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It’s the frei<tag> 2013 Countdown (3): Von Innovation und Neuheit

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Karsten Schuldt on 19. März 2013

Karsten Schuldt

I

Desletztens schlug ich einigen Organisatorinnen und Organisatoren der InetBib-Tagung vor, die nächste dieser Veranstaltungen im Vatikan stattfinden zu lassen (der ja auch eine sehr schöne Bibliothek haben soll), inklusive Social Event auf dem Petersplatz und unter dem Motto Veränderung ist nicht immer gut.

Das Motto, erdacht vor der Wahl des neuen Papstes, aber hier gerne wiederholt, kann gerne als Meinungsäusserung dazu gedeutet werden, wie niedrig von mir die Veränderungsfähigkeit der katholischen Kirche (die mir allerdings, zugegeben, persönlich einigermassen egal ist) unter einem vielleicht locker auftretenden neuen Oberhaupt, welches aber dennoch erklärter Gegner sozialer Bewegungen und der Befreiungstheologie ist, eingeschätzt wird. Aber darum ging es mir bei diesem Vorschlag gar nicht. (Auch nicht um den persönlichen Wunsch, einmal endlich Rom zu sehen.) Es ging mir darum, einen Stoppschild zu errichten. Keine Barriere, über die nicht geschritten werden darf, aber ein Stopp, dass beachtet werden sollte, bevor die Fahrt weitergeht.

Gerade auf bibliothekarischen Konferenzen und in bibliothekarischen Publikationen ist es Usus geworden, „innovativ“, „neu“, „zum ersten Mal“ und ähnliche Bewertungen als Qualitätsmerkmal zu verstehen. Der Bibliothekskongress in der letzten Woche war, noch mehr als InetBib-Tagung, geprägt von Vorträgen und Postern, die genau so agierten: „Neue Angebote für ABC“, „Innovative Dienstleistungen für XYZ“. In Hamburg wird im April zum Beispiel eine „Veranstaltung Innovationsmanagement für Bibliotheken“ (vgl. http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html) stattfinden, welche wie folgt angekündigt wird:

Durch Innovationen entstehen neue Service für unsere Kundschaft. Wie man zu innovativen Ideen kommt, wie man das Ganze steuert und wie man dabei die Kundschaft selbst in die Ideenfindung mit einbezieht und was wir von Unternehmen dabei lernen können – das erfahren Sie am 22. und 23.04.2013 in Hamburg. (http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html)

Unter anderem wird bei dieser Veranstaltung ein Kreativitätsworkshop (wohlgemerkt für bibliothekarisches Personal, nicht für Künstlerinnen und Künstler) angeboten, dessen Abstract wie folgt lautet:

Lernen Sie in dem Workshop verschiedene Kreativitätstechniken kennen und wenden Sie diese in praktischen Übungen an. Damit sind Sie für Ihre eigenen innovativen Ideen bestens gerüstet. (http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg50045.html)

II

Ohne Frage: Die ganzen Vorträge und Poster, die Veranstaltung in Hamburg und so weiter sind im besten Wissen und Gewissen erstellt, gehalten, geplant. Vielleicht drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass einige Kolleginnen und Kollegen einfach Altbekanntes mit ein paar hippen Schlagworten aufbrezeln würden; ich denke (und hoffe) aber, dies ist nur ein Eindruck. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass die Häufung solcher Begrifflichkeiten wie „innovativ“ und „neu“ Ergebniss eines bestimmten Denkens ist.

In diesem Denken erscheint es sinnvoll, dass Bibliotheken sich ständig neu erfinden, ständig irgendetwas ausprobieren müssten und so weiter. Nur: Mir scheint, dass die Rationalität hinter dieser Vorstellung immer weniger hinterfragt wird. Gleichzeitig scheint mir, dass das Drängen auf Innovation zu oft zwei andere Punkte unterschlägt: Nämlich die Geschichte bibliothekarischer Angebote, so dass immer wieder Angebote, die schon mehrfach erprobt wurden und zu denen Erfahrungen vorliegen, neu erfunden werden (Was nicht so schlimm ist, wie es vielleicht klingt. Das ist zwar am Ende Doppelarbeit, aber es gibt wirklich Schlimmeres, die GEZ zum Beispiel.) sowie die Frage, ob die Nutzerinnen und Nutzer (oder halt die ganzen Stakeholder, wie auch immer die definiert werden) überhaupt nach „Innvoation“ und „Neu“ verlangen und nicht viel eher nach sinnvoll, einfach und funktionierend.

