It’s the frei<tag> 2013 Countdown (2): Raum:Shift – Informationswissenschaft und Ihr Umfeld
von Ulf Preuß
Eine Behauptung: Die Informationswissenschaft existiert, weil sich ein exklusiver Bedarf nach ihr entwickelt hat. Veränderungen in der Umgebung reflektieren sich mittelbar oder unmittelbar in den Herangehensweisen oder Schwerpunkten in denen die Informationswissenschaft agiert und reagiert.
Ein (nicht mehr ultraneuer) Umgebungsparameter ist die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft. Der Hang zu einer immer höheren Vernetzung von Informationsquellen, zum (vermeintlichen) Wohl der Allgemeinheit, setzt unsere Wissenschaftsdisziplin vor stetig neuen Herausforderungen, zum Beispiel im Feld der Entwicklung von informationswissenschaftlichen Methoden zur semantischen Verknüpfung der vernetzten Informationsmittel und -objekte. Anbei die Frage, ob denn die Entwicklung semantischer Werkzeuge und/oder die Entwicklung von neuen Herangehensweisen zur Generierung von digitalen und verlässlichen semantischen Ankern ein Handlungsfeld der Informationswissenschaft ist? Mit Anker ist hierbei ein zum Beispiel normierter bzw. ein eineindeutiger Wert gemeint. Hierbei sind die kooperativ entstandenen Normdaten in bspw. der GND eine Ausgangsquelle, welche durchaus ein höheres Potenzial besäße, wenn es gelingt Projekte zur Verbesserung der Datenqualität – etwa durch Kooperationen zur gezielteren Nutzung der Potenziale der Spezialbibliotheken – auf den Weg zu bringen. Auch die Frage nach der Etablierung von Wegen zur Nutzung von user-generated Content für den Bereich der digitalen „Anker“ bleibt dabei aktuell.
Besteht aus der stetigen Veränderung der Umgebung(en) eine automatisch konsequente Verbreiterung der informationswissenschaftlichen Handlungsfelder? Resultieren daraus gar stetig neue Arbeitsfelder der informationswissenschaftlichen Community? Allein die unterschiedlichen Bezeichnungen und Inhalte der verschiedenen informationswissenschaftlichen Studiengänge im deutschsprachigen Raum legen diesen Verdacht nahe. Hier ein paar Beispiele: HTW Chur – Business Administration Major Information Science (Master of Science) mit den Modulen General Management, Management & Recht (MR), Arbeits- und Forschungsmethodik (AFM) und Informationswissenschaft (IW) oder FH Potsdam – Master Informationswissenschaften mit den Profilen Records Management und Digitale Archivierung (RM/DA) sowie Wissenstransfer und Projektkoordination (WT/PK) – jedoch als Master of Arts kategorisiert. Hierbei sei auf den Unterschied in der Singular/Plural Bezeichnung der eigenen Fachdisziplin(en) hingewiesen, was die Komplexität hier allein schon bei der Benennung der eigenen Disziplin, also das Selbstverständnis, dokumentiert.
Werden eigentlich „alte“ Themengebiete als genügend erforscht und abgehandelt real in „Rente“ geschickt? Wenn nicht, können sich unter einer Bezeichnung quasi unendlich viele Forschungs- und Handlungs- oder Berufsfelder einer Profession verbergen ohne in der Realität eigentlich schon wieder in einer benachbarten oder völlig neuen Disziplin zu sein?
Ab wann „darf“ eine Wissenschaft das Interesse an einer vermeintlich neuen Entwicklung / eines neuen Themas verlieren – mit Bezug auf das eigene Verständnis in Relation zu den anderen wissenschaftlichen Disziplinen? Kann eine solche Erkenntnis eventuell sogar aus der Bibliometrie gezogen werden (jüngst auch als Thema auf der ISKO behandelt)? Vorausgesetzt es existiert ein Eigenverständnis, was allein aus den endlosen Diskussionen um die Deutung der Begriffe Information, Dokument, Bibliothek etc. meines Erachtens als nicht trivialen Fakt angesehen werden kann.
