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Die Forschung zum Diskurs als Wörterbuch. Eine Besprechung.

Posted in LIBREAS.Referate by Ben on 30. August 2014

zu: Daniel Wrana, Alexander Ziem, Martin Reisigl et. al [Hrsg.] (2014): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp. (Seite zum Titel beim Verlag)

von Ben Kaden (@bkaden)

Nach einen an Fachliteratur eher armen und mit anderer Literatur wundervoll gesättigten August fällt es nun, da die Himmel eher milchig sind und die Abende wieder häufiger ernüchternd kühl, wieder Zeit sich kühlen Blutes den Spuren der wissenschaftlichen Diskurse zuwenden und die den Hundstagen etwas eingeschlafenen LIBREAS-Zwischenmedien (Tumblr, Weblog) zu wecken.

Frisch auf dem Schreibtisch findet sich das im Juli bei Suhrkamp erschienene Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung ein, dessen Herausgeber ihm nahe liegend Weise den Namen ihres Forschungsverbundes zum Titel gaben: DiskursNetz. Das Buch selbst entstand ganz zeitgemäß und kollaborativ in einem Wiki (www.diskursanalyse.net), wobei es noch zeitgemäßer wäre, stände dieses zugleich Open Access und dynamisch erweiter- und vernetzbar zur Verfügung.

Andererseits versteht man, wenn man selbst einmal etwas in Buchform herausgegeben hat, dass man schon lieber kontrolliert eine redaktionell abgeschlossene Fassung als alleinigen Referenzpunkt für die Öffentlichkeit haben möchte und den bietet nun der Band mit seinem fast 450 Seiten breiten Nachschlagebereich für Artikel vom Lacan’sche A (le grande Autre) zum allgemeinen Zweck:

“ein telisches Konzept, das vor allem in der Funktionalen Pragmatik verwendet wird“. (Reisigl, S. 447)

Die Linguistik heiligt bei diesem Stichwort trotz allem interdisziplinären Anspruch sehr offensichtlich die Wortwahl und es sagte ja auch niemand, dass Diskursforschung für diejenigen einfach zugänglich sein muss, die Telizität erst einmal noch an anderer Stelle nachschlagen müssen. Wer an Telos denkt, denkt – so glaube ich jedenfalls – schon in die richtige Richtung. Wobei der telische Blick wohl einer zurück auf das bereits erreichte Ziel ist. Worum es bei der Analyse von Diskursen ja oft genug geht. In jedem Fall ist Telizität durch einen Prozess  gekennzeichnet und durch eine zeitliche Abgrenzung bzw. Abgrenzbarkeit desselben. Aber eigentlich ist das für das Verständnis des Zweck-Begriffs gar nicht übermäßig wichtig.

Denn wenn man sich in diesem Fall telisch einfach auf die Bedeutung zielgerichtet reduziert, kann man ganz unbeschwert und wahrscheinlich nicht völlig irrend im Stichwort fortschreiten und lesen:

Zweck ist

“ein […] Konzept […] um eine gesellschaftlich verallgemeinerte, in der Lebenspraxis des Menschen verankerte Finalität eines sozial etablierten Mittels […] zu bezeichnen, das nicht nur der Befriedigung eines individuellen Ziels, sondern eines gesellschaftlichen Bedürfnisses unter institutionellen Bedingungen dient.“(ebd.)

Das sozial etablierte Mittel ist im Fall von DiskursNetz das Nachschlagewerk und die Finalität ist, dass man nach dem Nachschlagen in der Lage ist, das Wort “Zweck” in der Bedeutung, die ihm die Diskursforscher (und die Sprachwissenschaftler) (=institutionelle Bedingungen) geben, verwenden und verstehen kann.

DiskursNetz Cover

Fällt das Licht passend, dann erkennt man, dass sogar die Materialität, auf der die zurückgenommene Willy-Fleckhaus-Ästhetik der Taschenbuchreihe suhrkamp-wissenschaft (hier:Band 2097) aufsetzt, durchaus eine Gitternetz-Struktur verbirgt. Was sehr gut zum vorliegenden Titel passt.