Modern wäre, so beschloss vor einigen Jahren die Pestalozzi-Bibliothek in Zürich, sei ein Gebäude mit viel sichtbarem Beton, grossen Fenstern, klaren und klar abgetrennten Flächen aus einfachen Materialien. Zudem hätte es hell zu sein: Hellergrauer Stein, helles Holz, viel Weiss, knallige Farben. Ist das modern? Vielleicht. Sehr viele Neubauten und Umbauten von Bibliotheken, von Schulen und Hochschulen sehen in den letzten Jahren so aus; auch Bahnhöfe und öffentliche Gebäude folgen diesen Vorgaben. Deswegen, so ein Problem, sehen sie sich immer mehr immer ähnlicher. Steht man im Treppenhaus des Grimmzentrums der Humboldt-Universität sieht es dort genauso aus wie im Treppenhaus der Hauptgebäudes der HTW Chur und wie in den Gebäuden des neuen Campus der FH Potsdam. Auch dieses Bild der Pestalozzi-Bibliothek lässt höchstens durch die Verwendung des Begriffs Velo aufhorchen. In Berlin nutzt man dieses Wort nicht. Aber ist das ein Gebäude in Zürich, ist es eines in Freiburg? Sichtbar ist das nicht. Zudem stellt sich die interessante Frage: Ist das eigentlich sinnvoll? Wollen die Menschen das? Lässt sich Bibliothek besser Bibliothek sein in solchen Gebäuden? Nutzt das moderne? Wenn ja, dann wäre die Langeweile vielleicht (vielleicht!) zu rechtfertigen.

Modern wäre, so beschloss vor einigen Jahren die Pestalozzi-Bibliothek in Zürich, ein Gebäude mit viel sichtbarem Beton, grossen Fenstern, klaren und klar abgetrennten Flächen aus einfachen Materialien. Zudem hätte es hell zu sein: Hellergrauer Stein, helles Holz, viel Weiss, knallige Farben. Ist das modern? Vielleicht. Sehr viele Neubauten und Umbauten von Bibliotheken, von Schulen und Hochschulen sehen in den letzten Jahren so aus; auch Bahnhöfe und öffentliche Gebäude folgen diesen Vorgaben. Deswegen, so ein Problem, sehen sie sich immer mehr immer ähnlicher. Steht man im Treppenhaus des Grimmzentrums der Humboldt-Universität sieht es dort genauso aus wie im Treppenhaus der Hauptgebäudes der HTW Chur und wie in den Gebäuden des neuen Campus der FH Potsdam. Auch dieses Bild der Pestalozzi-Bibliothek lässt höchstens durch die Verwendung des Begriffs Velo aufhorchen. In Berlin nutzt man dieses Wort nicht. Aber ist das ein Gebäude in Zürich, ist es eines in Freiburg? Sichtbar ist das nicht. Zudem stellt sich die interessante Frage: Ist das eigentlich sinnvoll? Wollen die Menschen das? Lässt sich Bibliothek besser Bibliothek sein in solchen Gebäuden? Nutzt das moderne? Wenn ja, dann wäre die Langeweile vielleicht (vielleicht!) zu rechtfertigen. Ansonsten sollte die Architektur endlich wieder einmal anders werden.

III

Eine der unausgesprochenen Grundannahmen des „Innovation“-Denkens ist, dass es bislang in den Bibliotheken nicht innovativ genug zugegangen wäre. Das ist so nicht richtig. Auch in den Jahrzehnten zuvor gab es selbstverständlich immer wieder Versuche, Bibliotheken modern und zeitgemäss zu gestalten, sich an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer, der Gesellschaft, der Wissenschaft und so weiter zu orientieren. Gerne wird bei Vorträgen zu „Innovationsthemen“ der Eindruck erweckt, dass die Bibliotheken bis dato recht unbeweglich gewesen seien und „erst jetzt“, „gerade erst“, „erst in den letzten Jahren“ angefangen hätten, sich zu verändern.