Wie viel Informationswissenschaft steckt beispielsweise noch in Bibliotheken und vice versa? Oder anders gefragt, welche anderen wissenschaftlichen Disziplinen prägen das Handeln der Bibliotheken von Heute, ggf. mehr als die Informationswissenschaft?
Mit einem kurzen Rückblick auf den Beitrag von Karsten Schuldt „Die deutsche Perspektive“ möchte ich diese Deutschlandsicht um eine zeitliche Komponente erweitern. Insbesondere die Verschiebungen auf der geopolitischen Ebene führten immer wieder zu gravierenden Veränderungen in den Denkansätzen und Methoden. Nimmt man beispielsweise die Region Berlin-Brandenburg in der die freitag13 stattfindet, sieht man allein bei einem Blick auf die Landkarte die Veränderung von Räumen und Denkansätzen. Eine heutige Betrachtung der informationswissenschaftlichen Ansätze lässt sich für eine Region wie Berlin-Brandenburg eben nicht allein in einem deutschen Kontext denken, da viele Informationen und Bibliotheksbestände hier sehr fraktal und international (in z.B. Polen) verteilt sind, sondern bietet gerade deswegen eine ideale Grundlage für eine freiheitlich demokratische Herangehensweise an.

Die Region Berlin-Brandenburg als Spiegelbild der stetigen Veränderung von (Denk)Räumen. Vom sumpfigen Urwald, über eine Mark Brandenburg zur Festigung der politisch-religiösen Ansprüche, über die Zentralregion des preußisch-deutschen Staatenbundes (Deutsches Reich), über die Schaltzentrale der NS-Diktatur, über die Schaltzentrale der SED-Diktatur hin zu einer Region mit zwei Bundesländern als Teil der Bundesrepublik Deutschland und als Teil des europäischen Gemeinschaftsgedankens. Nicht zu vergessen die heutige nationalen und internationalen Nachbarregionen.
Potsdam, 20.03.2013
Nützlichkeit kennt klare Grenzen. Eine Position zu Dissens, Kritik und Wissenschaftsfreiheit (nach Judith Butler)
von Ben Kaden
Abstract:
Der Aufsatz untersucht ausgehend von der Argumentation Judith Butlers zur Wissenschaftsautonomie (Butler, 2011) das Konzept der Kritik als möglichen meta-analytischen und meta-methodologischen Grundbaustein von Wissenschaft. Diese Kritik zweiter Ordnung wird dabei nicht nur, Judith Butler folgend, als Option für die Selbstlegitimation von Wissenschaft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ansprüche an eine Nutzbar- und Verwertbarkeit wissenschaftlicher Arbeit angesehen, sondern darüber hinausgehend verstanden als erforderliches Verfahren, aus dem heraus sich Aktualisierungs- und Übersetzungsprozesse inner- und interdisziplinär organisieren lassen.
Freiheit der Wissenschaft wird dabei als Verpflichtung zum Entscheiden verstanden, der nur mit einer elaborierten kritischen Kompetenz entsprochen werden kann. Die Integration dieser Kompetenz erfordert gleichermaßen das Anerkennen der sozialen Dimension von Wissenschaft, das produktive Zulassen von Dissenz und ein Verständnis der Rolle von Kontingenz im Prozess der Erkenntnisproduktion. Der Forderung nach Nützlichkeit wird einerseits die Notwendigkeit der Kontextualisierung (=nützlich für wen in welcher Hinsicht?) und andererseits das Konzept der Möglichkeit als Zweck der Wissenschaft entgegen gestellt.
(Der hier wiedergegebene Text ist die Vorversion eines Beitrags für die kommende Ausgabe (No. 19) der Zeitschrift LIBREAS. Library Ideas. ) (more…)
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