls anstandslos und unkompliziert die passende Sachgruppe: konceptkunst. So läuft die Unterwanderung ins Leere und das Büchlein doch passend in die Ordnung des Lesesaals. Auch die auf die Rückseite des Buches aufgedruckte These wäre differenziert diskutierbar:

„An Ex-library book is the least desirable book in book collecting terms. The term is used for books that once belonged to a library. Ex-library books are generally unattractive, as they have usually been stamped, taped, glued or had a card pocket glued to them. The books have often been damaged by the patrons of the library themselves.”

Das mag pauschal zutreffen. Wo allerdings Läden wie The Monkey’s Paw (mehr dazu auch hier) nach dem Absonderlichen suchen, sind Bibliotheksbestände eine fantastische Quelle. Gerade traditionsreiche Universitätsbibliotheken sondern erfahrungsgemäß mitunter exakt die Titel aus, die in dieses Beuteschema fallen, die so abseitig sind, dass sie zu ihrer Erscheinungszeit kaum je einen privaten Käufer fanden (oder die kaum bewahrt wurden) und die auch in der Bibliothek wenig genutzt und häufig sehr mediengerecht gelagert wurden. Der klassische Buchsammler auf der Jagd nach tadellosen Erstausgaben ist dafür nicht die Zielgruppe. Aber während diese Gruppe ihren Zenit wie fast alle Sammelkulturen zu überschritten haben scheint, wächst die andere, also die derer, die Ungewöhnliche eventuell sogar aus eigenartigen und längst geschlossenen Bibliotheken suchen. Auf die freilich groß genug wird, dass es sich für den Antiquariatsbuchhandel lohnt, sie gezielt ansprechen, vermag auch ich nicht aus meiner Alltagsempirie zu beantworten.

IV

Bruce Sterling: The Life and Death of Media. In: Bulletins of the Serving Library. #1, 2011. S. 2-16
Rob Giampietro, David Reinfurt: Information on Libraries. In: In: Bulletins of the Serving Library. #1, 2011. S. 17-24
Angie Keefer: An Octopus in Plain View. In: Bulletins of the Serving Library. #1, 2011. S. 40-76

Eventuell entspricht die Größe dieser Gebrauchtbuchkundengruppe ja dem Leserkreis des Bulletins of The Serving Library, dessen erste Ausgabe zwar bereits 2011 erschien, es aber erst jetzt auf meinen Schreibtisch schaffte. Es ist eine äußerst merkwürdige Publikation, die freilich für alle, die sich dafür interessieren, wie Jaron Lanier („better know as the father of virtual reality“) über die Biologie bzw. Kraken Claude Shannons Informationstheorie in ihre Schranken weist und für Rechnerarchitektur etwas weitaus komplexeres im Sinn hat:

„Lanier […] thinks Shannon’s “information” should be renamed “potential information.” Against the protocol-based programming of contemporary computing, he offers the model of PHENOTROPIC computing. The goal of phenotropic computing  is to render systems in which every instance of information in a system relates to its context and which can effectively make inferences about other systems based on how they behave in a shared context. Communication transmissions in a phenotropic system MUST have a causal relationship to their environment. Instead of thinking of information as single bit traveling from A to B, Lanier conceives of an ever-changing SURFACE from which multiple points are sampled simultaneously and continuously.” (Keefer, S.74 f.)

Dieses systemische Verständnis ist für Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht ganz neu aber eher auch nicht ganz etabliert. Und während man in den Mühen der Ontologie-Einebnungen rund um irgendwelche semantische Netze die Probleme der traditionellen Sacherschließung und Thesaurus-Kunde potenziert, dürfte die Big-Data-Avantgarde mit der Erschließung konkreter Kommunikationshandlungen in Sozialen Netzwerken längst auf der Schussbahn eines pragmatischen Netzes unterwegs sein, die möglicherweise die Semantic-Web-Entwicklungen bereits in die Ecke der Obsoleszenz schiebt, bevor diese in wirklich ausgereiften Anwendungen massentauglich werden.

Darüber hinaus gibt einen schönen Aufsatz des Science Fiction-Autors Bruce Sterling, der von Jacqueline Goddards Erinnerungsthese, die Erfindung des Telefons hätte die Kultur von Montparnasse zerstört über Medientransformationen nachdenkt und – nicht unberechtigt und wunderbar staunend  schlussfolgernd – fragt:

„What’s our hurry anyway? When you look at it from another angle, there’s an unexpected delicious thrill in the thought that individual human beings can now survive whole generations of media. It’s like outliving the Soviet Union once every week! That was never possible before, but for us, that is media reality.” (Sterling, S. 15)

Und er fährt mit einer Verortung fort, die man sich durchaus für die Gelegenheiten merken kann, an denen man einen originellen Vergleich benötigt:

„It puts machines into a category where machines probably properly belong – colorful, buzzing, cuddly things with the lifespan of hamsters. This PowerBook has the lifespan of a hamster. Exactly how attached can I become to this machine? Just how much of an emotional investment can one make in my beloved $3,000 hamster?” (ebd.)

