LIBREAS.Library Ideas

Makerspace: Was passiert in ihnen? Was könnte in ihnen passieren? Zwei Studien

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 4. April 2019

Karsten Schuldt

Zu: Angela Calabresse Barton ; Edna Tan: „STEM-Rich Maker Learning: Designing for Equity with Youth of Color”. New York: Teachers College Press, 2018

Sarah R. Davies: „Hackerspaces: Making the Maker Movement”. Cambridge; Malden: Polity Press, 2017

 

 

Makerspaces – obwohl Bibliotheken jetzt schon seit einigen Jahren mit ihnen experimentieren, sie einrichten und auch wieder schliessen, sie in Veranstaltungen ausprobieren, institutionalisieren und eigentlich schon viele Erfahrungen vorliegen, scheinen sie für Bibliotheken doch immer noch viele, viele Versprechen mitzubringen. Immer wieder und wieder machen sich (Öffentliche) Bibliotheken Gedanken, ob sie mit Makerspaces innovativer, zukunftsgewandter, besser, neuer sein können. Diese Versprechen scheinen selten überprüft zu werden und auch eher aus Vorstellungen über Makerspaces und was in diesen passiert gespeist zu werden, als aus der Realität in wirklich existierenden Makerspaces.

In den letzten beiden Jahren sind in Buchform zwei tiefergehende Studien publiziert worden, welche sich aber gerade dieser Frage widmen: Was passiert in Makerspaces tatsächlich? Die eine als eher ethnolographische Studie über normale Maker- und Hackerspaces in den USA, die andere als Action Research über einen spezifischen Makerspace für Jugendliche in einem Community Center in einer sozial benachteiligten Gemeinschaft, ebenso in den USA. Beide liefern einen Einblick, der unter anderem viele Hoffnungen, die sich Bibliotheken auf Makerspaces und ihre Wirkungen machen, bezweifeln lässt – was aber gleichzeitig, wenn sie genutzt werden, auch heissen kann, dass die Makerspaces, die Bibliotheken bauen, realistischer geplant und betrieben werden könnten, wenn man beim Planen und Hoffen auf die Erkenntnisse aus diesen Studien zurückgreifen würde. Beide sollen hier kurz vorgestellt werden.

Der Hackerspace als Raum eines spezifischen Menschenschlages

In einer der beiden Studien, „Hackerspaces: Making the Maker Movement”, untersuchte Sarah R. Davies (zusammen mit Dave Conz) ein Dutzend Makerspaces in den USA, allerdings schon 2012. Die Auswertung dauerte länger, vielleicht hat sich jetzt einiges verändert.1 Trotzdem ist es eine tiefergehende Untersuchung. Die besuchten Einrichtungen wurden genauer untersucht, die erhobenen Daten genauer ausgewertet, als in einfachen Berichten. Der Blickwinkel dieser Auswertung war ein ethnographischer, also einer, der danach fragte, wie die Makerspaces als Gemeinschaft und als sozialer Raum funktionieren. Davies und Conz beschränkten sich dabei nicht auf eine kleine geographische und inhaltliche Auswahl, sondern versuchten, möglichst viel abzudecken, auch möglichst viele unterschiedliche Daten zu erheben. Einzige Einschränkung ist, dass sie Makerspaces untersuchten, die für sich alleine existierten. Zwar wird erwähnt, dass Schulen und Bibliotheken auch Makerspaces aufbauen würden, aber die mit einzubeziehen wäre zu viel gewesen.

Hackerspaces, so wird am Anfang betont, sind motivierend, wenn man sie das erste Mal betritt. Sie vermitteln den Eindruck von emsiger Tätigkeit und Offenheit. Aber, so lässt sich schnell sehen, so einfach ist es dann doch nicht. Was die Makerspaces in der Studie eint, ist, dass sie sich zwar alle grundsätzlich als offen verstehen, als leicht zugänglich und auch einem Diskurs von Innovation, Bildung und Demokratisierung folgen, es bei näherem Hinsehen doch nicht sind. Davies verweist mehrfach auf den Widerspruch zwischen dem Diskurs – der auch nicht unbedingt von den Makerspaces selber produziert wird, aber den sie bedienen – und der Realität.

Die Personen, welche die Makerspaces wirklich nutzen, sind viel eher an individuellen Projekten und Erfahrungen interessiert. Sie wollen für sich lernen, etwas ausprobieren und so weiter. Diese Interessen treiben ihre eigene Beteiligung an den jeweiligen Makerspaces, nicht oder nur sehr im Hintergrund übergreifendere Interessen. Solche eigenen Interessen sind dann auch die soziale Eintrittskarte in die Communities der Makerspaces: Nur, wer eigene Projekte hat, wird als wirklich interessiert angesehen. Nur dann wird einem oder einer auch wirklich geholfen. Der freie Wissensaustausch, welche im Diskurs um Makerspaces als deren Eigenheit prominent betont wird, ist so nicht zu finden: Wissen wird geteilt, aber nur im Rahmen von Projekten, nur als Hilfe zur Selbsthilfe bei diesen Projekten.

Einige Makerspace sind sehr private Unternehmungen – in privaten Garagen, im privaten Freundeskreis -, andere sind grösser, organisiert als Vereine oder ähnlicher Strukturen. Im Rahmen dieser Voraussetzungen sind sie immer auf der Suche, ihre Mitgliedschaft zu erweitern. Wieder: Grundsätzlich betonen alle ihre Offenheit, aber die Realität ist etwas anders. Es gibt keine direkte Ausgrenzung, aber Voraussetzungen: Nur, wer selber Projekte mitbringt, an denen er oder sie arbeiten will, wird sozial akzeptiert. Durch die Makerspaces hindurch fand Davies Abgrenzungen zu Menschen, „die es nicht verstehen”, die vorgeblich „in der Konsumgesellschaft leben und damit glücklich sind”. Das ist selbstverständlich eine subjektive Einschätzung, welche aber Strukturen reproduziert: Wer kommt denn auf die Idee, Projekte zu machen? Wer lernt solch eine Vorgehen zu die eigene Identität zu inkorporieren? Wer kann sich Projekte vorstellen, die auch noch mit Technik umzusetzen sind? Eher die, die bestimmte Voraussetzungen im Leben hatten und haben. Die Makerspaces, welche Davies untersucht, sind – wohl wegen diesen Strukturen – geprägt von mittelalten, situierten, oft weisse Männern. Nicht vollständig, es gibt auch immer wieder einige andere Personen. Aber wenige. Nur die Makerspaces, die sich explizit darum bemühen, schaffen es, Frauen oder Personen mit einem anderen sozialen Profil anzusprechen. Ansonsten reproduzieren sie, ungewollt und trotz anderem Diskurs, gesellschaftliche Ausgrenzungen.

Auffällig ist auch, dass die Communities, welche sich um Makerspaces bilden, nicht einfach wachsen. Es ist immer eine Aufgabe in den Makerspaces selber, die Communities zu erhalten. Irgendwer muss immer diese Arbeit leisten. Dabei wird, so wieder Davies, in den Makerspaces in einer Art kommuniziert – sowohl inhaltlich als auch technisch – wie sie in anderen nternetbasierten Subkulturen auch vorkommt: Es geht immer darum, „Drama” zu vermeiden, Regeln auszuhandeln und Konflikte zu überwinden. Keine dieser Makerspace-Communities funktioniert von alleine.

Ein Community-basierte Makerspace muss offenbar anders funktionieren

Einer der Makerspaces, die es schaffen, andere Personen anzusprechen, wird in der Studie von Calabrese Barton und Tan, „TEM-Rich Maker Learning: Designing for Equity with Youth of Color”, vorgestellt. Dieser ist in einem ungenannten Community-Center in einem ärmeren Stadtteil in den USA untergebracht und wird von diesem Center auch finanziert und getragen. Die beiden Forschenden arbeiteten in einem Action Research Project zwei Jahre in diesem Makerspace mit jüngeren Jugendlichen, welche das Center nutzten.2 Das Vorgehen von Action Research – mit den Personen, über die geforscht wird, für diese sinnvolle Aktivitäten planen, durchführen, dann diese reflektieren und iterativ Theorie bilden, um wieder Aktivitäten zu planen und so weiter – führte zu einem etwas schwerfälligem Text, der immer wieder in kleinen Schritten reflektiert und immer wieder die gleichen Beispiele heranzieht, um Aussagen zu demonstrieren. Lässt man sich davon aber nicht abschrecken, so erhält man eine Einblick darin, das Makerspaces auch anders sein könnten, als die bei Davies beschriebenen – aber nur, wenn man dies explizit einfordert und die Arbeit dafür leistet.

Calabrese Barton und Tan stellen – unabhängig von Davies, eher durch die Lektüre von Literatur zu Makerspaces, insbesondere die omnipräsente Zeitschrift „Make:” – den gleichen Widerspruch zwischen den im Diskurs behaupteten Potentialen von Makerspaces und der Realität in diesen fest. Gleich zu Beginn ihres Buches betonen sie, dass die Projekte, welche in der Literatur immer und immer wieder präsentiert werden, vor allem individualistische Experimente darstellen, die vielleicht aus Interesse am Ausprobieren durchgeführt werden, die aber keine Probleme lösen. Wer wird damit angesprochen? Nicht die Jugendlichen aus der Gegend mit sozialen Problemen, mit denen Calabrese Barton und Tan arbeiteten und die im Alltag vor allem mit realen Problemen fertig werden müssen, andere Ästhetiken und Regeln entwickeln, als die in „Make:” präsentierten – also nicht solchen aus dem abgesicherten Mittelstand.

Aber: Es ist sehr wohl möglich, diesen Jugendlichen mit einem Makerspace Möglichkeiten zu eröffnen – mit einer anderen Form von Makerspaces und Arbeit im Makerspace. Wie sieht diese aus? Zuerst müssen die Jugendlichen ernst genommen werden und sich willkommen fühlen. Die beiden Autorinnen besuchten mit den Jugendlichen ihrer Studie eine ganze Anzahl von existierenden Makerspaces – und obwohl sie dort gut aufgenommen und informiert wurden, obwohl sie die ganzen Maschinen und Techniken positiv wahrnahmen, waren sie anschliessend der Meinung, dass sie dort eigentlich nicht wirklich willkommen wären. Diese Makerspaces wären nichts für sie: Zu wenig Kinder- und Jugendfreundlich, zu viele Verbote und Regeln, zu wenig andere Möglichkeiten als nur an Projekten zu arbeiten.

Zudem müssen die Makerspaces die Jugendlichen tatsächlich empowern, also Dinge umsetzen lassen, die für sie Sinn haben und ihnen zeigen, dass sie Macht haben. Die Jugendlichen entwarfen auf der Basis ihrer Besuche einen Makerspaces „für uns” – mit Orten „zum Denken” (Couch, Trampolin), viel bunter als die zuvor besuchten Makerspaces, nur mit Technik, die auch wirklich alle bedienen dürfen, räumlich direkt neben anderen Angeboten des Community-Centers (und damit nicht auf das rein Abarbeiten von Projekte bezogen). Anschliessend überzeugten sie das Board des Community-Centers, diesen Makerspace tatsächlich einzurichten.

Anschliessend müssen im Makerspace klare Strukturen vorhanden sein (regelmässige Sitzungen), aber so flexibel, dass sie in das eher krisenhafte Leben der Jugendlichen passen (umgesetzt als ständige Möglichkeit, zwischendurch to drop-out und dann nach Wochen, Monaten wiederzukommen und weiter zu machen).

Weiterhin müssen die Projekte Sinn für die Jugendlichen machen. Sinn machen sie, wenn sie in der Realität verankert sind. Im Projekt wurde das umgesetzt, indem die Jugendlichen selber ihre Umgebung erkundeten, Interviews führten, Probleme identifizierten, welche tatsächlich vorliegen. Und dann daran gingen, diese mit ihren Projekten zu lösen, immer im Hinblick darauf, dass sie auch wirkliche Veränderung ermöglichen würden. Nicht, dass man etwas basteln und werkeln würde war wichtig, sondern dass damit eine Lösung geschaffen würde (ein Fussball, der leuchtet, weil Fussballplätze in der Umgebung unbeleuchtet sind; eine „Anti-Bullying”-Jacke mit Alarmknopf; eine Handyhülle mit Solarzellen zum Aufladen von Smartphones auch ohne Stromrechnung). Alle das muss angeregt und unterstützt werden.

Zusammen war es zumindest in den zwei untersuchten Jahren möglich, einen Makerspace für Jugendliche zu betreiben, die nicht zum normalen Klientel von Makerspaces gehören – aber nur, indem überhaupt einmal als Problem benannt wird, dass die angebliche Offenheit von Makerspaces sich in der Realität nicht findet und das die notwendige Arbeit geleistet wurde, die Jugendlichen aktiv zu integrieren.

