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Notizen zur Bibliothekswissenschaft 4: Das geschärfte Auge.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 14. Juni 2011

Ergänzende Überlegungen zum Wissenschaftsprogramm der Bibliotheks- und Informationswissenschaft.

von Ben Kaden

Abstract:

Das Essay steht im Nachgang zum frei<tag> 2011 (als Präzisierung) und als Vorbereitung eines Vortrags im Berliner Bibliothekswissenschaftlichen Kolloquium am 21.06.2011. Es vertieft einige Thesen zum Selbstverständnis der Bibliotheks- und Informationswissenschaft und reflektiert mehrere wissenschaftstheoretische und wissenschaftskommunikative Grundannahmen mit Rückmeldungen zum Diskurs in diesem Weblog. Im Zentrum steht die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen die Disziplin ihre programmatische Ausrichtung entwickeln kann und soll. Weiterhin wird auf die wissenschaftsethische Notwendigkeit zur permaneten Betrachtung der eigenen Perspektive und daraus entstehender Folgen für die Gesellschaft hingewiesen, da dieser Aspekt der Wahrnehmung des Autors entsprechend aktuell zu wenig beachtet scheint.

Als Anhang gibt es eine weitere Grafik zur Analyse der Kommunikation bei Twitter – diesmal zur Begleitung der Unkonferenz vom vergangenen Freitag. (Abkürzung zum Abschnitt mit der Twitter-Grafik zu #frei-11)

I.

„Ich will lediglich sagen, daß sich ein Künstler, wie ein Naturwissenschaftler, im Verlaufe der Geschichte von Kunst und Wissenschaft beständig forschend umsieht, immer ein wenig mehr versteht als sein Vorgänger, mit geschärfterem und brillanterem Auge ein wenig tiefer in die Dinge eindringt […]“ – Vladimir Nabokov, Die Kunst des Lesens. Frankfurt/Main: 2010, S.412

Von den Schultern der Giganten hielt Nabokov nie viel, ging er doch viel zu sehr in seiner Welterkenntnis vom Individuum und dessen Größe oder auch Winzigkeit aus. Insofern hinterließ er eine sehr spezifische Literaturtheorie und keine für die Wissenschaft an sich. Das Zitat aus seinen Vorlesungen zur Literatur ist deshalb umso bemerkenswerter, wenn uns auch die Aussage selbst trivial erscheint. In jedem Fall ragt die Parallelführung von Wissenschaft und Kunst aus diesen vier Zeilen.

Dass Nabokov diese Sicht besonders auf die Naturwissenschaften begrenzt und den sich schärfenden und veredelnden Blick nicht auch für Geistes- und Sozialwissenschaften herausstreicht, mag einerseits daran liegen, dass er gar nicht so sehr auf Wissenschaft abhebt. Sondern im englischen Original dieses Vorlesungsmanuskripts schlicht „Science“ notiert steht (was ich mangels der englischen Ausgabe auf meinem Schreibtisch gerade nicht verifizieren kann) Andererseits verfügte er als Lepidopterologe zwangsläufig über einen besonders zoologisch und ergo naturwissenschaftlich geschulten Blick. Dies bedeutet mutmaßlich nicht, dass er die sich durch Ausübung und Beschreibung individuell wie kollektiv präzisierende und an Durchdringungskraft gewinnende Anschauung nicht auch für die Humanities akzeptieren würde.

Der Kerngedanke der Aussage wie auch der mit den Schultern der Giganten ist, dass es in allem kulturellen Schaffen einen Punkt, ein Werk, eine geäußerte Idee gibt, hinter den/das/die man nicht mehr zurückgehen kann, etwas also, dass einen neuen und festen Vergleichswert markiert, an dem sich alles danach kommende messen muss. Es sind dies die Sternstunden und Meilensteine der Kulturgeschichte und zugleich, wie jede Erkenntnis, auch kleine Vertreibungen aus einem Paradies (der Nichterkenntnis), immer von der fortschrittlichen Hoffnung getragen, dass man sich nur weit genug vertreiben lassen muss, um in einem anderen Paradies wieder zu sich zu finden.