Wir alle kennen natürlich die – Hamster! – Bilder von MediaMarkt- und Apple-Store-Eröffnungen und die Psychologie ist sicher befähigt, schlichte und handliche Beschreibungen dieser Ereignisse formulieren. Kulturtheoretisch ist das diese gesellschaftliche Umpriorisierung von den medialen Inhalten hin zu den Anzeige- und Übertragungsmedien eine aufregende Angelegenheit, wobei kulturtheoretisch mittelbar ebenfalls bibliothekskulturtheoretisch heißen muss.

Rob Giampietro und David Reinfurt erörtern schließlich in einem FROM 0 to 1 überschriebenen Gespräch den Eigensinn der Information und die Frage, was diese wirklich will – und zwar im Anschluss an Steward Brands totzitierte Aussage „Information wants to be free.“ Bücher mögen hier wahlweise als Gefäße oder Gefängnisse angesehen werden. In jedem Fall binden sie als Informationsträger die Informationen in bestimmten medialen Beziehungsraum, der sich grundsätzlich von dem digitaler Medien unterscheidet:

„[…] [B]ooks want to remain as book-like as possible, while other information carriers – webpages, for example – try to take their place. We dislike calling Amazon’s Kindle a “book”. It’s really something that’s emulative of a book. You “turn” a digital “page” by pressing a button, which wipes the screen of pixels and replaces those pixels with new ones. Design is the set of decisions that add one metaphor on top of another to make the Kindle feel book-like. It’s an exercise in analogy. But Books don’t want the Kindle. Books, as a medium, want more books. Information, however, just wants to be transmitted, through whatever host allows it to spread as widely as possible.” (Giampietro, Reinfurt, S. 23)

Man kann die Digitalisierung also auch sehr evolutionär interpretieren und die Vorstellung, die Information strebe aus einem innneren Strukturzwang automatisch nach dem für sie weitreichensten und einfachsten Verbreitungsweg, ist nicht ohne Reiz, fordert aber zugleich eine Abgrenzung ein – nämlich die zwischen Information im Bit-Sinn und der Kultur, inklusive dem Wissen, der Informationsnutzung und der Mediengestaltung. Wahrscheinlich zwingt uns der Eigensinn von Information tatsächlich dazu, Medien in einer bestimmten Weise zu gestalten. Unsere eigenen Intentionen, Anspruch und auch sinnliche Dispositionen spielen jedoch mindestens eine gleichwirksame Rolle. Für die Information an sich mag das Buch (oder auch der Zettelkasten) eine längst überholte Bremse sein. Für den Menschen selbst könnte aber gerade diese die Information und ihren Fluss durch Materialität restringierende Form eine besondere, nicht emulierbare Bedeutung besitzen. Vielleicht auch nicht, aber nachdenken sollte man darüber schon.

Auf S.91 des Hefts wird eine bekanntere Übersicht von Régis Debray zitiert, die das Dreistadienmodell Logosphäre (Schreiben) – Graphosphäre (Drucken) – Videosphäre (Audio-Visualisieren) mit bestimmten Symbolrahmen und sozialen Bezugsgrößen in Beziehung stellt. Anhand dieser lässt sich sehr gut die mediale Verschiebung auf die ethische Grundfrage „Wie wollen wir leben?“ rückbinden. Beispielhaft sei hier nur die Entwicklungen des Bezugs für die Legitimation angegeben: Logosphäre: Das Gottgegebene (denn es ist heilig), die Graphosphäre: Das Ideale (denn es ist wahr), die Videosphäre: Das Effektive (denn es funktioniert).

Wenn wir also über die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem und Medienwandel nachdenken wollen, was aus meiner Sicht der Kern der Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Wissenschaft sein sollte, dann wird hier deutlich, dass es sich bei weitem nicht einzig um Fragen von Oberflächendesign und Übertragungstechnik handeln kann.

Und wenn uns als Aktive dieses Faches sowohl die Dekonstruktionen und die Metadiskurse aus der Kunst entsprechend sensibilisieren und gleichzeitig dadurch hinterfragen, dass sie die Thesen verhandeln, die eigentlich bzw. zugleich unser Stoff wären, dann ist das nicht nur eine Anregung. Sondern parallel – und viel entscheidender – die implizite Frage, ob die Strukturen unserer Wissenschaft, die diese großen, übergeordneten und entscheidenden Fragen nur äußerst selten befriedigend zu greifen bekommt, möglicherweise häufiger mehr eine Praxis der Selbsterhaltung als eine des progressiven Denkens pflegt.

Wenn Régis Debray mit seinem Schema Recht hat und wir ohnehin von der Kultur des Arguments hin zu einer Kultur der Verführung (auch als Form der Gesellschaftssteuerung) gleiten, dann stellte sich tatsächlich die Frage, ob für das Betrachtungsfeld unserer Disziplin nicht mehr mit gezielter Kunst- als mit Wissenschaftsförderung gewonnen wäre?

Die Frage ist selbstverständlich so überspitzt, dass sie sofort bricht, wenngleich die allgemeine Anerkennung und Würdigung von Kunst als Erkenntnispraxis ein fantastischer kultureller Schritt wäre und ich im Gegenzug eine Übernahme bestimmter intellektueller Aspekte der Kunstpraxis in die Wissenschaft genauso gut heißen würde. Dennoch sind die Annährungspfade der Auseinandersetzung aus gutem Grund unterschiedlich. Wir sollten gerade deshalb überlegen, wie man dies in einer übergeordneten Zusammenführung des an sich Getrennten fruchtbar und wirksam machen könnte.