Hoffnungen von Bibliotheken auf die Wirkung von Makerspaces: Revisited

Was heisst das nun bezogen auf Öffentliche Bibliotheken (im DACH-Raum)?

  • Die Gesellschaft, die Machtstrukturen der Gesellschaft, all die Aus-und Einschlüsse, sind vorhanden und lassen sich nicht einfach abstellen, wenn man einen Makerspace einrichtet. Insbesondere, wenn man den Makerspace „einfach laufen lässt”, läuft man sehr schnell Gefahr, diese Strukturen wieder zu reproduzieren, gar zu verstärken. Der Makerspace produziert da keine neue Offenheit.

  • Die Community, von der sich oft versprochen wird, dass sie sich um Makerspaces bildet: Das ist zweifelhaft, wieder vor allem dann, wenn man den Makerspace „laufen lässt”. Es ist immer Arbeit, Community herzustellen und zu erhalten, auch Arbeit, die immer wieder scheitert. (Das könnte man auch so aus der Ethnologie lernen, aber das ist hier einmal nicht Thema.) Sie entsteht nicht nebenher und wenn doch eine entsteht, aber man nicht aufpasst, entsteht eine, die auch sehr ausgrenzt.

  • Ein Makerspace, der vor allem auf Technik und Ausprobieren dieser Technik setzt, scheint auch eher zu individualistischen Projekten und zur individualistischen Nutzung des Angebots zu führen. Die Frage für Bibliotheken ist: Ist das so gewollt? (Alle anderen Schlagwörter aus den Diskursen um Makerspaces wie Innovation oder mehr Bildung oder neue Bildung oder Unterstützung der lokalen Ökonomie – all das findet sich in der Realität von Makerspaces offenbar nicht wirklich.)

  • Technik alleine, egal wie hip, reicht nicht aus, um erfolgreich einen Makerspace zu betreiben.

  • Zusammengefasst läuft man mit Makerspaces, vor allem solchen ohne zusätzliches Personal, immer Gefahr, noch einen weiteren „Mittelstands-Raum” zu bauen. Das ist nicht Öffnung der Bibliothek „zur Stadtgesellschaft” oder so, von der Bibliotheken aktuell reden.

  • Andere Makerspaces oder Angebote im Bereich Makerspace sind aber offenbar möglich: Nur ohne Personal dafür, dass darauf achtet, dass der Makerspace halt nicht zum „normalen” wird, ist eher zweifelhaft, ob sie etwas anderes sein können, als ein Raum, indem die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert werden.

 

Fussnoten

1 Was sich verändert hat, ist, dass die Firma „TechShop”, welche das Makersapce-Modell kommerziell umsetzen wollte (also Räume gründete, die wie Co-Working-Spaces tage-, wochen- oder monatsweise gemietet werden konnten) und in Hochzeiten zehn US-Filialen und vier internationale Filialen betrieb – und von der sich andere Makerspaces, die Davies untersuchte, immer und immer wieder abgrenzten – 2014 Konkurs anmeldete.

2 Wenn sie den konnten. Ein Fakt, der die Armut der Jugendlichen demonstriert, ist, dass eine Anzahl von Ihnen nicht kontinuierlich an den Sessions im Makerspace teilnehmen konnte, weil sie sich die Busfahrt nicht leisten konnten.

Ein Beitrag zur Bibliotherapie

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 15. März 2019

Zu: Laura Freeman (2018). The Reading Cure: How Books Restored My Appetite. London: Weidenfeld & Nicolson, 2018

 

Von: Karsten Schuldt

Lesen hilft.

Bibliotherapie ist eine Sammelbegriff für verschiedene Formen der Selbsttherapie und der angeleiteten Therapie, bei der Bücher – vor allem literarische Texte und Selbsthilfebücher – genutzt werden. Sie ist erstaunlich erfolgreich. Insbesondere für solche Formen, in denen sie therapeutisch begleitet wird, liegen zahlreiche positive Forschungsergebnisse über ihre Wirksamkeit vor. (Wohl weit mehr als für andere Themen, die aktuell im Bibliothekswesen umgesetzt werden.) Sarah McNicol und Liz Brewster (McNicol & Bewster 2018) legten letztes Jahr ein Überblickswerk für die Bibliothekspraxis vor, in dem auf die Geschichte von Bibliotherapie eingegangen und Anwendungsmöglichkeit präsentiert, aber vor allem darauf eingegangen wurde, was Bibliothek tun können, um Bibliotherapie – vor allem die durch Nutzerinnen und Nutzern „selbstgesteuerte” – zu unterstützen. Gerade in englisch-sprachen Staaten (GB, Neuseeland, Australien) existieren auch lokale und nationale Unterstützungsstrukturen, um über Bibliotheken, Menschen, die davon profitieren können, Bibliotherapie zu ermöglichen.

Das Bibliotherapie funktioniert und oft auch andere Therapien, Heilungsprozesse und Krisenverarbeitungen unterstützt, ist gut dokumentiert. Nicht bei allen, aber bei vielen Menschen. Was fehlt – so wird bei McNicol und Brewster klargestellt – ist eine Theorie, die erklärt, warum sie das tut.

 

Lesen hilft.

Laura Freeman, Journalistin in London, erzählt in ihrem Buch The Reading Cure, wie sie durch das Lesen von Romanen, Kriegsberichten, Lyrik und anschliessend Kochbüchern nach und nach die Anorexie, welche sie in ihrer Jugend entwickelte, überwand und wieder zu einem positiveren Verhältnis zu sich selbst und zum Essen fand. Nicht so, dass sie sich als „geheilt” verstehen würde, aber doch so, dass sie heute eine weit bessere Lebensqualität hat.

Das Buch ist ein reflektierter, gut lesbarer First-Hand-Bericht dazu, wie selbstgesteuerte Bibliotherapie funktionieren kann, mit individuellen Spezifika, aber doch so, dass die Chancen des „Heiles durch Lesen” offensichtlich werden. Es fällt leicht, gerade wenn man selber an Literatur und Sprache interessiert ist, die Autorin sympathisch zu finden und ihrer Geschichte zu folgen, was vielleicht ein Manko ist, wollte man das Buch als Werbung für Bibliotherapie einsetzen – zu leicht wäre es zu unterstellen, dass die Autorin zu sehr eine reine Idealfigur für Literaturbegeisterte ist. Aber für den Fall, dass man daran interessiert ist, einen ersten Einblick in die Möglichkeiten von selbstgesteuerter Bibliotherapie zu erhalten, ist es ein empfehlenswerter Einstieg.

 

Lesen hilft.

Die Geschichte Freemans beginnt in ihrer Jugend, in der sie mit 14 Jahren Anorexie entwickelt. Für den Prozess gibt es äussere Umstände (die Kultur in der Schule, in der sie geht und die mit sehr viel Druck einhergeht), aber die alleine erklären nie, warum jemand diese Krankheit entwickelt und jemand anders nicht. Vielmehr versucht die Autorin mit diesem Buch, auch nach aussen klar zu machen, wie sie sich innerlich fühlte. Sie benutzt das Bild einer Bibliothek – eher die eines englischen Herrenhauses – in ihrem Inneren, welche zerschmettert wurde: Die Bücher auf dem Boden, die Glasscheiben zertrümmert, die Stühle und Tische umgeschmissen. Das Buch ist eine Geschichte davon, wie sie diese Bibliothek wieder aufrichtet.

Man erlebt zuerst mit, wie die Anorexie immer schlimmer wird, wie die Autorin also ein Bild von sich als falsch, schuldig, ständig Fehlentscheidungen treffend entwickelt, die sich zudem ständig Strafen auferlegt (sie entwickelt einen Drang zu Laufen, über Stunden, durch jedes Wetter, obwohl ihr Körper selbstverständlich mehr und mehr geschwächt ist). Das Essen fällt dabei Schritt für Schritt fort: Sie entwickelt Abneigungen gegen einzelne Bestandteile, gegen ganzen Gruppen von Essen, gegen das Essen allgemein. Aber, darauf legt sie Wert, das sind Symptome ihres eigenen Innenlebens. Sie muss durch mütterliche und ärztliche Intervention gerettet werden: Über Monate daheim bleiben, dann einen Status der „funktionalen Anorexie” entwickelnd (also selber soviel zu Essen, dass sie überlebt).

Während sie sich in den ersten Jahren ihrer Krankheit zum Jahreswechsel selber Ziele setzte, die mit weniger Essen zu tun hatten – zum Beispiel noch mehr Dinge nicht zu essen oder mit noch mehr Selbststrafen zu reagieren – wurde ihr das bei den mütterlichen und ärtzlichen Interventionen verboten. 2012 setzte sie sich deshalb ein anderes Ziel: Das gesamte Werk Charles Dickens zu lesen. Es war das Jahr des 200. Geburtstages des Autors. Über das Jahr las sie alle seine Veröffentlichungen, systematisch in Reihenfolge ihrer Publikation. Einzig die Weihnachtsgeschichte verschob sie bis zu diesem Feiertag. Dies ist folgerichtig: Menschen mit Anorexie scheinen solches systematische, geradezu kompromisslose Vorgehen auszubilden – zumindest bei Freeman traf das zu. Das schlägt sich nicht nur in ihrem Umgang mit Essen (gar kein Zucker, gar kein Ei und so weiter) und ihrem eigenen Körper (einen Happen zuviel sind so und so viel Stunden zu Laufen) nieder, sondern auch im restlichen Leben: Systematisches Vorgehen. Das hilft auch, die Autorin studiert zum Beispiel erfolgreich im Laufe der von ihr berichteten Jahre, wird ebenso erfolgreich Journalistin, am Ende Freelancerin.

Die Bücher Charles Dickens sind offenbar angefüllt mit Essen. Szenen über Szenen von Essen. Frühstück, Mittag, Abendessen, Snacks zwischendurch, im Gasthaus, im Pub, daheim. Das ist nicht unbedingt das, wofür Dickens bekannt ist, aber das ist, was Freeman einen Zugang zu Essen verschaffte. Bei Dickens traf sie auf einen für sie neuen Gedanken: Das Essen etwas Positives sein kann, nicht nur etwas, auf das man achten und wofür man sich bestrafen muss. Man darf sich nicht vorstellen, dass das alleine schon dazu führte, dass sie wieder zu essen begann. Aber am Ende des Jahres, zu Weihnachten, im Kontext ihrer Familie und vor dem Hintergrund, dass auch in der Weihnachtsgeschichte von Dickens gegessen wird, traute sie sich das erste Mal seit Jahren einen kleine Löffel des Weihnachtspuddings zu essen. Danach musste sie wieder Stunden Laufen gehen. Aber es war ein Anfang.

2013 dann wendete sie sich – vor dem Hintergrund, dass ein Jahr später die hundertjährige Wiederkehr des Beginns des ersten Weltkriegs nahte – Berichten und Literatur von britischen Soldaten aus diesem Krieg zu. Auch hier, ungewollt und unerwartet, traf sie, eingebettet in einen grösseren Kontext, auf ein sehr positives Bild von Essen. In den Schützengräben wurde durch Essen ein Stück Normalität gefunden. Bei Aufenthalten hinter der Front oder auf Heimaturlaub wurde das Essen immer und immer wieder zum Thema, immer wieder auch positiv. Solche Schilderungen brachten sie immer mehr dazu, sich langsam dem Essen anzunähern. Es ist ein langsamer Prozess und es ist gibt auch keine direkte Übersetzung: Die Autorin bereite sich nicht bestimmte Gerichte zu, nur weil sie von diesen las. Sie näherte sich dem Essen an, räumte die Bibliothek im Kopf auf. Aber dann traute sie sich doch etwas mehr zu. Immer wieder einmal.

Das geht über weite Strecken des Buches weiter. Die Autorin beobachtete sich selber und ging dann dazu über, auch beim Lesen und dann bei der Annäherung ans Essen systematischer vorzugehen. Es gibt Rückschläge, dies ist kein Bildungs- oder Entwicklungsroman. Gerade in den letzten Monaten, in welchen sie fest angestellt in einer Redaktion arbeitet, und in der Foodtrends, die Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel und eine strikte Kontrolle des eigenen Essens propagieren, es bis in die Feuilletons schaffen, entwickelte sie wieder neue Abneigungen. Stress und die allgemeine Propagierung von Verzicht hatten eine direkte, negative Auswirkung auf ihr Leben und Wohlbefinden. Am Ende schilderte sie auch, dass sie von all den Nahrungsmitteln, Schokolade weiterhin aus ihrem Leben ausgeschlossen hat: In ihrem Kopf hat sich an Schokolade das Bild festgeheftet, welches sie früher mit noch weit mehr anderen Nahrungsmitteln verbunden hatte: Das des bevorstehenden Chaos. Ein Stück Schokolade würde praktisch den Damm öffnen, welcher das Chaos zurückhält, dass sie versucht von sich abzuhalten. Das ist selbstverständlich nicht rational, aber zeigt auch, wie die Krankheit weiter wirkt.

