Die Forschung zum Diskurs als Wörterbuch. Eine Besprechung.
zu: Daniel Wrana, Alexander Ziem, Martin Reisigl et. al [Hrsg.] (2014): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp. (Seite zum Titel beim Verlag)
von Ben Kaden (@bkaden)
Nach einen an Fachliteratur eher armen und mit anderer Literatur wundervoll gesättigten August fällt es nun, da die Himmel eher milchig sind und die Abende wieder häufiger ernüchternd kühl, wieder Zeit sich kühlen Blutes den Spuren der wissenschaftlichen Diskurse zuwenden und die den Hundstagen etwas eingeschlafenen LIBREAS-Zwischenmedien (Tumblr, Weblog) zu wecken.
Frisch auf dem Schreibtisch findet sich das im Juli bei Suhrkamp erschienene Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung ein, dessen Herausgeber ihm nahe liegend Weise den Namen ihres Forschungsverbundes zum Titel gaben: DiskursNetz. Das Buch selbst entstand ganz zeitgemäß und kollaborativ in einem Wiki (www.diskursanalyse.net), wobei es noch zeitgemäßer wäre, stände dieses zugleich Open Access und dynamisch erweiter- und vernetzbar zur Verfügung.
Andererseits versteht man, wenn man selbst einmal etwas in Buchform herausgegeben hat, dass man schon lieber kontrolliert eine redaktionell abgeschlossene Fassung als alleinigen Referenzpunkt für die Öffentlichkeit haben möchte und den bietet nun der Band mit seinem fast 450 Seiten breiten Nachschlagebereich für Artikel vom Lacan’sche A (le grande Autre) zum allgemeinen Zweck:
“ein telisches Konzept, das vor allem in der Funktionalen Pragmatik verwendet wird“. (Reisigl, S. 447)
Die Linguistik heiligt bei diesem Stichwort trotz allem interdisziplinären Anspruch sehr offensichtlich die Wortwahl und es sagte ja auch niemand, dass Diskursforschung für diejenigen einfach zugänglich sein muss, die Telizität erst einmal noch an anderer Stelle nachschlagen müssen. Wer an Telos denkt, denkt – so glaube ich jedenfalls – schon in die richtige Richtung. Wobei der telische Blick wohl einer zurück auf das bereits erreichte Ziel ist. Worum es bei der Analyse von Diskursen ja oft genug geht. In jedem Fall ist Telizität durch einen Prozess gekennzeichnet und durch eine zeitliche Abgrenzung bzw. Abgrenzbarkeit desselben. Aber eigentlich ist das für das Verständnis des Zweck-Begriffs gar nicht übermäßig wichtig.
Denn wenn man sich in diesem Fall telisch einfach auf die Bedeutung zielgerichtet reduziert, kann man ganz unbeschwert und wahrscheinlich nicht völlig irrend im Stichwort fortschreiten und lesen:
Zweck ist
“ein […] Konzept […] um eine gesellschaftlich verallgemeinerte, in der Lebenspraxis des Menschen verankerte Finalität eines sozial etablierten Mittels […] zu bezeichnen, das nicht nur der Befriedigung eines individuellen Ziels, sondern eines gesellschaftlichen Bedürfnisses unter institutionellen Bedingungen dient.“(ebd.)
Das sozial etablierte Mittel ist im Fall von DiskursNetz das Nachschlagewerk und die Finalität ist, dass man nach dem Nachschlagen in der Lage ist, das Wort “Zweck” in der Bedeutung, die ihm die Diskursforscher (und die Sprachwissenschaftler) (=institutionelle Bedingungen) geben, verwenden und verstehen kann.

Fällt das Licht passend, dann erkennt man, dass sogar die Materialität, auf der die zurückgenommene Willy-Fleckhaus-Ästhetik der Taschenbuchreihe suhrkamp-wissenschaft (hier:Band 2097) aufsetzt, durchaus eine Gitternetz-Struktur verbirgt. Was sehr gut zum vorliegenden Titel passt.