Dem ist nicht so. Beziehungsweise: Das gleiche Bild findet sich schon seit Jahrzehnten. Innovation beginnt offenbar immer in den gerade vergangenen fünf Jahren und nicht schon zuvor. Ärgerlich dabei ist nicht einmal so sehr, dass das dargestellte Bild historisch falsch ist. Das ist vor allem unhöflich vorhergehenden Generationen von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren gegenüber. Schlimmer finde ich, dass wir hier Lernmöglichkeiten für Bibliotheken vorübergehen lassen: Vieles wurde schon ausprobierte, funktionierte mehr oder weniger (denn Innovationen funktionieren nie so wie gedacht, sondern immer mehr oder weniger), einiges transformierte sich in gängige bibliothekarische Praxis, vieles verschwand wieder. Aber: Fast immer klang es am Anfang ganz vielversprechend.

Würden wir das wahrnehmen, könnten wir zum Beispiel mehr darüber wissen:

  • Wie die Integration neuer Praxen in den bibliothekarische Praxis funktioniert oder nicht funktioniert.
  • Welche Versprechen offenbar zu gross sind, um in Bibliotheken angenommen zu werden.
  • Was Nutzerinnen und Nutzer sich immer wünschen, egal was man ihnen „gibt“. Was die Gesellschaft immer will. Oder auch: Ob und wie sich die Wünsche der Stakeholder und der Nutzerinnen und Nutzer überhaupt verändern. (Ein Beispiel: In fast allen Umfragen unter Nutzerinnen und Nutzern, egal welcher Methodik, werden heute als Ergebniss längere Öffnungszeiten gewünscht. War das schon immer so? Ist das ein neuer Wunsch? Wird das zurückgehen? Haben die tatsächlichen Öffnungszeiten von Bibliotheken überhaupt einen Einfluss auf diesen Wunsch?)
  • Wie die Veränderungen und Innovationen in Bibliotheken mit den Veränderungen der Gesellschaft zusammenhängen. Es gibt ja in bibliothekarischen Kreisen die Vorstellung, die Bibliothek würde von aussen als verstaubt und als etwas hinter der Zeit herhinkend angesehen und genau jetzt (wobei das jetzt immer neu das gerade seiende Jetzt ist) wäre die Zeit und die Möglichkeit, dies zu ändern. War auch das schon immer so? Haben Bibliotheken nicht auch in den 1960er Jahren und in den 1880er Jahren versucht, dagegen vorzugehen? Ist das überhaupt machbar und sinnvoll? Hat vor allem die Veränderung der Bibliotheken oder die Veränderungen der Gesellschaft Anteil an dieser Vorstellung?
  • Wir könnten schauen, was wirklich neu und anders ist und was sich nur so nennt.

Die ständige Rede von Innovation und Neuheit überdeckt diese historische Realität. Sicherlich hat das Gründe: Es wird – wohl nicht ganz zu Unrecht – angenommen, dass Vorträge, Texte und Poster mit diesem Gestus mehr Aufmekrsamkeit erregen und mit höherer Wahrscheinlichkeit irgendwo angenommen werden; ausserdem ist die Projektförderung heute darauf angelegt, nur Neues zu fördern (was nicht neu sein muss, die Mittelgebenden müssen nur glauben, es sei neu). Eine Frage allerdings ist, ob wir als Bibliothekswesen nicht auch Lern- und Entwicklungschancen vergeben, wenn wir diese Diskursfiguren nutzen.

IV

Ein Grund, warum die Diskursfigur Neu und Innovativ im zeitgenössischen Bibliothekswesen so gut funktioniert, ist auch die damit verbundene Behauptung, die Nutzerinnen und Nutzer würden es verlangen und, falls sie es nicht bekämen, nicht mehr in die Bibliothek kommen. Mehr noch: Immer wieder wird behauptet, mehr Nutzerinnen und Nutzer gewinnen zu können.

Wir sollten uns fragen, ob das wirklich stimmt.

Erstens: Nehmen unsere Nutzerinnen und Nutzer überhaupt wahr, was wir uns gegenseitig als innovativ beschreiben? Und wenn ja: Reagieren sie darauf positiv? Ich möchte das bezweifeln. Innovativ sind Bibliotheken ja immer wieder im Bezug auf sich und andere Bibliotheken, nicht im Bezug auf die Gesellschaft und die technischen etc. Möglichkeiten. Oder anders: Sie hängen am Ende doch oft hinterher. Neue Technologien sind oft schon durchgesetzt, bevor Bibliotheken sie nutzen; Bildungskonzepte sind in Schulen und Museen oft schon Alltag, bevor sie in Bibliotheken ankommen; Marketing- und Entscheidungshilfekonzepte sind oft schon ein alter Hut in der Werbe- und Beratungsbranche, wenn sie in Bibliotheken auftauchen. (Stichwort: SWOT-Analysen) Da sollten wir uns nicht gegenseitig irgendetwas vormachen.

