LIBREAS.Library Ideas

Alles im kleinen Kreis halten lässt unnötige Bibliothekspläne entstehen und scheitern

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 30. Mai 2017

von Karsten Schuldt

Zu: Scott Sherman (2015). Patience and Fortitude: Power, real estate, and the fight to save a public library. – Brooklyn ; London: Melville House, 2015

Im Jahr 2007 entwarfen die Trustees der New York Public Library (NYPL) – also das Board, welches über die Entwicklung des Öffentlichen Bibliothekssystems in New York bestimmt – einen Plan zum Umbau der Hauptfiliale in der 42nd Street (die aus Ghostbusters mit den zwei Löwen am Eingang), der einerseits viel von dem enthielt, was heute immer noch im Bibliothekswesen als modern und notwendig für neue Bibliotheken angeführt wird, andererseits aber auch zum neoliberalen Zeitgeist mit seinen „Leuchtturm“-Projekten, Vernachlässigung der sozialen und infrastrukturellen Fragen sowie dem Anspruch, als „Elite“ autoritär über die Interessen von Menschen bestimmen und gleichzeitig Steuergelder in persönliche Grossprojekte gesteckt sehen zu wollen, passte. 2014, nach der Wahl von Bill de Blasio als Bürgermeister der Stadt, musste der Plan aufgegeben werden. Die Proteste gegen ihn waren zu stark und einigermassen erfolgreich.

Die Geschichte ist es wert, erzählt zu werden, weil sie zeigt, wie sehr man an den Interessen der eigentlichen Nutzerinnen und Nutzer vorbei handeln kann, wenn man die Entwicklung von Bibliotheken plant und anstatt auf deren Interessen zu reagieren, sich einfachen, gerade aktuellen Denkmustern unterwirft und – fast schon folgerichtig – auf Transparenz verzichtet.

Journalismus

Scott Sherman, der Autor vom Patience and Fortitude, begleitete die Entwicklung als Journalist – in gewisser Weise stiess er die Proteste auch erst mit einem Artikel an – und erzählt sie hier noch einmal in der längeren Form einer Monographie (und mehreren Artikeln, u.a in der Public Library Quarterly (Sherman 2017)).

Die Kritik an diesem Buch vorneweg: Es ist ein journalistisch angelegtes Buch und das ist auch zu merken. Es hält sich nicht mit Diskussionen auf, die in bibliothekarischen Kreisen geführt werden (die scheinen aber durch), es arbeitet mit eindrücklichen Bildern und dem Beschreiben von Atmosphären. Am Ende weiss man zum Beispiel, wie die wichtigsten Personen, die als Trustees, Bibliotheksdirektoren oder Protestierende an der Geschichte beteiligt waren, aussahen, was zum Verständnis überhaupt nicht notwendig ist. Zudem ist das Buch eine Geschichte, die einige klare Aussagen transportieren will. Auf diese Aussagen hin sind die einzelnen Teile ausgerichtet (zum Beispiel erfahren wir zuerst von Besuchen in heruntergekommen Branches, wo Räume unrenoviert leerstehen, dann direkt von den Einschätzungen anonym bleibender Bibliothekarinnen und Bibliothekare, dass die Trustees die Branches ignorieren und sich eigentlich nur um die 42nd Street kümmern – was eindrucksvoll, aber auch eindeutig so konstruiert ist), nicht auf die Diskussion von Argumenten oder gar den Test von Thesen.

Im Buch erfahren wir die Geschichte aus einem Blickwinkel (was auch damit zu tun hat, dass – was jedesmal explizit erwähnt wird – die ganzen Trustees, Bibliotheksdirektoren oder andere Beteiligte sich weigerten, für das Buch interviewt zu werden), auch wenn sich um Ausgewogenheit bemüht wird. Am Ende ist man sehr klar gegen die Trustees eingestellt; aber man stellt sich schon die Frage, ob dies nicht auch mit dem Aufbau des Buches zu tun hat.

Durch die eingängige Sprache und gut Struktur scheint sich die Geschichte auch einfach in einer Richtung zu entwickeln. Alternativen oder andere potentielle Entwicklungen werden nicht diskutiert, was die Lernmöglichkeiten die das Buch bieten würde, doch einschränkt.

Das Scheitern eines grossen Planes an Protesten und Realitäten – Was ist passiert?

Die NYPL hat eine Struktur, die sich so in Deutschland und Österreich wohl nicht mehr (in der Schweiz aber schon, selbstverständlich in kleinerem Rahmen) findet: Es ist keine öffentliche Einrichtung, sondern eine Non-Profit-Organisation, teils privat, teils öffentlich, geleitet von einem Board of Trustees, die zum Beispiel die Direktion bestellt und kontrolliert sowie die strategische Ausrichtung der Bibliotheken vorgibt. Diese Organisation betreibt die Hauptbibliothek in der 42nd Street, die ihr vollständig gehört. Zudem gehört ihr das Land bestimmter Filialen, das ihr über die Jahrhunderte geschenkt wurde. Der Grossteil der Branches in Manhattan, Bronx und Staten Island gehört allerdings der Stadt, die NYPL betreibt diese in deren Auftrag. (Brooklyn und Queens haben eigene Bibliothekssysteme.) Die Stadt gibt dafür Zuschüsse, die den Grossteil des laufenden Budgets ausmachen. Diese Struktur hat wohl einiges zu den Problemen mit dem Plan beigetragen.

Das Board ist vor allem mit superreichen Personen aus Manhattan besetzt, die sich auch philanthropisch engagieren wollen. Das hat lange gute Auswirkungen gehabt, zum Beispiel wurde die Bibliothek in der 42nd Street erst von solchen Trustees gegründet und finanziert. Gleichzeitig ist das Board nur sich selbst gegenüber Rechenschaftspflichtig. Es tagt öffentlich; aber nicht, wenn es schwierige Entscheidungen zu treffen hat. Zur Zeit dieser Geschichte bestand es grösstenteils aus Immobilienunternehmerinnen und -unternehmern.

Eine kurze Geschichte der 42nd Street Branch

Die Geschichte der Bibliothek in der 42nd Street Branch ist ebenfalls relevant: Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts (eröffnet 1911) als öffentliche Forschungsbibliothek gegründet, nach den damals aktuellsten Bibliothekstechniken und -vorstellungen. Ziel war es, allen Menschen Zugang zu möglichst allem Wissen zu ermöglichen, dass dann in den Lesesälen vor Ort genutzt werden konnte. Dazu wurde als Herzstück der Bibliothek ein System von Stacks gebaut, die so organisiert sind, dass Bücher nicht nur aufbewahrt, sondern möglichst schnell zu den Lesepulten transportiert werden können. Sie sind konstruiert als Teil einer grossen „Buchbring-Maschine“ , nehmen den grössten Teil des Platzes im Gebäude ein und stützten gleichzeitig den Hauptlesesaal. (Dies wurde damals auch als Innovation gefeiert, siehe: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=pst.000063000047;view=1up;seq=527 und https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=pst.000063000047;view=1up;seq=537.)

Seit ihrer Eröffnung wurde die Bibliothek, die mit grossen Ansprüchen agierte und zahllose Sonderbestände aufbaute, von zahllosen berühmten Forschenden, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Künstlerinnen und Künstlern, politischen Radikalen genutzt. Sherman lässt sie en gros durch seine Seiten laufen: Salman Rushdie, Lou Reed, Al Sharpton, die Black Panther, Gloria Steinem, Susan Sarandon, Frank McCourt, Betty Friedan, Mario Vargas Llosa. Er berichtet auch von ehemaligen Schuhputzern, die sich in der 42nd Street das erste Mal in einer Bildungseinrichtung willkommen fanden (nachdem sie ihren Schuhputzkasten wie jedes andere Gepäckstück abgeben konnten). Der Punkt dieser Aufzählung ist zu zeigen, dass die Bibliothek als Forschungsbibliothek für die Massen funktioniert, als Ort mit Lesesälen und einem Fokus auf den Bestand.

Daneben gab und gibt es eine Reihe von Branches über das gesamte Stadtgebiet verteilt, die andere Aufgaben übernehmen.

Der Central Library Plan

2007 nun entwickelte der damalige Direktor Paul LeClerc zusammen mit den Trustees – aber nicht den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren der NYPL – einen Central Library Plan. Dieser strategische Plan sah unter anderem vor:

  • Die Stacks aus der 42nd Street zu entfernen und den Platz umbauen zu einer „modernen Bibliothek“, also mit vielen flexibel zu nutzenden Flächen, einem Fokus auf digitale Nutzung etc. Die Bestände sollten in eine Magazin in New Jersey verbracht werden und innerhalb eines Tages in die Bibliothek geliefert werden. Die gesamte 42nd Street würde renoviert werden (wobei sie vor einigen Jahren schon aussen renoviert worden war und einzelne Lesesäle auch erst kurz vorher; hier ging es um den ganzen Rest) und gleichzeitig würde an sie angebaut werden. Das Ganze sollte von einem der Star-Architekten, die in der Zeit vor der Finanzkrise von 2008 grosses Ansehen genossen, umgesetzt werden. Im Laufe des Projektes fiel die Wahl auf Norman Foster (der Architekt der Kuppel auf dem Reichstagsgebäude in Berlin und diesem Tannenzapfen-Turm in London).
  • Die Branches, deren Land der NYPL gehörten – und die, dass ist ein kritischer Punkt des Planes, zu „Prime Real Estate“ geworden waren – würden zum Teil verkauft. Teilweise würden an ihrer Stelle neue Branches geschaffen (die Idee war bei einer Branch sie zu schliessen, dann dort ein Luxushotel hinzubauen, dass unten wieder eine Branch drin hätte).
  • Die Stadt sollte 300 Millionen Dollar an Steuergeldern zahlen. (Dabei war die Stadt nicht an der Planung beteiligt.)

Der Plan hatte die typischen Merkmale neoliberaler Projekte, mit einem lokalen Gestus: Es wurde ein Grossprojekt geplant, das sichtbar sein sollte, während die Branches – die ja am meisten für die Bevölkerung Angebote erbringen – ein Nebenprojekt waren und zu grossen Teilen nicht beachtet wurden. Die Trustees hatten den Plan – teilweise unter expliziter Geheimhaltung – ohne Input der Öffentlichkeit oder des Bibliothekspersonals beschlossen. Er wurde als Fortschritt verstanden, während die jetzige Situation als veraltet beschrieben wurde; auch wenn nicht nachgewiesen wurde, ob es wirklich einen Bedarf an diesen Veränderungen gab.

Bibliothekarisch wurde hier die Idee der durch-digialisierten, medienarmen und konktaktstarken Bibliothek als Fortschritt und die Idee der Forschungsbibliothek als veraltet dargestellt. Mit einem solchen Diskurs lässt sich leicht jede Kritik als rückständig bezeichnen.

Ebenso zum Denken der Zeit passte, dass der Plan einfach davon ausging, dass die Öffentlichkeit – also die Stadt – den Grossteil der Kosten tragen würde, obwohl diese noch nicht einmal gefragt worden war. Die Trustees – Teil der superreichen Oberschicht Manhattans – gingen einfach davon aus, dass dies passieren würde, weil sie es beschlossen hatten. Sie hatten dabei nicht nur ihre eigenen Erfahrungen im Immobiliengeschäft, auf die sie mit dieser Einschätzung aufbauen konnten, sondern mit Michael Bloomberg auch einen Bürgermeister, der solches Denken und solche Projekte unterstützte.

Vom Scheitern

Wie schon gesagt, ging dieser Plan nicht auf. Ein Grund dafür war die Finanzkrise von 2008, die nicht nur die Preise für Immobilien fallen liess, sondern es sogar schwer für die NYPL machte, ihre Grundstücke zu verkaufen.

Wichtiger waren aber Proteste, die sich mit der Zeit entfalteten. Das dauerte seine Zeit. Die Bibliothek veröffentlichte zwar den Central Library Plan, aber die Bibliothekarinnen und Bibliothekare durften nicht einfach über ihn reden. Er war „Chefsache“. Die Presse und die Öffentlichkeit benötigten einige Zeit, um zu verstehen, was die Konsequenzen des Planes waren. Sherman selber erfuhr dies in einem Gespräch mit dem neuen Direktor der NYPL (LeClerc war, auch so ein Zeichen der Zeit, in einen anderen Job gewechselt, nachdem er den Plan entworfen und erste Finanzierungen gesichert hatte). Es folgten einige Artikel in Zeitschriften, die sich wie das How-is-How des linken und links-liberalen New York lesen: The Nation (von Sherman selber), N+1 (der wohl längste, Petersen 2012), The Paris Review, Insider Higher Ed, Vanity Fair, The New Yorker.