 

Menschlicher Kontakt hilft.

Freeman schildert ihr langsames wieder-zum-Essen-finden Schritt für Schritt: Immer ausgehend von Lektüre traut sie sich dann irgendwann wieder an eine Form von Nahrungsmitteln heran. Aber nicht alleine. Es sind immer Situationen in Begleitung von anderen – einem Freund, ihrer Familie, Kolleginnen und Kollegen – und eher spontane Entscheidungen, etwas zu versuchen. Erst langes Überlegen, Abwägen, sich Vorstellen, wie es sein könnte – aber dann spontanes Handeln, mit dem Barrieren überwunden werden. Sie betont das auch: Die Lektüre alleine bereitet vor, aber die positive Atmosphäre mit anderen war es dann, was sie neue Schritte übernehmen liess.

Dabei zieht sich durch das Buch auch eine Reflexion der Autorin darüber, wie viele Probleme sie mit ihrem Verhalten gerade ihrer Mutter – die über Jahre ihre Tochter unterstützte, Wutausbrüche über sich ergehen liess und so weiter – und anderen bereitet hat. Im Nachhinein wird ihr das klar, während der heftigen Phasen ihrer Krankheit war es das selbstverständlich nicht.

Insoweit war zumindest für Freeman nicht nur das Lesen, sondern auch ein Unterstützungsnetzwerk wichtig, um dann am Ende selber die „Bibliothek in ihrem Kopf” aufzuräumen.

 

Bibliotherapie hilft.

Das Buch ist kein Buch über Bibliotheken. Sie kommen aber selbstverständlich immer und immer wieder vor. Irgendwo muss der ganze Lektürestoff ja herkommen: Dafür benutzt die Autorin Bibliotheken und Buchhandel nebeneinander. Eine Unterteilung macht sie dabei nicht. Es ist aber selbstverständlich ein Buch – deswegen wird es hier so ausführlich geschildert – welches zeigt, dass es sich lohnen würde, wenn Bibliotheken den eigenen Bestand und die eigene Bestandsarbeit nicht als reinen Hintergrund für neue und andere Angebote ansehen würden, sondern auch fragten, was eigentlich dieser Bestand für Wirkungen hat. Freeman zeigt, dass das Lesen nicht einfach eine Sache ist, die einfach „noch gemacht wird”, aber eigentlich im Digitalen und Innovativen aufgehen würde, sondern das Lesen für Menschen weiterhin eine wichtige Funktion in Bezug auf ihre geistige Gesundheit und ihr Wohlbefinden haben kann. Nicht für alle, nicht alleine; aber wenn, dann doch im relevanten Mass.

 

Selbstverständlich ist die Autorin dabei prädestiniert: Schon vor ihrer Krankheit lesebegeistert, während ihrer Krankheit darauf fixiert, zu lesen – das alles hat wohl dazu beigetragen, dass sie gerade über Lektüre wieder zum Essen fand. Das gilt selbstverständlich nicht für alle Menschen.

Damit zusammen hängt, dass sie von Sprache begeistert ist. Unerwartete, unbekannte Worte findet sie interessant. Sie erwähnt, dass sie solche gesondert vermerkt, wenn sie auf sie stösst, dann weiter über sie recherchiert und später versucht, sie in Texte „einzuschmuggeln”. So wurde sie auch auf die Ess-Szenen bei Dickens aufmerksam: Weil er viele, viele unbekannte, neugebildete Worte benutzte. Man merkt das aber auch positiv an ihrem eigenen Buch: Es ist ein flüssiges Englisch, wie man das von einer Journalistin wohl erwarten darf, aber gespickt von seltsamen, interessanten Worten, die das Lesen auch sprachlich zum Vergnügen machen.

 

 

Literatur und Links

Sarah McNicol ; Liz Bewster (edit.). Bibliotherapy. London: Facet Publishing, 2018

Books on Prescription AUS – https://booksonprescription.com.au

Books on Prescription NZ – https://booksonprescription.co.nz

Reading Well GB – https://reading-well.org.uk

Lob der Bibliothek oder Propaganda für die ALA?

Posted in LIBREAS.Feuilleton, Uncategorized by Karsten Schuldt on 6. Februar 2019

Karsten Schuldt

Zu: Susan Orlean. „The Library Book”. New York et al.: Simon & Schuster, 2018

 

 

Was soll man zu diesem Buch sagen?

In „The Library Book” erzählt Susan Orlean – eine Journalistin, keine Bibliothekarin – vier Geschichten:

  1. Die Geschichte vom Brand in der Zentralbibliothek der Los Angeles Public Library 1986 und von dem jungen Mann, der verdächtigt wurde, dieses Feuer gelegt zu haben.

  2. Die Geschichte der gleichen Bibliothek von der Gründung bis heute.

  3. Eine Reportage darüber, was heute alles in dieser Bibliothek passiert.

  4. Und zuletzt ihre persönliche Geschichte wie sie in jungen Jahren mit ihrer Mutter ständig die Bibliothek, in deren Nähe sie aufwuchs, besuchte.

Das alles ist lose miteinander verbunden und abwechselnd in kurzen Kapiteln erzählt. Zum Schluss des Buches ist die Geschichte der jungen Mannes – Harry Peak – zu Ende erzählt (er stirbt in Florida an AIDS ohne für den Brand verurteilt zu sein), gleichzeitig wird Zweifel daran geäussert, ob der Brand überhaupt absichtlich gelegt wurde; zugleich ist die Geschichte der Bibliothek – inklusive des Wiederaufbaus nach dem Brand – in der Jetztzeit angekommen, sind verschiedene Aufgaben, Bereiche und Personal der Bibliothek vorgestellt worden und hat die Autorin gelernt, dass die Bibliothek sie immer noch an die Zeiten Ihrer Kindheit und Jugend erinnert, auch wenn heute vieles anders ist als damals. Das Buch ist auch sichtbar mit Bedacht ausgestattet worden: Das Papier und der Umschlag sehen leicht verbraucht aus, statt Kapitelüberschriften finden sich je vier bibliographische Angaben (Titel, Jahr, Autor/in, DDC-Nummer) mit Bezug zum Thema des jeweiligen Kapitels. Die letzte Umschlagseite bildet eine (gezeichnete) Buchkarte ab. Was kann man daran nicht mögen?

 

Eines: Das Buch liesst sich über weite Strecken – fast immer, wenn es sich nicht mit Harry Peak und seiner Geschichte befasst – wie Propaganda der ALA (oder eines anderen Bibliotheksverbandes). All die Schlagworte und Themen, mit denen Bibliotheksverbände heute versuchen, Bibliotheken zu präsentieren, kommen vor – nur vielleicht gekonnter dargestellt,als das Bibliotheksverbände im Allgemeinen tun: Bibliotheken als soziale Orte, als offene Orte für alle, als Orte für verschiedene Veranstaltungen für verschiedene Nutzerinnen und Nutzer, als Ort für Kinder und Jugendliche, als Ort für persönliche Recherchen, für das Lesen, für Bildung, als einer der Orte, der Menschen ohne festen Wohnsitz Hoffnung gibt. Mehrere Bibliothekarinnen und Bibliothekare werden als interessante und engagierte Personen vorgestellt. Das eine Bibliothek viele, viele unterschiedliche Medien hat – elektronische, gedruckt und überraschendere Sammlungen. All das. Plus die erwähnte positive Geschichte der Autorin selber (die immerhin erfolgreiche Autorin wurde) und die nicht unspannende Geschichte des Brandes selber – die sich dann in Teilen auch wieder wie gute Propaganda über die soziale Bedeutung der Bibliothek liest, wenn sich sowohl zum Ausräumen der Bibliothek nach dem Brand als zum Einräumen vor der Wiedereröffnung hunderte Freiwillige einfinden und wenn lokal ansässige Firmen mit Infrastruktur, Personal und Geld einspringen, um die Bibliothek zu retten.

Zwischendurch werden auch einige eher nicht so positive Geschichten erzählt – wie Anfang des 20. Jahrhunderts die Chefbibliothekarin vom Library Board zum Rücktritt gezwungen wurde, nur damit sie von einen Chefbibliothekar (der eher Abenteurer denn Bibliothekar war) ersetzt werden konnte, was lange (und berechtigte) Proteste der damaligen Frauenbewegung nach sich zog, und wie der zur Bibliothek gehörige Park für einen Parkplatz abgerissen wurde. Aber mehr auch nicht.

The Library Book

The Library Book als Bibliotheksbuch

 

Dieses Buch erzählt also vor allem das, was Bibliotheken heute wohl gerne über sich hören. Vielleicht, weil die Autorin überzeugt wurde. Sie erscheint die ganze Zeit wahrhaft überzeugt von dem, was sie darstellt. Es gibt aber eine Stelle, die etwas Zweifel streut: In einem Kapitel bespricht die Autorin andere Bibliotheken, die über die Jahrhunderte verbrannt wurden. Das ist selbstverständlich mit einem breiten Pinsel gezeichnet, da der Platz kurz ist. Trotzdem kommen – zu Recht – auch die Bücherverbrennungen zu Beginn des nationalsozialistischen Deutschlands – beziehungsweise die Aktion „Wider den undeutschen Geist” – vor, allerdings in einer historisch ungewohnten Weise: Die Autorin besteht darauf, die ganzen Vorgänge mehrfach explizit als „Feuersprüche” (in Deutsch) zu bezeichnen, obwohl diese „Feuersprüche” nur ein Teil der Inszenierung waren. Das ist recht ungewöhnlich. Zudem schreibt sie die Bücherverbrennungen einzig den Nazis direkt zu, obgleich heutige Darstellungen immer wieder darauf hinweisen, dass die Studentenschaften die Aktion organisierten und die NSDAP erst darauf einstieg. Das sind Kleinigkeiten und auch keine, welche die historische Wahrheit verfälschen würden. Aber es hinterlässt den Eindruck, als hätte die Autorin an dieser Stelle ungenau, oberflächlich recherchiert. Vielleicht nur bei diesem einen Punkt (der vielleicht auch nur im deutschen Sprachraum wirklich auffällt), aber solche Ungenauigkeiten verleiten schon zu der Frage, wie tief die anderen Kapitel eigentlich recherchiert wurden – und nicht eher das wiedergegeben, was die Bibliothekarinnen und Bibliothekare vermitteln wollten.

 

Aber auch wenn man annimmt, dass das Buch genau das darstellt, was der Autorin aufgefallen ist, als sie über die Los Angeles Public Library nachdachte und diese besucht, ist das Buch ein Realitätscheck für den bibliothekarischen Diskurs: Wenn das wirklich ist, wie die Öffentlichkeit von Bibliotheken wahrnimmt und wie sie Bibliotheken sieht, ist überhaupt nicht mehr klar, wieso es im bibliothekarischen Diskurs diese ganzen Ängste vor dem Ende oder der Stagnation der Bibliotheken gibt. Wenn die Öffentlichkeit die Bibliotheken als so spannend und wichtig wahrnimmt, wie Susan Orlean, gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen, ob man irrelevant wird oder in der Öffentlichkeit als veraltet oder langweilig angesehen. Wenn es keine „accidental propaganda” ist, dann ist es ein Hinweis darauf, dass die ständigen Krisendiskurse, welche bibliothekarische Diskurse oft prägen, wenig Grundlage in den realen Problemen haben. (Die Frage wäre dann eher, warum Bibliotheken auf dieses guten Bild, dass Orlean von ihnen zeichnet, nicht wirklich aufbauen.)

 

Trotzdem ist das Buch gut, flüssig und vergnüglich zu lesen. Als jemand, die oder der sich mit Bibliotheken auskennt, wird nicht so viel spezifisch Neues zu lesen sein, ausser der Geschichte des Brandes selber. Aber es ist ein unterhaltsamer Einblick in diese spezifische Public Library.

 

[Eine Vorstellung des Buches durch die Autorin selber im Buchladen „Politics and Prose” (Washington, D.C.) findet sich im Youtube-Kanal des Ladens: https://www.youtube.com/watch?v=CY3Wxafosbw]

Die Idee LIBREAS und das Institut für Bibliothekswissenschaft.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 6. Dezember 2018

Manuskriptfassung des Grußworts von Ben Kaden auf der Festveranstaltung 90 Jahre Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft am 02. November 2018 im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin.