(Berlin, 19.05.2013, @bkaden )

Warum LIS-Zeitschriften. Und warum nicht.

Posted in LIBREAS aktuell by Ben on 5. Februar 2013

Eine Position von Ben Kaden

In Anlehnung an Friedrich Kuhnens Beitrag Der neue Bibliotheksdienst – Hausblatt von De Gruyter? in der Inetbib-Liste erinnert Klaus Graf bei Archivalia ziemlich berechtigt an den großen Sturm im Fachdiskurs des zurückliegenden Jahres:

„2012 wurde aus Anlass der Ankündigung, dass der BD [Bibliotheksdienst] zu de Gruyter geht und sich das OA-Embargo verlängert, zunächst heftig und intensiv über eine Open-Access-Zeitschrift des Bibliothekswesens diskutiert: Arbeitstitel Newlis. […] Rainer Kuhlen hatte im Herbst 2012 parallel ein Treffen zur Gründung eines hochrangigen englischsprachigen Fachjournals veranstaltet.

Was ist aus alldem geworden?“

Nun offensichtlich nicht viel Greifbares. Dennoch war die Debatte nicht vergebens. Denn sie zeigte, dass es durchaus gelingen kann, einen regen Fachdiskurs anzustoßen, wenn das Thema genügend zündet. Sie zeigt zudem in der längeren Perspektive, dass es derzeit offensichtlich weder im deutschen Bibliothekswesen noch in der deutschen Bibliotheks- und Informationswissenschaft möglich ist, Bedarf, Kompetenz und Ressourcen, die zum Betrieb einer Open-Access-Publikation, wie wir sie uns mutmaßlich alle wünschen, notwendig sind, zu bündeln. Eventuell sollte man sich vorerst mit diesem Gedanken anfreunden. Möglicherweise passt aber auch einfach das Konzept der Zeitschrift nicht mehr so recht in die Zeit.

Johan Schloemann schrieb gestern in der Süddeutschen Zeitung im Nachgang zur Münchner RKB-Tagung:

“Die Art und Weise des Zugriffs kann das Denken verändern […] Inhalte und Assoziationen gehen andere Verbindungen ein, die Gliederung von Online-Ressourcen greift in die Ordnung des Wissens ein, Archiv und Bibliothek wandeln sich in ihrem Wesen.”

In der Tat. Ich lese beispielsweise keine Zeitschriften (direkt), sondern hauptsächlich per RSS-vermittelte Beiträge. Diese beziehe ich auf Themen und Interessen orientiert, wobei die Quelle selbst erst im zweiten Schritt (der kritischen und kontextualisierenden Lektüre) einen Stellenwert erhält. Es gibt nicht DEN einen Titel, der für meine auch fachliche Interessenlage einschlägig ist. Vom Believer über den Bibliotheksdienst bis zu BILD-online kommt alles als Quelle in Frage, wenn mich interessiert wie Bibliotheken, Medienentwicklung und Gesellschaft miteinander in Wechselwirkung stehen.

Meine Rezeption setzt also auf einen sehr heterogenen Quellenverbund aus Blogs, Streams, Zeitungen und auch Zeitschriften. Aus dieser Vielfalt synthetisiert sich dann mittels kritischer Einordnung mein Orientierungswissen in den für mich interessanten Themenfeldern (also in gewisser Weise mein spezifischer Worldstream). Ab und an schreibe ich das dann wieder in Blogs, Zeitschriften oder Sammelbänden nieder. Mit meinem Wissenschaftsverständnis, bei dem es vor allem um Beobachtung, Synopse und Kritik geht und bei dem Statistiken und andere Evidenzmessungen Stützmaterial aber eben nicht Zweck der Erkenntnisfindung sind, harmoniert diese Praxis ganz gut.

Betreibt man in unserem Fach nun selbst eine Zeitschrift, kennt man das massive Problem, dass Produktionsaufwand und Wirkung selten in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Es gibt durchaus Gründe, weshalb die Inetbib-Liste und ein paar Weblogs die Fachdiskurse weitaus lebendiger abbilden, als der Bibliotheksdienst, die IWP und sicher ebenfalls die Zeitschrift LIBREAS. Beispielsweise die niedrigen Schwellen und der geringe Aufwand der Teilhabe.

Dies führt dazu, dass bestimmte synoptische Beiträge in Weblogs weitaus häufiger und mit deutlich größerer Wirkung zur Kenntnis genommen werden, als eventuelle Zeitschriftenaufsätze, auf die darin Bezug genommen wird – mit allen Vor- und Nachteilen dieser Praxis. Daher ist der von Walther Umstätter regelmäßig forcierte Bezug zu den Referateblättern, „die einst die deutsche Wissenschaft stark machten“ (vgl. hier) außerordentlich zeitgemäß, selbst wenn mittlerweile das erhabene Ziel einer starken deutschen Wissenschaft vielleicht als Anspruch hinter dem grundsätzlichen Bedürfnis, sich generell aktiv und patent in der eigenen fachlichen Umwelt bewegen zu können, zurücktritt.

