Activist Librarians and Archivists
Karsten Schuldt
Zu: Morrone, Melissa (edit.) / Informed Agitation : Library and Information Skills in Social Justice Movements and Beyond. Sacramento : Library Juice Press, 2014
„Yes, our work is inherently political, because we make choices every day in large and small ways that show who it is that we are truly serving. If we don’t consciously make our choices, we’ll end up serving those who are easiest to serve, with the resources and services that are easiest to provide. We can and should do more by focusing on seeing and hearing our community (including people that we don’t yet work with) and proactively including, welcoming and serving them in the particular ways that they need. By ‚proactively including,‘ I mean reading out to and building relationships with all members of the community, so that we can listen to them about their needs and interests and let them know what content and service we have that might be of use to them.” (Vacteon, Jude: Inside and Outside of the Library: On Removing Barriers and Connecting People with Health Care Resources and Zines. In: Morrone 2014: 147-160, 149)
“I’d like to see an awareness of political nature of our work, and I’d like to see people in the field take responsibility for that – in the general discourse in the field, in library school programs, and in our workplace. I’d like to experience a safer and more vital atmosphere for these types of conversations, not a fear- oder apathy-filled work culture when it comes to the basic questions of what we’re doing and who we’re doing it for. All of the denial and resistance to political conversations dissipate energy and rob us of opportunities to genuinely serve everyone, and to serve them in a way that helps create joy and crucial change.” (Vacteon 2014, 158f.)
Informed Agitation ist kein wirklich gutes Buch, aber es ist eines, dass gerade in den deutschsprachigen Bibliothekswesen von Interesse sein kann, weil es etwas aufzeigt, dass in der bibliothekarischen Diskussion so nicht offensichtlich wird: Es gibt eine sehr langlebige Tradition sehr politischer, explizit linker (beziehungsweise im US-amerikanische Sprachgebrauch, in dem politische Begriffe anders besetzt sind, „radical“ oder „activist“) Bibliotheks- und Archivarbeit. Sowohl innerhalb als auch ausserhalb der offiziellen Einrichtungen (oder oft auch sowohl – als auch). Mellissa Morrone, die Herausgeberin dieses Buches, geht sogar davon aus, dass der Eindruck, Bibliotheksarbeit wäre politisch linke Arbeit, ausserhalb der Bibliotheken weit verbreitet ist. Sie berichtet im Vorwort davon, wie sie, schon als sie als Studentin anfing, einer Organisation auszuhelfen, welche die Bibliothek in einem Federal Prison für Frauen unterstützt, ständig auf Leute traf – dem Pfarrer, der das Gefängnis mit betreut, Leute auf Parties – welche Bibliothekarinnen und Bibliothekare als „radical“ und aktivistisch begriffen. Dabei, so Morrone, ist das kein Eindruck, welcher im Bibliothekswesen stark vertreten wird. Es gibt allerdings eine ganze Reihe von oft nicht weithin auffälligen Initiativen, die sich mehr oder minder mit politischen Positionen identifizieren, einige organisiert, beispielsweise in der Progressive Librarians Guild, andere eher lokal orientiert. Zudem existiert eine kleine Tradition, über die Arbeit dieser Initiativen zu publizieren. Morrone selber, die sich als Bibliothekarin und als activist begreift, fand diese „linke“ Bibliotheks- und Archivarbeit unterrepräsentiert. Deshalb gibt es jetzt Informed Agitation, eine aktuelle Textsammlung von Aktiven aus diesen Organisationen, fast alle aus den USA, mit einem starken Fokus auf New York City, einige aus Kanada, Grossbritannien und Neuseeland. Erschienen ist es bei Library Juice, immerhin dem Verlag, bei dem man solche Publikationen erwartet.