Ben Kaden bei seinem Grußwort auf der Veranstaltung 90 Jahre Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, 02. November 2018

Ben Kaden beim Grußwort am 02. November 2018 (Foto: Maxi Kindling)

 

I

Die Berliner Bibliothekswissenschaft mit ihrem Institut wird, grob gerechnet und Pausen ausgeblendet, 90 Jahre alt. Einschränkungen sind bei der Zuschreibung zweifach notwendig: Erstens weil es natürlich bibliothekswissenschaftliches Denken in Berlin auch außerhalb des Instituts gab und gibt. Und zweitens, weil das Institut an sich kein Kontinuum ist. Vielmehr besitzt es eine wechselvolle Geschichte, deren Aufarbeitung bzw. Aufzeichnung jetzt zum Jubiläum nur ein Kratzen an der Oberfläche darstellte. Klar, man schürfte hier und da und da und hier auch mal tiefer. Aber eigentlich sieht man jetzt erst wirklich, was da an Geschichte und Geschichten hervorblitzt und Stoff für mindestens vier, fünf Promotionsvorhaben angedeutet. Oder Großaufsätze, z. B. für LIBREAS.

LIBREAS, diese hier 2004/2005 begründete elektronische Open-Access-Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft bzw. bald namentlich erweitert wie das Institut in Zeitschrift für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, begleitete etwa 13 dieser 90 Jahre, Das Institut war demnach um die 77, als wir mit LIBREAS begannen, eher noch sogar 76 oder 75. Ich überlege, nach wie vor ergebnisoffen, an welchem Schlüsseldatum oder -ereignis man die Idee zu LIBREAS. Library Ideas festhaken könnte.

Fester gehakt ist die Natur von LIBREAS als eindeutig typische Berliner Schöpfung. Das Projekt dieser Zeitschrift ist Ergebnis dieser berühmt-berüchtigten Mischung aus Gestaltungswillen, Dreistigkeit, Naivität und viel Improvisation, die so typisch war für das, was in gar nicht so entfernter Nachbarschaft von diesem Ort [dem Grimmzentrum, für das zeitgleich zur Gründung von LIBREAS die ersten Spatenstiche gesetzt wurden] den Mythos des Aufbruchsberlins begründete, ein Mythos, von dem die Stadt noch heute zehrt. Ich erinnere mich gut, wie wir nach offiziellen oder inoffiziellen Institutsfeiern gern noch in kleiner Gruppe in der Böse-Buben-Bar, im Aufsturz oder, auch das gab es noch, im Tacheles vorbeischauten und irgendwann von der ersten (oder zweiten) Straßenbahn des Tages im matten Morgenlicht nachhause geschunkelt wurden. Das Magisterstudium ließ auch Raum für längere Nächte. (more…)

Gastbeitrag: IBI 2003 and Beyond – Ein Blick hinter die Kulissen

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 5. Dezember 2018

 

90 Jahre IBI - Programmflyer

Natürlich und sofort auch ein Dokument der Institutsgeschichte: Der Programmflyer zur Veranstaltung am 02. November 2018

Die Festveranstaltung zum – je nach Perspektive mehr oder weniger – 90-jährigen Bestehen des Berliner Instituts für Bibliothekswissenschaft bzw. Bibliotheks- und Informationswissenschaft rückt nun selbst wieder zunehmend in die Vergangenheit. Ein Monat ist seitdem vergangenen und der Veranstaltungsraum im Grimmzentrum diente längst wieder anderen Themen wie Forschungsdaten auf dem edoc-Server oder auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Öffentlichen Bibliotheken und der Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Forum. Die Fachwelt rotiert ebenso wie die Bibliothekswissenschaft weiter, was auch sehr gut und wichtig ist. Was man trotz dieser Dynamik in den Fragen und im Denken und auch dem institutionellen und personellen Gefüge um das Institut und das Fach nicht vergessen darf, sind die Spuren und Erkenntnisse, die sich aus der Betrachtung der Vergangenheit ergeben oder sich in der Gegenwart für eine kommende Betrachtung fassen und ablegen lassen. Die Festveranstaltung bot in der für solche Zusammentreffen typischen Rahmen einen Zugang, der im Nebeneffekt an vielen Stellen bestimmte, für die Geschichte des Fachs wichtige Fragmente und hier und da auch Zusammenhänge freilegte. Einiges davon findet sich in der aktuellen LIBREAS-Ausgabe. Anderes wird – hoffentlich – in kommenden Ausgaben erscheinen. Und manche Erinnerungen können auch sofort dokumentiert werden. So erreichte uns im Nachgang zum 02. November eine kleine Erinnerung, zugleich eine Art nachgereichtes Grußwort von Elmar Mittler an das für das IBI der heutigen Zeit so entscheidende Jahr 2003. Und das wollen wir natürlich auf jeden Fall an dieser Stelle in gewisser Weise auch als Supplement zur LIBREAS-Ausgabe „90 Jahre Bibliotheks*wissenschaft in Berlin“ hier nachreichen.

(Berlin, 05.12.2018)

 

Eine Erinnerung von Elmar Mittler

Zur 90-Jahrfeier des IBI kann man in jeder Weise herzlich gratulieren. Zeigte sie doch einmal mehr, dass die Konzeption des Neuanfangs mit dem Ziel der Internationalisierung des IBI aufgegangen ist. Ich bin den beiden ausländischen Mitgliedern der geleiteten Evaluierungskommission – John Feather und Hans Rosendaal – noch heute  sehr dankbar, dass sie nach einer langen Nacht der Diskussion 2003 bereit waren, nicht ihre Meinung zum damaligen Stand der Forschung und Lehre am IfB  im internationalen Vergleich in den Vordergrund zu stellen, sondern mit mir die Zukunftspotentiale des einzigen universitären bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Institutes in Deutschland zum Kern des Gutachtens zu machen. Die Kommission hat dafür die unverzügliche Neubesetzung der vakanten Professur mit einer Neuausrichtung des Faches empfohlen. Auf der Basis dieser Evaluation gelang es, die vorgesehene Schließung des Instituts zu verhindern.

Um aber die Gremien der Universität endgültig davon zu überzeugen, dass ein derartiges Institut in Deutschland das Profil der HU stärken und ihr international zusätzliches Renommee verschaffen kann, wurde gefordert, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln. In Absprache mit dem Vizepräsidenten für Forschung Hans Jürgen Prömel, der sich im Verlaufe des Prozesses als überaus kompetenter Partner erwies, erfolgte dieses im Rahmen einer Findungskommission. Diese lud unter meiner Leitung 2004 eine Reihe international führender Forscher mit der Bitte nach Berlin ein, ihre Vorstellungen für eine Neukonzeption des Faches an der HU insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt eines Alleinstellungsmerkmals darzulegen. Dabei bestätigte sich meine Konzeption der Internationalisierung zur Neukonzeption des Instituts für alle Beteiligten. Konrad Umlaufs Protokoll hielt es so fest: Es zeichnete sich ab, dass die geeignete Persönlichkeit aus dem englischsprachigen Ausland oder aus Skandinavien kommen könnte, wo die beiden Traditionsstränge Bibliothekswissenschaft und Informationswissenschaft anders als in Deutschland nie getrennt waren.

Das konkrete Ergebnis war die offizielle Ausschreibung einer Professur für die Digitale Bibliothek. Dieser Erfolg wäre nicht ohne die Bereitschaft des Dekans Oswald Schwemmer möglich gewesen, dem Institut die Chance zu geben, seine damalige Isolierung in der Fakultät zu überwinden; Professor Wolfgang Coy von der Informatik gab zusätzlich immer wieder hilfreichen Rat für die praktische Umsetzung. Zu den 18 Bewerbern zählte glücklicherweise auch Michael Seadle, der sich (in harmonischer Partnerschaft mit dem ebenfalls neu berufenen Professor für Informationsmanagement Peter Schirmbacher) als ideale Besetzung für den Neuanfang des Instituts erwies.

Michael Seadle brachte Internationalität in Forschung, Lehre und institutioneller Vernetzung, verankerte durch sein langjähriges Dekanat das Institut in der Fakultät und sicherte ihm durch seine aktive Mitarbeit in entscheidenden Gremien die Vernetzung in die Universität. Auch der Übergang in eine neue Generation ist inzwischen gelungen. Für mich war deshalb die 90-Jahrfeier ein glückliches Ereignis. Sie zeigte mir, dass eine meiner Zukunftsvorstellungen für das deutsche Bibliothekswesen Wirklichkeit geworden ist: wir haben ein international renommiertes universitäres Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Und ich darf ein bisschen stolz darauf sein, an seinem Fundament mitgewirkt zu haben. Meine Hoffnung und mein Wunsch für die Zukunft sind, dass es der jungen Mannschaft gelingt, das innovative Lehr- und Forschungspotential des IBI auch für die praktische Entwicklung des deutschen Bibliothekswesens und dessen internationale Vernetzung weiter fruchtbar zu machen – und dass sie weiter heil durch die an Untiefen reichen Gewässer komplexer institutioneller Organisationen gleitet.

Berlin – Ecke Queen Street. Eine Ansichtskarte.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 18. November 2018

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

Eine kleine überraschende Ergänzung unserer im LIBREAS.Tumblr – viel zu wenig – gepflegten Serie Berliner Bibliotheken fand sich unlängst in einem Ordner mit älteren Ansichtskarten und das ist naturgemäß zu schön, um nicht auch hier verzeichnet zu werden. Wie bei solchen Fundstücken üblich, sind die Wege, die sie über die Jahre – in diesem Fall immerhin schmale 111 davon – nahm, kaum rekonstruierbar. Ausgenommen von dieser Einsicht ist die erste Etappe, da es zum postalischen Gebrauch gehört, in solche Kommunikationsträger auch entsprechende Metadaten einzuschreiben – also Adresse, Datierung und Poststempel. Dadurch wird es uns möglich, sie auch heute noch eine Lektüre zu unterziehen, die freilich verwaschen bleiben muss. Denn zahlreiche Rahmenangaben für die Analysekette Wer-was-wann-wie-wo-warum? sind nicht ermittelbar und werden es mutmaßlich nie mehr sein.

Ansichtskarte - Berlin, Ontario, Public Library

King Edward schaut wie auf diese Bibliothek: Eine Ansichtskarte aus Berlin, Ontario.

Was wir unschwer sehen: Eine Madame Verret aus Quebec – und zwar Quebec City bzw. besser noch Ville de Québec entschied sich, diese Karte aus dem Sortiment des so jungen wie nach einem Brand mit Totalverlust im Jahr 1904 gebeutelten Druckhauses Warwick Brothers & Rutter, Ltd. aus Toronto zu nutzen, um einem Jules Bellard zu schreiben, in die Kleinstadt Argentan (Orne), das Textilhistoriker*innen möglicherweise wegen seiner Spitze bekannt ist, dem so genannten Dentelle-d’Argentan-Muster, kräftig, floral, robust, ein Favorit von Louis XV und danach bald weitgehend vergessen, außer in Argentan natürlich, wo heute im Museum ausführlich an diese ruhmreiche Facette der Stadtgeschichte erinnert wird.

Nach Argentan also reiste die Karte, in die Hausnummer 4 der rue [de la] Chaussee, in der sich heute ein Fachgeschäft für Mobiltelefonie befindet, nur indirekt ein Gruß und mit dem ausdrücklichen Zweck offenbar der Übermittlung der Postanschrift von Madame Verret an diesen Jules. Wer Madame Verret schreiben wollte, der schrieb an die 172 rue Richelieu in Quebec Can., vermutlich angesichts der Lage im Quartier Faubourg Saint-Jean bereits zu dieser Zeit keine schlechte Adresse und heute Standort eines wuchtigen Appartementhauses jüngeren Baujahrs und damit für die Rekonstruktion der sozio-postalischen Spuren eine Sackgasse namens Tandem – Condos sur Cor.

Der Bezug von Madame Verret zur Carnegie gestifteten öffentlichen Bibliothek in Berlin, Ontario bleibt dagegen wie heute die Rue Richelieu 172 weitgehend im Schatten und möglicherweise ist in diesem auch gar nicht übermäßig viel zu entdecken. Es könnte auch schlicht eine Motivwahl aus Zeitgeist gewesen sein. Die Bibliothek in Berlin war nämlich ein Schmuckstück ihrer Zeit, noch sehr jung – im Januar 1904 als eine von elf ihrer Art in der Region eröffnet – und besonders üppig mit Mitteln in Höhe von 24.500 $ durch eben die Carnegie Foundation gefördert.