Das Post Peer Reviewing ist dabei nichts anderes als die kritische und fortschreibende Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer zum eigenen Gegenstand. Also eigentlich: Diskurs. Ich denke, dass dies dem Charakter dieses eigenartigen Hybriden aus wissenschaftlichem Anspruch und außerordentlich ausgeprägter praktischer Bewährungspflicht, aus dem sich die Bibliotheks- und Informationswissenschaft und damit auch die Fachblätter konstruieren, weitaus gerechter ist, als eine bemühten Szientifizierung.

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist keine harte Wissenschaft und benötigt daher nicht zwingend PLOS-artige Publikationsformate. Und dort, wo Konstruktion und mühselige Etablierungsversuche solch hochgesteckter Angebote die intelligentesten Köpfe der Community in organisatorischen Aufwand binden, sind sie sogar unbedingt verzichtbar. Die Zahl derer, die in unserem Fach tatsächlich unter wissenschaftlichen Bedingungen arbeiten und publizieren ist in Deutschland sehr überschaubar. Für alle anderen wäre eine strenge, Peer-Review-basierte wissenschaftliche Open-Access-Zeitschrift eine Hürde, die sie weder nehmen könnten noch wollten. Was also bestenfalls entstünde, wäre ein kleiner bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Binnendiskurs einer kleinen Gemeinschaft, die sich zudem, wie eine aktuelle Untersuchung nahelegt, selbst regelmäßig verfehlt. Dafür ist das Fach schon jetzt mit einer genügenden Menge an Plattformen versorgt.

Zweckmäßiger als eine neue Open-Access-Zeitschrift einzufordern wäre aus meiner Sicht tatsächlich die Fokussierung auf alternative, niedrigschwellige Kommunikationskanäle und die Frage, wie sich ein Qualität sicherndes Post Peer Reviewing darin umsetzen läßt. Sicher lassen sich diverse Erfahrungen mit der Medienform Zeitschrift fruchtbar einbinden. Sicher ist es auch sinnvoll, das Konzept der Zeitschrift dort, wo es passt, weiter zu verfolgen. Ich glaube jedoch, dass es in unserer besonders durchmischten Fachwelt immer weniger funktioniert.

Wenn man das Konzept der Zeitschrift bislang nach wie vor so beharrlich weiterverfolgt, dann vermutlich aus zwei Gründen: a) der Gewöhnung (nach wie vor) und b) weil sich damit, auch beim Open Access-Ansatz, Wissenschaftskommunikation sehr gut in vermarktbare Produkte fassen lässt. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass der Diskurs nicht in anderer Form ebenso gut und vielleicht sogar ein Stück lebhafter und für die Kommunikationsform passender möglich wäre. Gerade dafür ist die newlis-Debatte kein schlechtes Beispiel.

(05.02.2013)

It’s the frei<tag> 2012 Countdown (21): Unkonferenz und Summer School

Posted in LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Verein by libreas on 26. Juli 2012

Manuela Schulz
Ben Kaden

Es bleiben noch 21 Tage bis zum großen Event. So manche/r ist bereits im Urlaub, einige werden es bald sein, eigentlich möchte man doch bei diesem Wetter nur noch wahlweise in der Sonne baden oder im Schatten dösen oder sich im kühlen Nass erfrischen. Oder durch ferne Länder reisen, andere Kulturen kennen lernen und endlich den lang vorbereiteten Aktivurlaub angehen. Warum sollte man sich also nach Potsdam und Berlin zu einem fachlichen Austausch begeben?

Nun, nirgendwo gibt es soviel geballte Kultur auf einmal wie in diesem nordöstlichen Ballungsraum und auch wenn bei uns keine badewannenwasserwarmen Wellen schäumen, keine steife Brise weht und es keine Berge zu erklimmen gibt, bieten die Berliner und Brandenburger Landschaftsräume wunderbare Erholungsmöglichkeiten. Unser erster Countdown hat es bereits deutlich gemacht.

Freit 2012 vor Rubus

Ein ziemlich verwegener Assoziationssprung verbindet die Brombeere bei chemisch Interessierten regelmäßig und völlig unsinnig mit einem Halogen, das sich gemeinhin in einer Kategorie mit Fluor, Chlor und Jod tummelt. Dabei ist der Wortursprung von Brom ein ganz anderer und bereits im frühen Fachdiskurs der Chemiker wurde die Anwendung des griechischen Ausdrucks für Bocksgeruch als unpassend kritisiert (vgl. Sigismund Friedrich Hermbstädt (1828) Über das Brom, seine Vorkommen in verschiedenen Substanzen und die Darstellung desselben. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: 1831; S.85-95) Der Wortursprung der Brombeere (irgendetwas mit brâma, daher mitunter auch Brambeere, Bramelte oder Briem), stellt dagegen das Dornige in den Mittelpunkt. Für uns geht es freilich kein bisschen darum und ehrlich gesagt, verzichteten wir gern auf die garstigen Haken, die sich wie Tanlines a la Twombly nach dem Tauchen im Gesträuch über die Arme ziehen. Was wir wollen, ist die Frucht und zwar möglichst in der tiefschwarzen Fassung. Welche für das LIBREAS-Team eine der vorzüglichen Errungenschaften eines gelingenden Sommers darstellt,  gleich hinter frei-tag;, Summer School und dem Bad in der Brandung.