Nur: Auch das ist so schlimm wieder nicht. Was sollte denn der Grund sein, dass Bibliotheken immer die innovativsten Einrichtungen sein sollten? Sicherlich: Wenn Öffentliche Bibliotheken wirklich sozial Schwache erreichten, dann wäre das vielleicht – wenn Innovation wirklich immer auch am Sinnvollsten wäre – ein Beitrag zur Sozialen Gerechtigkeit, weil dann Sozial Schwache früher von Innovationen profitieren könnten als, zum Beispiel, der Hipster in Neukölln. Real aber kennt der Hipster in Neukölln schon alles, bevor es im bibliothekarischen Diskurs überhaupt ankommt. Zumal: Wie soll eigentlich der Nutzer und die Nutzerin entscheiden, ob etwas in der Bibliothek innovativ ist? Die Lesen ja weder BuB noch Arbido noch Büchereiperspektiven.

Zweitens: Ist Innovation eigentlich für die Nutzerinnen und Nutzer eine sinnvolle Kategorie? Ich würde argumentieren, dass die Nutzerinnen und Nutzer von Bibliotheken gar nicht das Neueste wollen, sie wollen vielmehr etwas, was in ihren aktuellen Arbeits-, Lern- und Freizeitgestaltungen Sinn macht. Dazu gehören auch mal neue Dinge, aber halt nicht nur. Das WLAN in Bibliotheken hat sich nicht durchgesetzt, weil es innovativ war (war es ja auch nicht, weil es zumeist weit vorher Cafés mit WLAN gab, bevor Bibliotheken ihres einrichteten), sondern weil es sinnvoll war. Die Fernleihe für Artikel mag im Hintergrund immer wieder neu organisiert werden, die Nutzerinnen und Nutzer wollen aber nur schnellst möglich an die Artikel, die sie benötigen. Bibliothekscafés sind nicht der Renner, weil sie neu wären (auch hier sind sie es gar nicht so sehr, wie es vielleicht erscheint), sondern weil sie im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr Sinn machen und für viele Aktivitäten netter sind als „einfache“ Bibliotheken. Und so weiter. Wenn wir wirklich, wie das auch behauptet wird, die Nutzerinnen und Nutzer oder auch die Stakeholder von Bibliotheken, in den Fokus nehmen wollen (übrigens auch etwas, was nicht so neu ist, wie es scheint), dann sollten wir auch mehr genau das in den Blick nehmen: Sinn, nicht Hippness.

Sicherlich gibt es Menschen, die durch Neues und Hippes ein-, zweimal interessiert werden. Aber das sind einige Menschen mit einem bestimmten Mindset. Wichtiger ist es, für möglichst viele Menschen etwas zu schaffen oder einzurichten, dass für sie im Alltag sinnvoll ist. Das ist eine andere Bewertungskategorie.

V

Weiterhin: Als ich das Motto „Veränderung ist nicht immer gut“ vorschlug, war dies selbstverständlich ein wenig Provokation. Aber auch Spiegelung des Denkens eines Teil des bibliothekarischen Personals.

Je länger je mehr Innovationen, Neuerungen etc. hat man gesehen, wenn man Jahre, gar Jahrzehnte in Bibliotheken arbeitet. Und immer wieder werden Neuerungen als etwas Besseres, Sinnvolleres gepriesen. Es baut sich aber, so hört man, beim Personal aber irgendwann einmal die Vermutung auf, dass die Innovationen nur noch der Innovation halber betrieben würden, nicht weil das, was davor war, wirklich nicht funktionierte oder weil das, was neu kommt, wirklich besser wäre. Oder anders: Wenn es falsch gemacht wird, wenn die Enttäuschungen über fehlgeschlagene Innovationen wachsen und wenn das Gefühl entsteht, dass mit Innovationen Dinge verändert werden, die einer Veränderung gar nicht bedürften, besteht jedesmal um so mehr die Gefahr, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare „abstumpfen“. Auch das ist nicht überraschend. In Schulen ist das zum Beispiel nicht anders. Nicht alle Menschen wollen ständig etwas verändern.

