Wo beginnt die Vorgeschichte der Digital Humanities und was kann man aus ihr lernen?
Eine Notiz zu
Marcus Twellmann: »Gedankenstatistik« Vorschlag zur Archäologie der Digital Humanities. In: Merkur, 797 (Vol.69, Oktober 2015). S. 19-30
von Ben Kaden (@bkaden)
I.
Vermutlich ist es das Zeichen einer Reifung, wenn für ein junges Forschungsfeld, zum Beispiel die Digital Humanities, einerseits eine Art Geschichtsschreibung einsetzt und dies andererseits in Publikumszeitschriften geschieht. Der Merkur – Subtitel „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ – gehört traditionell zu diesen leider in der Zahl eher geringen Titeln, die den Überschlag von einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachöffentlichkeit hin zu einer an intellektuellen Themen interessierten allgemeinen Öffentlichkeit regelmäßig schaffen. Es handelt sich buchstäblich um eine Zeitschrift, denn es werden die Themen der Zeit be- und aufgeschrieben und wenn man beispielsweise Jürgen Habermas‘ Artikel zu Moral und Sittlichkeit aus der Dezemberausgabe 1985 nachliest, staunt man, wie trotz aller beschworenen Verkürzung von Halbwertszeiten des Wissens bestimmte ideengeschichtliche Phänomene erstaunlich geltungsstabil bleiben können.
Ob dies ähnlich auch für Marcus Twellmanns Text zur Archäologie der Digital Humanities aus der Oktoberausgabe des Jahres 2015 gelten wird, werden wir erst 2045 beantworten können. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, denn der Konstanzer Kulturwissenschaftler nähert sich dem Phänomen bereits historisch und zwar aus einer methodengeschichtlichen Perspektive. Ist Pater Roberto Busa mit seiner computergestützten Aquin-Erschließung der Nukleus der Digital Humanities bzw. des Humanities Computing? Nicht unbedingt, meint Twellmann. Und schlägt vor:
„Betrachten wir solche humanwissenschaftlichen Formationen als protodigital, die auf einer mathematischen Verarbeitung numerischen Daten basierten und Verfahren hervorbrachten, die später computertechnisch implementiert werden konnten.“
Der protodigitale Ursprung dessen, was heute unter Digital Humanities firmiert, liegt wenig überraschend in der Statistik. Die entstand aus der Staatenkunde, nachdem diese die „verbalen Deskription gegen eine amtliche Zahlenstatistik“ ausgetauscht hatte, deren Methodologie wiederum von der Astronomie geprägt wurde. Das Ziel der neuen Disziplin war, „Arithmetik für Zwecke der Verwaltung nutzbar [zu] machen“. Der Rückgriff auf die Statistik bot sich zudem als ein Abgrenzungsmittel entstehender Disziplinen gegenüber den etablierten an. Das lag deshalb nah, weil sich zeigte, dass „die Statistik keine Disziplin unter anderen, sondern eine übertragbare Methode [ist], die auf unterschiedliche Gegenstände anwendbar ist.“
Im sich nicht nur daraus entwickelnden Spannungsbereich zwischen den „innumerate humanists“ und den „illiterate scientists“ entstanden schließlich über das 20. Jahrhundert hinweg Praxisgemeinschaften, „die sich in ihrem epistemischen Habitus heute tief fremd sind.“ Diese Entfremdung prägt heute die Debatten um die Digital Humanities: Literaturwissenschaftler lassen die Abwehr ihrer Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert aufleben. „Die Proponenten der digital humanities […] vergessen oder ignorieren […] jene große Teilung, die sich mentalitätsbildend zwischen den epistemischen Großgemeinschaften aufgetan hat.“
II.