Der Künstler teilt sich mit dem Forscher diese Arbeit hin zu einer geschärftere und brillanterer Wahrnehmung. Er nimmt dafür aber einen anderen Weg. Literatur und Wissenschaft waren lang miteinander verbunden und jedes überlieferte Prosawerk ist ein grandioser Zeitschnitt durch den jeweiligen Stand des Erkenn- und Beschreibbaren. Heute laufen sie allerdings weitgehend getrennt und wo Akteure wie Derrida oder Barthes die Grenzen verwischen und mehr das Spiel der Erkenntnis als die Erkenntnis fokussieren, legen sie die strengen Zeitgenossen ihrer Zunft schon mal in die Kiste des unergiebigen Schmarrns. Prosa ist keine akzeptierte Gattung der wissenschaftlichen Literatur.

Aber möglicherweise eine synonyme Wahrnehmung. Überraschend lässt Nabokov den trennenden Aspekt, der freilich erst im Schritt nach dem Sehen manifest wird, an dieser Stelle unter seinen Schreibtisch fallen. Erst zwei Seiten später, nachdem die präzise Beschreibung eines Geburtsvorgangs in Tolstois Anna Karenina in die Auseinandersetzung mit der Darstellung der “Geburt des Glaubens in [der Figur] Lewin“ übergeht, benennt Nabokov als Hinweis an sein Auditorium den Unterschied:

„Wir sollten stets im Auge [auch hier: das sehende Erkennen] behalten, daß Literatur keine Struktur von Gedanken ist, sondern eine aus Bildern.“ (S.414)

In der Umkehrung könnte man formulieren: Wir sollten stets im Auge behalten, dass Wissenschaft keine Struktur aus Bildern ist, sondern eine von Gedanken. Besser noch: Ein Struktur von nach den wissenschaftlichen Maßgaben Eindeutigkeit und Nachvollziehbarkeit und unter strenger Beachtung bestimmter fachgemeinschaftlicher Darstellungskonventionen textuell gebundenen Erkenntnisse.

II.

Wer regelmäßig das LIBREAS.Weblog liest, wird nach dieser Definition nicht unbedingt davon ausgehen, dass hier nur wissenschaftlich kommuniziert wird. Eher im Gegenteil. Leider erreicht gerade negatives Feedback nur auf Umwegen. So erfährt man im Pausengespräch zu einer Unkonferenz, dass das verstiegene Vorgeschreibe der Ankündigungstexte tatsächlich jemanden vom geplanten Besuch abhielt. Und um eine andere Ecke schwingt sich die Botschaft, dass LIBREAS bei manchen Vertretern der deutschen Bibliothekswelt als mehr dandyhafte Extravaganz aus Berlin denn als seriöse Zuarbeit für die Bibliothekspraxis wahrgenommen wird.

Oder man hat das Glück einer Chatkonferenz beizuwohnen, in der sich zu einem eigenen Aufsatz die Bemerkung findet:

„Daraufhin habe ich mir seinen Artikel dazu durchgelesen. Und da habe ich -wieder mal- gemerkt, warum ich mit dem Wissenschaftsbegriff manchmal hadere:

Das war für mich das Gegenteil von „knallhart“. Stattdessen in den Begriffen viele Konzepte, die nirgends definiert wurden, viele Implikationen enthalten und zu zweifelhaften Schlüssen herangezogen wurden. Seit Kant aus meiner Sicht eigentlich undenkbar so zu schreiben.“

Hier findet sich exemplarisch der Meilenstein definiert, hinter den das wissenschaftliche Schreiben nicht mehr zurückgehen kann, der also die Ausdrucksform wenigstens an einer Flanke diszipliniert: Kant. Wie groß ist also der Spielraum, den uns die Wissenschaftstradition heute lässt, um unsere Erkenntnis in Text zu fassen?

III.

Im Institut schließlich stand ich vor einigen Wochen mit einer Studentin der Bibliotheks- und Informationswissenschaft kurz zusammen, deren Blick geschärft und brillant wie bei wenigen ist, die mir auf meinen wissenschaftlichen Wegen bisher begegneten und die in beeindruckender Form befähigt zu sein scheint, mir eine noch so überlegte Theorie meines Weltverständnisses mit der Leichtigkeit durch zwei oder drei kritische Rückfragen so zu zerpflücken, dass meine Konzept aussieht, wie ein gerupftes Gänseblümchen in einer Kinderhand.