Leicht ist es, ein solches Denken und Verhalten als altmodisch und rückständig zu diskreditieren. Manchmal ist es das auch. Nur nicht immer. Gerade dann, wenn nicht mehr viel darüber nachgedacht wird, warum etwas erneuert werden muss, entstehen auch Gefahren. Sehr sichtbar ist das bei Studierenden im Bibliotheksbereich. Diese haben oft den verständlichen Wunsch, Neues zu entwerfen, Innovatives auszuprobieren. Und viele Hochschulen erfüllen Ihnen den Wunsch, preisen in den Selbstdarstellungen dies sogar als Besonderheit Ihrer Ausbildung an. (Wobei man sich immer fragen kann, was daran noch besonders ist, wenn es in Leipzig und Köln nicht anders getan wird, als in Stuttgart und Hamburg, in Berlin und Potsdam und Köln und Sondershausen und München und Darmstadt und Chur und Hannover.) Nur, was bei solchen Praxisprojekten schnell auf der Strecke bleibt, ist die sinnvolle Analyse des Bestehenden im Sinn von „was funktioniert wieso?“. Es wird – eine Grundvoraussetzung des Diskurses Innovation – vorausgesetzt, dass das, was ist, unvollständig und zumindest in Teilen unmodern wäre und erneuert, teilweise neu erfunden werden muss. Und so kommt es, dass zuerst Dinge mehrfach neu erfunden werden (Wie oft, zum Beispiel, wurde jetzt schon vorgeschlagen, kleine Bibliotheken in den Öffentlichen Personennahverkehr zu integrieren? Wie oft wurde es in unterschiedlichen Ländern und Städten umgesetzt und dann beim nächsten Mal ignoriert?) und zudem das, was vorgeschlagen wird, nicht angenommen wird. Das muss nicht daran liegen, dass die Projekte der Studierenden schlecht wären. Es heisst nur oft, dass das, was vorgeschlagen wird, für die Bibliotheken nicht als sinnvoll erscheint. (Gleichwohl muss man fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, für Innovatives Projekten in der Länge von ein bis zwei Semestern anzulegen. Ist das wirklich eine passende Zeitspanne?)

Und man muss auch das Verstehen: Ist man als Bibliothekarin zum Beispiel seit Jahrzehnten damit beschäftigt, Schulklassen in die Nutzung der Bibliothek einzuführen und hört dann zum dritten Mal in fünf Jahren von „neuen, innovativen Konzepten nur Schulung von Schülerinnen und Schülern“ – was soll man dann davon halten? Insbesondere, wenn diese Konzepte oft nicht mal so recht wissen scheinen, wie diese Schulungen bislang abgehalten werden, sondern einfach davon ausgehen, dass sie unmodern wären.

Erstaunlich ist, dass man von solchen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren wenig hört in der bibliothekarischen Presse, auf den Bibliothekstagungen. Beziehungsweise: Selbstverständlich ist es nicht erstaunlich. Wir, als Bibliothekswesen, haben unsere Presse, unsere Konferenzen so entwickelt, dass dort angenommen, gedruckt und präsentiert fast nur noch das wird, was neu erscheint. Nicht das Kritik unwillkommen wäre, aber sie sollte schon etwas ganz Neues versprechen. Wo nun sollte das Personal, dass von den Podien herunter mehr oder mindern als veraltet dargestellt wird, überhaupt die Stimme erheben und fragen, was eigentlich so sinnvoll sein soll an bestimmten innovativen Projekten, was so falsch sein soll an bestimmten bisherigen bibliothekarischen Praktiken?

VI

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Dies ist kein Plädoyer für die Vergangenheit oder das Aufhalten von Fortschritt. Es ist ein Plädoyer für das Überdenken unserer Entwicklungsdiskurse und unserer in den Diskursfiguren situierten Denkweisen. Ganz klar ist:

  • Das die Zukunft viel spannender und besser sein wird und sein soll, als das Jetzige und dass wir – als Bibliothekswesen und als Menschheit – dies auch anstreben sollten.
  • Dass das Ausprobieren von neuen Dingen, neuen Technologien, neuen Konzepten gut ist, Spass macht und unbedingt getan werden muss. Aber: Nicht als reiner Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund der Sinnhaftigkeit für Bibliotheken, für Nutzerinnen und Nutzer, für die Gesellschaft.
  • Das man weder zu kleinen noch zu grossen Respekt vor der Geschichte der Institution Bibliothek und dem in Bibliotheken vorhandenem Wissen über die Möglichkeiten bibliothekarischer Praktiken haben darf. Weder darf man Dinge aufrechterhalten, weil sie Tradition haben (Traditionen sind kein sinnhafter Grund für irgendetwas) noch darf man sie, schon gar nicht mit einem groben und ungenauen Pinselstrich, einfach als veraltet und falsch abqualifizieren. Wir müssen genauer schauen, was wie und wieso funktioniert oder nicht. Es mag Dinge geben, die sind erstmal „fertig“ und müssen nicht erneuert werden.
  • Innovation ist kein Wert per se, sondern nur dann sinnvoll, wenn etwas in einer Organisation nicht (mehr) funktioniert oder aber neu tatsächlich besser geht. Die Diskursfigur „innovativ und neu“ verdeckt dies zu oft.

VII

Wer über die Zukunft nachdenken will, muss die tatsächlichen Entwicklungen und Entwicklungsverläufe beachten. So ist ein Blick in die Vergangenheit auch immer nur sinnvoll, wenn nicht nur wahrgenommen wird, was geworden ist, sondern auch, was hätte werden können. Jede Entscheidung, jede Innovation oder Nicht-Innovation ist immer auch ein Verwerfen von Möglichkeiten, die auch hätten gewählt werden können. Die Geschichte der Bibliothek ist unter anderem eine Geschichte von vergangenen Zukünften der Bibliothek. Sich dies zu verdeutlichen macht die Verantwortung, die man hat, wenn man Zukunft entwirft, wenn man innovative Dienstleistungen vorschlägt oder eine spezifische Interpretation einer bestimmten Umfragen favorisiert, klarer. Wir spielen nicht nur mit der Zukunft und dem Bibliothekswesen, wenn wir Entwicklungen vorhersagen; wir treffen vielmehr Aussagen, die Relevanz entwickeln können und andere mögliche Zukünfte verhindern.

Gleichwohl ist die Zukunft immer geiler als die Gegenwart oder gar die Vergangenheit. Veränderung ist nicht immer gut, was ich als Motto-Vorschlag für die nächste Inetbib-Tagung aufrecht erhalten möchte, ist dann vor allem eine Aufforderung Innezuhalten und zu Fragen: Was machen wir hier eigentlich immer wieder, wenn wir ständig von Neuem reden? Reden wir dann vielleicht gerade nicht von Dingen, die wichtiger sein könnten, als ob etwas neu oder nicht neu ist? Deckt der Diskurs zu Innovation und Neuheit nicht andere Fragen zu? (Hat man eigentlich noch Zeit, über die Frage der gesellschaftlichen Rolle von Bibliotheken nachzudenken, wenn man ständig Innovatives schaffen muss?)

Berlin, März 2013

It’s the frei<tag> 2012-Countdown (14): Wie leben wir heute?

Posted in LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Verein by Karsten Schuldt on 2. August 2012

Karsten Schuldt

Wie leben wir eigentlich heute? Die Frage ist immer berechtigt, aber da wir hier gerade einen Countdown haben, der auf einen Countdown rekurriert welcher vor einem Jahr gezählt wurde, drängt es sich etwas auf: Was ist eigentlich passiert in diesem Jahr? Hat sich etwas verändert? Was hat sich verändert? Stehen wir anderswo? Denn wenn dem nicht so wäre, bräuchten wir dann noch eine weitere Unkonferenz? Wäre dann nicht alles schon gesagt?

Hier haben wir schon die These: Es hat sich etwas verändert, wenn auch eher graduell. Wissenschaft und Bibliothekswesen bewegen sich ja eher langsam. Aber: Linked Open Library Data scheint heute ein weiter verbreitetes Thema zu sein, als 2011. Man muss es nicht mehr erklären. (Oder?) Das als Beispiel. Open Access und Probleme um das Urheberrecht waren schon im letzten Jahr Thema, aber ist es 2012 nicht weiter fortgeschritten? ACTA ist tot, dass war letztes Jahr vielleicht zu hoffen, aber noch lange nicht durch. Als im letzten Jahr die IWP zu De Gruyter Saur Verlag wechselte passierte ausser einigen Vorwürfen in Blogs und Mailinglisten praktisch nichts; als 2012 die Bibliotheksdienst den gleichen Schritt ankündigte, begann innerhalb von Tagen (oder waren es nur Stunden) Diskussionen darum, dass wir eine weitere Open Access Zeitschrift brauchen. (Ob wir sie 2013 dann online sehen, ist eine andere Frage.) Aber das geht mit Entwicklungen in anderen Forschungsrichtungen einher, wo Open Access immer weniger ein Randthema ist. Nicht zu vergessen, dass nicht mehr nur die Piraten, Anonymous und das dazugehörige Umfeld darüber redet, dass wir das Urheberrecht unbedingt verändern müssen, sondern das dies praktisch zum politischen Allgemeinsatz geworden ist.