Interessanter als die Feststellung dieser Diskurshürde ist jedoch der zweite Entwicklungsstrang, den Twellmann in der gebotenen Kürze wissenschaftshistorisch skizziert und den man als Bestreben einer Objektivierung des Geistes in dem Sinne beschreiben kann, dass mit der Völkerkunde bzw. der Anthropologie den philologischen und hermeneutischen Wissensschaftsformen nun streng empirisch ausgerichtete Disziplinen entgegentraten. Nicht der Text bzw. die Zeichen als Abbildung des Geistes wurden für diese Forschung interessant, sondern auch Objekte aller Couleur. Damit einher ging – vielleicht als Pendant zu bibliografischen bzw. kanonisierenden Praxen – die Notwendigkeit einer systematischen Inventarisierung von Lebenswelten u.a. vergangener und vergehender, deren Spuren es zu erfassen und auch, per Archiv, zu retten gilt. Das derzeit sehr hochgehaltene Konzept des kulturellen Erbes dürfte genaugenommen seine Wurzeln eher in diesen Linien als in den Klassikerausgaben haben, weshalb Archive und Museen in diesem Zusammenhang fast noch wichtiger als die Bibliotheken sind, die über weite Strecken Redundanzen sammeln. Die Deutung des Objekts wurde, wenigstens vorläufig, durch Registrierung und Archivierung und kurz darauf auch durch Praxen der Dokumentation ergänzt, die, wie wenigstens alle Bibliothekswissenschaftler wissen, spätestens zu Zeiten von Paul Otlet und Henri La Fontaine in Versuche zur Totalerfassung auch der kulturellen Gegenwart mündeten.
Wie das Mundaneum so sahen sich bereits die Museen als volkskundliche Sammelinstitutionen schnell vom Mengenaufkommen überfordert, allerdings noch auf einer materialeren Ebene. Im 19. Jahrhundert meinte man in dem, was Otlet im 20. herausforderte, eine Lösung zu erkennen: „der Inventarisierung, Katalogisierung und Dokumentation der Objekte auf dem Papier“, für das es allein ein passendes Schreibverfahren brauchte. Die Notwendigkeit, so die These Twellmanns, „begünstigte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erste hoffnungsvolle Hinwendung zur Statistik.“ Ergo „protodigitaler Verfahren“, die andere Völkerkundler als „selbstzufriedene Zahlengenügsamkeit“ (Heinrich Riehl) abqualifizierten. Adolf Bastian zeigte sich dagegen euphorisch:
„Welch‘ wunderbare Enthüllungen müsste nicht eine Gedankenstatistik geben, die dieselbe mathematische Zahl psychologischer Urelemente durch die Köpfe aller Völker, aller Zeiten und Geschichten kreisen, in einförmig regelmäßigem Umlauf kreisen zeigte.“ (Bastian, 1860, S.9, zitiert bei Twellmann)
Als Begründung dieses Anliegens führte Bastian etwas an, was man heute Kontextualisierung nennen würde:
„Sie [die Gedankenstatistik] ist um so nöthiger, als all unser Denken nur auf relativen Schätzungen der Gegenseitigkeiten beruht, wir also einen Gedanken erst dann die ihm zukommende Stellung im Weltganzen, das es jetzt möglich geworden ist, geographisch und historisch, als Einheit zu überschauen und auch astronomisch zu ahnen, anweisen können, wenn wir ihn in seine Verhältnisswherte zu der Umgebung erkannt haben.“ (Bastian, 1860, S.9)
Man kann unschwer den Willen zur Vervektorisierung als einer möglichst präzisen Relationierung der Welt (bzw. ihrer Gegenstände) beobachten. Ebenso deutlich wird der generelle Wunsch, von der Schätzung (also der Interpretation) zum Wissen (per Vermessbarkeit) fortzuschreiten. Dabei hilft – „jetzt möglich“ – die generelle Entwicklungshöhe der Zeit. Abstrakt findet sich dieser Geist nahezu identisch in der Programmatik weiter Teile der Digital Humanities. Dahinter steht mit der Erkenntnis zwangsläufig auch der Wunsch einer Kontrolle über mögliche Deutungen, denn die „Anweisung“ einer Stellung im „Weltganzen“ wäre auf dieser Basis objektiv und nicht weiter verhandelbar. Eine so rational durchschaubare geistige Produktion ermöglichte in der Folge deutlich bewusstere Steuerungen derselben. Für Bastian unterschieden sich die Gedanken nicht von anderen realweltlichen Gegebenheiten:
„Das, was wir, unsere Mitmenschen denken, was unsere Vorfahren dachten, das, was die Menschheit denkt, muss verstanden werden, wie jedes Erzeugniss des harmonischen Kosmos, verstanden in seinen Relationen, in seinem gesetzlichen Zusammenwirken […].“ (Bastin, 1860, S.429)
und erst wenn wir diese Gesetzmäßigkeit verstehen, finden wir uns auch verankert in der Welt:
„Auf der Kenntnis gegenseitiger Relationen beruht alles Verstehen, und erst wenn sich das Verstehen des Verstehens versteht, dämmert dem Bewusstsein wieder der Morgen jenes frühen Schöpfungstages empor, den es in den Gesetzen unendlichen Schaffens lebt, den Gesetzen, die mit Nothwendigkeit das Sein erhalten, die sich in jedem Augenblick des Seins zum freien Werden gestalten. “ (ebd.)