Der vergleichsweise harte Einstieg über das letzte Stichwort des Wörterbuchs in das Diskurs(forschungs)netz besitzt freilich den unbestreitbaren Vorteil, dass andere Einträge, unter anderem das gleich zuvor gesetzte und ebenfalls von Martin Reisigl bearbeitete Konzept des Zitats („eine spezifische Form der absichtsvollen Redewiedergabe […]“, S. 446) plötzlich außerordentlich klar und eingängig erscheinen. Möglicherweise bewahrheitet sich auch schlicht, dass die scheinbar einfachsten Konzepte am schwierigsten gefasst werden können. (–> Ambiguität)
Bibliotheks- und informationswissenschaftlich bewegt man sich mit dem Wörterbuch natürlich weit in einem transdisziplinären Grenzgebiet. Der Begriff der Information wird leider nicht definiert. Ein Stichwort „Informationseinheit“ (von Felicitas Macgilchrist, S.196f) gibt es dagegen und der Text dazu lässt erkennen, dass „Information“ in der Diskursforschung ziemlich zweckmäßig und mehr als eine Benennung als als ein eigenes spezifisches Phänomen zur Anwendung kommt:
“In verbalen Texten bildet […] ein Gliedsatz (clause) eine Informationseinheit; in gesprochener Sprache signalisieren Intonation und Rhythmus Informationseinheiten.” (Macgilchrist, S. 196)
Nach Michael Halliday differenziert man zudem Informationen nach given und new:
“Given teilt den alten und schon »gegebenen« Teil der Information mit; new bezieht sich auf die neue, wichtige oder interessante Information.” (ebd.)
Redundanz-sozialisierte Informationstheoretiker haben da mutmaßlich eine andere Vorstellung.
Aber genau das ist ja das Sinnvolle an Verdichtungen und zielgerichteten Reduktionen, wie sie Wörterbücher gemeinhin darstellen: Man bekommt eine handliche und überschaubare Basis für die Vorstellungen, die sich Andere bzw. andere Disziplinen von vermeintlich vertrauten Konzepten machen. Solange die Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Diskursforschung bestenfalls und selbst das nur in Randlage als reiner Anwender bestimmter Elemente der Diskursanalyse entgegentritt, darf sie sich jedoch nicht beschweren. Selbstverständlich könnte sie, die sich im Grunde umfänglich wie sonst fast niemand mit soziosemiotischen Ordnungsprozessen (der Zeichen, der Texte, des Wissens, der Kultur) auseinandersetzt, sehr gut und gestaltend auf das Programm der Diskursforschung einwirken. Aber es bleibt bislang nur bei der Möglichkeit und alle die sich in der Bibliothekswissenschaft mit der Diskursforschung befassen wollen, kommen zwangsläufig gar nicht darum, Publikationen wie die vorliegende als Ausgangspunkt für ihre Arbeit heranzuziehen.
Der Wissensbegriff schließlich, hier gefasst von Boris Traue (S.440f.), dem man sofort und fast ein wenig dankbar anmerkt, dass er Soziologe und nicht Linguist ist, differenziert die bekannte Zweiteilung von explizitem (in diesem Fall formuliert als “symbolische objektiviert”) und implizitem (=”habituell verfestigte Praktiken”) Wissen, benennt kurz die gegenwärtige Perspektive auf das Wissen als “dreistellige Relation […] Ergebnis einer Vermittlung von Subjekt, Praxis und Materialität” und referiert danach leider nur kurz Positionen zum Konzept von Karl Mannheim bis Quentin Meillassoux, was zweifellos den Grenzen des Formats “Wörterbuch” geschuldet ist. Eine ergänzende Online-Version hätte gerade bei einem komplexen Phänomen wie dem Wissen, dessen Definition weitaus komplexer ist als beispielsweise die des „Zwecks“ und dessen Rolle für die Diskursforschung trotz allem in der Buchfassung sicher nicht erschöpfend dargestellt ist, erheblich Sinn.