Was noch? 2011 schien es so, als würde RDA weiter auf die lange Bank geschoben, jetzt scheint es vor der Tür zu stehen. Vielleicht ist das nur eine stille Hoffnung, aber scheint es nicht so, dass damit wieder mal Katalogtheorie betrieben würde? 2011 war Forschungsdatenmanagement noch neu und spannend, heute ist das Thema fast schon wieder durch. Wer hat denn noch nicht etwas dazu gesagt? Und die Sozialen Netzwerke verändern sich. Erinnert sich noch jemand daran, wie omnipräsent Facebook letztes Jahr war? Facebook, die Firma, wo alle darauf warten, dass sie zusammenbricht. (Meine Wette: So August 2013.)

Der Zürichsee. Vor einem Jahr war der auch schon da, wo er jetzt ist, aber wer hätte gedacht, dass eine Karte für die frei<tag> je an ihm vorbeifahren wird? Die Welt und die Leben sind anders geworden, wenn auch leicht. Wie gesagt: Der See war schon da, vieles andere auf dem Bild auch, aber die Potentialität nicht. So sind die Dinge offenbar.

Und es ist nicht zu bestreiten: Auch wir werden älter. Folgende Mail kam letztens bei mir von meiner alten Kollegin an und hat den Text hier motiviert:

Hier läuft alles eigentlich wie immer – nur, dass es jetzt gemeinsam mit der [XYZ] ein paar Gastprofessuren geben wird, die hier Seminare zu verschiedenen Themen geben werden. Am Großantrag wird demnächst in veränderter Runde vermutlich weiter gearbeitet, nachdem es erstmal eine längere Pause gab. Die größte Veränderung hier ist vielleicht eine personelle. Ich werde zu Ende Juli gehen und habe heute gerade meine Nachfolgerin eingearbeitet … In der Hoffnung, dass ich dann die Probezeit ebenso erfolgreich überstehe, wie du 😉

Die Mail deutet an, was bei so vielen Kolleginnen und Kollegen zu beobachten ist: Vieles scheint sich nur langsam zu bewegen oder gar nicht zu verändern („Am Großantrag wird demnächst in veränderter Runde vermutlich weiter gearbeitet, […]“), aber doch ändern sich Dinge („ein paar Gastprofessuren geben wird […]“) und vor allem persönlich geht es immer weiter. Als wir beide (und andere) im Sommer 2011 zusammen in unseren alten Stellen arbeiteten, machte wir immer wieder Witze, dass wir alle nicht mehr da sein werden, wenn die Dinge sich ändern … jetzt sind wir wirklich nicht mehr da. Einige von uns haben schon die Probezeit auf den nächsten Stellen bestanden, andere werden das in ein paar Monaten getan haben.

Ist das gut, ist das schlecht? Macht es zumindest zwischendurch nachdenklich? Mir scheint, solches kurzes Innehalten ist immer wieder mal eine Erinnerung daran, dass sich unsere Umgebung trotz allem sichtbaren Stillstand weiter bewegt. Die Langsamkeit der Veränderungen und Kommunikation, die wir immer wieder einmal bemängeln, sie ist kein Hindernis für die Entwicklung (Fortschritt wollte ich schon schreiben, aber das ist umstritten). Das heisst auch, dass die ganze Kommunikation, die wir so auf Konferenzen, in Zeitschriften und Blogs betreiben, gar nicht so unsinnig ist, wie sie uns manchmal vorkommt. Was nicht heisst, dass alles dufte wird, aber am Ende des Tages haben wir trotz aller Wiederholungen doch auch im Bibliothekswesen einen fortschreitenden Aufbau von Wissen. Immerhin.