Ein solches Buch lebt selbstverständlich von den aktuellen linken Gruppen und Diskursen und allen ihren Vor- und Nachteilen. Und es gibt viele Nachteile. In Informed Agitation wird zum Beispiel – erstaunlich bei diesen Titel – überhaupt nicht für oder gegen bestimmte politische Positionen und Themen argumentiert. Sie werden zumeist einfach als gegeben präsentiert. Wer sich mit Ihnen nicht identifizieren kann, wird mit den Texten oft weniger anzufangen wissen. [Zum Beispiel findet sich ein Text von Aktiven aus der Boykott-Israel-Bewegung, die im englischsprachigen Diskurs unter Aktiven akzeptiert ist, aber in den deutschsprachigen linken Szenen spätestens seit den 1990er Jahren – meiner Meinung nach vollkommen zu Recht – als antisemitisch ausgeschlossen ist. Deren Text kann ich kaum ernstnehmen. Ähnlich wird es Anderen bei Texten gehen, in denen zum Beispiel ein anarchistisches Archiv in Philadelphia vorgestellt wird, welches explizit kein Material an die Archive der beiden Universitäten der Stadt, die als gierig angesehen werden (die Unviersitäten), übergeben will.] Man bemerkt zudem immer wieder die postmodernen politischen Diskurse, welche das schreibende Individuum in den Mittelpunkt stellen. Nahezu alle Texte reflektieren über die Positionen der Person oder Personen, welche den Text schrieben: „ich habe dies so und so entschieden“, „wir machen das so und so“.
Dabei suchen die meisten Texte einen direkten Anschluss an aktuelle bibliothekarische oder archivalische Debatten. Die soziale Verantwortung der Bibliotheks- und Archivarbeit wird betont und aus ihr eine politische Aufgabe abgeleitet, mehrere Beispiele von Archiven verweisen darauf, dass diese sich der Verantwortung stellen müssten, nicht nur die Geschichte des Staates zu repräsentieren, sondern aktiv die Geschichten der Ausgeschlossenen in das Archiv zu holen. Fast durchgängig führen die Aktiven ihre Arbeit auf die Aufgaben von Bibliotheken und Archiven zurück; mehrfach wird auch betont, dass Bibliotheken eine für den Kapitalismus erstaunliche Einrichtung darstellen würden, da sie Zugang für alle ermöglichen würden. („Part of what makes librarianship so exciting is this ontological question about its politics. The Library is so mainstream, yet also so… socialist.“ Morrone, Meliassa: Introduction. In: Morrone 2014: 1-7, 2)
Für die deutschsprachigen Bibliothekswesen scheint eher die inhärente Fragestellung, ob die Bibliotheks- und Archivarbeit wirklich politisch ist oder ob nicht eher bestimmte Beispiele bibliothekarische und archivalische Prinzipien auf politische Gruppen und Fragestellungen anwenden werden, interessant. Dass das Buch immerhin 21 Texte zum Thema einwerben konnte, hat auch etwas mit der Grösse des englischen Sprachraumes (und New York Cities) zu tun. Wer genau sucht, wird aber auch in Berlin, Wien, Hamburg, Zürich und einigen anderen Städten auf ähnliche Projekte stossen,[1] immerhin ist die im Buch präsentierte Auswahl ziemlich weit. Die Spannbreite reicht von Archiven, welche unterrepräsentierte Gruppen (die libanesisch-stämmige Bevölkerung in North Carolina), die anarchistische Bewegung oder soziale Auseinandersetzung (Welfare Rights Initiative, Metropolian Council for Housing, Occupy Wall Street, alle NYC) dokumentieren, über die Occupy Wall Street Library und Bibliotheksservices für Frauen in einem Gefängnis, über mehrere Texte zum Sammeln von Zines bis hin zu einer Mailingliste für Housing, die Selfidentified Queer Woman of Colour and their Allies dienen soll und von einer Bibliothekarin betrieben wird [das Beispiel zeigt schon bei der Beschreibung, wie sehr die aktuellen politischen Diskurse in die Texte einfliessen] sowie einem, jetzt eingestellten, Informationsdienst über Möglichkeiten der medizinischen Versorgung für Unversicherte. Obwohl einige dieser Initiativen spannend sind, ist wohl eher die Aufforderung interessant, diese Arbeiten, wenn sie auch nur zum Teil in „offiziellen“ Bibliotheken und Archiven stattfinden, als eine Einheit zu sehen, über deren Bedeutung und Voraussetzungen zu reflektieren wäre.