In diesem knappen Gespräch, das wieder einmal zureichte, den intellektuellen Morgenstern präzise in meine Parade zu jagen, fragte ich, warum sie, die sich ebenso mit großem Talent den von mir nun so hochgehaltenen Alteritätstheorien, Diversitätsansätze und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hatte, aktuell einen deutlichen Schwenk in Richtung der am Institut sehr dominant und bei vielen auch sehr beliebt und willkommen scheinenden Informatisierung der Curricula vollzieht. Mich fasziniert diese Begeisterung für die Programmierung, von der ich mich persönlich seit den mittleren 1990er Jahren etwas entfremdete und die ich seitdem auch nur bedingt wieder aufzuwärmen verstand. Ihre Antwort erfüllte alle Kriterien, die man an die Wissenschaftskommunikation stellt: Sie war kurz, eindeutig und nachvollziehbar. Sie sagte: „Es ist etwas Handfestes.“

IV.

Wenn man etwas ständig wahrnimmt, es aber schwer nachvollziehen kann, hilft es also, es direkt zum Thema zu machen. Die Kunst lebt davon, die Wissenschaft zum Teil auch. Einen weiteren Grundunterschied zwischen Kunst und Wissenschaft, auf den Nabokov in seiner Tolstoi-Rundschau verzichtet, den er aber auslebte wie kaum einer vor und nach ihm, markiert neben der Darstellung des Blickes oft (nicht immer), die Grundausrichtung subjektiv (Kunst) vs. objektiv (Wissenschaft).

Wo der Urheber einer Wahrnehmung in der Kunst in den meisten Fällen den Schlüssel zum Werk markiert, man also nach dem Idiosynkratischen fragt, reduziert die Idealvorstellung der Wissenschaft die Besonderheiten des Autors auf ein Minimum. Daher bevorzugt man auch dort, wo ein „ich denke“ angemessen wäre, lieber Formulierungen wie „wie man sieht“ oder „wie wir sehen“. Zumeist bleibt der Autor aber das dominante Drehmoment hinter der Wissenschaft und jede Fachgemeinschaft hat ohne Zweifel ihre Stars und Parias. In der idealen Wissenschaftswelt des Double-Blind-Peer-Review ist es der Erkenntnisfortschritt, der den Unterschied macht. Alles andere ist ein Bonusprogramm für Vieldenker.

Solange Wissenschaft das Ergebnis der Interaktion einzelner (kommunikativ) handelnder Akteure bleibt, ist zwangsläufig ein „ich“ notwendig mit denkbar. Eine Frage, die mich umtreibt, lautet daher, wie relevant dieses Mitdenken der „ichs“ mit ihren diversen Motivations- und Interessenlagen ist? Und als eine weitere entsteht daraus die, ob die Frage selbst überhaupt legitim und insbesondere dann, wenn man sich über die Machbarkeit der Antwort nur bedingt im Klaren ist? Zielt Wissenschaft also auf das Machbare, das Denkbare, das Wünschbare oder das Fragbare?

V.

Hinsichtlich des Gesprächs mit der Studentin des Instituts stellt sich der Zusammenhang dahingehend her, dass sie eine Sehnsucht nach etwas (Hand)Festem ausdrückt, wo mein Erkenntnisinteresse in gewisser Weise dem Fest gilt. Damit meine ich den Vollzug eines wenig vorbestimmten Entfaltens im Spiel (im Sinne der Kontingenz), dass das Denken zulässt. Also das Losgelassene.

Zweifellos benötigen wir die Disziplinierung über das Machbare als Gegengewicht. Najko Jahn betont in einer Entgegnung auf eine meiner Aussagen zur Visualisierung völlig zutreffend:

„Visualisierungen, und inbesondere Netzwerke, positionieren sich selten und sind häufig nur der Beginn für die weitere wissenschaftliche Untersuchung. Aber ohne Datengewinnung und die anschließende Exploration von Beziehungsgefügen wären Nachvollziehbarkeit, Anschlussfragen und Kritik nicht möglich. Und sind Informationsvisualisierung und die Bereitstellung von Korpora im Bereich der wissenschaftlichen Kommunikation nicht originäre Felder der Bibliotheks- und Informationswissenschaft?“ – ( https://libreas.wordpress.com/2011/06/13/bibtag11-%E2%80%93-daten-und-visualisierungen-zur-twitterkommunikation-ii/ )

Wir müssen erst erkennen und diese Erkenntnis homogenisieren, wenn wir sie wissenschaftlich bearbeiten wollen. Die Lebenswirklichkeit des einzelnen Beobachters muss zu einem kollektiven Wahrnehmungskonsens der Gemeinschaft der Beobachter umgeformt werden.