Da man aber bei bestem Wetter ohnehin nur in den Morgen- und Abendstunden einen ruhigen Fleck am Waldsee findet, gibt es für die Zwischenzeit eine Überbrückung fachlicher Art. Auf der Unkonferenz frei<tag> 2012 in Potsdam wollen wir mit euch in ungezwungener Atmosphäre über Themen diskutieren, die für die eigene Profession schon immer unter den Nägeln brannten und uns gemäß des diesjährigen Mottos Stand der Bibliotheks- und Informationswissenschaft mit Forschungsfragen auseinandersetzen. Die Unkonferenz bietet insbesondere jungen Forschenden und Studierenden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft eine Plattform zum Vorstellen und Abgleichen ihrer Ideen, Thesen und Wahrnehmungen sowie die Option zum Austausch mit der Bibliothekspraxis.

Interessierte können sich gerne vorab  im frei<tag>-Wiki anmelden und vor allem Themenvorschläge machen. [Update: Nachdem dort mit dem eisernen Besen der Anti-Spam-Maßnahmen ausgekehrt wurde, vermutlich wieder ab heute Abend.]

Der Veranstaltungsort ist das bewährte Schaufenster der Fachhochschule Potsdam (Friedrich-Ebert-Straße 4, Google Maps). Man erreicht es gut zu Fuß vom Hauptbahnhof Potsdam in sehr wenigen Minuten und kann sich auf dem Weg sogar den Bauplatz eines Schlossneubaus anschauen. Das bieten derzeit nicht viele Städte.

Berlin zum Beispiel wartet noch auf den Spatenstich. Die Summer School steht dagegen bereits. Sie dient in den Räumen des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin der gemeinsamen Weiterbildung und zwar in einer Weise, die bitte nicht so trocken ist, wie das Wort Weiterbildung leider klingt. Worum es geht, ist Methodenwissen zur wissenschaftlichen Arbeit in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, das bekanntlich erst die Grundlage für ein leidenschaftliches und gelingendes Arbeiten in diesem Fach bietet. Da sich die Wissenschaftslandschaft insgesamt sehr wandelt (Stichworte: Digitalisierung, Digital Humanities, Grids, Science 2.0), stellt sich unvermeidlich die Frage, mit welchen Methoden ein Fach wie das unsere im fortschreitenden 21. Jahrhundert operieren sollte. Wer darauf eine Antwort weiß, muss kommen. Wer dazu weitere Fragen hat, ebenso. Gewünscht ist eine aktive Beteiligung, auch wenn oder gerade weil die Workshops im Vorhinein vorbereitet sind. Vier Cluster prägen das Programm:

– I Schreiben und Publizieren in der LIS,
– II Forschungsfragen und Trends in der LIS,
– III Verteilt Arbeiten, Zusammen Publizieren,
– IV Zeit- und Projektmanagement im Forschungsprozess.

Interessierte können sich anmelden bei:  mail (at) libreas-verein dot eu
Und natürlich weisen wir niemandem mit fachlichem Interesse, der uns ohne Vorankündigung überrascht, die Tür.

Veranstaltungsort:  Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin (Dorotheenstraße 26, Berlin). Das Institut (Google-Maps) ist von den Bahnhöfen Friedrichstrasse und Hackescher Markt zu Fuss und vom Bahnhof Alexanderplatz per Bus gut zu erreichen.

Welcher Art Wissenschaft soll die (Bibliotheks- und) Informationswissenschaft sein? Ein Workshop-Bericht

Posted in LIBREAS.Debatte by libreas on 7. Juli 2012

Welcher Art Wissenschaft soll die (Bibliotheks- und) Informationswissenschaft(1) sein?
Ein Workshop-Bericht

von Ben Kaden und Karsten Schuldt

„Es gibt keine höhere Instanz als die innerhalb des Diskurses herbeigeführte und insofern rational motivierte Zustimmung der Anderen.“ – Jürgen Habermas: Charles S. Peirce über Kommunikation. In: ders. (1991) Texte und Kontexte. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S.24.

„Eine nüchterne, reservierte, leidenschaftslose Wissenschaft wäre kaum zu ertragen. Eine trunkene, aufdringliche, erregte Wissenschaft noch weniger. Mindestens in einem Punkt ist die Wissenschaft jedoch leidenschaftlich […]: Sie erinnert sich fortgesetzt an das Erfordernis der Nüchternheit.“ – Maren Lehmann: Wissenschaft im Rausch. In: dies. (2011) Theorie in Skizzen. Berlin: Merve Verlag. S. 160.

I.


Im März 2012 brandete im LIBREAS-Weblog eine kurze und leidenschaftliche (im Sinne Maren Lehmanns) Debatte zwischen den beiden Autoren dieses Berichtes auf. (2)(3), (4)(5)(6)

Grundsätzlich ging (und geht es weiterhin) um folgende Fragen:

Wie viel oder wie wenig Diskurs findet sich in Metadaten beziehungsweise Netzwerken von Metadaten?
Und was davon kann wie informationswissenschaftlich ausgewertet werden?