Interessanterweise stellte man aber 1907 fest, dass der Bau für den Bibliotheksbetrieb wenig optimal war. Sie schien schnell zu klein für eine aufstrebende Kommune mit 10.000, bald 15.000 Einwohnern. Und war vor allem zu feucht, so dass der Keller nicht für Bibliothekszwecke nutzbar war. Es blieb offenbar aus gutem Grund der erste und der letzte Bibliotheksbau des in Mannheim, Warterloo County geborenen Architekten Charles Knechtel (1869-1951), der glücklicherweise den Abriss des Gebäudes im Jahr 1963 nicht mehr erleben musste, wohl aber die Schmach einer Art Rettungsumbaus. James Bertram, Privatsekretär von Andrew Carnegie, äußerte sich in einem Brief an den Ontario Inspector of Public Libraries, Walter R. Nursey, später, als Charles Knechtel längst mit der Planung von Schulen, Kirchen und Fabriken anderswo befasst war, mit einer bemerkenswert brutale Einschätzung zum Gebäude:

“[T]he Berlin bilding [sic] is one of the most short sighted planned bildings of which I have ever seen the plans. It is cut in small areas and the balcony feature could only have been introduced under the belief that money was no object as it is absolutely unnecessary and entails expenditure of money without any return whatever.” (zitiert nach Beckman, Landmead, Black, 1984, S. 52)

Nachvollziehbar frustriert mit den Vorgängen in Berlin blockte James Bertram eine ganze Weile resolut alle Anfragen des Berlin Library Boards nach weiteren Zuschüssen für eine Neugestaltung und Erweiterung des Gebäudes ab, bis er dann schließlich doch durch die regelmäßigen Anfragen von W.H. Breithaupt, Vorsitzender des Library Board Building Committee, erweicht genug war, um nochmals 12.900 $ bereitzustellen, möglicherweise besonders motiviert durch die Tatsache, dass auch die Stadt Berlin eine erhebliche Summe beisteuerte. Im Februar 1916 wurde, verzögert auch in diesem Berlin durch den Ersten Weltkrieg, die umgebaute und erheblich erweiterte Bibliothek, jetzt mit einer Kinderbibliothek und trockenem Keller, wieder eröffnet. Auch James Bertram zeigte sich nun zufrieden. Im gleichen Jahr, auch eine Folge des Ersten Weltkriegs, benannte man Berlin in Kitchener um, als Würdigung des gerade vor den Orkney Inseln mit 736 weiteren Menschen mit der HMS Hampshire nach deutschem Minenschlag ertrunkenen britischen Feldmarschalls Lord Horatio Kitchener, der unter anderem für die Strategie der “verbrannten Erde” und das Konzept der Konzentrationslager berühmt geworden war. Parallel wurde übrigens in Australien das Gebäckstück namens “Berliner”, das wir in Berlin Pfannkuchen nennen, in Kitchener Bun umgetauft und zum Beispiel auch die Siedlung Friedensthal, South Australia in Black Hill, alles kurios und zugleich eine Erinnerung daran, wie sehr zeitpolitische Symbolentscheidungen auch in der Vergangenheit häufig grotesk und furchtbar waren.

Die nun Kitchener Public Library erfüllte jedenfalls ihren Zweck bis in die 1960er Jahre. Mittlerweile war die Bevölkerung der Stadt auf über 70.000 angewachsen und entsprechend willkommen war der ganz in der Nähe von Kitcheners wichtigsten Architekten dieser Jahre, nämlich Carl Rieder, entworfene flache und sehr moderne Neubau der Main Library an der Queen Street, der im Mai 1962 eröffnet wurde. Für die Kunst am Bau beauftragte man den Maler Jack Bechtel mit einem Wandbild, das zu seiner vielleicht bekanntesten Arbeit werden sollte. Die fast vier mal zehn Meter große in erdigen Tönen gestaltete Darstellung für den Lesesaal zeigt, zum Lichte empor, das Streben des Menschen nach Wissen, heißt passend auch “Enlightenment” und entstand 1963 in der bereits eröffneten Bibliothek und zwar etappenweise in den Nachtstunden.

Den Knechtel-Bau, der wahrscheinlich nie so genannt wurde, ebnete man kurz darauf ein und irgendwann später erwuchs an seiner Stelle ein brutalistische Züge tragendes Gebäude namens The Commerce House Office Tower. Die Berliner Bibliothek blieb die einzige der elf Carnegie-Bibliotheken in der Region Waterloo, die abgerissen wurde. Allerdings verschwand im benachbarten Guelph 1964/65 ein auf den ersten Fassadenblick noch deutlich eindrucksvollerer Carnegie-Bibliotheksbau (von William Frye Colwill).

Mittlerweile verschob sich erwartungsgemäß der Blick auf das bibiotheksarchitektonische Erbe des Andrew Carnegie soweit, dass so gut wie verbliebenen Häuser im Focus des Denkmalschutzes stehen. Für Berlin-Kitchener kommt das zu spät. Aber da Madame Verret sich im September 1907 entschied, ihre Adresse auf eine Bibliotheksansichtskarte von Warwick Bros & Rutter zu schreiben, deren Programm allein die Public Library von Berlin mindestens vier Mal aufwies, und möglicherweise sogar unterfrankiert ins Vorkriegseuropa zu schicken (eine portohistorische Prüfung steht noch an) bleibt sie uns als Berlin Public Library zumindest per Bildzeugnis erhalten.

(Berlin, 18.11.2018)

Literatur

Beckman, Margaret; Landmead, Stephen; Black, John: The Best Gift: A Record of the Carnegie Libraries in Ontario. Toronto, London: Durndurn Press, 1984

Ein Plädoyer für mehr Gerechtigkeit durch öffentliche Informationsinfrastrukturen

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 11. Juni 2018

Zu: Safiya Umoja Noble (2018). Algorithms of Oppression. How Search Engines Reinforce Racism. – New York : New York University Press, 2018

Karsten Schuldt

 

Technologie ist nicht neutral. Ist das neu?

Technologie und Algorithmen sind nicht neutral und auch nicht einfach reine Widerspiegelungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Was an Technologie entwickelt wird und was nicht; was als Problem definiert wird, welches Problem technisch – oder halt auf der Ebene von Software durch Algorithmen – zu lösen wäre und was nicht; was überhaupt als Problem wahrgenommen wird; auf welche Kritik von wem Rücksicht genommen wird und welche Kritik von wem ignoriert wird – all das ist gesellschaftlich. Und es wirkt dann, wenn es in Technologie umgesetzt ist, verstärkend auf die Gesellschaft zurück. Es entwickelt sich nicht in einem luftleeren Raum, in welchem nur Innovation und Genie zählen, sondern entlang von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Diskursen. Ist das eine überraschende Aussage?

Das hier zu besprechende Buch von Safiya Umoja Noble thematisiert diesen Fakt in einer Weise, als sei er neu. Es gäbe in der Gesellschaft die Vorstellung, dass Technologie (in diesem Fall Suchmaschine-Technologie) neutral und fair wäre. Die Autorin berichtet, dass Ihre Studierenden (an der University of California) dies in ihrem Unterricht zum ersten und einzigen Mal in ihrem Studium hörten. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt sie auch in ihren Vorträgen zum Thema (zum Beispiel auf der letzten re:publica 2018). Wenn dem so ist, ist es wohl wichtig, dass es diese Buch gibt. Es sind aber auch keine überraschenden Aussagen. Vielleicht sind dem Rezensenten einfach die beiden Wissenschaftsfelder, auf die sich die Autorin bezieht – Gender Studies und Library and Information Science – selber zu sehr bekannt, aber ihm schien, dass das Buch eher Bekanntes konkretisiert, als neues benennt.

Beispiele für Bias

Überzeugt dann aber diese Konkretisierung? Schon. Noble fokussiert auf Google beziehungsweise Alphabet, da dies einfach die grösste Firma im Bereich Suchtechnologien ist und die Ergebnisse dieser Technologie direkte Auswirkungen in der Gesellschaft haben. Sie zeigt, dass es offensichtliche Vorurteile gibt, die sich in den Suchergebnissen von Google widerspiegeln und damit auch in den Algorithmen der Maschine. Das prominent im Buch mehrfach thematisierte Beispiel ist eindrücklich: Die Autorin wollte 2011 mit ihren Nichten Quality-Time verbringen, suchte deshalb mit dem Schlagwort „black girls” nach Dingen, die diese interessieren könnten, fand aber fast nur Pornographie (und eine Pop-Band mit diesem Namen). Dies liess sich auf andere Gruppen und Themen ausweiten: „latina girls” lieferte ebenso vor allem Pornographie, aber nicht „asian girls” oder „white girls”; „three black teenagers” lieferte Polizeiphotos, „three white teenagers” Bilder von Gruppen von Jugendlichen, „unprofessional hairstyles for work” lieferte nur Bilder von Afroamerikanerinnen, „professional” nur von weissen Frauen. Es ist leicht ersichtlich, dass rassistische (und, in anderen Beispielen, sexistische) Denkstrukturen sich in diesen Ergebnissen spiegelten, nicht die Realität.

Noble problematisiert nun in ihrem Buch die Vorstellung, dies seien rein technische Probleme. Diese Position wird, wie sie zeigt, von Google beziehungsweise Alphabet eingenommen. Nicht einmal als Ausrede, sondern als Ideologie. Regelmässig verweist Google darauf, dass die Ergebnisse ihrer Maschine nicht einfach zu kontrollieren seien, sondern sich aus den Suchen in Google und den verwendeten Algorithmen ergeben würden. Gleichzeitig finden sich dann immer doch Lösungen, einige krude (so fand man nach einer gewissen Zeit unter „three white teenagers” dann auch Polizeiphotos), einige wirksamer (so findet sich heute unter „black girls” oder „latina girls” keine Pornographie mehr, ausser es wird explizit nach ihr gesucht). Für Noble ist aber klar, dass dies eine falsche Vorstellung davon ist, wie Technologie funktioniert. Welche Probleme schnell angegangen würden und welche nicht oder nur sehr langsam, hätte zum Beispiel auch mit der recht männlichen, weissen und asian-american Belegschaft von Google zu tun, auch mit der Vorstellung, dass diese Belegschaft sich meritokratisch gefunden hätte (also weil sie alle besser seien als andere). Gleichzeitig sei es aber auch ein Problem, dass die Öffentlichkeit Google mit einer fairen und interesselosen Infrastruktur gleichsetzen würde: Google sei eine Werbeplattform, die Suchen und Ergebnisse, die Technologie und Infrastruktur sei davon bestimmt. Die Öffentlichkeit – und dabei meint sie nicht nur einzelne Personen, sondern auch die Politik, Wissenschaft, Verwaltung – sähe in Google aber eine Infrastruktur, die grundsätzlich fair sei. (Dies sei nicht nur auf Google, sondern auch auf den ganzen Diskurs von Big Data zu beziehen.)

Suchergebnisse haben Konsequenzen

Weiterhin zeigt Noble, dass das alles nicht egal ist. Was gefunden wird, wenn gesucht wird, hat Einfluss auf die Wahrnehmung von Gruppen (oder auch, dass Menschen überhaupt als bestimmte Gruppen wahrgenommen werden), auf die Selbstwahrnehmung von Gruppen und von Individuen. Beispiel: Wenn „black girls” oder „latina girls” als Repräsentation ihrer selbst vor allem Pornographie finden, während andere Mädchen vor allem Angebote zur Freizeitgestaltung finden. Die Autorin zeigt dies auch noch am Beispiel von Dylann Roof, dem white nationalist welcher 2015 in Charleston neun Menschen (weil sie schwarz waren) erschoss und in seinem „Manifest” angab, dass sein Weg in die Radikalisierung mit einer Suche auf Google begann. Auch dessen Identität wurde dadurch geprägt, was zu finden war – white nationalist websites – und was nicht zu finden war – reale Informationen über Kriminalitätsraten oder Darstellungen, was an den Diskursen auf den white nationalist websites falsch war.

Das ist alles richtig. Es ist auch wichtig, dass es gesagt wird. Die Frage ist nur, ob es neu ist.

Für eine öffentliche Suchmaschineninfrastruktur

Neu ist aber wohl der Lösungsvorschlag von Noble. Sie zeigt, dass es zwar wichtig ist, solche Beispiele aufzunehmen und zu skandalisieren, dass es aber nicht darum geht, von Google zu fordern, dieses oder jenes abzustellen. Dies spielt in den Diskurs von Google selbst hinein, dass es sich nur um technische Probleme handeln würde. (Was nicht heisst, dass es falsch wäre, an den Ergebnissen etwas zu ändern.) Wichtig wäre, zu thematisieren, was hier passiert und warum. Nobel verweist darauf, dass es in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft eine Tradition der Kritik von Kategorisierungen und Systemen der Wissenschaftsorganisation gäbe, insbesondere der DDC. An diese könne und müsse angeschlossen werden, wenn es um Suchmaschinentechnologien geht. Allerdings: eine Voraussetzung dieser Kritik sei, dass transparent ist, welche Kategoriesysteme in Bibliotheken verwendet werden – in die DDC kann man hineinschauen, aber in die Algorithmen von Google nicht (weil es eine Werbeplattform ist).

