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It’s the frei<tag> Countdown. Noch 26 Tage.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS Veranstaltungen, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 15. Mai 2011

Die Lage des Lichts, die gerade in der frühen Abendstunde die Berliner Georgenstraße prägt, ist geeignet, jeden Stimmungsfotografen in einer Andachtsstellung zu beugen: Die versinkende Sonne spiegelt das berühmte Goldkreuz in die Diskokugel des Fernsehturms, hinter dem sich der Nordosthimmel in einem Farbton gleich dem Ziffernblatt der Einheits-NOMOS Typ Pasewalk ausstreckt und aus einem leichten milderen grauen Band über der Friedrichstraße schütten ein paar schnelle Eimer einen eher kalten Frühlingsregen auf die wenigen Passanten, so dass der Fahrer des Volvo-Cabrios ganz nachvollziehbar und in Ermangelung hupender Hinterleute noch eine Ampelphase länger unter der Stadtbahnbrücke verweilt und sein Verdeck schließt.

Es ist Sonntagabend in Berlin. Der Mann mit der Strumpfhose vom Bebelplatz ahnte es bereits lautstark voraus: „Da staunt ihr, wa?! Wir haben April im Mai!“ Allerdings staunen wir nicht, sondern kennen die Prognose des deutschen Wetterdienstes und wissen, welcher Ort von örtlichen Schauern getroffen wird: das Institut.

Was ein kurzer Besuch werden sollte, entwickelte sich zum längeren Aufenthalt, da das widerspenstige Schloss der Hauptpforte für eine Umkehrung eines bekannten Hildegard Knefs Chansons also dafür sorgte, dass der Humboldt-Schlüsseldienstleister am Sonntag mal Montag hatte. Das unverhoffte gekommene Warten auf den fröhlichen Herrn aus Königs Wusterhausen  erwies sich als gleichfalls unverhofft glückliches Ereignis. Denn es eröffnete die Gelegenheit, mit zwei ebenfalls diensteifrig am Sonntag im Haus aktiven studentischen Mitarbeiterinnen des Instituts ein so intensives Gespräch über die gesellschaftliche Dimension der Bibliotheken zu führen, dass wir auch nichts dagegen gehabt hätten, wenn der Türschlosser zur Befreiung des steckengebliebenen Hausschlüssels aus Stendal hätte anreisen müssen.

Das Leitmotiv des schon beinahe unkonferenziellen Fachplauschs am Nachmittag führte in mehrfacher Rotation um den Kern der Aufgabe der Bibliothek als Beispiel einer öffentlichen Einrichtung zur Schaffung von frei zugänglichen Partizipationsräumen in einer – Vorsicht, wissenschaftssprachliche Stelzen voraus – nahezu durchweg über Symbole und Symbolhandhabungsoptionen (=Kommunikation und Deutungshoheiten) strukturierten und damit de facto semio-kapitalistischen Gesellschaft.

Oder anders gefasst: In einer vorwiegend über den Austausch von Zeichen und damit dem Zugang zu Zeichenprozessen (vor allem Medien, aber auch Politik, Konsum u.ä.) geformten Gesellschaft entscheidet die Möglichkeit, an diesen Prozessen sowohl empfangend wie auch sendend teilzunehmen überhaupt erst darüber, ob man sich in dieser Welt sinnvoll orientieren und den eigenen Interessen gemäß einbringen kann.

Analog zur Grundidee des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks zur Absicherung der Informationsfreiheit, die eben nicht dem blanken Spiel des Marktes überlassen werden darf, könnten Bibliotheken und gerade auch digitale Bibliotheksräume einen Raum für den öffentlichen Diskurs  – und damit auch für die Absicherung der Meinungsfreiheit –  schaffen.  Dies ist besonders für Stimmen entscheidend, die es in kommerziell dominierten Medienräumen schwer haben, jemandes Gehör zu finden. Die Idee einer expliziten Anbindung der Rolle von Bibliotheken an Artikel 5 des Grundgesetzes mag nicht sonderlich neu sein. Sie erweist sich aber immer wieder einer auffrischenden Erinnerung wert.

Die den Weg unseres Gesprächs weisende Dichotomie lag konkret im Gegensatzpaar freies Web vs. kommerzialisiertes Web und der Frage, ob und wie ein virtueller öffentlicher Raum möglich oder nötig ist. Es ist immerhin nichts weniger als aufsehenerregend in welcher Weise sich Plattformen wie Facebook und Twitter zu Multiplikatoren gesellschaftlicher Diskurse entwickeln und – für BibliothekswissenschaftlerInnen umso mehr – wie die Diskurse wiederum von Google oder Bing mit anderen zusammengeführt, indexiert und für ein Retrieval erschlossen werden.

Im Normalfall gleitet man sehr angenehm durch dieses Infoversum, da sich die individuellen Teilhabekosten meist im Bereich des Nichtwahrnehmbaren bewegen. Dennoch entsteht sich in bewussteren Augenblicken ein leicht mulmiges Gefühl, wenn man realisiert, wie sehr sowohl die öffentlichen Diskurse wie auch unsere sozialen Beziehungen in die Hoheit weniger, kaum kontrollierbarer  kommerzieller Akteure mit z.T. schwer durchschaubaren Hintergrundinteressen expliziert und ausgelagert werden.

Wohin diese Expansion von nicht-öffentlichen Akteuren in die Lebenswelt führt, lässt sich – sofern die Parallele zulässig ist – während eines Spaziergangs in der Nachbarschaft des Berliner Gendarmenmarktes erfahren. Beinahe nirgends befindet man sich derart in der steinernen Stadt wie in dem Areal vom Auswärtigen Amt bis zum Hausvogteiplatz.