Die Kritiken kamen aus unterschiedlichen Richtungen:

  • Es gab offenbar eine starke Architekturkritik, die einerseits Architektur in New York unter dem Blickwinkel des Urbanen (also der Frage, wie und ob Architektur zum urbanen Leben beiträgt) betrachtet und den Umbau als antiurban und geschichtslos verstand. (Viel scheint über die Stacks selber diskutiert worden zu sein. Für die NYPL ein Hindernis für den Ausbau der Räume, für die Kritik ein Meisterwerk der Bibliothekstechnik, dass weiterhin seine Aufgabe erfüllt und erhalten werden muss.) Zugleich wurde der Entwurf, den Norman Foster dann vorlegte, zum Teil als einfallslos und nicht einer Bibliothek entsprechend beschrieben.
  • Es gab eine Kritik an den Vorstellungen der Bibliothek von ihrer eigenen Aufgabe. Die Bibliothek trat mit wenigen Argumenten an, sondern stellte es vielmehr so da, als wäre ein Umbau einfach nötig; erst mit der Zeit kamen weitere Argumente. Aber die Kritik stellte zum Beispiel fest, dass der Plan, einmal umgesetzt, die 42nd Street ihrer Funktion als Forschungsbibliothek entledigen würde. Es wäre für Forschende nicht mehr möglich, spontan vorbeizukommen und die Bestände zu nutzen. Niemand glaubte, dass die Bibliothek wirklich innerhalb 24 Stunden Bücher würde aus New Jersey transportieren können. Zudem wurde der Fokus auf digitale Medien kritisiert. Die Bibliothek hatte die Hoffnung, durch E-Medien und Digitalisierung (über Google Books) die Bestände elektronisch zugänglich zu machen. Einerseits wurde gefragt, ob das jemals wirklich so eintreten würde (Sherman kann darauf verweisen, dass Google Books diesen Zugang heute nicht bietet), anderseits auch kritisiert, dass dies überhaupt nicht dem Arbeitsprozess in der Geisteswissenschaft entspricht. (Sherman führt Forschende an, die gerne umgeben von aufgeschlagenen Büchern arbeiten. Für ihn ist klar, dass das auch in Zukunft so sein wird.) Nicht zuletzt wurde kritisiert, dass das, was sich die Bibliothek als „modern“ vorstellt nicht viel mehr wäre als ein grosser Coffeshop mit WLAN (von denen es schon genügend in Manhattan gäbe).
  • Sherman macht aber noch einen weiteren Kritikstrang auf: Ein Problem bestand für ihn darin, dass die Trustees eine Gruppe von Individuen bildeten, die eine eigene, Immobilien-getriebene Sicht auf die Welt hätten und sich das Recht herausnähmen, mit dieser Sicht (er nennt sie „Wall Street Logic“), über Einrichtungen des öffentlichen Lebens zu bestimmen. Dies führe zu einer Intransparenz, weil eine kleine Gruppe, die sich selber zur Elite ernennt, Entscheidungen trifft, die andere Menschen massiv beeinflusst (hier: die alte Bibliothek schliesst). Das die Meinung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, aber auch der Nutzerinnen und Nutzer nicht zählt, ist für ihn nur ein Zeichen dafür, dass die Gruppe sich selber in ihrem Denken abschliesst. Zu seinem Argument zählt auch, dass der Plan sich auf die 42nd Street konzentrierte und nicht auf die Branches. Er erzählt zum Beispiel von Besuchen in alten Carnegie-Libraries, wo es seit Jahrzehnten leerstehende Wohnungen im Obergeschoss gäbe, in denen einst die Hausmeister wohnten. Diese Wohnungen seien in vielen Branches nie umgebaut worden, obwohl sie sich als Flächen für die jeweilige Bibliothek anbieten – weil dafür niemals Geld da sei. Hingegen sei die 42nd Street Branch mehrfach renoviert worden. Dies gilt für ihn Ausdruck einer Logik, die auf „Leuchtttürme“ setzt statt auf eine Strategie für das gesamte New Yorker Bibliothekswesen.

Als der Plan endgültig scheitert bestehen zwei Gruppen, die gegen den Umbau der Bibliothek in der vorgesehenen Form engagieren: Erst entstand das Committee to Save the New York Public Library, dass aus einem Protestbrief und einer Veranstaltung, bei dem ein Architekt die Pläne der NYPL kritisierte, hervorging. Später, als jüngerer und radikalerer Zusammenschluss, die Library Lovers League.

Die Proteste irritieren die Trustees zuerst, die sich offenbar nicht vorstellen können, dass es Widerspruch zu ihrer Strategie geben könnte. Nach einer Weile öffnen sie eine „listening period“, aber ändern an ihrem Plan nichts. Sie äussern sich auch nicht nach aussen. Was den Plan am Ende stoppt, ist die Öffentlichkeit, die zum Beispiel über Proteste vor der Bibliothek, Social Media Auftritte, aber auch zwei Klagen gegen den Umbau erreicht wird, die Finanzkrise von 2008 und am Ende die Wahl von Bill de Blasio, dessen links-liberale Regierung nicht unbedingt der „Wall Street Logik“ folgt, sondern zum Beispiel dafür sorgt, dass die 150 Millionen, die die vorherige Stadtregierung am Ende für das Projekt am Ende bereitgestellt hatte (während gleichzeitig der laufende Etat gekürzt wurde, was auch zum neoliberalen Denken passt), nicht für den Umbau der 42nd Street, sondern für die Renovierung von anderen Branches verwendet wird. (Wobei Sherman auch klar macht, dass der Bibliotheksdirektor, der den Plan umsetzten soll, Tony Marx, selber ein erklärter Linksliberaler ist, es also gar nicht um eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Richtungen geht.)

Oder anders: Auch, wenn sie sich wehren und versuchen, ihren Plan weiter durchzuziehen, zerbricht die Strategie der Trustees, indem sie in Kontakt mit der Öffentlichkeit – und nicht nur den Spitzen der Regierung – gebracht wird.

Die Situation heute ist nicht ausgeglichen. Weiter engagiert sich das Committee to Save the New York Public Library, die Bestände aus den Stacks, die im Laufe des Projektes heimlich ausgelagert wurden, scheinen immer noch nicht wieder in der Bibliothek zu sein (was heisst, dass da eine Buchbring-Maschine ohne Bücher steht, mitten in Manhattan). Gleichzeitig haben sich die Umbaupläne zerschlagen. (Norman Foster hat aber für sein Modell schon neun Millionen Dollar erhalten, dass sind so die Summen, über die man in diesen gesellschaftlichen Sphären entscheidet.) Viele Vorhersagen, auf die der Central Library Plan aufbaute, haben sich als falsch herausgestellt: Die Entwicklung bei der Digitalisierung ist nicht so erfolgt, wie gedacht, der Immobilienmarkt brach zusammen, die Stadt ist mehr an einer Förderung in der Fläche anstatt an „Leuchtturmprojekten“ interessiert; die Öffentlichkeit vertraut den Trustees und der Bibliotheksleitung nicht unbedingt einfach so, sondern möchte mitreden.

Berlin, Toronto

Man könnte die Geschichte als New York-spezifisch lesen, aber es gibt mindestens zwei andere Geschichten, die sich als ähnlich aufdrängen. Zum einen der gegenüber der Öffentlichkeit schwerhörige (tone-deaf) Versuch der Zentralen Landesbibliothek Berlin (ZLB) vor einigen Jahren gerade auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof – also im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen Civic Society und Berliner Senat – ein neues Gebäude zu bauen, zum anderen die Auseinandersetzung um die Entwicklung des Bibliothekswesens in Toronto in den späten 1970ern, die John Marschall (1984) zusammenfassend dargestellt hat.

Die ZLB möchte seit langem ein neues Gebäude bauen, in den 1980ern noch am jetzigen Standort, nach der Wende als gemeinsames Projekte der dann zusammengeführten Häuser in Ost und West. Dieses neue Gebäude gibt es bis heute nicht, der letzte Versuch aber wurde vor einigen Jahren unternommen, als der Senat vorschlug, auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof eine „Randbebauung“ zuzulassen. Um dieses Vorhaben kam zu einer Volksabstimmung, die recht eindeutig zu einer Ablehnung des Vorhabens führte. (https://de.wikipedia.org/wiki/Volksentscheid_zum_Tempelhofer_Feld_in_Berlin) Die ZLB hatte sich in diesen Plan einbinden lassen. Zwischen den neuen Wohnungen sollte eine neue Bibliothek gebaut werden, welche sehr stark an die damals aktuell im Bibliothekswesen immer wieder herumgezeigte Openbaare Bibliotheek Amsterdam und das Dokk1 in Aarhus erinnerte (http://www.berliner-zeitung.de/berlin/neues-zlb-gebaeude-auf-tempelhofer-feld-betonband-oder-glasfassade-1368738).

Die Struktur dieses Projektes ist einfach zu ähnlich zu dem Projekt in New York, als das sie nicht auffallen könnte:

  • Der Plan, eine neue Bibliothek zu bauen, wurde in einem kleinen Kreis getroffen, der es kaum für nötig hält, überhaupt zu begründen, wieso die neue Bibliothek benötigt wird. Es wird einfach vorausgesetzt, dass es eine moderne Bibliothek geben müsste (während die beiden heute bestehenden Häuser der ZLB auch ständig überfüllt sind, also auch nicht nicht funktionieren können). Die Gruppe ist offenbar der Meinung zu wissen, was gut für die Nutzerinnen und Nutzer sei. Zudem liess sich die Bibliothek in einen Plan des Senats einbinden, der immens unpopulär – weil als typisches Gross- und Gentrifizierungsprojekt angesehen – war.
  • Offenbar überrascht davon, dass es Widerspruch gab, versuchte die Stiftung ZLB in den letzten Wochen vor der Volksabstimmung mit neuen Argumenten aufgewartet, es wurden sogar Werbepostkarten gedruckt und Videos gedreht. Auf einmal wurde betont, dass die Berlinerinnen und Berliner eine moderne Bibliothek verdienen würde. Das überzeugte nicht. (Die Stiftung hätte auch früher auf die Strasse gehen und den Leuten zuhören können und hätte gemerkt, dass das ganze Projekt des Senats extrem unbeliebt war und die Bibliothek immer wieder in Kneipengesprächen als Teil des Planes angeführt wurde.) Das ist mit der Situation in New York zu vergleichen. Erst wurde der Plan gemacht und begonnen, ihn umzusetzen. Es schien dafür nicht viele Argumente zu brauchen. „Modern“ schien auszureichen. Erst, als Proteste auftauchten, wurde argumentiert, die Bibliothek müsse „demokratisiert“ und neu belebt werden (was der Bibliothek den Vorwurf einbrachte, Demokratie und Populismus zu verwechseln; Sherman 2015:64).1 Das überzeugte so wenig, wie die Argumentation der ZLB, dass man mit einem Haus (statt aktuell zwei) weniger durch Berlin fahren müsste, um ein Buch zu holen.2
  • Beide Bibliotheken schafften es, dass trotz des sonst so guten Rufes von Bibliotheken in der Öffentlichkeit, gegen die Projekte gestimmt beziehungsweise protestiert wurde. Das hatte beide Male wohl auch damit zu tun, dass sie als Elitenprojekte angesehen werden, während die Branches oder Filialen – die die Bevölkerung mehr nutzt – oft um Etat oder auch nur den eigenen Erhalt zu kämpfen haben. (Die ZLB kann darauf verweisen, das die Filialen jeweils den Bezirken unterstehen und sie damit nichts zu tun hat. Das interessiert die Bevölkerung aber bestimmt wenig.)
  • Grundsätzlich schienen beide Projekte davon getragen zu sein, dass kleine Gruppen der Meinung waren, die Bibliotheken verändern zu müssen, ohne zu fragen, ob sie damit nicht das Grundprinzip der Forschungsbibliothek (der sowohl die ZLB als auch die 42nd Street Branch zumindest bei ihrer Gründung folgten) aufgeben. Die Gruppen verhandelten jeweils mit den oberen Spitzen der Politik, nicht mit der Öffentlichkeit. Sie folgten beide Logiken, die auf eine Richtung setzten und alle Alternativen als „unmodern“ abqualifizieren.