Abstrakte Graphen und andere Formen veranschaulichender Datenaufbereitung verkörpern eine solche Umformung. Selbstverständlich sind diese Mustererzeugung und Korporierung von Messungen genuine Felder für unsere Disziplin und mich wundert schon lange, wieso die Erkenntnisse aus der Sozialen Netzwerkanalyse genauso wie aus der Informationsvisualisierung sich nach wie vor neben der klassischen Bibliometrie in den Methodendiskussionen unseres Faches so wenig wiederspiegeln.

Diese mitunter entscheidenden Formen dienen als Anker, der verhindert, dass wir allzu weit in der Theory forttreiben. Bisweilen wirkt sie aber auch als Fessel. Genau da müssen wir m.E. ansetzen und fragen, was wir nicht damit erkennen können, was aber mutmaßlich vorhanden ist. Neben dem Bereitgestellten selbst sollten wir, so meine ich, grundlegend die Formen der Bereitstellung reflektieren. Dazu zählt natürlich auch die Frage, ob man nach Kant so schreiben kann, wie ich es tue?

VI.

Zusätzlich möchte ich fragen – und zwar mit keiner anderer Legitimation als einigen Brocken Kenntnis der Kulturgeschichte und aller Verwerfungen, Grausamkeiten, Beschädigungen, die im Namen von wertender aber auch wertfreier Disziplinierung, Konventierung und Normierung bestimmten Individuen und Kollektiven angediehen wurden – ob die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Disziplin, die sich mit der machbaren Organisation von explizierten Kommunikationen befasst, nicht auch die anderen Aspekte (das Denkbare, das Wünschbare, das Fragbare) als Gegengewicht benötigt?

Und inwieweit sich die Fragestellungen, die wir mit der grandiosen Möglichkeit der Massenprozessierung von zu Daten gewordenen Kommunikationen zu Generierung von Page– und Edgeranks, von Netzwerkgraphen und Zugriffsmustern, nun adressieren können, erst aus diesem größeren Zusammenhang gewinnen können. Das ist denn auch meine Interpretation der Aussage Rafael Capurros:

„Ich plädiere deshalb dafür, eine künftige Informationswissenschaft in der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften anzusiedeln, wobei dies nicht heißen soll, dass viele Phänomene nicht mit den ‚harten’ Methoden der Naturwissenschaften sowie auch mit Hilfe der Informatik behandelt werden könnten und sollten. Man könnte sich für diese Neubestimmung an die „médiologie“ von Régis Debray orientieren, die den Schwerpunkt auf die Materialität der Träger – das nannte man früher „Dokumentation“ – sowie auf die Vermittlungsinstitutionen legt. Ich meine aber auch, dass die Medienwissenschaft und das, was ich „Angeletik“ nenne, also eine empirische Wissenschaft, die sich mit dem Phänomen von Boten und Botschaften auseinandersetzt, zum Kern dieser neuen Informationswissenschaft gehört.“  (http://www.capurro.de/treude.html )

VII.

Eine praktisch-pragmatische Position, die auch Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu finden ist, würde nun – wahrscheinlich berechtigt – möglicherweise entgegnen, dass das unseren Rahmen sprengt. Wir müssen die Zielgruppe, beispielsweise die Bibliotheksnutzer, erforschen, herausfinden, was sie sich wünschen und dann daraufhin die Systeme optimieren. Ich denke jedoch, dass selbst die Feedback-Abfrage, -messung und –visualisierung nur dann sinnvoll sein kann, wenn sie im Rahmen eines übergeordneten Erkenntnisprogramms stattfindet, das sich zugleich permanent selbst wissenschaftsethisch reflektiert. Und sei es nur hinsichtlich der Entstehung der Indikatoren zur Bewertung. Dass die Masse der Vordenker es so oder so und mit diesen und jenen Kategorien gemacht hat, wie sie es gemacht haben, ist für mich vielleicht Inspiration, aber noch keine ausreichende Begründung. Die Weisheit der Massen bestätigt – wie jedes Geschichtsbuch lehrt –in der Regel den Mainstream, aber nicht die entscheidenden Verschiebungen, die den Umschlag einer Qualität vorbereiten.