Die angestrebte Nomothetisierung des Geistigen sollte dem Menschen in gewisser Weise Handlungs- und in jedem Fall Erkenntnismacht über Dinge geben, die er so nicht durchblickt. Also eine „naturwissenschaftliche Durchbildung der Psychologie.“ Nun ist der objektive Geist notwendig von der psychologischen Empirie affiziert und für die Erkenntnis der dahinter stehenden Gesetzmäßigkeiten benötigt man idealerweise große Datenmengen. Heute spräche bzw. spricht man von Korpora / Big Data. Der psychologische Schwenk scheint zugleich dort in den Digital Humanities vielversprechend, wo es zum Beispiel in der quantitativen Literaturanalyse darum geht, „unbewusst“ gesetzte Subtexte als wiederkehrende Muster zu identifizieren. Der Autor wäre dabei nur typischer Vertreter des Schöpfungshandeln und kann als idiosynkratisches Individuum ruhig unauffällig aus der Analyse sterben. Die Werke selbst hätten dagegen vermutlich keine analysiserbare Psyche, wohl aber sind sie als Ausdruck einer „sozialen Psyche“ einer bestimmten Gemeinschaft lesbar. Wo sich mittlerweile das Konzept der Völker- bzw. Ethno-Psychologie als Anachronismus zeigt, scheint doch vorstellbar, mittels solcher Verfahren und einem derartigen Erkenntnisziel, sozialpsychologischen Annahmen bestimmter Communities nachzuspüren. Analysierte man beispielsweise die Subtexte wissenschaftlicher Gutachten, so könnte man vermutlich Devianzen zu den Idealvorstellungen von solchen Bewertungsverfahren zumindest thesenhaft identifizieren und als Basis für Überlegungen einer Verbesserung dieser wissenschaftlichen Filterpraxis heranziehen. Das wäre schon ein spannendes Forschungsfeld.
Offen bleibt, ob es tatsächlich funktioniert. Schon Adolf Bastians Zeitgenosse Heinrich Riehl artikulierte Zweifel an der Aussagekraft geistesstatistischer Vermessungen, wie Twellmann zitiert:
„Im weiten Gebiet der Wissenschaft vom Geiste ist ein mathematische Grundlage häufig nicht zu finden, die statistische Formel trügt oder versagt und an die Stelle des Zählens, Messens und Wägens muß die schildernde Beobachtung treten.“
Nun ist die Deskription etwas anderes als die Auslegung. Das Pendant zur Schilderung wäre aus dem Verfahrenspool der digitalen Geisteswissenschaften möglicherweise die maschinenverarbeitbare Annotation, in der erfasst wird, wie diverse (=möglichst viele) Beobachter auf einen Gegenstand blicken. Die Grundform eines solchen Ansatzes kennt man in Gestalt der ein wenig aus der Mode gekommenen „Folksonomien“. Haben solche Annotationen eine standardisierte und daher maschinenlesbare Form, sind sie selbst wieder nicht nur als idiographische Phänomene sondern als statistische Einzelelemente auswertbar.
III.