Obgleich wir nicht in allen Aspekten dieser Diskussion zu einer Übereinkunft kamen, stellten wir doch zugleich fest, dass wir (a) auf einige ungeklärte Fragen zu Bedeutung, Inhalt und Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft gestoßen waren, die wir (b) als höchst diskussionswürdig ansehen. Zudem fiel auf, dass wir (c) bei allen Differenzen durchaus einige Überzeugungen teilen.

(1)  Für uns steht fest, dass die Bibliotheks- und Informationswissenschaft eine soziale Wissenschaft darstellt. Es ist also eine Disziplin, die sich mit den sprach- und symbolbasierten Beziehungen, Verhältnissen und Kommunikationen zwischen menschlichen Akteuren befasst. Ob das Fach auch eine Sozialwissenschaft im engeren Sinne sein kann, sollte durchaus Gegenstand einer fortlaufenden Diskussion sein.

(2)  Alle Information ist für uns in letzter Konsequenz kontextuell. Information ohne Kontext ist keine solche. Spätestens seit Claude Shannons Informationstheorie ist bekannt, dass eine Information wenigstens einen Sender, einen Kanal und einen Empfänger benötigt – was in gewisser Weise einen abstrakten Mindestkontext definiert. Wir sind uns allerdings uneinig, wie und wann diese Kontextualität in die wissenschaftliche Auseinandersetzung einbezogen werden kann beziehungsweise sollte.

(3)  Metadaten, die zu Informationsobjekten gehören beziehungsweise zur Beschreibung von Zusammenhängen von Informationsobjekten dienen (insbesondere wenn diese Teil von Debatten darstellen) sind mit dem gleichen Recht Untersuchungsobjekt der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, wie die Wissensobjekte selbst.

(4)  Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist als ein Wissenschaftsfeld zu betrachten, welches eine spezifische eigene Geschichte, inklusive gescheiterter Forschungsparadigmata, teils in Schnittmenge zu anderen Disziplinen, aufweist. Die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung der Disziplin kann beziehungsweise sollte selbst Teil der Forschungsagenda werden.

(5)  Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist vorrangig eine befragende und beschreibende Wissenschaft. Das Paradigma der Praxisforschung scheint uns, zumindest als einseitig in den Mittelpunkt gerückter Zweck, gefährlich (und zugleich als langweilig). Werden die Bedingungen der eigenen Forschung nicht reflektiert, droht die Gefahr der Entwicklung restringierender und also sehr beschränkter Erkenntnisstrukturen, die den Herausforderungen an die Disziplin nicht gerecht werden können. Zudem ist eine primär auf konkrete Produkte und Dienstleistungen gerichtete Forschung als akademische Disziplin nicht haltbar. (more…)

#newlis – Zwischen #innovation, #Anspruch und #icamp12

Posted in LIBREAS.Visualisierung by libreas on 17. Juni 2012

Auf dem Weg zu einer neuen OA-Zeitschrift für die deutschsprachige Bibliotheks- und Informationswissenschaft? Das Twitter-Kommunikationsnetzwerk #newlis.

Tweets stecken trotz ihrer 140 Zeichen voller Entitäten, die potentiell für unterschiedliche bibliotheks- und informationswissenschaftliche Fragestellungen interessant sind. So lassen sich Links auf Publikationen, die in Tweets erwähnt werden, für die Messung ihrer unmittelbaren Rezeption oder Hashtags und user-mentions für die Explorationen eines Kommunikationsnetzwerkes heranziehen (siehe ua LIBREAS Tag Twitter). Bis vor kurzem war die Extraktion dieser Eintitäten über die Twitter Search API allerdings nicht explizit in den Metadaten ausgezeichnet, was im Schluss zu ungenauen, und häufig auch unansehnlichen Experimenten mit Linkresolvern und Regulären Ausdrücken führte.

Seit Dezember 2011 exponiert Twitter nun auch die sogenannten Tweet-Entitäten (Tweet Entities), womit sich Medienarten, URLs, Benutzer und Hashtags zielgenau aggregrieren lassen.  Auf GitHub stehen nun vier an Hilfsfunktionen in R zur Verfügung, die auf die Erweiterung der Twitter Search API aufsetzen und über die Suche nach einen Hashtag die netzwerkanalytische Exploration unterstützen.

https://github.com/njahn82/twitter

Kommunikationsnetzwerk #newlis

Als Antwort auf die Ankündigung, dass die von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin herausgegebene Zeitschrift BIBLIOTHEKSDIENST ab 2013 bei De Gruyter erscheint, wird unter #newlis die Neugründung einer reinen Open Access Zeitschrift für die deutschsprachige Bibliotheks- und Informationswissenschaft diskutiert und Strategien in einem Etherpad gesammelt.

Mit der Hilfsfunktion hash.search.rt lassen sich Tweets über einen Hashtag aggregieren. Diese ordnet dabei tabellarisch einem Ersteller eines Tweets den von ihm in diesem Tweet erwähnten weiteren Nutzern zu.