Dennoch zeigt bereits die Erwähnung der Vermittlung (in der Praxis unter anderem vollzogen in und durch Bibliotheken), wo die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sofort einen Zugang zu diesem Forschungsfeld finden kann. Denn alle Prozesse, bei denen über materialisiertes (symbolisch objektiviertes) Wissen Subjekte tatsächlich, also praktisch verknüpft sind, sind Informationsprozesse und traditionell sind die Bibliotheken hier als Vermittler, also als (auch die Diskurse lenkende) Infrastruktur, innerhalb der man zu dem Ergebnis “Wissen” gelangt”, aktiv.
Man muss das Wörterbuch „DiskursNetz“ gar nicht groß rezensieren. Es ist nicht zuletzt dank der Bibliografie und allein des Verzeichnens von einschlägigen Belegquellen ein derzeit nahezu unverzichtbares Nachschlagewerk, wenn man derzeit, in welcher Disziplin auch immer, diskursforschend arbeitet. Wie von so gut wie jedem wissenschaftlichen Werk geht auch von diesem weder ein besonderer Zauber noch die Aura höherer Wahrheit aus. Aber es ist eine exzellente Basis. Wer methodische Zugänge zum Forschungsfeld sucht, muss noch ein paar Tage warten: Für September ist ein “interdisziplinäres Handbuch” zur Diskursforschung aus dem gleichen Herausgeberumfeld angekündigt. (Angermuller, Nonhoff, Herschinger, et al, 2014, Seite zum Titel beim Verlag) Bis dahin eignet sich erstaunlich gut funktionierende, Suhrkamp-typisch handliche Druckausgabe in jedem Fall als prima Begleiter, um in den letzten Tage des Sommers 2014 in einem Stadtpark zwischen der Serendipidität der Diskursforschung und der der restlichen Lebenswelt wohlbalanciert hin- und herzuschwenken.
Das das Forschungsteam zum DiskursNetz sich ebenfalls auf eine Art fröhliche Wissenschaft (na ja, vielleicht sogar eher alberne Wissenschaft) versteht, zeigt ein in das Verweisgefüge des DiskursNetzes plötzlich hereinbereichender diskurspomologischer Eintrag, der leider etwas zu durchsichtig ist, um nicht vielleicht doch ganz unverhofft eine fachwissenschaftliche Karriere anzutreten: der der Diskursbanane.

Zwei Apfelsinen im Hirn und der Diskurs ganz Banane? Die Adressierung der Konzept auf James Bond [JBo] ist leider sofort der Pointe Assassine (assassin pun) dieser neckischen Idee, wo es doch eine franco-gallische Diskursforscherin namens Rosita la Banda [RLB] (eigenartigerweise, so einen Namen kann man sich kaum ausdenken) wenigstens früher oder später zu einer Zitation in der Wikipedia hätte bringen können.
(Berlin, 30.08.2014)
. Angermuller, Johannes; Nonhoff, Martin; Herschinger, Eva et. Al [Hrsg.] (2014) Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bd. Bielefeld: transcript, Eintrag bei der DNB
. Macgilchrist, Felicitas (2014) Informationseinheit. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 196-197
. Reisigl, Martin (2014): Zitat. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 446-447
. Reisigl, Martin (2014): Zweck. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 447-448
. Traue, Boris: Wissen. In: Warna, Ziem, Reisigl et. al [Hrsg.] (2014) DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, S. 440-441
Einen Schritt weiter. Jan Hodel zur „Groebner-Kontroverse“ und was die Bibliothekswissenschaft daraus ableiten sollte.