Die Grenze der Anwendbarkeit solchen Analysekreisens liegt freilich weniger in der methodischen als in der organisationalen Machbarkeit, also auf der Ebene dessen, was man heute als „Ressourcen“ benennt. Neu ist der Wettstreit um „gesellschaftliche Aufmerksamkeit und finanzielle Fördermittel“ jedoch nicht. Twellmann zitiert erneut Riehl mit einem „alten Lied“:
„Sehr geringe Mehrforderungen für die Geisteswissenschaften finden häufig keine Gnade bei unseren Volksvertretern. Wenn man aber Forderungen der Chemiker oder Physiker ablehnte, dann könnte der industrielle Fortschritt steckenbleiben … Das Geld wird bewilligt.“
Twellmann schlussfolgert daraus, dass bereits aus diesem Grund eine „Annäherung an die ökonomisch zugkräftigen Naturwissenschaften […] opportun“ erschien. Angesichts der Hoffnungen in an Wachstumserwartungen an die digitalen Ökonomien ist die Parallele zu heutigen Entwicklungen vor allem in der Wissenschaftsförderung unübersehbar.
Verfahrenstechnisch stehen weite Teile der digitalen Geisteswissenschaft bis hin zu Franco Moretti sehr nah an den protodigitalen Konzepten des 19. Jahrhunderts, wie Twellmann plausibel darstellt. Es bleibt die Frage, wieso im realdigitalen Gegenwart, die viele Probleme des Informationsmanagements scheinbar mühelos löst, welche die statistikaffinen Anthropologen des 19. und 20. Jahrhunderts plagten, der großen Umschwung bisher jedenfalls ausbleibt. Dass die Digital Humanities kaum hinter Busas Experimente zurückgehen und den methodologischen Vordiskurs, wie ihn Twellmann freundlicherweise in seinem Aufsatz anerschließt, weitgehend ausblenden, dürfte nur ein Aspekt sein. Es finden sich auch zwei weitere Aspekte im Aufsatz. So fehlt es auch aktuell und besonders an höheren und damit gestaltenden Positionen der Fachwissenschaften an „Innumeraten“ bzw. „numerate humanists“, also Wissenschaftler_innen, die kompetent und abgeklärt geisteswissenschaftliche Ansprüche mit informatischen Möglichkeiten zu verbinden verstehen.
Drittens bestätigt sich, wie man auch aus der Perspektive der Sozialwissenschaften regelmäßig erkennen kann, immer wieder etwas, was sich Franz Boas in den 1930er Jahren für die Anthropologie festzustellen gezwungen sah:
„Being somewhat familiar with the difficulties of statistical work I do not believe it is a safe guide in ethnological inquiry.” (zitiert bei Twellmann)
Boas präzisiert seine Einsicht, den Sinn des numerischen Vergleichs nicht ganz verwerfend, im Fortgang so weiter:
„The data of ethnology are not of such character that they can be expressed by mathematical formulars so that results are obtained which are in any way more convincing than those in simpler ways of numerical comparison. Behind these always loom the unanswered questions in how far the materials enurmerated are really comparable […].” (Boas, 1936)
Dass es also, wie bereits Heinrich Riehl wusste, sehr schwer bis unmöglich ist, bestimmte, nämlich geisteswissenschaftliche (und wie Boas betonte, anthropologische) Forschungskomplexe auf einen numerisch-statistischen Grund zu reduzieren. Es wäre aus diesem Grund sicher ratsam, die Digital Humanities der Gegenwart vor dieser historischen Folie gerade nicht vorrangig aus den Versprechungen einer verfahrenstechnischen Warte heraus zu gestalten, sondern möglicherweise zunächst ausgehend von der Frage, was geisteswissenschaftliche Erkenntnis- und Verstehenssuche für digital geprägte Kulturen eigentlich bedeuten kann und soll.
(Berlin, 09.10.2015)
Quellen:
Adolf Bastian: Der Mensch in der Geschichte. Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung. Leipzig: Wigand, 1860
Franz Boas: History and Science in Anthropology. A Reply. In: American Anthropologist. New Series, Vol. 38, No. 1 (Jan. – Mar., 1936), S.. 137-141
Marcus Twellmann: »Gedankenstatistik« Vorschlag zur Archäologie der Digital Humanities. In: Merkur, 797 (Vol.69, Oktober 2015). S. 19-30
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