Ansonsten sind die Texte leider selten so anregend, wie man vielleicht erhoffen würde. Sie sind oft sehr speziell, sind oft recht langatmig geschrieben oder aber, weil sie politisch sein wollen, in ungewöhnlichen, nicht immer hilfreichen Formen. Beispielsweise ist der Text zum Women’s Prison and Reintegration Commitee durchmischt mit einzelnen Statements von Aktiven der Gruppe und Frauen, welche die Gefängnissbibliothek, welche dieses Commitee betreibt, nutzen – manche mit Bezug zum Text, manche ohne. Dies soll unterschiedliche Stimmen hörbar machen, aber es trägt nicht unbedingt zum Lesefluss bei.
Alles in allen also eher ein Buch, dass zur eigenen Reflektion und Verortung aufruft, keines, dass wirklich überzeugt.
Fussnote
[1] Zum Beispiel APABIZ (Berlin), Anarchistische Bibliothek und Archiv (Wien), Hamburger Studienbibliothek (Hamburg), Infoladen Kasama (Zürich).
Personen ohne festen Wohnsitz in der Bibliothek des Centre Pompidou
Karsten Schuldt
[Zu: Paugam, Serge ; Giorgetti, Camila (2013) / Des pauvres à la bibliothèque : Enquête au Centre Pompidou. – Le lien social. – Paris : Presses Universitaires de France, 2013]
In Frankreich, so scheint es, werden interessantere Bücher zum Bibliothekswesen publiziert als im DACh-Raum. Die Studie Des pauvres à la bibliothéque von Paugam und Giorgetti ist nur eines davon. Auf der einen Seite untersuchten die beiden Forschenden eine sehr spezielle Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern einer sehr speziellen Bibliothek, nämlich Obdachlose in der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris. Diese Bibliothek ist eingelassen in das radikal-demokratische Grundkonzept des Centre, welches wiederum innerhalb einer Metropole – also auch einem Anziehungspunkt für sehr unterschiedliche Personen; die anderswo kaum ein sozial akzeptables Leben führen könnten – verortet ist. Auf der anderen Seite legen die beiden Forschenden etwas, was im deutschsprachigen Raum praktisch vergebens gesucht würde, vor: eine (ethnologische) Untersuchung der Nutzung einen Bibliothek, die auf soziologische Theoriebildung zurückgreift und diese widerum informieren kann.
Dies ist noch nicht einmal beispiellos im französischen Bibliothekswesen. So legten im Jahr 2000 drei Forschende eine ebenso soziologische Untersuchung zur Nutzung der gleichen Bibliothek vor. [Evans, Christophe ; Camus, Agnès ; Cretin, Jean-Michel (2000) / Les habitués : Le microcosme d’une grande bibliothèque. [Paris] : Bibliothèque publique d’information – Centre Georges Pompidou, 2000] Zugleich ist die Diskussion um die tatsächliche soziale Rolle der Öffentlichen Bibliothek in Frankreich weiter fortgeschritten als in den deutschsprachigen Bibliothekswesen. [Dies gilt auch für das englisch-sprachige Bibliothekswesen, für das stellvertretend auf die erste Ausgabe 2013 der Library Review verwiesen werden soll, die sich vollständig mit dem Thema Public Libraries and the Homeless beschäftigt und in der sich auch eine englisch-sprachige Zusammenfassung des hier besprochenen Buches findet – leider alles hinter eine Paywall.] Grundsätzlich lohnt es sich, über den Rhein zu schauen.