von Ben Kaden
Im Weblog histnet erschien heute ein Text von Jan Hodel (Die Groebner-Kontroverse. Oder: Zu Sinn und Unsinn von Wissenschaftsblogs. In: histnet. 11.02.2013) zur mittlerweile offenbar so genannten Groebner-Kontroverse. Muss man ihn lesen? Ich denke, man sollte. Denn Jan Hodel nimmt im Bemühen um eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Aussagen Valentin Groebners eben auch die Möglichkeiten zum Umgang mit dem Problem „Muss ich das alles lesen?“ in den Blick. Er verweist dabei unter anderem auf die Funktion sortierender und filternder Akteure in der wissenschaftlichen Kommunikation:
„Intermediäre Instanzen, wie sie etwa Redaktionen darstellen, dienen auch der Entlastung der beteiligten Individuen durch Arbeitsteilung. Damit wir nicht alles selber verifizieren und überprüfen, oder auch nur zusammensuchen und im Hinblick auf seine Bedeutsamkeit im wissenschaftlichen Diskurs beurteilen müssen, nutzen wir intermediäre Instanzen, die diese Aufgaben für uns übernehmen. Dies hilft uns, das rare Gut der Aufmerksamkeit gezielter einzusetzen. Ob solche intermediären Instanzen in Zukunft im Stile fachredaktioneller Expertise, dank schwarmintelligenten Zusammenwirkens von adhoc-Kollektiven oder computergestützt mithilfe elaborierter Algorithmen agieren werden […] scheint mir völlig offen.“
Das ist sowohl für die newlis-Überlegungen wie auch natürlich für uns bei LIBREAS bedeutsam. Die bei ihm skizzierte Typologie der Intermediären verweist auf drei Konzepte:
- ein traditionell redaktionelles der intellektuellen Vorauswahl durch Experten (wie wir es bei Fachzeitschriften, in Editorial- und Peer Review-Verfahren, Herausgeberschaften u.ä. finden),
- ein auf Netzwerk- und Hinweiseffekte und Post-Peer-Review-Prinzipien setzendes, dass auch auf Multiplikationseffekte über Social Media setzt,
- automatische Filterverfahren, die von Algorithmen basierten SDI- und Monitoring-Diensten bis hin zu (z.B. webometrischen) Impact-Kalkulationen reichen.
Der Bezug auf die grundsätzliche Unabsehbarkeit der zukünftigen Etablierung eines dieser Ansätze wäre für die Bibliothekswissenschaft allerdings ein zu einfacher und daher inakzeptabler Ausstieg. Denn das Potential für eine bibliothekswissenschaftlich elaborierte Unterstützung von Wissenschaftskommunikation über die Spekulation hinaus wird in diesem Kontext sofort deutlich.
Besonders, wenn man davon ausgeht, dass die Informationsfilterung und -vermittlung in der Wechselwirkung von Mensch und Maschine differenziert entwickelt werden muss, zeigt sich hinsichtlich der Punkte zwei und drei die Notwendigkeit einer Kombination dreier Methodologien als nahliegend, die in diesem Fach eine Rolle spielen (bzw. spielen sollten): Die Soziale Netzwerkanalyse, die Diskursanalyse und die Bibliometrie. In der Kombination lassen sich auf eine solchen Basis Analysestrukturen mit nahezu unbegrenzter Komplexität entwickeln. Wo schließlich die Grenzen zu ziehen und der Komplexität zu setzen sind, ist Sache der Konkretisierung, Ausentwicklung und Implementierung. An diesem Punkt sind wir in unserem Fach leider noch nicht, denn soweit ich sehe, verhandelt man derzeit überhaupt erst eine in diese Richtung weisende Forschungsagenda.
Wenn also Jan Hodel aus der Perspektive des Historikers schreibt:
„Doch wie genau sich dies vollziehen wird und welche konkrete Bedeutung für unseren jeweiligen Wissenschaftsalltag dies haben wird, darüber kann im Moment nur spekuliert werden.“
dann sehe ich den Ball (nicht nur) in die Dorotheenstraße rollen und die Verpflichtung, für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft diesen aufzunehmen und vielleicht nicht unbedingt die Lösung aber in jedem Fall den Nachweis einer wissenschaftlichen, d.h. systematischen Auseinandersetzung mit diesem Problem zu präsentieren. Es handelt sich hier nicht um ein Naturgeschehen sondern um eine – zugegeben nicht wenig komplexe – Ausdifferenzierung der Verfahren, Möglichkeiten und Praxen wissenschaftlicher Kommunikation. Dies ist ein Gestaltungsprozess, in dem diverse Akteure vom Wissenschaftler über die Bibliotheken bis zu Verlagen, Social Media-Unternehmen, Hardware- und Suchmaschinenanbietern mit teilweise auseinanderdriftenden Interessen interagieren. Auf die Gestaltung können wir durchaus Einfluss nehmen und sei es nur, indem wir sie strukturiert ent- und aufschlüsseln und abbilden. Für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die zweifelsohne eine große Expertise genau in diesen Fragen besitzt, ist die aktive Teilhabe an diesem Prozess über ein Mitspekulieren hinaus keine Option, sondern eine Verpflichtung. Das Forschungsprofil des Faches ist hier nämlich (wenigstens aus meiner Sicht) exakt die kritische Begleitung und Analyse des: „wie genau sich dies vollziehen wird und welche konkrete Bedeutung für [den] Wissenschaftsalltag dies haben wird.“
(Berlin, 11.02.2013)
Ordnung ist das halbe Lesen. Zu Mikko Kuorinkis Variation über Foucault.