Der vergleichsweise harte Einstieg über das letzte Stichwort des Wörterbuchs in das Diskurs(forschungs)netz besitzt freilich den unbestreitbaren Vorteil, dass andere Einträge, unter anderem das gleich zuvor gesetzte und ebenfalls von Martin Reisigl bearbeitete Konzept des Zitats („eine spezifische Form der absichtsvollen Redewiedergabe […]“, S. 446) plötzlich außerordentlich klar und eingängig erscheinen. Möglicherweise bewahrheitet sich auch schlicht, dass die scheinbar einfachsten Konzepte am schwierigsten gefasst werden können. (–> Ambiguität)

Bibliotheks- und informationswissenschaftlich bewegt man sich mit dem Wörterbuch natürlich weit in einem transdisziplinären Grenzgebiet. Der Begriff der Information wird leider nicht definiert. Ein Stichwort „Informationseinheit“ (von Felicitas Macgilchrist, S.196f) gibt es dagegen und der Text dazu lässt erkennen, dass „Information“ in der Diskursforschung ziemlich zweckmäßig und mehr als eine Benennung als als ein eigenes spezifisches Phänomen zur Anwendung kommt:

“In verbalen Texten bildet […] ein Gliedsatz (clause) eine Informationseinheit; in gesprochener Sprache signalisieren Intonation und Rhythmus Informationseinheiten.” (Macgilchrist, S. 196)

Nach Michael Halliday differenziert man zudem Informationen nach given und new:

“Given teilt den alten und schon »gegebenen« Teil der Information mit; new bezieht sich auf die neue, wichtige oder interessante Information.” (ebd.)

Redundanz-sozialisierte Informationstheoretiker haben da mutmaßlich eine andere Vorstellung.

Aber genau das ist ja das Sinnvolle an Verdichtungen und zielgerichteten Reduktionen, wie sie Wörterbücher gemeinhin darstellen: Man bekommt eine handliche und überschaubare Basis für die Vorstellungen, die sich Andere bzw. andere Disziplinen von vermeintlich vertrauten Konzepten machen. Solange die Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Diskursforschung bestenfalls und selbst das nur in Randlage als reiner Anwender bestimmter Elemente der Diskursanalyse entgegentritt, darf sie sich jedoch nicht beschweren. Selbstverständlich könnte sie, die sich im Grunde umfänglich wie sonst fast niemand mit soziosemiotischen Ordnungsprozessen (der Zeichen, der Texte, des Wissens, der Kultur) auseinandersetzt, sehr gut und gestaltend auf das Programm der Diskursforschung einwirken. Aber es bleibt bislang nur bei der Möglichkeit und alle die sich in der Bibliothekswissenschaft mit der Diskursforschung befassen wollen, kommen zwangsläufig gar nicht darum, Publikationen wie die vorliegende als Ausgangspunkt für ihre Arbeit heranzuziehen.

Der Wissensbegriff schließlich, hier gefasst von Boris Traue (S.440f.), dem man sofort und fast ein wenig dankbar anmerkt, dass er Soziologe und nicht Linguist ist, differenziert die bekannte Zweiteilung von explizitem (in diesem Fall formuliert als “symbolische objektiviert”) und implizitem (=”habituell verfestigte Praktiken”) Wissen, benennt kurz die gegenwärtige Perspektive auf das Wissen als “dreistellige Relation […] Ergebnis einer Vermittlung von Subjekt, Praxis und Materialität” und referiert danach leider nur kurz Positionen zum Konzept von Karl Mannheim bis Quentin Meillassoux, was zweifellos den Grenzen des Formats “Wörterbuch” geschuldet ist. Eine ergänzende Online-Version hätte gerade bei einem komplexen Phänomen wie dem Wissen, dessen Definition weitaus komplexer ist als beispielsweise die des „Zwecks“ und dessen Rolle für die Diskursforschung trotz allem in der Buchfassung sicher nicht erschöpfend dargestellt ist, erheblich Sinn.

Dennoch zeigt bereits die Erwähnung der Vermittlung (in der Praxis unter anderem vollzogen in und durch Bibliotheken), wo die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sofort einen Zugang zu diesem Forschungsfeld finden kann. Denn alle Prozesse, bei denen über materialisiertes (symbolisch objektiviertes) Wissen Subjekte tatsächlich, also praktisch verknüpft sind, sind Informationsprozesse und traditionell sind die Bibliotheken hier als Vermittler, also als (auch die Diskurse lenkende) Infrastruktur, innerhalb der man zu dem Ergebnis “Wissen” gelangt”, aktiv.