Ein Unterschied scheint zu sein, dass aktuell die NYPL mehr versucht, auf die Forderungen der Öffentlichkeit zu reagieren, während die ZLB in gewisser Weise – so zumindest der Eindruck von aussen – ihr Projekt einfach weiter fortzusetzen scheint.

Aber: Das scheint ein Zeichen der Zeit zu sein. Während Sherman auf die „Wall Street Logic“ verweist, die in New York sichtbar wurde, gilt das für Berlin nur zum Teil. Es geht nicht per se um Immobilien, aber die grundsätzliche Ausrichtung ist ähnlich, der neoliberale Zeitgeist grundiert auch das Projekt in Berlin.

In Toronto gab es eine fast gleiche Situation aber schon in den späten 1970er Jahren. Auch dort ist das Bibliothekswesen als Non-Profit Organisation organisiert, inklusive eines Board of Trustees, die sich aus den oberen (reichen und weissen) Schichten der Stadt rekrutierte. Ebenso entwickelte das Board den Plan, eine neue, moderne und grosse Bibliothek in der Stadtmitte zu bauen und dafür andere Branches zu schliessen. Ebenfalls mit der Idee, dass dies der Weg wäre, wie Bibliotheken „heute“ sein müssten und mit der Vorstellung, das eine möglichst zentrale Bibliothek möglichst sichtbar als Leuchtturm des Bibliothekswesens der Stadt wirken würde.

Marshall (1984) schildert, wie sich – in einer Phase des allgemeinen Aufbruchs in der Stadt, die eine Reformfraktion, welche die Entwicklung der Stadt an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger orientieren wollte, an die Macht brachte – auch gegen diesen Plan Proteste entwickelten. Es wurde gefordert, statt zentraler Projekte die Branches zu fördern, zu renovieren und auszubauen. Auch Marshall berichtet, wie das Board of Trustees vollkommen davon überrascht wurde, das jemand anderer Meinung als sie selber darüber war, wie die notwendige Entwicklung des Bibliothekswesens sein müsste.

Letztlich setzte sich in Toronto die Reformfraktion durch, heute gibt es immer noch rund 100 Branches, renoviert und in ihr Umfeld integriert (aber auch die damals geplante zentrale „Reference Library“ in der Mitte der Stadt). Aber auch das nur, weil der Plan gestoppt wurde.

Was ist es mit diesen Zentralen Bibliotheken und Bibliotheksplänen?

Das Beispiel aus Berlin zeigt, dass das Vorgehen in New York nicht einmalig war oder aus der Situation vor Ort alleine zu erklären ist. Das Beispiel aus Toronto zeigt auch, dass es nicht dem Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts allein zuzuschreiben ist. Insoweit drängt sich die Vermutung auf, dass grundsätzlich ein strukturelles Problem entsteht: Offenbar gehen Bibliothekspläne, gerade solche, die zentrale Bibliotheken planen und dafür die Filialen ignorieren, immer wieder an den Interessen einer grossen Zahl von Nutzenden vorbei. Gleichzeitig scheint sich immer wieder eine kleine Gruppe zu etablieren, die der Meinung zu sein scheint, zu wissen, wie die Bibliotheken sich als „moderne Bibliotheken“ entwickeln müssten. (Zu fragen wäre, wie viele bibliothekarisch ausgebildete Personen eigentlich in diesen Gruppen aktiv sind. In New York und Toronto waren es praktisch keine, aus der ZLB hört man hingegen unter der Hand – was selbstverständlich nicht sehr verlässlich ist – schon, dass es Kolleginnen und Kollegen gäbe, die sich aktiv beteiligen.)

Dabei darf man nicht vergessen: New York (trotz Donald Trump), Berlin, Toronto sind grosse linke/links-liberale Bubbles, in denen Widerspruch und zivilgesellschaftliches Engagement, dass sich nicht mit Klagen alleine beschäftigt, normal sind. Es wäre schon spannend, ähnliche Projekte mal in anderen Städten anzuschauen. Kann man da einfacher solche Um- und Neubauten durchsetzen? Gibt es da andere Proteste? (Oder sind da die Pläne andere? Spontan fallen mir die Pestalozzi Bibliotheken in Zürich ein, die für und mit ihren ganzen Filialen planen und versuchen, diese gemeinsam zu entwickeln, nicht nur die Hauptfiliale Altstadt. Allerdings ist auch Zürich ein links-liberale Bubble, in Bezug auf ihr Umfeld. Sherman erwähnt als gutes Beispiel auch Seattle, dass – darauf hat Olaf Eigenbrodt anderswo schon einmal hingewiesen – gerade nicht nur diese zentrale Bibliothek von – ganz im Star-Architektendenken – Koolhas baute, sondern gleichzeitig das Filialsystem entwickelte.)

Es scheint eine Tendenz im Bibliothekswesen zu geben, zumindest manchmal, autoritär zu entscheiden, wie die Bibliotheken sich entwickeln sollen und dann meistens auf zentrale Bibliotheken zu setzen. Das scheint etwas absurd, wenn Bibliotheken eigentlich sehr nah an den Interessen ihrer Nutzerinnen und Nutzern sein könnten. Shermans Buch bietet einen Überblick zu einem Beispiel, wo so ein Vorgehen grandios scheiterte. Es ist eingängig und gerade dann, wenn man erst einmal darüber lesen will, was andere falsch gemacht haben (bevor man an eine Situation nachdenkt, die einem oder einer näher ist), ist es zu empfehlen.

Marshall (1984) diskutiert auch, dass es nicht damit zu schaffen sei, Nutzende dann, wenn schon praktisch alles entschieden ist, einzubinden, also zum Beispiel zu entscheiden, dass es eine zentrale Bibliothek geben wird, aber dann „pseudo-partizipativ“ über die Farbe der Räume oder die Möblierung entscheiden zu lassen (was gerade wieder ein Trend zu sein scheint), sondern das Partizipation wirklich heisst, dass die Nutzenden die Macht haben müssen, Entscheidungen zu treffen (wie in Toronto die Entscheidung, die Branches in den Mittelpunkt zu stellen). Auch darüber gälte es nachzudenken. (Obwohl dieses Buch von Marshall hier nicht weiter besprochen werden soll, ist es für das Thema Partizipation und Bibliotheksentwicklung mehr zu empfehlen als das von Sherman, auch da es eher auf bibliothekarische Diskussionen eingeht.)

Literatur

Marshall, John (1984). Citizen participation in library decision-making: the Toronto experience. (Dalhousie University, School of Library Service, 1). Metuchen, N.J. : Scarecrow Press, 1984

Petersen, Charles (2012). Lions in Winter. In: N+1, 9 (2012) 14, https://nplusonemag.com/issue-14/essays/lions-in-winter/

Sherman, Scott (2017). The Battle of 42nd Street. In: Public Library Quarterly 36 (2017) 1: 10-25

Sherman, Scott (2015). Patience and Fortitude: Power, real estate, and the fight to save a public library. – Brooklyn ; London: Melville House, 2015

Fussnoten

1 „This was a strange argument. The building was already utterly democratic and filled with a remarkable variety of individuals. (…) Months later, when the plan met public resistance, that argument became rasion d’être for the Foster renovation: the building was underutilized and had to be made accessible to the broad public, including immigrants and young people. When this reasoning became hard to sustain, NYPL officials came up with two other reasons to justify the urgency of the renovation: first, the stacks had an antiquated climate-control system, and the books, for their own protection, needed to go to a modern facility in Princeton; second, the CLP would improve the NYPL’s finances by generating ‚up to $15 million a year‘, money that would be used to hire additional librarians, archivists, and curators, whose ranks had been thinned by austerity measures.” (Sherman 2015:64)

2 Es ist nicht so, dass es einfach wäre, die Postkarten und Videos von damals zu finden. Bestimmt gab es noch mehr Argumente, aber diese schien mir das absurdeste, weil es so falsch war. Es wird nicht viele Menschen geben, die aus beiden Häusern – die nach unterschiedlichen Fachbereichen organisiert sind – Medien benötigen und die Menschen werden garantiert ein so breites Interesse haben, dass sie auch andere Bibliotheken in Berlin nutzen, z.B. die auch verteilten Universitätsbibliotheken. Da scheint die halbe Stunde zwischen den beiden Häusern der ZLB recht vernachlässigbar. Es schien, als sei auf einmal jedes Argument recht, um das Projekt zu stützen.

Warum die Publikation von Forschungsdaten nach wie vor ein begrenztes Phänomen bleibt.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 5. April 2017

Eine Notiz im Anschluss an

Jens Klump: Data as Social Capital and the Gift Culture in Research. In: Data Science Journal. 16, p.14. DOI: http://doi.org/10.5334/dsj-2017-014

von Ben Kaden (@bkaden)

Wer sich mit dem Thema der Forschungsdatenpublikation befasst, kann die Lücke zwischen allgemeinen in Forschungsdaten-Policies verkündeten Anspruch an einen offenen Zugang zu diesen Daten und der Wissenschaftspraxis nicht übersehen: Trotz aller wohlbegründeten Argumente ist die Zahl der publizierten Datensätze sehr überschaubar. Andererseits ist das Konzept der Forschungsdatenpublikation nur dann wirklich nachhaltig und sinnvoll, wenn solche Veröffentlichungen nicht insular und aus dem Enthusiasmus einzelner Forschender heraus geschehen, sondern dort, wo sie sinnvoll sind, ein Eckstein wissenschaftlichen Austauschs bilden. Wissenschaft lebt von Systematizität. Wenn Forschungsdatensätze eher zufällig auf einem Repositorium landen, ist es sicher besser als keine Verfügbarkeit. Aber es ist eben nicht wissenschaftlich und ähnelt im Fall einer Nachnutzung eher dem glücklichen Zufallsfund im Archiv, während der Normalfall bleibt, dass man keine Daten für seine Forschungsfrage findet. Auch wenn es eigentlich welche gäbe.

Gemeinhin werden drei Gründe für Forschungsdatenpublikationen benannt: Forschungstransparenz, Nachnutzung und der Erwerb wissenschaftlicher Reputation. Abgesehen von ethisch besonders motivierten Publizierenden dürfte vor allem der Aspekt einer die Anrechenbarkeit von Forschungsdatenpublikationen als wissenschaftliches Kapital der Schlüssel zu einer weiteren Verbreitung sein. Insofern ist es unter anderem wichtig, Datenpublikationen so zitier- und verfügbar zu halten, wie es auch Aufsatzpublikationen sind. Die übergeordnete Sachlage ist aber selbstverständlich komplexer.

In einem aktuellen Aufsatz für das Data Science Journal geht nun Jens Klump der Frage nach, weshalb Data-Sharing-Policies bisher nur begrenztes Echo in den Fachkulturen und ihren Kommunikationspraxen finden. Er nähert sich der Frage wissenschaftssoziologisch und argumentiert nachvollziehbar, dass es nicht ausreicht, Forschungsdateninfrastrukturen aufzubauen. Vielmehr, so lässt sich ergänzen, sind diese eine Basisanforderung, um Data-Sharing-Praxen zu stimulieren. Entscheidend ist jedoch eigentlich, die Verfassung des sozialen Systems der Wissenschaft als eine „Reputation Economy“ zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus passende Ansatzpunkte für Anreize zu setzen. Der einschlägigen Infrastrukturforschung bescheinigt Jens Klump dahingehend Defizite. Wenn also in der Reputationsökonomie der Wissenschaft die eigenen wissenschaftlichen Handlungsmöglichkeiten (z.B. über Fördermittel und Anstellungen) mittels kommunikationsbasierten Erwerb von Reputation und wissenschaftlichem Status gesichert und ausgebaut werden, dann sollte das Phänomen der Forschungsdatenpublikation folgerichtig in dieses System grundlegend integriert werden.