Rezension zu: Mikko Kuorinki (2012): The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences. Karlsruhe: Mark Pezinger Verlag.
von Ben Kaden
Bis auf das Buch „Das Totenschiff“ segelte B. Traven an meiner Lektürebiografie fast spurlos vorbei. Aber irgendwie auch nicht. Denn eine meiner angenehmsten Tätigkeiten zur Entspannung des manchmal etwas von alltäglicher Betriebsblindheit geprägten Blicks während meiner Tätigkeit als studentischer Mitarbeiter in der Saur-Bibliothek des Berliner Instituts – damals noch nur – für Bibliothekswissenschaft, war das Herumstöbern in der teils doch sehr wunderlichen Zusammenstellung des dort vorgehaltenen Programms des Saur-Verlags. Einer meiner Lieblingstitel wurde Joachim Dietzes B. Travens Wortschatz [1]. Auch wenn ich also B. Travens Worten weitgehend fremd gegenüber stehe, so sind mir doch seine Wörter vertraut. Joachim Dietzes Arbeit ist nämlich ein so genanntes Frequenzwörterbuch, welches sämtliche von B. Traven verwendete Wörter nach Schaffensperioden auf etwas mehr als 700 Seiten listet. Das liest sich nicht mitreißender als ein Telefonbuch, aber dank Rückbezug zu einem konkreten Autor und seinem Werk doch aufregender als der Duden. Von den jeweiligen Handlungsverläufen erfährt man natürlich nichts, aber erstaunlicherweise ergibt sich aus dem aufmerksamen Durchblättern des tabellarisch nach Häufigkeit aufgeschlüsselten Wortschatzes durchaus ein grober Eindruck, worüber der Schriftsteller wie schrieb.
Sich mit Sinn und Zweck derartiger Erschließungen auseinanderzusetzen ist Gegenstand einer literaturwissenschaftlich orientierten Linguistik. Hilfreich sind Frequenzanalysen vor allem für Fragestellungen einer quantitativen Literaturwissenschaft, die sich auch mit Wortschatzauffälligkeiten und Verschiebungen im Vokabular befasst.
Einem Betrachter ohne Bezug zu solchen Erkenntnisverfahren erscheint die Vorstellung, ein Textwerk derart aufzulösen und zu -listen dagegen verständlicherweise wahlweise als spleenig, absurd oder frevelhaft.
Bibliotheks- und Informationswissenschaftler sehen schließlich darin möglicherweise wichtige Vorarbeiten einer literaturwissenschaftlichen Semiometrik, die für semantische Netze und Ontologieentwicklung nützliche Grundlagen legen kann.
Wie Joachim Dietze methodisch vorging, ist mir nicht bekannt und das Buch liegt mir auch nicht mehr vor, um in einer eventuellen Vorbemerkung entsprechend nachzulesen. Auch inwieweit Volltextkorpora wie Google-Books semiometrische Verfahren elaborieren vermag ich nicht genauer abzuschätzen und für entsprechende Hinweise bin ich immer dankbar. Der N-gram-Viewer[2] lässt jedoch vermuten, dass dort Ansätze dieser Art keine geringe Rolle spielen. Eher darüber hinaus, wie sich derartige Verfahren als Werkzeuge auf Digitale Geisteswissenschaften appliziert denken lassen.