Das dahinter stehende wissenschaftsethische Gebot, wie ich es meine, lautet folglich:

Das Hauptanliegen einer Wissenschaftsdisziplin des 21. Jahrhunderts muss neben der Gewinnung von Erkenntnis zum spezifischen Gegenstand die dauerhafte Arbeit daran sein, jede Totalitarisierung ihrer Verfahren und Aussagen zu unterlaufen.

Das verbindliche „muss“ ist dabei bewusst gewählt und trägt meiner Ansicht nach der Funktion der Wissenschaft als Erkenntnis- und Reflexionsort, den sich die Gesellschaft neben Literatur, Bildender Kunst, Musik, etc. erhält, Rechnung.

Zugegeben: Diese Eigensubversion der Selbstsicherheit widerspricht genuin dem Streben der Wissenschaft nach Eindeutigkeit und Reproduzierbarkeit. Dahinter steht jedoch die metawissenschaftliche (bzw. wissenschaftsethische) Überzeugung, dass Wissenschaft zwar mit diversen Instrumenten arbeiten soll, selbst jedoch niemals instrumentalisierbar sein sollte. Wie schwer dieser mitunter in tiefe Selbstwidersprüche führende Beharrungsimperativ praktisch umzusetzen ist und wie unerreichbar dieses Ziel bleibt, weiß vermutlich jeder. Man handelt derart selbst-dekonstruktiv selten aus Genuss, eventuell aber aus Einsicht.

VIII.

Ich verstehe Wissenschaft als Kulturdispositiv, also als einen Denk- und Handlungsrahmen, der anderen Denk- und Handlungsrahmen vorsteht. Es ist unschwer zu sehen, wie normativ der Begriff „Wissenschaft“ bzw. „wissenschaftlich“ besetzt ist und in der Gesellschaft als Synonym für das unbestimmtere „Wahrheit“ verwendet wird. Auch die Fetischisierung der Wissenschaft über die gesellschaftsystematische Programmatik der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ (WTR) in der DDR überstand die Wissenschaft als Dispositiv schadlos.

Mehr noch: Sie galt seit je der Ideologie eher unverdächtig, wertneutral und darüber hinaus als Innovationstriebkraft für die Wirtschaft, die einem gesellschaftlichen Wohlstand immer vorausgeht. Etwas als „unwissenschaftlich“ Bezeichnetes wird nicht nur aus dem Wissenschaftsdiskurs gedrängt (wo dieser Schritt sogar nachvollziehbar wäre), sondern gilt meist allgemein als diskreditiert.

Innovierende Wissenschaft – die in der Regel unter Wissenschaft allgemein verstanden wird– operiert also grundsätzlich auf der Ebene und mit dem Ziel des Machbaren. Die reflektierenden Geisteswissenschaften werden dagegen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung (in der der Wirtschaft umso mehr) zuweilen als zweckfreie Anomalien des Wissenschaftsbetriebs betrachtet. Anders als die Kunst sind sie nicht einmal ein Gegenstück der Sinnkonstruktion, sondern meistens, da sie sich oft an den Rändern des Sinns bewegen, erheblich verunsichernde Angelegenheiten.

Wer beobachtet, wie hilflos gerade in Großbritannien aber mitunter auch hierzulande Vertreter dieses Fächerspektrums bemüht sind, ihre Relevanz vor dem Kriterienspektrum der Erfolgsmessung zu rechtfertigen, sieht, dass sie eigentlich im falschen Boot zu rudern versuchen. Das „Public Understanding of Science“ wird kaum je mit einer ernst zunehmenden Literaturwissenschaft kombinierbar sein. Lies Bücher und schreib darüber – diese zugespitzt-essayistische Deutung solcher Disziplinen, zeigt, dass die Erkenntnispraxis der Theory, also der auf das verstehende Nachvollziehen gerichteten Ansätze weniger an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Wissenschaft zu verorten ist, sondern mehr eine Verkehrsinsel am Kreisel von Einmündungen von Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft darstellt. Das Machbare ist hier dem Denkbaren, Fragbaren und Wünschbaren eindeutig nachgeordnet.

Generell müssen wir also als Wissenschaftszwischenkultur (vgl. Capurros interdisziplinäre Umfangsbestimmung), als zugleich Kreisel und Kreuzung, fragen, in welchem Verhältnis wir die genannten vier Gesichtspunkte ausbalancieren wollen und können?