Man muss das Wörterbuch „DiskursNetz“ gar nicht groß rezensieren. Es ist nicht zuletzt dank der Bibliografie und allein des Verzeichnens von einschlägigen Belegquellen ein derzeit nahezu unverzichtbares Nachschlagewerk, wenn man derzeit, in welcher Disziplin auch immer, diskursforschend arbeitet. Wie von so gut wie jedem wissenschaftlichen Werk geht auch von diesem weder ein besonderer Zauber noch die Aura höherer Wahrheit aus. Aber es ist eine exzellente Basis. Wer methodische Zugänge zum Forschungsfeld sucht, muss noch ein paar Tage warten: Für September ist ein “interdisziplinäres Handbuch” zur Diskursforschung aus dem gleichen Herausgeberumfeld angekündigt. (Angermuller, Nonhoff, Herschinger, et al, 2014, Seite zum Titel beim Verlag) Bis dahin eignet sich erstaunlich gut funktionierende, Suhrkamp-typisch handliche Druckausgabe in jedem Fall als prima Begleiter, um in den letzten Tage des Sommers 2014 in einem Stadtpark zwischen der Serendipidität der Diskursforschung und der der restlichen Lebenswelt wohlbalanciert hin- und herzuschwenken.

Das das Forschungsteam zum DiskursNetz sich ebenfalls auf eine Art fröhliche Wissenschaft (na ja, vielleicht sogar eher alberne Wissenschaft) versteht, zeigt ein in das Verweisgefüge des DiskursNetzes plötzlich hereinbereichender diskurspomologischer Eintrag, der leider etwas zu durchsichtig ist, um nicht vielleicht doch ganz unverhofft eine fachwissenschaftliche Karriere anzutreten: der der Diskursbanane.

DiskursNetz: Diskursbanane

Zwei Apfelsinen im Hirn und der Diskurs ganz Banane? Die Adressierung der Konzept auf James Bond [JBo] ist leider sofort der Pointe Assassine (assassin pun) dieser neckischen Idee, wo es doch eine franco-gallische Diskursforscherin namens Rosita la Banda  [RLB] (eigenartigerweise, so einen Namen kann man sich kaum ausdenken) wenigstens früher oder später zu einer Zitation in der Wikipedia hätte bringen können.

(Berlin, 30.08.2014)

 

. Angermuller, Johannes; Nonhoff, Martin; Herschinger, Eva et. Al [Hrsg.] (2014) Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bd. Bielefeld: transcript, Eintrag bei der DNB

. Macgilchrist, Felicitas (2014) Informationseinheit. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 196-197

. Reisigl, Martin (2014): Zitat. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 446-447

. Reisigl, Martin (2014): Zweck. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 447-448

. Traue, Boris: Wissen. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 440-441

Eine Antwort

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  1. Walther Umstätter said, on 30. August 2014 at 14:32

    Nachdem, was ich hier lese scheint man das Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung nicht unbedingt zu brauchen. Besten Dank! Im Gegenteil, es scheint mir ein typisches Beispiel für die Uncitedness 4 zu sein, denn man sollte wohl eher den Mantel des Vergessens darüber breiten, wenn man nicht mehr Verwirrung als notwendig stiften will.
    „Zweck“ als „“ein […] Konzept […] um eine gesellschaftlich verallgemeinerte, in der Lebenspraxis des Menschen verankerte Finalität“ zu definieren, ist schon darum irreführend, weil auch jedes Individuum für sich ganz bestimmte Zwecke verfolgen kann, ohne jede gesellschaftlich verallgemeinerte Finalität. Es ist ein wesentlicher Teil einer jeden Wissenschaft, Unsinn auch als Unsinn zu bezeichnen. Wenn man also die eigene kostbare Zeit nicht mit solchen abwegigen Sätzen verbringen will, bleibt nur noch der Mantel des Schweigens. Auch bei Begriffen wie Informationseinheit (als Maßeinheit Bit) gibt es so viel Unsinn in der Weltliteratur, dass es rein zeitlich völlig unmöglich ist all das zu falsifizieren. Eine Information in die Welt zu setzen ist eine Sache, sie z. B. durch Diskurse publik zu machen eine andere, und oft noch frevelhafter, wenn sie irreführend ist. Darum bleibt nur das Schweigen, oder wenn möglich das falsifizieren, und darum gilt auch hier, jedem Leser sein Buch – auch wenn schon unzählige Bücher unzählige Leser geistig verwirrt haben.


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