Eine Schwierigkeit bleibt freilich bestehen. Denn man besitzt zwar im Idealfall Korpus, Methode und Analysetechnik. Der Zweck, also das Erkenntnisziel, dieses „how (not) to read a million books“[3] bleibt aber unbestimmt.
In der Informationswissenschaft kenn man das schon länger. Denn die Formulierung relevanter Forschungsfragen und in gewisser Weise die Re-Qualifizierung quantitativer Möglichkeiten ist eine Herausforderung, die Sziento- und Bibliometrie grundlegend umtreibt. Wir können alles Mögliche messen, relationieren und visualisieren. Die Möglichkeit eines Übergangs zwischen einer Leistungsschau der Rechentechnik, dem ästhetischen Vergnügen an sauberen Kurvenverläufen und sinnvollen Aussagen mit konkreten Handlungsimplikationen wird dabei jedoch nicht immer greifbar.

"Snobs who go to Bonn for bonbons know how to shop for good food." - Christian Böks nach-oulipotisches Eunonia (Edinburgh: Cannonball Books, 2001) stellt in gewisser Weise das Gegenmodell zu Mikko Kuorinkis' Ansatz dar. In fünf Kapiteln wird eine Literatur erzeugt, die der strengen Regel erfolgt, in jedem Kapitel jeweils nur einen Vokal zuzulassen, dafür aber möglichst das gesamte Repertoire an integrierbarem Vokabular zu verarbeiten. Laut Nachwort gelang dies zu 98 %. Das Vergnügen - man kann es am zitierten Satz leicht erproben - entsteht beim lauten Vortrag. Damit unterscheidet es sich übrigens grundlegend von Mikko Kuorinkis Ordnungswerk. Vor allem, weil man dort angesichts gebündelter Redundanz beim Lesen viel zu leicht in der Zeile verrutscht.
Wenn nun der finnischen Künstler Mikko Kuorinki die Methode des Frequenzwörterbuchs auf Michel Foucaults Les mots et les choses (allerdings englische Übersetzung, also: The Order of Things) anwendet, darf man sicher keinen übermäßig wissenschaftlichen Hintergrund erwarten. Zudem ist anzunehmen, dass die Übersetzung ohnehin einige Verwischungen im Sprachgebrauch enthält, was auch die Aussagekraft über den Sprachgebrauch Foucaults begrenzt. Dennoch eröffnet sich ein erfrischender Zugang.
Das Werk zur Umordnung des Textes ist selbstverständlich bewusst gewählt. Es in der Form aufzubrechen und nach Worthäufigkeiten neu aufzustellen, es also von formulierten Aussagen zu in der Wortverwendung an sich aufschimmernden impliziten Aussagen eines Subtextes zu öffnen, lässt sich unschwer als Referenz auf die Grund(in)fragestellung von Wissen durch die Idee des Diskurses lesen. Mikko Kuorinki treibt die Vorstellung, wie wir über die Dinge sprechen und wie sie Foucault gerade auch in diesem Werk unter dem Begriff der Archäologie untersuchte auf eine interessante und dekonstruktive Spitze. Und zwar, indem er sich ausschließlich des in der Vorlage benutzten Vokabulars bedient und es nach dem schlichtmöglichsten Ordnungsverfahren (=alphabetisch) arrangiert. „Discourse“ besetzt nun mehr als eine ganze der leider nicht nummerierten Seiten und geht direkt in eine halbe weitere mit „discover“ über. Inwiefern auf Schöpferseite (also bei Mikko Kuorinki) die Freude am Nonsens bei der Arbeit eine Rolle spielte, wird vom Buch her nicht deutlich. Die Werkgeschichte des Künstlers ist aber durchaus von der Auseinandersetzung mit der Verbindung zwischen Mensch und Welt via Sprache geprägt. Damit kann man ihn sicher vom L’art pour l’art-Verdacht freisprechen. Im Buch selbst findet sich keine Erklärung. Die etwas zu gequälten Blurbs auf der Buchbanderole wirken fast ein wenig den Spaß verderbend.