IX.

Wissenschaften wie die Bibliothekswissenschaft, die das Ordnen und die Ordnung als Ideal so so verfolgt, wie die Naturwissenschaften die Gesetzmäßigkeiten, die also auf Kultur gestaltende Gesetze ausgerichtet ist, sind vermutlich besonders anfällig für das Programmierbare. Also aktuell besonders für das Informatische. Digitalisierte Bestände sind prinzipiell eindeutig in diverser Form prozessierbar.

Das ist nicht negativ gemeint. Wo man ans Ordnen geht – und ohne Ordnung geht es nicht – wird das Programm dafür notwendig. Die Digitalisierung erweitert das Spektrum der Operationsmöglichkeiten der Bibliotheks- und Informationseinrichtungen vermutlich im Potenzbereich. Ein Programm ist aber immer eine Festlegung von dispositiven Verläufen, die dort, wo es eindeutig sein muss, wenig bis keine Alternativen zulässt. Die Flexibilität, die die Grundlage für die Angemessenheit des Programms an die dynamische Entwicklung der Umwelt, in der es operiert, darstellt,  muss demnach auf einer übergeordneten Ebene abgesichert werden. Wenn wir den Code, das Programm als Laborform (d.h. weitgehend umweltunabhängig) begreifen, sollten wir überlegen, in welchem Überbau der Code seine Wirkung entfaltet und mit welchen Folgen? Wo muss er eindeutig sein und was geht dabei verloren?

X.

Die Aufgabe von Bibliotheks- und Informationseinrichtungen war seit je die Datenverarbeitung mit dem Ziel der Sammlung, Erschließung und Verfügbarmachung für einen mehr oder minder bestimmten Zweck, der je nach Ausrichtung der Einrichtung deutlich variieren konnte. Mit der Eroberung der Informations- und Kommunikationswelt durch das kommerzielle Internet – verkürzt mit den Zuständigkeiten Fakten: Google, Soziale Beziehungen: Facebook – wird es für Bibliotheks- und Informationseinrichtungen notwendig, sich als zu diesen Anbietern wenigstens ergänzend zu profilieren.

Eine Möglichkeit ist die sich spezialisierende Ausrichtung auf Aspekte z.B. der Wissenschaftskommunikation, wie es im Zuge der Repositorien und der Open Access-Bewegung geschieht. Bei allen hehren Ansprüchen an den freien Zugang dürfte deutlich sein, dass die Sicherung und Etablierung der eigenen Notwendigkeit hinter dieser Ausrichtung steht. Übrigens zu Recht, denn eine staatliche gestützte Wissenschaft hat prinzipiell andere Freiräume und ist institutionell stabilisierter, als eine die völlig dem Wettbewerbsspiel des Marktes überlassen ist.

Dessen wettbewerbliche Grundausrichtung auf das was funktioniert (das Verkaufbare) öffnet übrigens eine weitere Zugangsschwelle für tatsächlich oder vermeintlich Unwissenschaftliches in den Wissenschaftsbetrieb. Denn wo rein erfolgsorientiert gedacht wird, wird schnell der Rigor an den Rand gedrängt, sobald sich das freudige Wortspiel besser rechnet. Der Erfolg, so eine Nebenthese, von Schriftsteller-Wissenschaftlern wie Derrida liegt nicht unbedingt nur darin, dass sie alternativ überzeugende Denkwege vorzeigen konnten. Sondern auch darin, dass sie für ihre Zielgruppe einen erheblichen ästhetischen Reiz transportierten, der spröderen Autoren abging.

Kann bzw. sollte also, dies als nächste Frage, die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sich damit auseinandersetzen, wie die oft funktional sehr sinnvolle wissenschaftliche Strenge stabilisierbar wird? Die Folge wäre natürlich, den oft anzutreffenden Kurs einer technikbegeisterten Affirmation von (kommerziellen) Innovationen bei der Datenprozessierung und Kommunikationsoptimierung zugunsten einer analytisch-kritischen Perspektive auf diese Prozesse zu verschieben.

XI.