Die Lösung liegt für Noble darin, zu verstehen, welche Effekte Google auf die Gesellschaft hat und aus dieser Erkenntnis nicht etwa zu folgern, dass die Suche im Internet das Problem wäre, sondern die Struktur und Ideologie von Google. (Und anderen Firmen, aber der Fokus liegt bei Google.) Nicht ein „besseres Google”, sondern eine öffentlich finanzierte und getragene Suchmaschineninfrastruktur wäre zu fordern. Angelehnt ist diese Vorstellung erkennbar an Bibliotheken. (Für Europa klingt diese Forderung nicht so weit hergeholt. Die Europeana könnte – bei entsprechender Finanzierung – diese Infrastruktur mit aufbauen.) Nur dann sei es möglich auch zu wissen, was wieso und wie gesucht und gefunden wird; welche Probleme als solche definiert würden und welche nicht. Dies wäre politisch, aber darum geht es Noble ja: Die Vorstellung, ein Suchalgorithmus können neutral und damit unpolitisch sein, ist falsch. Damit muss man umgehen. Dadurch, dass eine solche Infrastruktur öffentlich würde, würde sie zum Beispiel nicht mehr an Werbeeinnahmen gebunden und es gäbe auch keinen Grund, die Algorithmen nicht öffentlich zu machen.1 Eine grosse Forderung, aber damit, dass Noble sie auf den Tisch legt, wird sie auch diskutierbar.

Kritik

Wie schon angedeutet, ist der Rezensent zwar vom Thema des Buches überzeugt, nicht aber davon, dass es inhaltlich etwas neues bieten würde. Wirklich neu ist nur der zuletzt genannte Vorschlag einer öffentlichen Suchmaschineninfrastruktur.2 Dieser Eindruck zieht sich auch durch das Buch selber. Die Hauptargumente und -aussagen finden sich praktisch in der Einleitung, später werden sie immer wieder neu aufgegriffen. Es wird eher in Kaskaden diskutiert (also immer wieder das, was schon gesagt wurde, aufgegriffen, ergänzt und dann in der nächsten Runde wieder aufgegriffen und so weiter), als das es einen roten Faden gäbe. Es scheint, dass dies in einem Universitätsseminar angemessen sein kann („Lernen durch Wiederholung”), für ein Buch scheint es weniger praktisch.

Zudem hat die Autorin die irritierende Angewohnheit, quasi alle Personen, von denen Studien oder anderes zitiert wird, mit Namen und Funktion, beispielsweise dem Institut bei dem sie arbeiten, vorzustellen, so als würde dies den Argumenten mehr Autorität verleihen – was aber nicht der Effekt ist.

Fazit

Wie gesagt scheint vieles von dem, was die Autorin darlegt, schon bekannt. Vielleicht nur in den kleinen Kreises der kritischen Bibliotheks- und Informationswissenschaft (aber dieses Blog erreicht vielleicht vor allem diesen Kreis). Es untermauert mehrfach das Wissen, dass Technologie und Algorithmen nicht neutral sind und dass sie, wenn unkritisiert, in einer rassistischen Gesellschaft vor allem die rassistischen Strukturen reproduzieren. (Noble argumentiert und sucht im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft, aber es ist ein leichtes, dies auf die deutsche, schweizerische, österreichische, liechtensteinische Gesellschaft und die Diskursstrukturen und Vorurteile hier zu übertragen.) Sie tut dies in zitierbaren und klaren Aussagen. Es gibt also keinen Grund, von diesem Buch abzuraten; aber es scheint doch an vielen Stellen zu lang.

Grundsätzlich in den Diskurs als potentielle Lösung aufzunehmen ist der Vorschlag, Suchmaschineninfrastrukturen, nach dem Vorbild von Bibliotheken, als öffentliche Infrastruktur einzufordern.

Fussnoten

1 Julien Mailand und Kevin Driscoll machen in ihrem in diesem Blog auch schon besprochenen Buch zum Minitel-System im Frankreich der 1980er-Jahre [Julien Mailland ; Kevin Driscoll (2017). Minitel: Welcome to the Internet (Platform Studies). Cambridge ; London: The MIT Press, 2017] ein ähnliches Argument: Ein Vorteil des staatlich organisierten Systems – gegenüber heutigen Plattformen wie Facebook, die einfach so Entscheidungen über Inhalte, die sie anzeigen oder nicht anzeigen treffen dürfen – sei gewesen, dass alle Entscheidungen darüber, was im System zugelassen wurde und was nicht, potentiell der öffentlichen Kontrolle (ergo: Beschwerden, Klagen, Einsichtsnahmen in Unterlagen) unterlag.

2 Hier stellt sich wirklich die Frage, wann und warum Bibliotheken aufgehört haben, über eine solche nachzudenken. Als noch Yahoo mit seinen Kategorien und Linksammlungen die Suche im Internet bestimmte, gab es solche Diskussionen und mit der Deutschen Internetbibliothek auch eine Infrastruktur, die dies versuchte. Nachdem einfache Suchen” zum bestimmenden Modus der Suche wurde, scheinen Bibliotheken aufgegeben zu haben. Heute ist wohl noch nicht mal bekannt, wie die Suchergebnisse in den Bibliothekskatalogen zustande kommen; auch das ist intransparent von den Anbietern der Katalogsoftware organisiert.

Eine wichtige Geschichte zu jahrhunderte-alten Manuskripten in Afrika, leider nicht angemessen erzählt

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 4. April 2018

Karsten Schuldt

Zu: Joshua Hammer (2016). The Bad-Ass Librarians of Timbuktu: and their race to save the world’s most precious manuscripts. New York, London, Toronto, Syndey, New Delhi: Simon & Schuster 2016

 

Der Titel „The Bad-Ass Librarians of Timbuktu“ empfiehlt dieses Buch einer Besprechung hier im Blog. Es ist eher verwunderlich, dass es offenbar im deutsch-sprachigen Bibliothekswesen noch nicht thematisiert wurde. Die englisch-sprachigen Rezensionen, sowohl in Zeitschriften als auch in anderen Portalen (goodreads etc.) sind allerdings durchwachsen. Immer wieder wird in ihnen betont, dass das Buch von der eigentlichen Geschichte aus dem Titel abweicht in die Darstellung politischer und militärischer Vorgänge. Und leider: Sie haben ganz Recht.

 

Die Hauptgeschichte: Manuskripte aus Jahrhunderten, mehrfach gerettet

Die Hauptgeschichte alleine ist erstaunlich und verdient es, mehrfach erzählt zu werden. Kurz: Für Jahrhunderte war Timbuktu (heute in Mali) das Zentrum intellektueller und künstlerischen Produktion. Ein erster Höhepunkt waren das 15. und 16. Jahrhundert. Während dieser Zeiten wurden in Timbuktu zahllose Manuskripte hergestellt, sowohl durch Kopisten als auch direkt als Produkte der lebendigen intellektuellen Arbeit. Dabei wurden in der Stadt und den Reichen, denen sie zugehörte, vor allem liberale religiöse und gesellschaftliche Traditionen gepflegt, wenn auch immer wieder mit gegenteiligen politischen Bewegungen (Dschihadismus, Antisemitismus).

Dschihadistische Bewegungen und die französische Kolonialherrschaft beendeten die Geschichte des intellektueller Zentrums Timbuktu. Die Produktion der Manuskripte wurde praktisch eingestellt, aber sie selber verschwanden nicht einfach, sondern wurden bei Familien verwahrt, teilweise versteckt, teilweise aber auch als Unterrichtsmaterial für informelle Bildungsgänge genutzt, die über Jahrhunderte in Wohnhäusern angeboten wurden. Die Manuskripte blieben oft über Jahrhunderte im Familienbesitz. Und während die rassistische Geschichtsschreibung Europas des 19. Jahrhunderts ganz Afrika als einen geschichtslosen Ort darstellte, welcher erst durch die weitläufige Kolonisation aus einem „wilden Zustand“ in die Menschheitsgeschichte integriert würde, lagen in Timbuktu Beweise für das Gegenteil.

Erst nach der Unabhängigkeit Malis (1960) begann man langsam – im Institut des hautes études et de recherches islamiques Ahmed Baba, gegründet 1973 – diese Manuskripte wieder öffentlich zugänglich zu machen. Eigentlichen Aufschwung nahm dies erst ab 1984, als der eigentliche Held des Buches, Abdel Kader Haidara, begann, für dieses Zentrum zu arbeiten, in ganz Mail nach Manuskripten recherchierte und sie nach Timbuktu brachte. Nach einigen Jahren dieser Arbeit versuchte er für die Sammlung seiner eigenen Familie, die zu beaufsichtigen er von seinem Vater bestimmt wurde, eine eigene Bibliothek zu gründen. Dies gelang erst durch die Intervention von Henry Louis Gates, der in den Manuskripten ein Beispiel für afrikanische Geschichte sah, die bekannt werden müsste. Haidara begründete nicht nur seine eigene Bibliothek, sondern initiierte weitere, öffentlich zugängliche Bibliotheken, die von „grossen Familien“ in Timbuktu eingerichtet wurden, um ihre Sammlungen zu zeigen. 2012, zu seinem (bisherigen) Höhepunkt, umfasste dieses Netzwerk in Timbuktu 45 Bibliotheken mit 377.000 Manuskripten. Bis 2012 sicherten Haidara und andere Millionen Dollar von verschiedenen Stiftungen und Regierungen (mit den denkbaren Problemen, die auftreten, wenn Gelder aus Südafrika, dem Nahen Osten, Europa, den USA, aber auch Gaddafis Libyen fliessen), um die Bibliotheken aufzubauen, Manuskripte zu sammeln und zu beginnen, diese zu sichern, zu restaurieren und zu digitalisieren. Haidara und andere erlernten zum Beispiel extra das Restaurieren und Digitalisieren solcher Manuskripte. Das alleine wäre schon eine erstaunliche Geschichte, ist aber nur der erste Teil.

Der zweite Teil begann mit dem weitgehenden Zusammenbruch Malis, als 2012 Tuareg-Rebellen und islamistische Milizen (al-Qaida im Maghreb, Ansar Dine und Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika) gemeinsam weite Teile der Landes unter ihre Kontrolle brachten, inklusive Timbuktus. Innerhalb dieser Koalition setzten sich die islamistischen Milizen durch und etablierten für einige Monate ein von ihnen kontrolliertes Gebiet. Erst ein von Frankreich geführter Militäreinsatz beendete diese Situation.

Die Manuskripte waren in dieser Zeit bedroht, da sie zum Beispiel mit ihren Auslegungen des Islam dem Verständnis der Islamisten widersprachen und gleichzeitig als Objekte galten, an deren Erhalt „der Westen“ ein grosses Interesse hätte – sonst wäre nicht so viel Geld geflossen – und die entweder zerstört werden könnten, um den Westen zu erzürnen oder aber als „Geiseln“ genutzt werden könnten. In einer grossen Aktion gelang es dem Netzwerk von Bibliotheken, wieder unter der Federführung von Haidara, die Manuskripte zuerst zu verstecken, anschliessend aus Timbuktu herauszuschmuggeln – dies, obwohl nur Nachts und dann, wegen Ausgangssperre auch nur zwei Stunden lang, gearbeitet wurde; vorbei an islamistischen Strassensperren, an Strassensperren des malischen Militärs und später auch des französischen – und nach Bamako (Malis Hauptstadt, gehalten vom malischen Militär) zu bringen. Und zwar alle, bis auf die, welche im oben genannten Zentrum ausgestellt oder zur Digitalisierung vorbereitet wurden, als der Aufstand begann. Diese wurden von al-Qaida im Maghreb, welche das Zentrum als Hauptquartier genutzt hatte, vor ihrem Rückzug allesamt verbrannt (nicht aber die viel grössere Anzahl Manuskripte, die im Keller lagerten). Dieser Teil der Geschichte ist noch erstaunlicher.

Heute hat das Zentrum und andere Bibliotheken wieder ihre Arbeit aufgenommen, aber es geht offenbar weiterhin um Wiederaufbau und Sicherung der Manuskripte.