Damit lässt sich eine Kantenliste, die die Grundlage  für die obige Visualisierung bildet. Am Beispiel von igraph

#functions under https://github.com/njahn82/twitter/tree/master/Twitter
require(R.utils)
require(igraph)

sourceDirectory("")

# search with hashtag
hash.search.rt <- ("newlis")

#prepare network data
my.graph <- graph.data.frame(my.data[,c(2,3)])

#prepare plot
V(my.graph)$label = V(my.graph)$name
V(my.graph)$label.cex = sqrt(degree(my.graph))*0.4 
V(my.graph)$size = sqrt(degree(my.graph))*2
V(my.graph)$frame.color = NA
V(my.graph)$color = "#E41A1C"

#plot + save
png("testgraph.png")
plot(my.graph,layout=layout.fruchterman.reingold,edge.arrow.size=0.2,vertex.label.color = "gray20")
dev.off()

(nj)

frei<tag> 2012 und LIBREAS-Sommer School. Einladung zu zwei Veranstaltungen

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Verein by Karsten Schuldt on 20. Mai 2012

Der LIBREAS-Verein freut sich, für den August 2012 zu zwei Veranstaltungen einzuladen. Am 17. August wird in der Fachhochschule Potsdam die Unkonferenz frei<tag>-2012. Stand der Bibliotheks- und Informationswissenschaft stattfinden. (In Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Informationswissenschaften, Fachhochschule Potsdam). Am darauf folgenden 18. August wird in der Humbodt Universität zu Berlin die erste Sommer School zu Methden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft veranstaltet. Zudem läd der Verein für diesen Tag zu seiner Jahresversammlung.

Die frei<tag> 2012 soll die Möglichkeit bieten, über die aktuellen Ziele, Trends, Fragen und Entwicklungen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu diskutieren. Grundsätzlich bewegt sich unsere Wissenschaft weiterhin zwischen unterschiedlichen Disziplinen, zwischen einem theoretischen Anspruch und einer sehr praxisnahen Forschung, zwischen sehr auf die Ausbildung von Informationsspezialistinnen und -spezialisten ausgerichtete Einrichtungen, einer Forschung in größeren Bibliotheken, Archiven und Dokumentationseinrichtungen sowie einer an Einrichtungen und ausserhalb dieser betriebenen theorieorientierten Forschung. Gleichzeitig ist unbestritten, dass sich der Disziplin rasant neue Aufgaben, Fragen und Felder stellen. Wir wollen auf der Unkonferenz einen Raum schaffen, darüber zu diskutieren, in welche Richtung sich die Bibliotheks- und Informationswissenschaft bewegt, in welche sie sich bewegen sollte und was sie bislang daran hindert. Zugleich soll die Unkonferenz ein Treffen von Praktikerinnen und Praktikern der Wissenschaft darstellen, als auch einem Raum zum Entwerfen einer Zukunft der Disziplin.
Die frei<tag> 2012 ist als Unkonferenz organisiert. Dies bedeutet, dass alle Teilnehmenden als Expertinnen und Experten angesehen werden, die etwas zur Veranstaltung beitragen können und sollen. Über das genaue Programm wird zu Beginn der Veranstaltung gemeinsam abgestimmt. Alle sind eingeladen, Vorschläge für Workshops – keine reinen Präsentationen oder Vorträge – einzubringen.
Veranstaltungsort der frei<tag> 2012 ist die Fachhochschule Potsdam (Friedrich-Ebert-Straße 4, Potsdam). Die Veranstaltung beginnt um 10 Uhr und endet ab 18 Uhr mit einem Social Event.

Die LIBREAS Sommer School soll dazu beitragen, die Praxis der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu verbreitern und die Kommunikation im Feld zu unterstützen. Angeboten werden Workshops zur Publikation und Forschungsgestaltung, die vor allem an Studierende und angehende Praktikerinnen und Praktikern im gesamten Feld der praktischen Informationsarbeit sowie der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Forschung gerichtet sind. Veranstaltungsort ist das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin (Dorotheenstraße 26, Berlin). Die Workshops finden ab 11.30 Uhr statt.

Am gleichen Ort wird von 15-18 Uhr die Jahresversammlung des LIBREAS. Verein zur Förderung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Forschung stattfinden.

Die Teilnahme an allen Veranstaltungen ist kostenlos. Spenden für diese oder die weitere Arbeit des LIBREAS-Vereins sind willkommen. Weiter Informationen zu den Veranstaltungen werden auf https://libreas.wordpress.com und http://www.libreas-verein.eu publiziert.

Eine kurze Anmerkung zum Password-Pushdienst vom 3. April bzw. zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte by Ben on 5. April 2012

von Ben Kaden

Willi Bredemeier ging im Password-Pushdienst vom 03.04.2012 kurz auf meinen Text zu Düsseldorfer Runde über die Zukunft der Informationswissenschaft ein und eigentlich wollte ich ihm dort mit einem Kommentar antworten. Da das Captcha der dortigen Kommentar-Funktion jedoch nicht lesbar ist, erscheint er hier. Und weil es ein Kommentar ist auch in übersichtlicher Länge.