Für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft steht die Herausforderung, diesen Profilierungsprozess ihrer Bezugsakteure in irgendeiner Form zu begleiten. Sie kann gestaltend, lenkend, prägend wirken. Oder kritisierend, dekonstruierend, historisierend. Im Idealfall bewegt sie sich auf beiden Ebenen und spielt sich immer jeweils die Schmetterbälle in die eine oder andere Hälfte, um den jeweiligen Akteuren aufzuzeigen, wo ihre Grenzen sind. Diese Selbstregulierung über einen innerdisziplinären Argumentationsaustausch scheint mir am angemessensten zu sein, wenn man das oben angeführte wissenschaftsethische Ideal absichern will, ohne selbst ungerecht zu werden. Man nennt es auch Diskurs. Meine Kritik an der aktuellen Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Deutschland, so wie ich sie wahrnehme, lautet zusammengefasst, dass sie diese Pluralität möglicher Perspektiven zu wenig bewusst reflektiert, zu sehr im Tagesgeschäft agiert und es daher eventuell zu leichten Übergewichten bei den Perspektiven auf den Gegenstand, also den Winkeln für die an Schärfe und Brillanz gewinnenden Blicke der Fachcommunity, kommt. Da Fragen den Dialog leicht machen, frage ich also abschließend, ob meine Wahrnehmung möglicherweise trügt? Und falls ja, wo? Und falls nein, was ein nächster Schritt im Diskurs dazu sein könnte?

XII.

„@jurabilis Ne, nur noch so ein Bonustrack namens #frei11“ – Twittagspause

Eigentlicher Anlass dieses Textes war die Visualisierung der Twitter-Kommunikation zum Hashtag #frei11 und alles andere entstand aus der Überlegung, was man mit der Grafik eigentlich anstellt.

freitag11gesamt (.xls)

Bis Samstag sendeten 27 Akteure haben 147 Tweets, was einem Wert von fünfeinhalb pro Twitterer entspricht. Beim Hashtag #bibtag11 erhalten wir einen Schnitt von fast 13 Tweets/Akteur. Allerdings lief die Konferenz auch weitaus länger, so dass der Aktivitätswert gar nicht so schlecht ist. Wir haben keine genauen Angaben zur Teilnehmerzahl erhoben. Es ist aber davon auszugehen, dass vorsichtig geschätzt mindestens jede/r dritte Teilnehmer/in der Unkonferenz eine Nachricht zur Veranstaltung twitterte.

Spannend erscheint der Blick auf die Kookkurenzen bestimmten Hashtags, die eine konzeptionelle Relationierung darstellen. Exemplarisch und mit freier Hand lassen sich die Auszeichnungen der beiden Veranstaltungen #bibtag11 und #frei11 mit 32 Erwähnungen in einer Nachricht auszählen. Rund viereinhalb Prozent der #bibtag11-Tweets bzw. 22 Prozent der #frei11-Nachrichten verknüpften also beide Veranstaltungen. Die Inhaltsanalyse zeigt, dass dies nicht zwingend bedeutet, dass die jeweilgen twitternden Akteure auch vor Ort waren. Es zeigt aber eindeutig eine bestimmte Art von Wahrnehmung: Beide Veranstaltung wurden als naheliegend angesehen. Für den Bibliothekartag können wir natürlich nicht sprechen. Das frei<tag>-Team hat jedenfalls diesen Aspekt natürlich von Anfang an betont und ist über die Nähe nicht unglücklich.

Von den 32 Tweets sind fünf als Retweets (mehr als 15 Prozent) identifizierbar. Inhaltlich sind diese Dubletten, jedoch erhalten sie eine zusätzlich Relevanzaufwertung, denn neben dem Tweet-Autor empfand eine zweite Person den Inhalt berichtenswert. Es findet also eine Art pragmatische Aufladung statt, die in diesem Fall durchgängig bestätigend gemeint sein dürft.

Das Parallelauftreten der Tags fand sich in Tweets von 16 Akteuren. Im Schnitt kommen also zwei Tweets auf einen Akteur. Ein Akteur twitterte vier Nachrichten mit der genannten Hash-Tag-Kombination, vier Akteure je drei Nachrichten. Die Inhalte schwanken zwischen Vorankündigungen, geäußerter Vorfreude auf die Teilnahme und bedauernden Absagen, einem Zitat aus der Eröffnungsansprache, Themenfindung für Sessions und schließlich #hangover-Tweets von der Abschlussveranstaltung. Erwartungsgemäß korrelieren diese Inhalte mit dem zeitlichen Veranstaltungsverlauf. Dies soll vielleicht als ad hoc-Auseinandersetzung mit dem Material zureichen.