Interessant ist nun die durch den Übergang von einer vorwiegenden Individualwissenschaft zu einer Kollaborationswissenschaft (oft, aber nicht nur, in Gestalt von Großforschung) auftretende Verschiebung der Anforderungen. Im zweiten Fall bedarf es für eine Karriere mehr als Reputation – es gilt die Balance zwischen Reputationsgewinnen und Kollaborationsgewinnen zu finden. Man muss also in der kollaborativen Forschung nicht nur als Individuum wissenschaftlich hochklassig arbeiten, sondern zugleich an den richtigen Punkten ein geschickter Teamspieler sein.

Zwangsläufig betonen und belohnen, wie auch Jens Klump herausstellt, kollaborativ orientierte Fachkulturen das Teilen von Forschungsressourcen und also auch Forschungsdaten stärker als Kulturen, in denen der Schwerpunkt hauptsächlich auf  dem Reputationsgewinn des einzelnen Forschers liegt. Zieht man dies heran, erklärt sich auch das Spannungsverhältnis zwischen den sehr auf Kollaboration gerichteten Digital Humanities und den traditioneller ausgerichteten Geisteswissenschaften, bei denen sich Forschende häufig selbst als primär Werkschöpfende mit allen Ansprüchen an eine so genannte „Werkherrschaft“ sehen. Die aktuellen deutschen Urheberrechtsdebatten (Stichwort Publikationsfreiheit.de) könnten also maßgeblich von der Sorge um Reputationseinbußen getrieben werden. Zugleich stehen sie deutlich erkennbar den Ansprüchen kollaborationsorientierter Wissenschaft entgegen. Während die traditionellen Individualwissenschaften Erkenntnis primär zentriert auf den individuellen Forscher als Erkennenden (und idealweiser Ersterkennenden) gelesen und interpretiert haben, fokussieren, so eine natürlich etwas verkürzte Deutung, Kollaborationskulturen viel stärker den Forschungsgegenstand und das Erkenntnisziel als Fixpunkte. Sie behandeln die Forschenden zwar nicht als beliebig austauschbar, aber doch als stärker hinter die Forschungsziele zurücktretend. Ist das eigentliche Ziel nun idealerweise der Erkenntnisfortschritt selbst, so scheint es auch deutlich plausibler und vermittelbarer, dass zum Beispiel die Bereitstellung von Forschungsdaten für die Community im Sinne dieses Fortschritts stärker zu gewichten ist, als der individuelle Anspruch als Erheber dieser Daten auch eine umfassende Datenherrschaft ausüben zu können.

Individualwissenschaftliche Praxen knüpfen dagegen stärker die Originalität einer Erkenntnis an die konkrete forschende und erkennende Person als Urheber. Zu viel Transparenz oder gar die Bereitstellung der eigenen Datengrundlage (zum Beispiel in Form von Annotationen) für ähnlich motivierte Forschende (=Konkurrenten) wird zwangsläufig als erhebliche Preisgabe wissenschaftlichen Kapitals gesehen, aus dem das soziale Kapital gewonnen wird, mit man seine Karriere macht.

Einen Sonderfall stellt die Auftragsforschung dar, wenn sie das Ziel des Intellectual Property mit Teamforschung verbindet und zum Beispiel Patentierbarkeit des Erkenntnisproduktes anstrebt. Dann greifen ähnliche Zurückhaltungsmechanismen und eine Preisgabe u.a. der Datengrundlage oder auch der Verfahrensbeschreibung ist vor Sicherung des Patents und damit des rechtlich stabilisierten Verwertungsanspruchs unbedingt zu vermeiden.

Mit der Zunahme von Public-Private-Partnership-Projekten verkompliziert sich die Frage nach den Anreizen zum Teilen von Forschungsdaten demnach zusätzlich. Wissenschaft ist somit keinesfalls als isoliertes soziales System zu betrachten, auch wenn diese Sicht zunächst einmal hilft, um über die Idee einer idealtypischen Reputationsökonomie nach den passenden Interventionspunkten zugunsten einer stärkeren Öffnung wissenschaftlicher Arbeit zu suchen. Die Kommodifizierung der Erkenntnisproduktion verlagert den als für das wissenschaftliche Verhalten bestimmend definierten Peer Pressure in stärker rechtlich regulierte Bedingungen. Für denkbare Anreize zum Teilen von Forschungsdaten und -verfahren muss dies nicht schlecht sein, weil man auf rechtlichem Wege stärker auch verbindliche Mandatierungen anstreben kann – so wie die Nicht-Veröffentlichung bereits jetzt bei der Auftragsforschung klar mandatiert wird.

Abgesehen davon ist es zweifellos nach wie vor sinnvoll, auch die impliziten Normen des sozialen Systems Wissenschaft zu adressieren. „[P]ublishing data must add to reputation“ (vgl. Klump, S. 5) ist eine Basisformel für das Schaffen von Anreizen für die Forschungsdatenpublikation, die jede/r in diesem Bereich Aktive berücksichtigen sollte. Denn ohne die Aussicht auf einen potentiellen Reputationsgewinn wird es schwer, den erheblichen Mehraufwand einer soliden Datenpublikation zu vermitteln. Wissenschaftsethische Argumente werden selbstverständlich gern gehört und Ideen einer Open Scholarship stoßen selten auf Widerspruch. Ebenso selten haben sie freilich eine Wirkung, die über ein „Ja, man müsste..“ hinausreicht. Der aktuell wirksamste Weg zur Anregung von Datenpublikationen scheint die zunehmende Einforderung von Begleitdaten durch (High-Impact-)Journals, die einen gewissen Zwang mit einem Reputationsversprechen verknüpft. (vgl. zu solchen Supplementary Materials auch diesen Artikel im eDissPlus-Blog)

Dass Datenzitation (und Zitationsindices) und damit einhergehend Reputationsgewinne jedoch vergleichbar mit dem Publizieren von formalen Wissenschaftspublikationen wie Aufsätzen und auch Monografien größeren Einfluss haben werden, scheint trotz allem aktuell wenig wahrscheinlich. Während eine wissenschaftliche Erkenntnis selbst publiziert werden muss, um gelten zu können, ist dies für die ihr zugrundeliegenden Forschungsschritte nicht erforderlich. Für den Weg zur Erkenntnis reicht meist eine kurze Schilderung als Beleg des wissenschaftlichen Vorgehens. Eine weitere Anreicherung um zusätzliche Materialien wie umfassende Forschungsdaten scheint dagegen nicht zuletzt angesichts der schon lange beklagten Publikationsflut (und damit Rezeptionskrise) kaum als Default-Modus gewünscht. Zudem ist auch so nicht jeder Datensatz zur Nachnutzung geeignet oder zur Feststellung des Werts der daraus gewonnen Erkenntnis notwendig. Schließlich stehen sehr häufig auch einfach persönlichkeits- und datenschutzrechtliche Aspekte als unverrückbare Hürden vor einer möglichen Datenpublikation.

(Offenes) Data-Sharing dürfte daher auch langfristig nur in bestimmten Forschungsbereichen relevant werden. In diesen jedoch ist eine umfassende Abdeckung fraglos erstrebenswert. Und auch bereits für diese keineswegs eindeutig bestimmten und überschaubaren Felder haben Infrastrukturforschung und Policy-Entwicklung noch viel Arbeit vor sich. Daher könnte es sogar förderlich sein, das Ideal einer vollumfänglichen Open-Data-Kultur zugunsten einer differenzierteren Sichtweise zu relativieren um anhand schärfer bestimmter Zielgruppen und -szenarien die passenden Anreize definieren zu können.

(Berlin, 05. April 2017)

Nochmal zur Evidence Based Library and Information Practice. Ein neuer Startpunkt, um Forschung im bibliothekarischen Alltag zu verankern?

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 23. Februar 2017

Zu: Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being evidence based in library and information practice. London: Facet Publishing, 2016

von Karsten Schuldt

Die Evidence Based Library and Information Practice ist ein Fakt. Nur nicht hier.

Das wird vielleicht einige Personen in den deutschsprachigen Bibliothekswesen überraschen, aber: Evidence Based Library and Information Practice (EBLIP) ist ein dynamisches, einflussreiches Feld, dass beständig wächst und das seit 1997 – also seit jetzt 20 Jahren. Um die einst im kleinen Rahmen propagierte Praxis ist nicht nur eine Zeitschrift (https://ejournals.library.ualberta.ca/index.php/EBLIP), sondern auch ein Community gewachsen. Und damit ist auch das Bibliothekswesen besser geworden. Das hier zu besprechende Buch, Being evidence based in library and information practice, ist nur der nächste Schritt zu diesem Wachstum.

Was an diesen Aussagen vielleicht irritierend ist, ist, dass das im deutschsprachigen Bibliothekswesen nie auch nur ansatzweise angekommen ist. Von Zeit zu Zeit hört man den Begriff: Evidence Based Librarianship. Bei uns in der LIBREAS-Redaktion tauchte er in den letzten Jahren immer wieder einmal als mögliches Thema für einen Schwerpunkt auf. Auch bei Gesprächen auf Konferenzen fällt er manchmal, besonders bei Kolleginnen und Kollegen aus Medizinbibliotheken. Mein Kollege Mumenthaler hat den Begriff mehrfach ausgesprochen, als er einmal ein Forschungsvorhaben vorschlug (auch wenn es dann in seinem Text zum Vorhaben nicht auftaucht,1 https://ruedimumenthaler.ch/2016/02/15/bibliotheken-und-digitaler-wandel-einige-fakten/). Aber mit Inhalt gefüllt wird der Begriff eigentlich nie. Das sich in der englischsprachigen Bibliothekswelt, und hier vor allem nicht vorrangig der USA oder Grossbritanniens, sondern Kanadas, der Begriff tatsächlich mit einer kleinen Bewegung verbindet, scheint nicht bekannt.2

Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. An sich möchte die EBLIP ein Problem lösen, dass sich selbstverständlich auch in den deutschsprachigen Bibliothekswesen findet, nämlich, dass eine ganze Zahl von Entscheidungen in Bibliotheken und Diskussionen über Entwicklungen im Bibliothekswesen nicht auf überprüfbaren Fakten (Evidenzen) basiert und auch nicht objektivierbar sind (d.h. so dargestellt, dass die Argumentationen, die zu einer Entscheidung oder Aussage führen, für andere nachvollziehbar wären), sondern halt oft immer neu auf Basis lokaler Wahrnehmungen getroffen zu werden scheinen – oder aber gar aus gar nicht richtig nachvollziehbaren Gründen. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Abneigung gegen „Theorie“ in Bibliotheken; vielleicht wird EBLIP nicht wahrgenommen, weil die deutschsprachigen Bibliotheken gerne in die USA, nach Grossbritannien und Skandinavien schauen und Dinge erst wahrzunehmen scheinen, wenn sie sich dort etabliert haben – und nicht nach Kanada (oder Australien oder Neuseeland oder Frankreich etc.3). Aber egal wieso, EBLIP entwickelte sich anderswo; jetzt scheint es sogar, folgt man dem besprochenen Buch, soweit zu sein, diese Praxis wieder einmal zu überdenken. Es wäre also auch ein guter Zeitpunkt, in diese Entwicklung einzusteigen.

Modelle der EBLIP

Denise Koufogiannakis und Alison Brettle (Koufogiannakis & Brettle 2016), die das zu besprechende Buch herausgeben und in ihm auch die programmatischen Texte geschrieben haben, schreiben ein Modell fort, dass grundsätzlich ersten Handbuch zu EBLIP von Andrew Booth und Anne Brice (Booth & Brice 2004) formuliert wurde.

Booth und Brice führten 2004 die EBLIP noch aus zwei Quellen her: einerseits aus der evidence basd medicine, die als Praxis einfordert, dass bei medizinischen Entscheidungen jeweils die besten verfügbaren wissenschaftlichen Ergebnisse genutzt würden; anderseits aus einer Kultur des Accountability und ständiger Begründung mit Evidenzen – also mehr oder minder fakten-basierten Argumenten –, wie sie unter den Blair-Regierungen („New Labour“) in Grossbritannien – wo Booth und Brice damals tätig waren – zum Geschäft aller öffentlichen Einrichtungen gehörte. Dieses Modell basierte sehr dezidiert auf wissenschaftlichen Wissen und setzte sich aus den folgenden Schritten zusammen:

  1. „Define the problem

  2. Find evidence

  3. Appraise evidence

  4. Apply results of appraisal

  5. Evaluate change

  6. Redefine problem“ (Booth & Brice 2014:61)

Es ging ihnen darum, dass gerade wissenschaftliche Quelle genutzt werden, um Fragen zu klären, die im bibliothekarischen Alltag aufkommen.