Der Inhalt ist wahrscheinlich tatsächlich wortidentisch mit der Vorlage, semantisch aber maximal aufgespreizt. Denn jedes Wort steht nun für sich und alle abgebildeten Kontexte sind syntaktisch motiviert. Was mitunter tatsächlich in eine eigenartig konkretisierte Poesie des Eigensinns der Sprache führt. Abgesehen davon überrascht die linguistische Visualisierung der Wortverwendungen („information“ kommt nur dreimal vor, „belief“ bzw. „believe“ in verschiedenen Beugungen 49 Mal) mit einiger Aufschlusskraft über den Foucault‘schen Diskurs, also die spezifische Rede- bzw. Schreibweise über seinen Gegenstand.
Möglicherweise ist diese rücksichtslose Form der Diskursbrechung dank eines simplen Ordnungssystems der uns verbliebene Weg einer erkennenden Distanzierung zu den unvermeidlich gebundenen Aussagesystemen der Wissenschaften. Ich glaube nicht, dass Mikko Kuorinkis Arbeit als Plädoyer für die Elaboration entsprechender semiografischer und semiometrischer Methoden angedacht ist. Aber sie lässt sich – wenn man hier von lesen sprechen möchte – vor allem so lesen. Und enthält dabei, die richtige Fragestellung vorausgesetzt, durchaus Erkenntnis stiftendes Potential.
[1] Joachim Dietze: B. Travens Wortschatz : ein Frequenzwörterbuch zu seinen drei Schaffensperioden. München : Saur, 1998
[3] http://people.lis.illinois.edu/~unsworth/hownot2read.html
18.04.2012
Zur Diskursänderung. Eine Position zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft.
von Ben Kaden
„Als kleine Warnung: Wenn’s bei der Diskussion derart theoretisch wird, dass die Diskurse gefährdet sind (weil keiner mehr was versteht), werde ich mir erlauben einzugreifen, d.h. nachzufragen.“
Wer hier warnt, ist Wolfgang Stock, Moderator der Podiumsdiskussion: Zukunft der Informationswissenschaft, die am Freitag auf der 2. DGI-Konferenz Social Media & Science – Das Web als Lebensraum stattfinden wird und zu der ich freundlicherweise eingeladen wurde. Nun ist mir bedauerlicherweise und ganz gegen meinen Wunsch und Willen die Teilnahme an dieser Veranstaltung kurzfristig nicht möglich. Und daher kann Wolfgang Stock auch nicht eingreifen, wenn es Diskurs gefährdend wird. Aber Nachfragen – das wird gehen. Denn nachfolgend stelle ich als vielleicht etwas unzulänglichen Ersatz für meine Stimme im sicher kontroversen Schlagabtausch zwischen Willi Bredemeier, Stefan Gradmann, Christian Schlögl, York Sure-Vetter, Marlies Ockenfeld und Hans-Christoph Hobohm über perspektivische Entwicklungslinien des Fachs einen kleinen Abriss dessen in Textform bereit, was ich am Freitag gern als vermutlich theoretischer Außenposten in die Debatte eingebracht hätte.
Zwei Aspekte sind mir vorab noch wichtig:
1) der Hinweis, dass es sich dabei um eine Überlegung zur Erweiterung der Informationswissenschaft handelt, die hauptsächlich als Idee und/oder Sensibilisierung ins Spiel gebracht werden soll. Dass das Fach weitere Aspekte integrieren muss, bleibt unbestritten.
2) der Hinweis, dass ich mehr oder weniger aus Humboldt-universitärer Tradition nicht nur von der Informationswissenschaft, sondern von der Bibliotheks- und Informationswissenschaft spreche. Die Auseinandersetzung mit dieser terminologischen Feinheit und die Frage, inwieweit die Bezeichnung „Informationswissenschaft“ selbst noch tragfähig genug ist, möchte ich allerdings vertagen.

Folie et (dé)raison d'être. Zum Beispiel der Informationswissenschaft wie ich sie für die Diskussion auf der DGI 2012 zugespitzt sehe. Jeder eingeplante Teilnehmer wurde im Vorfeld gebeten, ein Präsentationsbild einzureichen und das obige ist das meinige. Da man es in Düsseldorf vermutlich nicht zeigen wird, zeige ich es hier.
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