Die Grafik selbst sagt freilich viel mehr als das, enthüllt allerdings auch als Bestätigung, dass die Kombination #frei11-#bibtag11 eine sehr dominante darstellt. Wer möchte, darf den entsprechenden Datensatz natürlich frei und nach seinem Erkenntnisinteresse verarbeiten: freitag11gesamt (.xls)

Webarchäologen, die in 50 Jahren diesen Datensatz ausgraben, werden entsprechend stutzig einen Kalendervergleich vornehmen müssen, um festzustellen, wieso eigentlich. Ob sie darauf kommen, was das Hashtag #deponie in diesem Kontext bedeutet und inwiefern ein semantisches Datennetz sie darüber aufklärt, dass dieses Lokal im S-Bahnbogen für eine bestimmte Generation von Studenten der Bibliothekswissenschaft ein beliebter Anlaufpunkt war (ich meine nicht die heutige) wird die Zeit zeigen. Vielleicht schafft es ja einer der Zeitzeugen zum #frei61. Und wird erstaunten ZuhörerInnen berichten, wie dereinst über die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nachgedacht wurde.

Mannheim, 14.06.2011

(Grafik und Datenerhebung: Najko Jahn)

Eine Antwort

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  1. Ben Kaden said, on 14. Juni 2011 at 20:31

    Noch eine Ergänzung zu Punkt X. (Notwendigkeit zur Profilierung). In einem Blog-Beitrag auf der Plattform The Scholarly Kitchen vom 03.Juni 2011 referiert Kent Anderson Positionen John Palfreys von der Harvard University Law School und Mitglied des Harvard Library Board zur Zukunft der Bibliotheken. Ich frage mich schon eine Weile, wie diese Generation der wie Palfrey in den frühen und mittleren 1970 Jahren Geboren zu bezeichnen ist, die nicht zu den Digital Natives zählen, aber bewundernd Filme wie Tron (Steven Lisberger Version / 1982) sahen und das Aufkommen der Digitaltechnologie bewusst erlebten, jedoch auch die Unterschiede zur analogen Kommunikation noch aufgrund eigener Erfahrung deutlich benennen können.

    Die Ausführungen Palfreys zeugen von einer entsprechenden Klarheit – er kennt die Simultanität der Kommunikation der heutigen Studierenden (Messaging+en face-Kommunikation zugleich) genauso wie die berühmte B-Triade, die in den USA noch als Hoffnungsträger des gedruckten Buches zu dienen scheint: „the bed, the bath, and the beach“.

    Bezüglich der Alternativen zu Bibliotheken stellt Palfrey unter anderem fest: „Google Scholar is now the de facto starting point for graduate students.“

    Interessanter scheint mir jedoch was Kent Anderson daraus schlussfolgert:

    „Ultimately, it struck me that these questions and worries are things students, parents, and faculty are answering themselves without librarians. Serendipity? Twitter and Facebook. Discovery? Google Scholar, Google, and Wikipedia. Access? So many answers, including paying for it. Guides to quality content? Reference linking, search engines, and a few well-placed librarians whose efforts are amplified by technology companies.“

    Auch die Wissenschaftskommunikation wird, sofern sich mit diesen Prozessen Geld verdienen lässt, über kommerzielle Akteure adressiert. Den Aspekt Rigor erwähnt Anderson aber nicht. Da die geschilderte Diskussion allerdings mehr oder weniger naheliegend auch die Situation in Deutschland berührt, sollte die hiesige Bibliotheks- und Informationswissenschaft meiner Ansicht nach durchaus mit Nachdruck Szenarien entwickeln, wie sich Bibliotheks- und Informationseinrichtungen angesichts dieses auch bezüglich der Entwicklungsressourcen entwickelnden Ungleichgewichts ausrichten können. Anderson sieht die Zukunft der Bibliotheken bereits mehr oder weniger entschieden („far too late in the game“). Ich teile diese Auffassung nicht, erkenne aber die Notwendigkeit, gerade aus diesem Druck heraus, aktiv die Lücken zu suchen, die die anderen lassen.

    Alles Weitere: John Palfrey: Thoughts About the Future of Libraries and Learning.


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