Das Modell wurde aufgegriffen, wie gesagt vor allem in Kanada, wo 2006 – gehostet an der University of Alberta – die namensgebende Zeitschrift gegründet wurde. Insbesondere in dieser wurde nicht nur Quellen beurteilt und Projekte beschrieben, die mit diesem Modell durchgeführt wurden, sondern auch Projekte, welche das Modell grundsätzlich erweiterten. Offenbar gibt es genügend Kolleginnen und Kollegen in Bibliotheken, die dem Prinzip des EBLIP folgend arbeiten und publizieren wollen. Denise Koufogiannakis und Alson Brettle sind beide seit der Gründung Teil des Editorial Teams der Zeitschrift und sitzen damit – abgesehen von eigenen Publikationen zum Thema, die beide vorgelegt haben – quasi an der Quelle der Entwicklungen im Bereich.

Die Überarbeitung des Modells basiert auf diesen Erfahrungen (wobei sie aus dem Buch von Booth und Brice ein noch früheres Modell zitieren, dass diese schon erweiterten). Das neue, erweiterte Modell verstehen sie als Kreis mit den folgenden fünf jeweils aufeinander bezogenen Schritten:

  1. Articulate (Come to an understanding of the problem and articulate it.)

  2. Assemble (Assemble evidence from multiple sources that are the most appropriate to the question/problem at hand.)

  3. Assess (Place the evidence against all components of the wider overarching problem. Assess the evidence for its quantity and quality.)

  4. Agree (Determine the best way forward and, if working with a group, try to achieve consensus based on the evidence and organizational goals.)

  5. Adapt (Revisit goals and needs. Reflect on the success of the implementation.)” (Koufogiannakis & Brettle 2016:15)

Die beiden Modelle unterscheiden sich unter anderem in folgenden Punkten:

  1. IM erste Modell ist zwar auch die Arbeit in Gruppen möglich, aber, so die Kritik bei Koufogiannakis & Brettle (2016), letztlich darauf angelegt, dass eine Person ein Projekt durchführt und auch die jeweiligen Entscheidungen trifft. Das neue Modell soll sich eher für die Arbeit in kleinen Gruppen eignen (z.B. durch den Schritt „Agree“, der in einer Gruppe sinnvoller ist, weil hier ein informierter Konsens gebildet wird, als bei Projekten von Einzelpersonen).

  2. Das erste Modell legte grossen Wert auf wissenschaftliche Quellen. Eigentlich wurde nur diese als Evidenz akzeptiert; andere Quellen waren höchstens als Anregung für die Formulierung von Fragen zugelassen. (So zumindest die Interpretation von Koufogiannakis & Brettle (2016), der betreffende Artikel von Alison Winning „Identifying sources of evidence“ in Booth & Brice (2004:71-88) kann in diese Richtung interpretiert werden, lässt aber doch Platz für andere Quellen.) Das neue Modell legt Wert auf eine Mischung von Quellen, die ihre jeweils eigenen Wert haben: Wissenschaftliche Quellen, local evidence und professional knowlegde (Koufogiannakis & Brettle 2016:14). Für eine Entscheidung (siehe nächstes Punkt) in einer Bibliothek müssen alle Arten von Quellen herangezogen werden.

  3. Während Booth & Brice (2004) EBLIP noch aus den Anforderungen der Blair-Regierung (Accountability) und dem Fakt, dass sich Ähnliches in der Medizin durchzusetzen schien, begründeten, begründen es Koufogiannakis & Brettle (2016) nun als einen „structured approach to decision making“ (Koufogiannakis & Brettle 2016:7), also als Hilfsmittel für die Entwicklung von Bibliotheken. Dabei wollen sie EBLIP als einen ständig neu wiederholten Prozess verstehen, nicht als rein projekt-bezogenes Mittel. In der Vorstellung der beiden Autorinnen ist EBLIP ein Mittel, mit dem Bibliotheken ständig ihre Entwicklungen und Entscheidungen kritisch hinterfragen können.

  4. Koufogiannakis & Brettle (2016) verstehen EBLIP auch als eine Aufforderung an Bibliotheken, diese als Betriebskultur zuzulassen (d.h. von Seiten der Leitung, die Zeit dafür einzuräumen und solche Quasi-Forschungstätigkeiten ihres Personals zu fördern) sowie zu leben (also auf Seiten der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, tatsächlich Probleme und Fragen zu definieren, Forschung zumindest auf der Ebene der Quellenanalyse durchzuführen und diese in die lokale Praxis zu übersetzen). Obwohl sie selber (nicht alleine) die Zeitschrift am Modell wissenschaftlicher Zeitschriften ausgerichtet haben und eine einzelne Bibliotheken übergreifende Community organisieren, verstehen sie EBLIP offenbar vorrangig als Mittel, die Entscheidungen in einzelnen Bibliotheken besser und fundierter zu machen – und damit auch besser.

Aber: Wozu?

Koufogiannakis & Brettle (2016) erheben den Anspruch, mit ihrem Buch quasi das Handbuch vorgelegt zu haben, welche des Handbuch von Booth & Brice (2004) ersetzt. Ob das gelungen ist, ist wohl nur im Rahmen von Bibliotheken zu bestimmen, die ihre Praxis an EBLIP orientieren – also keinen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum. Es gibt aber eine grosse Anzahl an Gemeinsamkeiten. Beide Bücher unterteilen sich in einen Teil, der das jeweilige Modell und die Arbeitsschritte in diesem dezidiert darstellt und einen Bereich, der EBLIP anhand von einzelnen Studien in der Praxis zeigt. Das frühere Buch hat einen Teil zur Geschichte und Begründung der EBLIP. Das jüngere Buch handelte diese Themen im Vorwort ab. Ansonsten scheint vieles tatsächlich einfach ein Update zu sein, mit einer genaueren Struktur und einem grösseren Selbstbewusstsein, das EBLIP eine etablierte Praxis ist. Gleichwohl wird bei Koufogiannakis & Brettle (2016) nicht so sehr auf die noch bei Booth & Brice (2004) im Zentrum stehende Wahl und Wertung von Quellen für Evidenzen eingegangen. Das ist ein Defizit des neuen Buches. Es scheint, als wäre es sinnvoll, falls man EBLIP im lokalen Bibliotheksrahmen umsetzen möchte, in beiden Büchern die jeweiligen methodischen Kapitel wahrzunehmen und zu nutzen.

Ein Schwachpunkt beider Bücher ist, dass sie vor allem über ihre Beispiele überzeugen wollen: In beiden finden sich Darstellungen von Bibliothek, die mittels EBLIP zu Lösungen für alle möglichen Probleme gefunden haben. Bei Koufogiannakis & Brettle (2016) sind sie besser strukturiert, da die betreffenden Kapitel – die nach Bibliothekstypen gegliedert sind – jeweils einen Überblick zu verschiedenen Studien liefern können, die es heute einfach mehr gibt, als vor 13 Jahren. Aber was die Beispiele zeigen ist eigentlich nur, dass EBLIP angewandt werden kann, um Entscheidungen im Rahmen der Bibliotheksentwicklung zu treffen; nicht, dass es besser ist, sie mit EBLIP zu treffen als mit anderen Methoden. Das ist nur soweit überzeugend, dass man es ausprobieren könnte; aber nicht, dass man es unbedingt müsste.

Ansonsten ist die Beschreibung der einzelnen Schritte des Modells – in beiden Büchern – jeweils sehr kleinteilig, aber nie wirklich erstaunlich. Eigentlich werden nur Schritte einer einfachen Forschungsplanung für Praxisprojekte gezeigt, die so wohl wöchentlich in Fachhochschulen und Universitäten der ganzen Welt für Bibliotheken erstellt werden. Nur, dass sie einmal so beschrieben werden, dass sie direkt von Bibliotheken, d.h. Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, geplant und durchgeführt werden können. Das ist ein Vorteil von EBLIP: Zu klären, dass Forschung oder Wissenschaft keine Magie ist, sondern einfach auch selber vor Ort durchgeführt werden kann, vor allem, wenn man durch selbst gestellte Fragen motiviert wird.

Grenzen

Um das (neugefasste) Konzept von EBLIP zu verstehen, reicht eigentlich das Lesen des ersten Textes („A new framework for EBLIP“) von Koufogiannakis & Brettle (2016:11-18). Alle anderen Texte sind erklärendes Beiwerk. Gleichzeitig ist dieses Buch auch von einer etwas sehr starken Überzeugung getragen, dass EBLIP eine immer einsetzbare Lösung für Probleme und neue Fragen bei der Bibliotheksentwicklung bieten und gute Ergebnisse – d.h. Vorarbeiten für gute Entscheidungen – liefern würde. Vielleicht ist das die Erfahrung der Autorinnen, aber es vermittelt zum Teil den Eindruck, den vehemente Vertreterinnen und Vertreter anderer Methoden auch erzeugen: Das ungute Gefühl, dass der Anspruch nicht gehalten werden kann, die Methode doch nur manchmal etwas taugt und vor allem nicht darüber gesprochen wird, was für negative Effekte die Methode haben könnte.

Was die Wirkung des Buches im deutschsprachigen Raum weiter einschränken könnte, ist der Fokus auf Kanada, die USA und Grossbritannien (nur eine Autorin des Buches kommt mit Schweden aus einem anderen Land) und damit auch den dortigen Kulturen in den Bibliotheken – insbesondere deren professionellen Debatten, die nicht die gleichen sind, wie im DACH-Raum – sowie gesellschaftlichen Fragen, welche den Blick der jeweiligen Texte prägen.

Eine auffällige Leerstelle von EBLIP – in allen bislang vorliegenden Büchern und Texten – ist die Stimme der Nutzerinnen und Nutzer. EBLIP gibt die Agency, die ansonsten oft bei Forschenden an Fachhochschule und Universitäten liegt, in die Hand von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren; diese üben in den aktuellen Konzepten dann aber die gleiche Macht darüber, was und wie gefragt oder untersucht wird, aus, wie es sonst in Forschungsprojekt die Forschenden tun. Angesichts dessen, dass in vielen EBLIP-Projekten Nutzerinnen und Nutzer untersucht, befragt etc. werden, wäre zu erwarten, dass auch diesen Agency zugestanden wird. Eventuell ist eine solche Partizipation von Nutzenden der nächste Schritt in der Entwicklung von EBLIP.

Wer nur einmal einen Blick darauf wegen will, wie EBLIP funktionieren kann, benötigt nicht dieses Buch, sondern kann stattdessen ein paar Nummern der mehrfach genannten Zeitschrift lesen (https://ejournals.library.ualberta.ca/index.php/EBLIP). Diese zeigt eher die tatsächlichen Potentiale, vermittelt aber nicht das angesprochene Modell.

Ansonsten scheint EBLIP, besonders der Fakt, das diese Community schon über einen so langen Zeitraum existiert, ein Ansporn darzustellen, es auch einmal im lokalen Rahmen in deutschsprachigen Bibliotheken zu versuchen.