Die Straßenräume sind aufgeräumt, fast ausgeräumt und selbst wo sich öffentliche Fußwege schlängeln, dringt Exklusivität und Exklusion aus jeder Nische. Wo noch in der frühen Frühe dieses Jahrtausends eine halbverwilderte Grünanlage an  Nieder- und Oberwallstraße oft auch Randgruppentreffpunkt war, ist das Viertel nun anders, viel sorgfältiger stratifiziert und schöne Townhouses versprechen ein selbst höchsten Ansprüchen gerecht werdendes Wohnen in der stylishen Mitte der Hauptstadt.

Dazwischen sieht man einen kleinen Jungen, der an einer vereinsamten Tischtennisplatte auf einem Spielstreifen mit leider nicht konsequent umgesetzter Op Artig-blauweißroter Bodenmusterung seinen Tischtennisball hüpfen lässt. Irgendwo weiter hinten schwingen sich zwei Mädchen an einer Fahrradabstellkonstruktion gelangweilt in eine perfektionierte Affenschaukelposition. Auch wenn es im Einzelfall nicht zutreffen mag, so ist kaum vorstellbar, dass ein Kind in dieser Nachbarschaft abseits von Frühförderung und PeKiP-Ausbildung groß werden kann. Behütet und begütert werden hier, so der Eindruck, zu einem Fleisch – das allerdings dieser wissensschwanger tätowierten Penetranz der Kollwitzplatz-Spielplätze enthoben bleibt. Wer hier seine Kinder großzieht, steht vermutlich noch über den überbewussten Erziehungsintellektuellen des Prenzlauer Bergs.

Die gesamte Nachbarschaft wirkt spiegelblank. Die zum Teil eindrucksvoll ausgewogene Architektur scheint Teil des typischen symbolischen Kerns einer Stadterneuerung zu sein, welche auf vor allem auf gehobene Schönheit setzt, die ihren Preis hat und zunächst einmal denen dienen soll, die diesen zu bezahlen in der Lage sind. Wer in dieser Semi(o)-Privatsphäre flaniert, ist, so der Eindruck, eher geduldeter Passant denn willkommener Besucher. Das Café am Eck verkauft Biomilch-Eiscreme mit Dijon-Senf-Aroma oder in der Sorte Obstgarten zu einem sogar ziemlich niedrigen Preis. Wenn man aber nicht Strandkorb vor dem Lokal bleiben möchte, bleiben nur die CCTV-Kamera-gespickten, sandfarbenen Fassaden als Beschattung des Löffelns.

Wer hier wohnt, benötigt keinen öffentlichen Raum mehr, denn in privat-kontrollierten dieser zaunfreien Gated-Communties findet er alles, was er braucht. Die Bibliothek ist im eigenen Arbeitszimmer zum grünen Minihof und ansonsten sind es zur Großbuchhandlung Dussmann nur wenige U-Bahnminuten.

Es ist vermutlich der Kontrast der eigenen Stadterfahrung, der diesen Eindruck von Fremdheit hervorruft, denn wenn man die Gegend nicht anders kennt oder vielleicht noch den Trümmerberg in einer Einstellung des gräulichen Defa-Films Modell Bianka zum Bezugspunkt nimmt, mag man sich ganz erfreut angesichts des Neuen der Fassaden zeigen. Glänzende Oberflächen spiegeln außer bei notorischen Nörglern zunächst immer Eindruck. Das ist im Web so und das ist im Realraum so.

Für die Öffentlichkeit bedeutet eine Privatversiegelung von Raum jedoch immer zugleich Beschränkung von Möglichkeiten, so verführerisch und ästhetisch gelungen die Politur auch erscheint. Der Stadtraum des Quartiers zwischen Kur- und Markgrafen-, zwischen Kronen- und Französischer Straße ist nun ein Stadtraum für wenige. Die eingestreuten Gebäude der Humboldt-Universität wirken gerade, weil sie mit dem Glanz trotz allen Bemühens nicht konkurrieren können, als Fremdkörper. Aber sie erinnern immerhin daran, dass es noch etwas anderes gibt, als die repräsentative Dependancen und besten Wohnlagen der Stadt.

So bleibt eine mögliche Frage für die Unkonferenz am Freitag, inwieweit die Kontrolle des Raumes bzw. die Kontrolle von Kommunikationsräumen durch und in Bibliotheken einen Gegenpol zu den Marktmodellen darstellen können, die auch das WWW und damit unsere tägliche Lebenswelt durch Dispositive prägen, welche uns nicht weniger verwenden, als wir sie. Inwieweit ist also das Komplement virtueller öffentlicher Räume wünschenswert und machbar, um in Hinblick auf die öffentliche Kommunikation den Ansprüchen einer demokratischen Teilhabegesellschaft zu entsprechen? Mehr dazu am 10.06.2011 in der Dorotheenstraße.

Oberwallstraße

An einer Fassade gleich um die Ecke findet sich am Portikus eines Hauses, in dem dereinst traditionsbewusst der DDR-Außenhandelsbetrieb Investcommerz residierte, die nicht unpassende Bezeichnung "Am Bullenwinkel" in Stein gemeißelt. Denn bullig geht es in diesem Winkel angesichts der aktuellen Berliner Immobilienhausse in der Tat zu. Das hat zur Folge, dass unser frei-tag das einzige war, was sich heute im Karree entdecken ließ. Der Kool-Killer-Aufstand der Zeichen (Baudrillard) ist hier längst vorbei. Wer heute zwischen Werderschem und Gendarmenmarkt Zeichen setzt, benutzt weder Filzer noch Farbsprühdose, sondern Beton und Stahl. Und auf den Motorhauben sitzt nicht selten als Markierungszeichen das berühmte schwarze Stuttgarter Roß (und mitunter auch ein Cavallino rampante aus einem anderen Rennstall).

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