„Wer ein Abstraktionsniveau oberhalb aller konkreten Ereignisse, Player, Autoren, Veröffentlichungen und Einrichtungen wählt, nimmt in Kauf, dass er mit seinen Überlegungen letztlich unbeachtet bleibt und keine wissenschaftlichen noch weitere Wirkungen entfaltet. Hier war Ben Kaden mit seiner Einschätzung der Hildesheimer ISI-Konferenz, die später mit einer Einzelkritik an den Beiträgen auf dieser Tagung bestätigt werden sollte, schon mal weiter.“ – Willi Bredemeier, Password-Pushdienst, 03.04.2012

Oder, so suggeriert es die Formulierung „höheres Abstraktionsniveau“, tiefer. Aber eigentlich meint Willi Bredemeier vermutlich, ich wäre schon einmal mehr auf ihrer Linie gewesen. Ich denke, es sollte nicht darum gehen, Beiträge gegeneinander auszuspielen oder zu gewichten. Die beiden Texte haben gänzlich unterschiedliche Ausrichtungen.

Während der kurze Hildesheim-Text tatsächlich einen wahrgenommenen Mangel benannte (gemeint ist wohl diese Passage:

„Bemerkenswert an der Hildesheimer Veranstaltung war, dass sie ungeachtet des wohlklingenden, sehr programmatischen Mottos „Information und Wissen: global, sozial und frei?“ Willi Bredemeiers Vorwurf an die Informationswissenschaft, sie sei kleinteilig, selbstbezüglich und nach Außen kaum relevant, zu weiten Teilen zu bestätigen schien. Eine Metadiskussion fand jedenfalls auch dort kaum statt.“)

wollte ich für die Düsseldorfer Diskussion eine weiterreichende Perspektive eröffnen. Ich näherte mich dort und nähere mich allgemein gern der Bibliotheks- und Informationswissenschaft tatsächlich mehr aus der Warte einer akademischen und weitgehend theoretischen Wissenschaft an. Die skizzierte Idee entspringt diesem Hintergrund.

Möglicherweise glitt ich für die Düsseldorfer Runde damit ein wenig ins Abseits. Es nagt sehr an mir, nicht dort gewesen zu sein. Denn in einer Auseinandersetzung mit der Position Stefan Gradmanns:

„Informationswissenschaft müsse innerhalb des Begriffes Web Science neu definiert werden. Es gehe nicht darum, möglichst viele Informationen zu akkumulieren, sondern sie so darzustellen, dass daraus Wissen wird. Die Informationswissenschaft brauche ein anderes semiologisches Fundament, so Stefan Gradmann.“

hätte ich meinen Standpunkt vielleicht doch schärfer konturieren können. Wo mir Web Science als Alternativbenennung vergleichsweise nichtssagend und daher überflüssig erscheint, bin ich in der semiologischen Frage sehr bei ihm, würde aber, wie beschrieben, die handelnden Akteure und die Zeichen auf der selben Gegenstandsebene verorten – möglicherweise auch, um das sumpfige und wuchernde Gebiet der Semantik (des Semantic Web) über diesen Umweg etwas einzuhegen.

Die Gemeinsamkeit zwischen der Position Willi Bredemeiers und meiner ist mittlerweile eindeutig benannt: Die Konzentration auf den Menschen, also den konkreten Akteur und sein kommunikatives Handeln. Das schlägt sich m.E. (vgl. dazu die umfängliche Diskussion mit Karsten Schuldt in diesem Weblog) in besonderer Form, z.B. in Publikationen, nieder. Für deren Analyse verfügen wir traditionell über ein recht weit entwickeltes methodologisches Fundament. Allerdings gilt es, dies anzupassen und gezielt zu erweitern.

Das Ziel kann meiner Ansicht nicht mehr die Optimierung von Informationsflüssen an sich sein. Es muss vielmehr in der Gestaltungen von Kommunikation (daher auch meine Betonung des Diskursiven) liegen. Information ist dabei nur ein Mittel zum Zweck. Die großen aktuellen Dominanten im Web (Google, Facebook, z.T. Amazon) zeigen uns deutlich auf, wie diese Schwerpunktverschiebung von der reinen Vermittlung zur möglichst weitreichenden Lenkung aussieht.

Die deutsche (und wahrscheinlich auch die europäische) Bibliotheks- und Informationswissenschaft wird solche Angebote angesichts ihrer Ressourcen nicht entwickeln. Sie kann aber eine analysierende und reflektierende Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen vornehmen. Der Unterschied von mir zu großen Teilen des – sicher auch durch die Strukturen der Wissenschaftslandschaft darauf ziemlich festgenagelten – bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Establishments liegt darin, dass es mir nicht darum geht, Produkte, Dienstleistungen und Projekte zu entwickeln, sondern tatsächlich fast ausschließlich um die Reflexion und Analyse von Entwicklungen, die das informationelle und kommunikative Verhalten der Menschen beeinflussen, prägen und kontrollieren.

Wenn das Fach versteht, was geschieht, kann es selbstverständlich anderen, stärker produkt- und dienstleistungsorientierten Institutionen in diesem Bereich (z.B. Bibliotheken) Hinweise, Orientierung und Handlungsmodelle geben. Sowie parallel eine Transferleistung der Öffentlichkeit gegenüber erbringen, die sachlich fundiert erläutert, welche Bedingungen und Folgen den Phänomenen digital organisierter sozialer Welten innewohnen.