Literatur

Booth, Andrew ; Brice, Anne (edit.) (2004). Evidence-based practice for information professionals: a handbook. – London: Facet Publishing, 2004

Koufogiannakis, Denise ; Brettle, Alison (edit.) (2016). Being evidence based in library and information practice. – London: Facet Publishing, 2016

Schuldt, Karsten (2013). Bibliotheken erforschen ihren Alltag. Ein Plädoyer. – Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen, 2013

Stock, Wolfgang G. (2009). Evidenzbasierte Bibliotheks- und Informationspraxis. EBLIP5, Stockholm, 2009. – In: Bibliotheksdienst 43 (2009) 8-9, 902-908

Fussnoten

1 Was sich aber beim ihm findet, ist eine Begründung, die sich so auch in den englisch-sprachigen Texten zur Evidence Based Library Practice finden könnte: „Die aktuelle Debatte zeigt, dass wir als Bibliothekscommunity und als Bibliothekswissenschaft schlecht aufgestellt sind. Wir haben Mühe, gegen offensichtlich falsche Äusserungen und plumpe Vorurteile zum aktuellen Stand des digitalen Wandels in Bibliotheken fundiert und sachlich zu argumentieren. Meine Aussagen sind bestimmt näher an der Wirklichkeit (finde ich…), aber eine wissenschaftlich überzeugende Argumentation sieht doch anders aus. Eigentlich müsste ich doch Fakten abrufen können, Studien zitieren können, die unmissverständlich solch absurde Behauptungen widerlegen würden. Aber ich kann nur einige Beispiele zitieren, die ein deutlich anderes Bild zeichnen. Die belegen, dass sich die Bibliothekslandschaft in Bewegung befindet, die zeigen, dass die Community die Probleme erkannt und die Herausforderungen angenommen haben.“ (https://ruedimumenthaler.ch/2016/02/15/bibliotheken-und-digitaler-wandel-einige-fakten/)

2 Bestimmt übersehe ich einzelne Nachweise in Fussnoten etc., aber richtig ist mir der Begriff nur einmal, bei einem Konferenzbericht von Wolfgang G. Stock (2009) aufgefallen. Und dann in meinem eigenen Buch zum thema Forschung in Öffentlichen Bibliotheken (Schuldt 2013).

3 Auch wenn ich dieses Argument schon mehrfach gebracht habe, gerne nochmal: Die Makerspaces waren in der australischen und kanadischen bibliothekarischen Literatur schon etabliertes Thema, bevor sie in den USA stark diskutiert wurden – aber erst dann, als sie auch in der US-amerikanischer Literatur auftuachten, wurden sie in der deutschsprachigen Literatur thematisiert. EBLIP wäre also kein Einzelfall.

So etwas wie eine Nummer eines besseren Design-Magazins, über Bibliotheken

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 3. November 2016

von Karsten Schuldt

Zu: Maria Inês Cruz ; Lozana Rossenova (edit.) / Bookspace. Collected Essays on Libraries. London: Inland Editions, 2015

Dieses Buch ist das Ergebnis einer Kickstarter-Kampagne und offenbar des Interesses der beiden Herausgeberinnen an Bibliotheken im Allgemeinen. Dabei sind die beiden eher in Design und der Architektur verankert, als im Bibliothekswesen. Das sieht man dem Buch auch an, es ist extra ‒ sehr zurückhaltend ‒ von einem Buchdesigner (Øystein Arbo) gestaltet. Es wirkt eher wie ein Heft eines Literatur- oder Designmagazins denn wie ein Buch. Es ist auch erst das aktuell zweite Buch des Verlages. Insoweit scheint hier viel Interesse und Engagement drin zu stecken. (Und schon deshalb sollte das Buch unterstützt werden.) Ich selber habe es auch nicht in einer Bibliothek oder einer wissenschaftlichen Buchhandlung gefunden, sondern in einem auf kleine Verlage und Design spezialisierten Laden in Bern.

 

Gleichwohl: Es geht ganz explizit um Bibliotheken. Die Motivation dazu ist nicht ganz klar. Im Vorwort schreiben die beiden Herausgeberinnen davon, dass Bibliotheken sich einerseits entwickeln und positiv angesehen werden, andererseits ihr Etat ständig zusammengestrichen wird und sie deshalb in die News kommen. Das scheint ein sehr britischer Blick zu sein. Aus diesen Äusserungen folgt offenbar ein Interesse an Bibliotheken als Symbol, Architektur, aber auch als Raum, an ihrer Vergangenheit und Zukunft ‒ und das nicht nur in Grossbritannien, sondern auch in Kairo, New York und im restlichen Europa. Dabei ist das Buch sehr dünn (140 Seiten, fast A5). Deshalb ist einen solche Bandbreite an Themen nur sehr oberflächlich zu behandeln.

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Dies geschieht in relativ kurzen Beiträgen, die sich inhaltlich und formal sehr unterscheiden: Eine Photostrecke, ein Interview, zwei Beiträge zur Bibliotheksarchitektur (einer historisch angelegt, einer konkret auf ein Gebäude bezoge), zwei Texte, die tatsächlich als eher mäandernde Essays beschrieben werden können. Das alles, wie gesagt, schön gestaltet. Aber es hinterlässt eher den Eindruck ‒ wie im Titel dieses Beitrags schon gesagt ‒ eines Design-und-Architektur-Magazins (eines mit sozialem Gewissen und gesellschaftlichen Anspruch, aber trotzdem dem Fokus auf Design und Architektur), dass eine Schwerpunktnummer zu Bibliotheken macht, als den einer Monographie. Der Grossteil der Autorinnen und Autoren sind auch in Design und Architektur tätig, ein Interview wurde mit einem Verantwortlichen für Londoner Bibliotheken geführt, ein Bericht über Bibliotheken in Kairo von einer freelance cultural writer. Die ganzen Themen und Herangehensweisen sind sehr bunt und stehen unvermittelt nebeneinander.

David Pearson beschreibt als Bibliotheksverantwortlicher z.B. seinen Sicht auf die Entwicklungen im britischen Bibliothekswesen (die jetzt nicht so spannend neu sind: Mehr community, mehr social space, weniger Bücher, aber immer noch Bücher); Julius Motel liefert eine Bilderstrecke aus der Hauptfiliale der New York Public Library, Heba El-Sherif stellt den Stillstand in Kairos Bibliotheken, der nach den turbulent Zeiten nach der 25. Januar Revolution kam, dar, João Torres präsentiert die Architektur der neuen Zentralbibliothek in Lissabon. Interessant sind vor allem zwei Texte: Der von Jorge Reis, welcher die These aufstellt, dass die heutigen Bibliotheken als Bauten weiterhin Ideen aus der Romantik folgen (nämlich dem Ziel eines Exils/Raumes ausserhalb der Welt, der Betonung von Licht, insbesondere natürlichen Lichts, und dessen Führung sowie der Vorstellung vom endlosen Wissen, dass nie gesamthaft erfasst werden könnte). Und der kurze Verriss aktueller Hochschulbibliotheken von Tom Vandepuute, welcher sie als “neoliberale Bibliotheken” beschreibt, die einerseits von einem unnötigen Drängen nach Produktivität und Effektivität (deshalb gibt es seiner Meinung nach die Bibliothekscafés, obwohl früher Bibliotheken und Cafés zwei unterschiedliche Räume des Lernens gewesen wären ‒ aber halt Bibliotheken so keine Mieteinnahmen reingebracht hätten), bei gleichzeitig verstärkten Machtbeziehungen (z.B. wieder mehr sichtbare Regeln, an bestimmten Orten ruhig sein zu müssen). Dieser Text mäandert, wie schon gesagt; beschreibt dann noch die Tendenz von heutigen Nutzerinnen und Nutzern, sich innerhalb der Bibliothek in quasi-private Sphären (Kopfhörer) abzugrenzen, kommt aber nicht genau zu einem Punkt.

 

Das Buch hinterlässt einen leichten, verspielten Eindruck. Ob es wirklich einen längeren Einfluss haben kann, ist nicht so richtig klar. Aber, wie halt Design-Magazin mit sozialerem Anspruch: es eignet sich sehr gut als Lesestoff für einen freien Nachmittag.

Die Bibliothek auf dem Weg in das zweite orale Zeitalter. Analysen und Vorhersagen Marshall McLuhans zur Funktion der Bibliothek aus den späten 1970ern, mit klaren „klingt genau wie heute“-Effekten

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 12. Oktober 2016

Von Karsten Schuldt

Zu: Robert K. Logan ; Marshall McLuhan: The Future of the Library, From Electronic Media to Digital Media (Understanding Media Ecology ; 3). New York ; Bern ; Frankfurt ; Berlin ;Brussels ; Vienna ; Oxford ; Warsaw: Peter Lang, [1979] 2016

 

Marshall McLuhan, kanadischer Medientheoretiker, hat von den späten 1960er bis zu den späten 1970ern die Diskussionen, Interpretationen und vor allem Vorhersagen über die künftigen Medien, Mediennutzungen und deren Auswirkungen auf die westlichen Gesellschaften (auch wenn er immer wieder den Anspruch formulierte, die Medien und Gesellschaften der ganzen Welt zu analysieren), geprägt. Er stellte Thesen über die kommenden elektronischen Medien auf, bekannt sind insbesondere seine Schlagworte vom „global Village“, der Wiederkehr alter Medien in jedem neuen Medium und „The medium is the message“. Es erstaunt immer wieder, dass er und seine Arbeiten in den deutschsprachigen Bibliotheks- und Informationswissenschaft eingeführt werden müssen; sie sollten eigentlich zum Kanon gehören. Tun sie aber leider nicht.

Entstehung des Buches

1979 erlag McLuhan einem Schlaganfall, konnte ab dann nicht mehr arbeiten und starb 1980. Eines der Projekte, am dem er zu diesem Zeitpunkt mit Robert K. Logan, mit dem er auch schon andere Arbeiten publiziert hatte, tätig war, war ausgerechnet ein Buch über die Zukunft der Bibliotheken. Das unfertige Manuskript wurde im National Archive of Canada eingelagert und lag dort, bis – wohl über eine Bemerkung Logans in dem zum hundertsten Geburtstag geschriebenen „McLuhan Misunderstood“ [Logan, Robert K.: McLuhan Misunderstood. Setting the record straight. Toronto: Key Publishing House, 2013:40] – ein neues Interesse an diesem entstand. Logan ergänzte das Buch um zweieinhalb Kapitel plus zahlreichen Anmerkungen und publizierte es anschliessend.1 Die Ergänzungen sollen das Buch in die heutige Zeit fortschreiben, sind aber in vielem unnötig, oberflächlich und der schwächste Teil des Buches. Das Manuskript selber ist ein bedenkenswerter Versuch, die Aufgabe von Bibliotheken zu bestimmen und gleichzeitig ein Zeitdokument, dass zeigt, dass viele vorgeblich neue Diskussionen seit Jahrzehnten diesen Status „neu“ haben. In vielem unterscheiden sich die Argumente im Buch nicht von denen, die heute vorgebracht werden. Über die Sinnhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit der vorhergesagten Zukunft lässt sich auch heute noch gut diskutieren.

Zu bemerken ist, dass das Buch unfertig ist; die Ergänzungen von Logan runden es nicht ab. Es ist im Zustand eines frühen Manuskriptes verblieben. So finden sich mehrere Argumente und Erzählungen mehrfach an verschiedenen Stellen wieder, Zitate sind überlang und ungekürzt, die Struktur des Textes ist zwar nachvollziehbar, aber an einigen Stellen weiter mehr ausgearbeitet, als an anderen. Dies ist nach der Entstehungsgeschichte verständlich, bedeutet aber auch teilweise eine gewisse Zumutung beim Lesen.

Die Bibliothek in Veränderung

In view of the changed environment in which the library now functions, it is necessary to rethink and redefine the notion of the library. The future of the library, while constrained to a certain extent by its technology and social context, will be determined by what librarians wish it to become. (Logan & McLuhan 2016:IX)

Das Buch wurde unter der Annahme geschrieben, dass die technologischen Medien aktuell – also in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre – die Gesellschaft und die Bibliotheken (oder eher das Umfeld der Bibliotheken, siehe weiter unten) verändern würden. Die aktuellen technologischen Kommunikationsmittel waren damals bis zu den Mainframe-Computern fortgeschritten. Logan trennt im Buch diese Medien in „Electric Media“ und „Digital Media“, wobei erste die sind, die McLuhan noch persönlich erleben konnte, die letzteren die, welche nach seinem Tod aufkamen. Die Trennung ist also historisch oder vom Status der Medien her nicht sinnvoll, sondern rein dem Zufall von McLuhan Schlaganfall zuzuordnen. Dennoch sind die Voraussagen und Aussagen in vielen Teilen austauschbar mit Voraussagen, die sich heute in der bibliothekarischen Literatur über die Effekte elektronischer Medien – die heute vor allem mit dem Internet und E-Medien verbunden werden – finden:

We live in the era of information explosion. We are flooded by a plethora of data, yet seem unable to use our knowledge and understanding to come to terms with the difficulties facing us. This, we believe, can to a great extent be attributed to the effects of our communication systems2 and to the way they bias our thought process. (Logan & McLuhan 2016:155)

Solche auch heute zu hörenden Sätze finden sich durch das ganze Buch hindurch. Veränderungen durch neue Medien, „glut of information“ (ein Begriff, der sowohl als Fülle/Überfluss von Informationen als auch als „Informationsflut“ übersetzt werden kann – wobei sich heute im Deutschen die negativ klingende Variante etabliert hat; warum eigentlich?), die Neubestimmung der Aufgabe der Bibliothek als notwendiges Thema der Bibliotheken – all das findet sich bei Logan und McLuhan. Aber man darf sich davon auch nicht irritieren lassen, ansonsten ist es einfach, die Unterschiede zwischen den Diskursen zu übersehen. Während die heutige Diskussion recht einfach von einer Notwendigkeit zur Veränderung auszugehen scheint und die Veränderungen zum Teil unkritisch begrüsst, versuchen Logan und McLuhan die tatsächlichen Auswirkungen des von ihnen untersuchten und erahnten Medienwandels zu bestimmen, gehen dabei – was analytisch und nicht moralisch gemeint ist – von einer „Dehumanisierung“ durch den Überfluss an Informationen aus und schreiben gleichzeitig den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zu, die Zukunft der Bibliothek gestalten zu können und nicht nur den Entwicklungen „zu folgen“.