 

Kritik: Eine journalistische Erzählung

Das Buch schildert all dies, aber der gewählte Stil ist wenig hilfreich. Der Autor ist Journalist und so liest sich das Buch: als möglichst spannend erzählte Reportage. Abgesehen davon, dass die Geschichte auch so spannend genug wäre, führt das zum Beispiel dazu, dass ständig Leute in direkter Rede zitiert werden, so als wäre der Autor bei Situationen dabei gewesen (bei denen er nicht dabei gewesen sein kann). Es gibt zahlreiche Schilderungen von Landschaft, Gebäuden, Kämpfen, die zur Geschichte selber wenig beitragen, aber Hintergrundrauschen liefern. Allerdings viel zu viel, dafür eigentlich immer zu wenig über die Manuskripte und die Arbeit der Librarians.

Das die Geschichte Kontext braucht, besonders wenn sie schon Buchlänge haben darf, ist verständlich. Aber der gelieferte Kontext ist viel zu umfangreich. Immer wieder verschwinden die Manuskripte und die Bibliotheken selber aus dem Text, kommen ganze Kapitel über nicht vor. Dafür hat der Autor eine irritierende Nähe zum US-amerikanischen und französischen Militär, berichtet deshalb quasi live von den Kämpfen, davon, wie die französische Armee ihre Soldatinnen und Soldaten verpflegt hat, wie sie den Einsatz in Mali geplant hat, wie bestimmte Kämpfe abliefen und so weiter. Wir erfahren, was der Militärbeauftragte der US-Army für das südliche Afrika und die neue US-Botschafterin voneinander dachten, als sie sich das erste Mal traffen. Wir erfahren auch vom Vorgehen der Islamisten, von ihren Taktiken, Gewalttaten, Strafen oder auch von den Absprachen zwischen ihnen und den Tuareg-Rebellen. Von all dem aber erfahren wir von all demviel zu viel, wenn es eigentlich um die Bad-Ass Librarians gehen soll. Teilweise scheint es, als hätte der Autor zwei Bücher schreiben wollen, aber am Ende nur eines produzieren dürfen.

Der Autor hat eine Meistererzählung vom Aufstieg Timbuktus als Beispiel eines liberalen Islam (wobei liberal selbstverständlich ein Anachronismus ist, Europa war damals erst dabei, die Neuzeit zu erfinden, der Liberalismus selber brauchte noch einige Jahrhunderte), Abstieg insbesondere durch den französischen Kolonialismus, dann Wiederaufstieg und die Hoffnung auf ein modernes, offenes Mali ab den 1990ern, dann neuer Zusammenbruch und jetzt Wiederaufbau. Die Manuskripte und Bibliotheken spielen in dieser Erzählung nur eine (allerdings wichtige) Rolle. Und das lenkt immer wieder ab.

Erstaunlich ist auch, dass dieses Buch, in dem es so viel um Manuskripte geht, vollkommen ohne Bild auskommt. Nur auf der hinteren inneren Umschlagseite findet sich das Bild eines Manuskripts. Das Buch macht leider den Eindruck, schnell und billig produziert worden zu sein (einige Rezensionen benennen weitere kleine Fehler, die die Mastererzählung nicht ändern, aber doch ärgerlich sind.) Es gibt, falls dies interessiert, mehrere Aufzeichnungen von Vorträgen des Autors, in denen er solche Bilder zeigt (zum Beispiel hier bei den US National Archives https://www.youtube.com/watch?v=E_DbmVMgfqM, ab Minute 11:42). Dafür ist das Buch aber auch sehr leicht zu lesen, hier merkt man den journalistischen Hintergrund des Autors.

 

Grundsätzlich ist die Geschichte der Bad-Ass Librarians aber spannender als das Buch selber.

Nicht wirklich helfen, aber emphatisch bleiben. Eine leider eingeschränkte Anleitung zum Umgang mit obdachlosen Menschen in Bibliotheken.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 27. März 2018

Karsten Schuldt

Zu: Dowd, Ryan J. (2018). The Librarian’s Guide to Homelessness: An Empathy-Driven Approach to Solving Problems, Preventing Conflict, and Serving Everyone. Chicago: ALA Editions, 2018

 

Leider nicht gut ist das hier kurz zu besprochende Buch. Leider, da es eigentlich eines inhaltlich guten Buches zum Thema bedürfte, eines umfangreichen und konkreten. Dieses ist es nicht, auch wenn es dies im Titel behauptet.

“The Librarian’s Guide to Homelessness” ist stattdessen ein verschriftliches Seminars zum Umgang mit Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, mit dem Ziel, das diese respektvoll, aber doch bestimmt dazu gebracht werden, den Regeln der Bibliothek zu folgen. Der Autor hält nicht nur Seminare, die Bibliothekspersonal (und anderen) dies beibringen sollen, sondern leitet zugleich ein homeless shelter bei Chicago. Insoweit ist er qualifiziert. Aber es geht ihm eben nicht darum, dass gesamte Thema Obdachlosigkeit zu behandeln, sondern wirklich nur darum, wie sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare so verhalten können, dass sie Menschen, die obdachlos sind, wertschätzen können, aber doch dazu anleiten, den restlichen Bibliotheksbetrieb ungestört zu lassen.

Dabei geht der Autor klar davon aus, dass alle Menschen Respekt verdienen und das die Situation von obdachlosen Menschen verstanden werden muss – also wie es sich lebt und anfühlt, mit welchen Diskriminierungen und Zurücksetzungen zu leben ist, wie sich dies auf die Perspektiven und die Lebensentwürfe der Menschen auswirkt – um emphatisch handeln zu können. Zugleich zielt er darauf ab, dass das Bibliothekspersonal ohne Befehle zu geben, Strafen zu verhängen oder “hartes Auftreten” auskommen kann. Das ist alles gut und hilfreich. Grundsätzlich gilt für ihn: Wer Menschen, die obdachlos sind, respektvoll behandelt wird auch von ihnen respektvoll behandelt – wie das bei Menschen an sich üblich ist, egal in welcher Situation. Da gibt es nicht so viele Unterschiede.

Der Grossteil des Buches versucht allerdings vor allem einzelne Tricks und Umgangsformen zu lehren: Wie man sprechen kann, wie man Humor einsetzt, das man sich nicht zu ernst nimmt, wie man im Gespräch stehen soll etc. pp. Hilft das weiter? Vielleicht der Bibliothek beziehungsweise dem Bibliothekspersonal, aber weniger den betroffenen Menschen. Sie werden, wenn die Tricks angewendet werden, besser behandelt und können ihr Recht, die Bibliothek zu nutzen, besser umsetzen. So weit, so gut.

 

Gleichzeitig ist das Buch, wie gesagt, offensichtlich aus Seminaren entwachsen. Die gleichen Versuche mit persönlichen Geschichten („my wife says…”), schlechten Witzen und Verweisen auf popkulturelle Produkte („like Batman…”) Menschen in Seminaren interessiert zu halten und zum Mitmachen zu motivieren, finden sich hier auch – nur das sie in einem Buch nicht angebracht scheinen. Es ist halt kein Seminar sondern ein Text, den alle Interessierten im eigenen Tempo durcharbeiten könnten. Zudem gibt es ständig zweifelhafte Verweise auf irgendwelche Studien, die aber nur herangezogen werden, wenn sie die Position des Autors untermauern. Das ist auch nicht überzeugend und für die meisten Aussagen auch vollkommen unnötig.

Nur im letzten Kapitel kommt der Autor überhaupt auf die Frage zu sprechen, wie Bibliotheken Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, helfen könnten (Respektvoll sein; das tun, was Bibliotheken eh tun; bei Suche nach Arbeit und Obdach helfen), aber das auch eher oberflächlich.

Hinzu kommt selbstverständlich, dass sich das Buch auf US-amerikanische Verhältnisse bezieht: So warnt es vor “Punishment”-Strategien, bei denen Personal eingesetzt wird, um Obdachlose gesondert zu überwachen und, im Rahmen der Regeln, möglichst hart anzugehen, was im deutsch-sprachigen Raum nicht verbreitet zu sein scheint. Die meisten popkulturellen Referenzen scheinen auch sehr spezifisch US-amerikanisch zu sein. (Es könnte aber auch am Desinteresse des Rezensenten an Teilen der Popkultur liegen, zumindest waren ihm mehrfach eindeutig als Anspielungen gemeinte Aussagen unverständlich.)

 

Alles in allem: Ein Buch, das im Titel weit mehr und weit Konkretes verspricht, als es einlöst. Im Kern humanistisch und vielleicht für einzelne Bibliotheken interessant. Aber ansonsten wenig brauchbar.

Über Philatelie, Bibliophilatelie und eine Briefmarke aus Kansai.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 1. Oktober 2017

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

„I got rid of my stamp collection the other day.“ So begann der Journalist Eugene L. Meyer unlängst ein Opinion-Piece in der New York Times (Stamped Out. NYTimes.com, Sept. 29,2017). Bemerkenswert daran ist bereits, dass das Thema Philatelie überhaupt noch in die Diskurssphäre einer Tageszeitung gelangt. Andererseits stellte ebenfalls die New York Times unlängst in ihrer Rubrik „Stamp Notes“, die sie offenbar im Schnitt einmal pro Jahrzehnt bestückt, eine wunderbar zeitgemäße Neuausgabe vor, die sogar in den erweiterten Horizont der Bibliophilatelie passt, da sie ein Kinderbuch würdigt: The Snowy Day von Ezra Jack Keats (siehe Maria Russo: ‘The Snowy Day’ Captured in New Stamp Series. NYTimes.com, Sept. 22, 2017). Maria Russos kleine Kolumne über Peter im Schnee adressiert natürlich auch und zwar nicht ohne Melancholie einen Erinnerungsraum – The Snowy Day erschien 1962. Zugleich zeigt sie jedoch, wie wichtig und sinnvoll Erinnerungskulturen sind und welche eigenwillige und positive Rolle Postwertzeichen dabei spielen können:

„More than half a century later, that world hasn’t arrived — not even in children’s books, where brown children are still far underrepresented, relative to their percentage of the population. Peter is still, in a sense, a figure out of a dream. But those stamps will remind us that the dream still stands strong.“

Eugene L. Meyers Text ist dagegen eine eher typische Abhandlung, die man in ähnlicher Form leider schon Dutzende Male lesen konnte und zwar auch ziemlich identisch zum behaupteten Niedergang der Kultur des gedruckten Buches. Das Sammeln von Briefmarken ist, so das Bild, eine vergehende Leidenschaft, ähnlich vielleicht wie Modelleisenbahnen, der eine davonalterende Generation noch ein wenig nachhängt. Aber an sich ist es schon so gut wie ausgestorben, weshalb seine eigene Sammlung nun nichts mehr wert ist, wie ihm Händler versichern. Die Briefmarkensammlung ist aus dieser Warte eine unglückliche Fehlinvestition, die man längst hätte abstoßen sollen. „[T]here was a time when people cared about stamps“ hebt der Schwanengesang an und führt zum Briefmarkenkundler Franklin D. Roosevelt zurück und zu einer Zeit, in der es an jeder Schule eine Arbeitgemeinschaft der jungen Philatelisten gab. Heute wird „Junge Philatelie“, wie Meyer von der Fachhändlerin Judy Johnson erfährt, in einer anderen Altersspanne verortet: „“Trying to bring in the younger 30-to-50-year-old crowd is really difficult,” she said.“ Ähnlich dem Antiquariatsmarkt scheint auch der Briefmarkenhandel ein sterbendes Gewerbe zu sein. Der Blick daheim auf drei Regalmeter geerbte Alben, deren Wert sich auf ein persönliche Zuschreibung eingedampft ist, bestätigt dies.

Stamped Out offenbart aber zugleich, wo das Problem liegt und zwar in der selben Form, die einem auch auf Sammlerbörsen unmittelbar ins Auge springt: Die Welt der Philatelie schafft es kaum, das Medium der Briefmarke und die Aktivität eines vertiefenden Umgangs mit ihr neu zu interpretieren. Die Frage, was Philatelie im 21. Jahrhundert sein kann, wird von der Empirie in der Regel beantwortet als: Ein Echo des 20. Jahrhunderts mit den Protagonisten, die damals schon dabei waren.

Abgesehen von einer schmalen Hochpreiselite ist das Sammeln von Briefmarken in der Tat eine sehr unwirtschaftliche Betätigung. Andererseits sind die Einstiegskosten so gering, dass es auch nicht viel kostet, Für den Preis eine semi-professionellen digitalen Kamera oder auch eines aktuellen iPhones kann man sich mit philatelistischen Material für eine Dekade ausstatten. Bleibt die Frage, was man damit will.