Was ist die Bibliothek?

Wie erwähnt, ist das Buch unfertig. Deshalb gibt es in ihm auch nicht einen Definitionsversuch von „der Bibliothek“, sondern mehrere Anläufe. Die Bibliothek wird als „physical extension of man’s memory, a tool, a medium, and a technology that can be studied like all the other extensions of man’s body and psyche“ (Logan & McLuhan 2016:1) beschrieben, sie wird als funktionell seit Jahrtausenden (nicht seit dem Buchdruck oder der Massenproduktion von Büchern, sondern bei den Sumern in Mesopotamien verorten Logan und McLuhan den Beginn der Bibliothek) nicht verändert beschrieben, sie wird über ihre Nutzung bestimmt („The content of a library, paradoxically, is not its books but its users […].“, Logan & McLuhan 2016:13), gleichzeitig über ihre Funktion als Kulturinstitution („[…] we shall define the library as that device that stores and makes available for easy access the lore and culture of a society.“, Logan & McLuhan 2016:31), als Einrichtung, die über die Effekte aller Medien aufklären muss (Logan & McLuhan 2016:71-101) und den „readern“ beibringen muss, die neuen Medien „zu lesen“. Diese Ansätze widersprechen sich nicht per se, aber zeigen die unterschiedlichen Zugänge.

Grundsätzlich sehen Logan & McLuhan die Bibliothek als Einrichtung, die Zugang zu Medien schafft und zwar schon sehr lange. Das Buch ist dabei ein Zwischenprodukt, das aber auch nicht unbedingt aussterben wird. (Dies versichern sie am Anfang mehrfach, als Reaktion auf Kritik in bibliothekarischen Diskussionen zu ihren früheren Arbeiten.) Sie sind nicht wirklich an der Geschichte der Bibliothek interessiert, sondern an der der Medien. Dies verleiht dem Buch, wenn es mit einem bibliothekarischen Hintergrund gelesen wird, teilweise den Anschein grosser Spekulationen über Bibliotheken. Gleichzeitig funktionieren die Aussagen innerhalb einer relativ konsistenten Argumentationskette, die gewiss stärker ausformuliert worden wäre, wäre das Buch fertig geschrieben worden.3

Laws of Media

Das Hauptargument im Buch entsteht aber weniger aus der Definition der Bibliothek, sondern aus der Analyse der Funktion von Medien, die auf Bibliotheken angewandt wird. Diese Analyse war Teil des Gesamtwerkes von McLuhan. Er formulierte „Laws of Media“ (die vielleicht heute nicht als „Laws“ im Sinne von Naturgesetzen verstanden würden, aber in den 1970ern in Nachfolge der Kybernetik eher schon), welche im Buch auch noch einmal referiert und anhand von verschiedenen Medien durchgespielt werden. Diese Laws besagen, das ein neues Medium immer (1) eine Situation / Nutzungsweise verbessert, (2) dadurch eine andere Aktivität „veraltet“ (obsolescent), wobei „veralten“ nicht heisst, überflüssig machen, sondern an einen anderen Ort verweisen, zum Beispiel als „altbekannt“, (3) diese Situation (neue Aktivität und „Veraltung“ einer anderen) ruft eine Aktivität „zurück“, die durch ein früheres neues Medium beendet beziehungsweise verdrängt wurde und (4) wenn an den Rand seiner Möglichkeiten entwickelt, dreht sich der Effekt dieses neuen Mediums um und hat einen gegenteiligen Effekt dem, den es zuerst hatte.

Logan und McLuhan spielen (auch) in diesem Buch diese „Laws“ an mehreren Medien durch. Die Presse zum Beispiel (1) macht den Tag (today) stark/zur wichtigen Sache, (2) „veraltet“ das Gestern, (3) holt die Berichterstattung (das und das ist passiert) in einen neuen Status und (4) verwandelt sich später in „soft news“.

Ist das verständlich? Nein? Nun, ein Problem ist, dass die „Laws“ nicht weiter erläutert, sondern in in dieser Art, wie hier dargestellt, einfach als gegeben eingeführt werden. Es hilft, die anderen Werke McLuhans zu kennen; aber ansonsten gibt es keine weiteren Erklärungen. Dies hat gewiss auch mit dem unvollendeten Status des Buches zu tun. Ein weiteres Problem ist, dass die „Laws“ in der Darstellung, wie sie im Buch angewandt werden, nämlich als Listen mit je vier Punkten, eher retrospektiv funktionieren. Mehr oder weniger kann man die Entwicklungsrichtungen nachvollziehen (also von der Innovation der Presse bis zum Umbrechen in „soft news“), aber Logan und McLuhan postulieren, dass die Laws auch genutzt werden können, um quasi den letzten, vierten Punkt vorherzusagen, wenn wir uns in der Entwicklung eines Mediums erst beim ersten oder zweiten Punkt befinden. Und das ist schwierig. Zwar behauptet Logan in seinen Ergänzungen immer wieder, McLuhan hätte mit seinen Vorhersagen richtig gelegen, aber das ist Interpretationssache.

Dehumanizing through the glut of information

So oder so stellen die „Laws of Media“ die Grundlage für die weiteren Ausführungen von Logan und McLuhan über die Zukunft der Bibliothek dar. Wie diese Zukunft aussehen wird, sagen sie nicht genau, sondern erwähnen mehrere Möglichkeiten. Eine Grundlage ist aber, dass sie mit den Laws of Media die Entwicklung der Gesellschaft im Zeitalter der elektronischen Medien vorhersagen. Die Kommunikationsfunktion der Medien würde wieder zunehmen (als Punkt 3), gleichzeitig würde die Verbreitung und das Wachstum von Informationen umschlagen in einen Überfluss an Informationen (4), der zu einer Dehumanisierung durch Informationen führen wird. Die Informationen würden nicht mehr zur Kommunikation benutzt werden können, weil es zu viele, zu schnell abrufbar, nicht mehr wirklich an Personen oder Situationen zu bindende etc. wären.

Daraus schliessen, in mehreren Anläufen, Logan und McLuhan,

  1. dass die Bibliothek ihre Funktion als Ort, an dem Zugang zu Informationen hergestellt wird, um als Werkzeug (Tool) der Menschen zu dienen, weiter funktionieren wird, indem sie Informationen wieder „humanisiert“, das heisst auf ein erträgliches und verarbeitbares Niveau einschränkt. Mehrfach wird angedeutet, dass die Funktion der Bibliotheken in Zukunft nicht darin bestehen würde, möglichst viele Informationen anzubieten, sondern nur eine ausgewählte, kleine Anzahl (McLuhan erinnert an eine Bibliothek von wenigen tausend, ausgewählten Titeln, die er während seines Studiums genutzt hätte) an Medien.
  2. dass die Bibliothek der Ort sein würde, an denen die reader lernen würden, die neuen Medien zu lesen, also nicht einfach, sie zweckbestimmt zu benutzen, sondern zu verstehen und aus ihnen Gewinn zu ziehen.
  3. dass die Bibliothek als Ort für seine Leserinnen und Leser funktionieren wird, die sie als Werkzeug nutzen werden.

Für Logan und McLuhan ist ausgemacht, dass sich die westlichen Gesellschaften in den späten 1970er Jahren einem zweiten „oralen Zeitalter“, in welchem die konkrete, persönliche Kommunikation wieder ein höhere Bedeutung spielen würde – nachdem das „wissenschaftliche“ Zeitalter das erste orale Zeitalter nach der Neuzeit abgelöst hatte – entgegengehen würde. Diese neue Oralität würde durch die elektrischen Medien hervorgebracht (Punkt 3). In diesem Umfeld würden die Bibliotheken eine neue Ausprägung erfahren, eben die, Informationen zu „humanisieren“.

Was anders ist: Zukunft, gestaltbar

Was auffällt, neben dem teilweise nicht ganz zusammengebrachten Argumenten, ist, dass Logan und McLuhan sowohl den Bibliotheken als auch den Menschen mehr Agency zuweisen, als dies heute der Fall zu sein scheint. In gut aufklärerischer Tradition gehen sie davon aus, dass, wenn die Funktionen und „Laws“ der neuen Medien bekannt sind, diese auch gesteuert werden können. Es sind keine einfach ablaufenden Prozesse, auf die nur noch reagiert werden kann, sondern klare Entscheidungen: Die der Bibliotheken, was sie machen und wie sie sich gestalten wollen und die der reader, wie sie mit den zukünftigen Medien umgehen werden. Logan und McLuhan schrieben vor dem Siegeszug des Neoliberalismus, der bekanntlich auch das Bild des „Es gibt keine Alternative“ und des „Marktgesetze, auf die nur reagiert werden kann“, etabliert hat. Dies merkt man dem Buch an; es hat weit mehr Vertrauen in das Denken und Handeln der Menschen und ihrer Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten – auch auf Bibliotheken bezogen. Selbst wenn vielleicht sonst nichts stimmt im Buch, ist es doch von Wert, einen solchen Diskurs einmal wieder zu lesen, um zu bemerken, was in der Zwischenzeit verloren gegangen ist: Nämlich die Überzeugung, dass es – bei allen „Laws of Media“ – die Menschen (und Institutionen) selber sind, die die Zukunft machen.

In order to design the library of the future we must have a clear notion of our goals as well as a realistic appraisal of the social, informational, and technological environments in which the library will operate. (Logan & McLuhan 2016:180)

Gleichzeitig führt das Buch dazu, über die oft gehörten und hingenommen Argumente für die Veränderungen in Bibliotheken nachzudenken, die sonst so folgerichtig klingen. Sie sind in vielen Teilen offenbar nicht so neu, wie getan wird. Die „Innovation“ oder „Disruption“ kam nicht mit dem Internet und den E-Books, sondern wurde zumindest schon in den 1970ern vorhergesagt. Der Überfluss an Informationen war schon vorher da. Das die Kommunikation sich verändert, also das die neuen Medien die Kommunikation wieder auf eine persönliche Ebene heben, ebenso. Und die Vorstellung, dass die Bibliothek „humanisiert“, also sozial wirkt, auch. Wie kann das sein? Sind die Veränderungen gar nicht so neu?

Logan versucht, wie schon erwähnt, dass Manuskript fortzuschreiben und führt die Analyse mit den „Laws of Media“ noch einmal an der Bibliothek im „digitalen Zeitalter“ (bei ihm alles nach McLuhan) durch, kommt aber eigentlich nur dazu zu behaupten, dass McLuhan recht hatte und sich dies durch das Internet und das Web 2.0 zeigt, sowie nach eigenen Recherchen die gleichen „innovativen“ Bibliotheken, die auch in der Bibliotheksliteratur hin- und hergereicht werden, als mögliche Zukunft anzuführen. Diesen Teilen fehlt all der zukunftsweisende Blick des originalen Manuskripts.

Fazit

Wie gesagt, ist es immer wieder erstaunlich, dass McLuhan in der bibliothekswissenschaftlichen Literatur quasi nicht vorkommt. Dabei lässt sich alleine an seinen steilen Thesen viel besser und intellektuell anregender diskutieren, als an ganzen Jahresbänden bibliothekarischer Zeitschriften. (Die dafür andere Vorzüge haben.) Mit der verspäteten Publikation seiner Vorstellungen über die Zukunft der Bibliotheken hat er einen Text hinterlassen, der an gewissen Stellen fragwürdig ist, gerade dann, wenn er vorgeblich feste Aussagen machen will (z.B. zur Funktion des Hirns oder nicht-westlichen Gesellschaften und deren Kommunikationsgewohnheiten), der aber gleichzeitig anregt, über die tatsächliche Wirkung von Medien nachzudenken und die Aufgaben der Bibliotheken noch einmal neu zu diskutieren. Wie bei vielen anderen Texten McLuhans gilt auch bei diesem: Vieles stimmt bestimmt nicht, aber es regt an. Das ist schon viel wert heutzutage.

 

Fussnoten

1 Er änderte dabei offenbar auch den Untertitel, der – laut ihm selber in „McLuhan Misunderstood“ – im Originalmanuskript An Old Figure in a New Ground lautete.

2 „Communication systems“ ist hier nicht gleichbedeutend mit elektronischen Medien, sondern bezieht sich (auch) auf die gesellschaftlichen Kommunikationssysteme. Eine Quelle, die bei McLuhan immer wieder auftaucht, sind die Arbeit von Harold Innis dazu, wie die Fischereiwirtschaft und die Flüsse die Kommunikationswege (und damit die Entwicklung und Geschichte) Kanadas entwickelten.

3 Eine Kritik an McLuhan war, dass sein Denken „sprunghaft“ gewesen wäre. Ohne darauf eingehen zu wollen, ob dies allgemein stimmt, scheint dem Text tatsächlich eine gewisse Sprunghaftigkeit innezuwohnen.

Wo beginnt die Vorgeschichte der Digital Humanities und was kann man aus ihr lernen?

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 9. Oktober 2015

Eine Notiz zu

Marcus Twellmann: »Gedankenstatistik« Vorschlag zur Archäologie der Digital Humanities. In: Merkur, 797 (Vol.69, Oktober 2015). S. 19-30

von Ben Kaden (@bkaden)

I.

Vermutlich ist es das Zeichen einer Reifung, wenn für ein junges Forschungsfeld, zum Beispiel die Digital Humanities, einerseits eine Art Geschichtsschreibung einsetzt und dies andererseits in Publikumszeitschriften geschieht. Der Merkur – Subtitel „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ – gehört traditionell zu diesen leider in der Zahl eher geringen Titeln, die den Überschlag von einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachöffentlichkeit hin zu einer an intellektuellen Themen interessierten allgemeinen Öffentlichkeit regelmäßig schaffen. Es handelt sich buchstäblich um eine Zeitschrift, denn es werden die Themen der Zeit be- und aufgeschrieben und wenn man beispielsweise Jürgen Habermas‘ Artikel zu Moral und Sittlichkeit aus der Dezemberausgabe 1985 nachliest, staunt man, wie trotz aller beschworenen Verkürzung von Halbwertszeiten des Wissens bestimmte ideengeschichtliche Phänomene erstaunlich geltungsstabil bleiben können.

Ob dies ähnlich auch für Marcus Twellmanns Text zur Archäologie der Digital Humanities aus der Oktoberausgabe des Jahres 2015 gelten wird, werden wir erst 2045 beantworten können. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, denn der Konstanzer Kulturwissenschaftler nähert sich dem Phänomen bereits historisch und zwar aus einer methodengeschichtlichen Perspektive. Ist Pater Roberto Busa mit seiner computergestützten Aquin-Erschließung der Nukleus der Digital Humanities bzw. des Humanities Computing? Nicht unbedingt, meint Twellmann. Und schlägt vor:

„Betrachten wir solche humanwissenschaftlichen Formationen als protodigital, die auf einer mathematischen Verarbeitung numerischen Daten basierten und Verfahren hervorbrachten, die später computertechnisch implementiert werden konnten.“

(more…)

Braucht es wirklich Richtlinien für Schulbibliotheken?

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 27. Juli 2015

von Karsten Schuldt

Zu: Schultz-Jones, Barbara A. ; Oberg, Dianne (edit.) / Global Action on School Library Guidelines (IFLA Publications, 167). Boston ; Berlin: deGruyter Saur, 2015

Vorneweg: Wissenschaftsverlage sind Publikumsverlage?

Wieso wird ein Buch veröffentlicht? Allgemein würde man annehmen, dass es einen inhaltlichen Grund gibt: Ein Thema ist ausgereift genug, ein Jahrestag steht an, Material zu einem Thema drängt zur Publikation. Aber das ist in vielen, nicht allen, Teilen des Verlagswesens mehr und mehr eine Illusion. Bekanntlich führen zahlreiche Publikumsverlage Reihen, die einfach eine regelmässige Anzahl von Publikationen mit einer regelmässigen Anzahl von Seiten und einem eingegrenzten Inhalt verlangen: 20 Liebesromane à 180 Seiten pro Jahr, mit je vier Teilen, zwei erotischen Szenen und Happy-End in der einen Reihe, 15 Science Fiction Titel über grosse Kampfrobotern, je 220 Seiten, mindestens einer Schlacht und einem Joda-mässigen Spruch in der anderen. Das macht alles schön planbar und eine Reihe von Autorinnen und Autoren lässt sich darauf ein, solche Bücher zu schreiben, was nicht immer schlecht sein muss, aber oft zu austauschbaren Titeln führt. Das hat seine Berechtigung, werden solche Titel ja gerade nicht als grosse Literatur sondern als Unterhaltung konsumiert.

Aber: Eine ganze Anzahl von Wissenschaftsverlagen scheint in den letzten Jahren ebenso dazu übergegangen zu sein, in einer ähnlichen Form Reihen zu publizieren: Eine bestimmte Anzahl von Publikationen pro Jahr und Reihe wird eingeplant und muss dann auch irgendwie produziert werden. (more…)

Den Zugang zu Büchern einschränken, um die Community zu retten

Posted in LIBREAS.Feuilleton, LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 13. Mai 2015

Zu: Knox, Emily J. M. (2015) / Book Banning in 21st-Century America (Beta Phi Mu Schloars). – Lanham ; Boulder ; New York ; London : Rowman & Littlefield, 2015

Karsten Schuldt

In den USA – aber nicht nur da, sondern auch in anderen Staaten des globalen Nordens – werden Bücher in Bibliotheken und Schulen in unterschiedlicher Form zensuriert: Mal werden sie aus dem Bestand einer Schulbibliothek oder einer Öffentlichen Bibliothek genommen, mal von Leselisten von Schulen gestrichen oder von obligatorischer zu fakultativer Schullektüre erklärt, mal werden Systeme aufgebaut, um den Zugang zu einem Buch von der expliziten Zustimmung der Eltern von Schülerinnen und Schüler abhängig zu machen. Emily J.M. Knox untersucht in ihrem Buch Book Banning in 21st-Century America (Knox, 2015) – und zuvor schon in einem Artikel (Knox, 2014) – die Denkweisen und Argumente derjenigen Personen, die solche Verbote initiieren oder es zumindest versuchen, indem sie sich bei Library Boards oder School Boards beschweren. (more…)

Themen für die Gegenwartsforschung. Heute: (Digital) Impression Management in der Wissenschaft.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 11. März 2015

Eine Notiz zu

Stefanie Haustein, Timothy D. Bowman, Rodrigo Costas (2015) Interpreting “altmetrics”: viewing acts on social media through the lens of citation and social theories. To be published in: Cassidy R. Sugimoto (Ed.). Theories of Informetrics: A Festschrift in Honor of Blaise Cronin. Preprint: http://arxiv.org/abs/1502.05701

von Ben Kaden (@bkaden)

I

„Are scholars altruistically sharing information for the benefit of the community in which they belong? Or, is information sharing a self-serving activity? Are scholars sharing information in order to assist the profession grow intellectually, or are they attempting to develop a ‘brand’ around themselves?”

fragte sich George Veletsianos 2012 in seiner Betrachtung zur wissenschaftlichen Twitternutzung. Eine Antwort, die nicht „vermutlich aus beiden Gründen“ lautet, erscheint wenig plausibel. In einem Beitrag für eine anstehende Festschrift für Blaise Cronin reflektieren nun Stefanie Haustein, Timothy D. Bowman und Rodrigo Costas das Phänomen der Altmetrics aus der Warte verschiedener sozialwissenschaftlicher Theorien und kreisen damit die Frage Veletsianos‘ weiter ein. Twittern wir, weil wir wollen, dass andere ihr Bild von uns aufgrund dieser Tweets gestalten? Damit sie uns also für besonders geistreich, kompetent, engagiert oder auf der Höhe der Timeline halten sollen? (more…)

Digitaler Kapitalismus und dogmatischer Marxismus

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 10. März 2015

Zu: Fuchs, Christian (2014). Digital Labour and Karl Marx. New York ; Abington: Routledge

Seit jetzt schon einigen Wochen liegt auf meinem Schreibtisch ein Buch, das ich besprechen wollte. Daneben eine gesamte Schwerpunktausgabe der Zeitschrift The Information Society. Es ist aber schwer, denn leider ist das Buch schlecht. Das selber ist nichts Besonderes. Es gibt dutzende Bücher, die ich am Anfang so interessant finde, dass ich sie gerne besprechen würde – und dann stellen sie sich beim weiteren Lesen als wirklich schlecht heraus, zumindest meiner Wahrnehmung nach. Mal sind sie einfach langweilig, oft inhaltlich flach, teilweise auch falsch. Mehr als einmal waren sie einfach so einschläfernd, dass ich sie einfach nicht fertiglesen konnte und erstaunlicherweise – da ich hier vor allem von Werken spreche, die irgendetwas mit Library and Information Science zu tun haben – oft sind sie unglaublich esoterisch (gerade Chandos Publishing hat da einige erstaunliche Werke im Angebot). Aber dieses Buch ist anders. Es ist dogmatisch. Dogmatisch im Sinne des „Histomat“ der DDR oder von alten K-Gruppen, so als wären die Siebziger nicht vorbei, sondern als wären diese unflexiblen, reflexionunfähigen und auch spass- sowie ironielosen Gruppen aus BeurfsmoaistInnen und BerufstrotzkistInnen immer noch zahlreich und meiungsstark. (Und ja, ich weiss, es gibt sie immer noch in kleinen Grüppchen: Arbeitermacht, Spartakistische Arbeiterpartei, Marxistisch-Lenistische Partei und so weiter; manchmal durfte ich mich mit denen auch rumschlagen.)

Je länger das Buch neben mir liegt, je länger habe ich das Gefühl, dass ich in meiner Jugendzeit in der Berliner Antifa hatte, wenn ich solchen letzten Überbleibseln der K-Gruppen begegnete: Irgendwie klingt es von Weitem, im Vorbeigehen, im ersten Moment vertraut und dann auch noch auf der Basis von Theorie, die man selber zumindest gelesen hat; aber gleich beim ersten genaueren Blick wird klar, dass es das nicht ist. Genauso wie die K-Gruppenüberbleibsel das Gefühl vermitteln, aus der Zeit gefallene Gläubige einer Revolution zu sein, welche die Zeit ihrer Umsetzung lange hinter sich hat (wenn es sie je wirklich gab) und bestimmt auch „damals“ nicht perfekt gewesen wäre, vermittelt dieses Buch das Gefühl, als ob ein aus der Zeit gefallener Gläubiger eines sehr reduzierten und rechthaberischen Marxismus versuchen würde, ein aktuelles Thema anzugehen.

Den Digitalen Kapitalismus untersuchen

Der Vergleich ist nicht so absurd, wie er vielleicht klingt. Es geht in diesem Buch, Digital Labour and Karl Marx von Christian Fuchs (Fuchs 2014), nämlich um nicht weniger als das: Die Struktur der Arbeit und Ausbeutungsverhältnisse im „Digitalen Kapitalismus“ mithilfe marxistischer Theoriewerkzeuge zu untersuchen und zu beschreiben. Mit einer klaren Perspektive zur Aufhebung dieser Verhältnisse, was nicht überraschen sollte, wenn man Marx (und Engels) gelesen hat; aber doch, wenn man bedenkt, dass das Buch selber bei Routledge verlegt wurde. (more…)