Möglicherweise kann man mit der Bibliothekswissenschaft kann eine Antwort finden. Briefmarken sind hochdichte Informationsträger und Zeugnisse. Genauso wie andere Publikationen lassen sie sich sie sammeln, erschließen und verfügbar machen. Die Ebene des Sammelns ist die traditionell ausgeprägteste. Mit Album, Vordruckblättern und Michel-Katalog saßen jahrzehntelang die Sammler und in geringerem Maße Sammlerinnen an Sonntagnachmittagen in ihrer Wochenendstille und versuchten alle Marken, die in einem bestimmten Land oder zu einem bestimmten Motiv erschienen sind, zusammenzutragen, einzusortieren und somit für sich zu bewahren. Es ging um Vollständigkeit und eine der schönsten Seiten diese Tätigkeit war mutmaßlich ihre inhaltliche Leere, die so regenerativ wirkte wie anderen ein stundenlanges Warten an einem Waldsee auf einen anbeißenden Fisch.

Die zweite Dimension, also die Erschließung, verweist auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einzelnen Objekten und zwar über die bloße Registratur nach Katalognummer hinaus. Man achtete darauf, wer eine Marke entworfen hat, welche Ereignisse sich mit einer Ausgabe verbanden und betrat damit einen deutenden Raum, wenngleich nicht zwingend einen interpretativen und kommunikativen. Die Briefmarke wurde immerhin zum Zeichen, dass auf etwas außerhalb ihrer bloßen Objekthaftigkeit verweist und dass sich zu lesen lohnt. Sie spiegelte Welt und erwies sich als Zugangsmedium zu dieser, das umso mehr an Aussagekraft gewinnt, je mehr man sich der Bedingungen ihrer Produktion und Zweckzuschreibung befasst.

Diese Funktion erfüllt sie nach wie vor, auch wenn die traditionelle Form der Ausstellung von Briefmarken in entsprechend komponierten Schautafeln auf Briefmarkenausstellungen, also in etwa einer Darstellungsform die man in der Wissenschaft von konferenzbegleitenden Postersessions kennt, ihre Anziehungskraft weitgehend verlor. Diese Tafelkunde markiert einen Übergang zur dritten Interaktionsform mit dem Medium Briefmarken: dem Verfügbarmachen, das heute leichter mit digitalen Mitteln bewerkstelligt werden kann. Das Briefmarkensammeln als solitäres Hobby mag seine kontemplativen Reize haben, die allerdings, wie Stamped Out treffend herausstellt, nur noch in der Nische Lieberhaberinnen und Lieberhaber findet. Es wird aber wie alle Kulturartefakte nur überleben können, wenn eine Aktualisierung gelingt. Dafür braucht es Sichtbarkeit und Kommunikation.

Eine andere und aus meiner Sicht fruchtbarere Herangehensweise wäre folglich, Formen von Diskursen, vielleicht eine Art Social Reading von Briefmarken zu entwickeln, in denen diese mit ihrer Spezifität sowohl medial wie auch inhaltlich einer Rolle spielen können. Naheliegend sind hier design-theoretische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Twitter-Timelines wie Kitteclub zeigen, wie erfrischend, gegenwärtig und anziehend Briefmarken potentiell dargestellt werden können. Ein Diskurs ist das eher noch nicht. Aber Sichtbarkeit wird erreicht. Und er Aspekt der Freude an der Beschäftigung wird sehr unterstrichen.

Ein Problem der, wenn man so will, Diskursivierung der Philatelie könnte in der Abgeschlossenheit der bisherigen Kommunikationen zum Gegenstand liegen. Die Kanäle sind entweder die verkehrten oder sehr exklusiv. Sehr aussagekräftig ist zum Beispiel, dass viele der wenigen Aufsätze zur Philatelie, die sich im Web of Knowledge finden lassen, mit der Darstellung beispielsweise großer Mediziner auf Briefmarken befassen und irgendwo unter Vermischtes in den Zeitschriften der entsprechenden Wissenschaftsgebiete erschienen sind. Die Zitationshäufigkeiten für solche Nebenaufsätze liegen erwartungsgemäß oft bei Null.

Einschlägige philatelistische Fachpublikationen sind entsprechend oft zwar sorgfältig und quasi-wissenschaftlich aufgearbeitet – zumindest im monografischen Bereich – werden aber kaum aus dieser Warte gesehen. Zudem ist die Philatelie meist bestenfalls eine Feierabendwissenschaft, weshalb sie zwar als Disziplin gedacht aber nicht praktiziert werden kann. Es fehlt jegliche akademische Rahmung. Die wenigen philatelistischen Spezialbibliotheken kämpfen regelmäßig um ihren Erhalt.

Die Publikumszeitschriften dagegen versammeln recht breite, im besten Fall populärwissenschaftlich aufbereitete Artikel und Berichte, die sich als Nebenbeilektüre für die Sammler_innengemeinschaft eignen, meist jedoch so gut wie keinen Appeal für Außenstehende besitzen. Diese eigenartige Exklusivität, die man auch sehr auf den Briefmarkenmessen atmen kann, ist aus meiner Sicht einer der großen Gründe, warum die philatelistische Welt so sonderbar überholt wirkt, massenmedial oft in einer Linie mit dem Klischee der Bibliotheken mit ihren Attributen staubig und funktional obsolet.

Wie bei Bibliotheken stellt sich auch für die Philatelie die Herausforderung, sichtbar zu vermitteln, dass das historisch gewachsene und sich verhärtete Abziehbild eines bestimmten Typus nicht zwingend der Realität entsprechen muss. Gerade der Schwung, der mit der Visualisierung von Kommunikation und zum Beispiel der Erblühen der Bildtheorie, spürbar ist, lässt sich sehr gut auf das Medium der Briefmarken anwenden. Alles was man tun muss, ist Briefmarken als Text bzw. als semiotische Objekte zu begreifen.

Ihre Narrativität ist naturgemäß sehr begrenzt. Sie sind Funktionstexte, bei denen ein Aussagegehalt in einer formal hochbegrenzten im Detail aber erstaunlich variablen Form eigentlich sehr erstaunlich an eine andere Objektfunktion – der Freimachung einer Postsendung – gebunden werden. Sie sind Träger sowohl von Metadaten (einerseits des Funktionswerts als Postwertzeichen, andererseits einer geographischen und unmittelbar bzw. mittelbar zeitlichen Einordnung) sowie einer inhaltlichen Bedeutungsebene, nämlich dem Motiv. Hinter diesem steht meist ein Ausgabeanlass, mindestens jedoch die Feststellung, dass die zuständigen Stellen dieses konkrete Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen repräsentierenden Kommunikationsakt ausgewählt haben. Der Kern dieses Aktes ist auf der elementarsten Ebene: Das konkret Gezeigte ist adäquat und typisch genug, um als Repräsentation einer bestimmten Vorstellung in die Welt geschickt zu werden. Selbstverständlich spielen auch Aspekte der Verkaufbarkeit eine Rolle, was zu einem Mangel an negativ besetzten Motiven führt. Und wenn, dann mitunter nicht sehr klug. Für die in dieser Hinsicht sehr interessante Ausgabe zur Topographie des Terrors wurde zum Beispiel unglücklicherweise der Postkartenwert von 45 Cent gewählt, was sie für den Hausgebrauch (=Urlaubspost) im Jahr 2017 fast disqualifiziert. Ein Bestseller wurde die Marke naturgemäß nicht.

Die enge Bindung des Motivs an ein konkretes Land – bzw. im Bereich der modernen Privatpost oft an eine bestimmte Region – rückt das Phänomen der Briefmarkengestaltung also in den Kontext einer, wenn auch sehr niedrigschwelligen, Geschichts- und Identitätspolitik. Wenn sich so etwas wie Leitkultur an einer Stelle abbildet, dann hier. So widmen sich die aktuellen Briefmarkenausgaben der Deutschen Post zwei idyllischen Landschaftsdarstellungen (Badische Weinstraße und Markgräflerland), einem sehr einschneiden Ereignis aus der deutschen Fernsehgeschichte (Das Millionenspiel), der Tradition der deutschen Antikenforschung (300. Geburtstag Johann Joachim Winckelmann) sowie einer Würdigung der gesellschaftlichen Wirkung der katholischen Kirche (50 Jahre Justitia et Pax). An alle diese Ausgaben kann man die Fragen stellen, wofür genau die Motive stehen, warum sie 2017 als relevant erachtet werden und wie sie grafisch umgesetzt sind. Sie spiegeln, wenn auch in einem Zerrspiegel, die Gegenwart mit ihren Werten und ästhetischen Vorlieben. Richtet man die Fragen an ältere Ausgaben, erzählen diese folglich viel über eine Vergangenheit. Je mehr Hintergrundwissen man erwirbt, je besser man sie zu lesen lernt, desto komplexer werden diese Geschichten.

Briefmarke Japan General Library, Kansai University.

Briefmarke Japan General Library, Kansai University.

Selbstverständlich kann man in der gleichen Weise eine Briefmarke befragen, die unlängst in meine Sammlung zur Bibliophilatelie fand. Leider – Stichwort Hintergrundwissen – erweist sich ihre Geschichte, die allein auf der Dechiffrierung des vorliegenden Objekts beruht, als eher flach.

Die aus Japan stammende Ausgabe zeigt die Hauptbibliothek der Universität von Kansai (関西大学総合図書館) und zwar getreu lokaler ästhetischer Präferenzen zur Zeit der Baumblüte. Das Idealbild wird durch den makellos blauen Himmel verstärkt. Ein kleine Gruppe Menschen ist mit etwas Abstand zum Eingang konzentriert als wartete sie auf eine Führung durch die Bibliothek oder über das Gelände. Die Szenerie ist idyllisch, keinesfalls dramatisch und harmoniert recht gut mit der sachlichen Architektur des Hauses. Das spektakulär auskragende Vordach über dem Haupteingang der Bibliothek erkennt man aus dieser Perspektive und Auflösung nicht und erahnt es nur, wenn man von seiner Existenz weiß.

Die Gestaltung der Marke und vor allem die Druckqualität lassen zugleich sofort erkennen, dass es sich bei dem Exemplar nicht um eine offizielle Ausgabe der japanischen Post sondern um eine selbst gestaltete Marke handelt, wie sie auch die Deutsche Post mit ihrem Dienst der „Briefmarke Individuell“ ermöglicht. Traditionelle Sammler verabscheuen solche Angebote meist zutiefst, da sie der auch von Eugene L. Meyer beklagten Briefmarkenflut („It is all just too much, even for the die-hards.“) noch einen völlig unüberschaubaren Ozean an individualisierten Postwertzeichen hinzufügt. Dieser als zusätzliche Einnahmequelle der Postdienstleister in vielen Ländern eingeführte Dienst sorgt jedoch für eine interessante und bisweilen sehr unterschätzte Wendung der philatelistischen Kultur, da er die Briefmarkengestaltung im Prinzip demokratisiert. Diese Marken verhalten sich zu den offiziellen Ausgaben in etwa wie Zines zu Verlagspublikationen. Und wie die Zines bleiben sie außerhalb jeder systematisierten Verzeichnis- und Archivierungskultur. Was das Phänomen eher noch spannender werden lässt.

Jeder kann nun, womöglich auch aber erfahrungsgemäß nicht zwingend motiviert durch ein Mimikry der traditionellen Exzeptionalisierung des Gezeigten durch das Zeigen, ein Motiv seiner Wahl zu einem zugelassen Postwertzeichen werden lassen. Aufgegriffen wird dies u.a. auch in der politischen Kunst. Im vorliegenden Fall der Kansai-Ausgabe wählte man den 1985 eröffnete Neubau der Universitätsbibliothek als Motiv. Verwendung fand vermutlich eine in ähnlicher Form bereits publizierte Fotografie, also denkbar eine offizielle Aufnahme aus dem Archiv der Hochschule. Daher ist davon auszugehen, dass die Einrichtung auch Auftraggeberin dieser Ausgabe war. Über den Ausgabeanlass und Verwendungszusammenhang der Marke ist leider nichts bekannt. Bemerkenswert ist jedoch, dass mit diesem Neubau auch in gewisser Weise die Hinwendung zur Digitalisierung an der Bibliothek eingeleitet wurde, ein Trend, der Phänomene wie individualisierte Briefmarken überhaupt erst technisch realisierbar macht. So schließt sich zumindest über Umwege ein Kreis. Zugleich ergänzt diese individualisierte Bibliotheksbriefmarke eine etwas vernachlässigte Nische in meiner Sammlung zur Bibliophilatelie.

Berlin, 01.10.2017

(Ich danke Takao Kobayashi für Informationen zur Kansai-Ausgabe.)