Fragilité, Dépendance, Rupture
Paugam und Giorgetti legen eine Studie vor, deren Ergebnisse nur mit einiger Vorsicht – da es sich, wie gesagt, um eine sehr spezielle Bibliothek handelt – übertragen werden können, aber deren Design in anderen Bibliotheken sinnvoll angewendet werden könnte. Es werden in ihr soziologische Theoriebildung, Beaobachtung und Interviews verbunden. Aufgebaut ist die Studie auf ein in früheren Arbeiten von Paugam erarbeitet Struktur vom Leben in Obdachlosigkeit. Diese postuliert, dass es unterschiedliche Stufen der sozialen Desintegration beim Leben ohne festen Wohnsitz gäbe. Grob unterteilt in Fragilité ( ≈Prekarität), Dépendance ( ≈ Abhängigkeit von gesellschaftlicher Unterstützung) und Rupture ( ≈ Bruch mit der gesellschaftlichen Integration) implizieren diese Stufen ein sehr unterschiedliches Verhalten und unterschiedliche Ziele, der Personen, die von ihnen betroffen sind. (Und dies selbstverständlich immer als Idealtypen, die in der Realität komplexer sind.)
Dabei darf Obdachlosigkeit in Wetseuropa nicht als das Leben auf der Strasse verstanden werden, sondern ist zumeist gekennzeichnet von Leben zwischen unterschiedlichen Unterkünften, die aber alle prekär sind (Heime, Unterkünfte, „Couchsurfing“ etc.).
Personen, welche der Stufe Fragilité zugeordnet werden, versuchen zumeist, direkt aus der Obdachlosigkeit auszusteigen. Diese Personen zeigen in der Untersuchung auch ein Verhalten, dass geprägt ist von Versuchen, in die französische Gesellschaft (wieder) einzusteigen. Gerade bei Flüchtlingen ist dies gezeichnet von Lernaktivitäten in der Bibliothek, insbesondere dem Französisch-Lernen. Die Bibliothek wird zudem aktiv genutzt, um Informationen über den Arbeitsmarkt oder über Unterstützungsleistungen einzuholen. Gleichzeitig wird von diesen Personen aktiv versucht, ihre ökonomische und gesellschaftliche Situation nicht offen darzustellen. Paugam und Giorgetti beschreiben einige Strategien, dies zu tun, beispielsweise das Besuchen der Bibliothek in Anzug und Kostüm. Gleichzeitig versuchen diese Personen in den Interviews, sich von den „echten Armen“ abzugrenzen und ihre eigene Situation als Übergang darzustellen. Dabei besuchen sie die Bibliothek auch wegen ihres Habitus als „intellektuelles Zentrum“. Das Arbeiten in der (grossen und bekannten) Bibliothek verleiht den Personen, so Paugam und Giorgetti, ein positive Identität. So stellt die Studie auch eine Höherorientierung der bevorzugtes Literatur durch diese Personen fest, die, wenn sie gefragt werden, betonen, eher Weltliteratur oder den französischen Literaturkanon zu bevorzugen als „einfache Belletristik“.
Personen, die auf der Stufe Dépendance verortet werden, nutzen die Bibliothek oft als Lebensraum und als Ort, von dem aus Unterstützungsleistungen organisiert, also recherchiert, werden können. Auch diese Nutzenden sind nicht per se auffällig, sondern versuchen, sich dem Alltag der Bibliothek (beziehungsweise des gesamten Centre Pompidou) anzupassen. Dabei kommt ihnen die Grösse des Centre zupass. Dennoch sind sie auffällig, da sie sich ständig in der Bibliothek, der auch als geschützter Raum wirkt, aufhalten. In der Studie werden Beispiele von Personen angeführt, die fast täglich acht Stunden in der Bibliothek verbringen. Hauptinteresse dieser Personen ist, neben der Recherche nach Unterstützungsleistungen zum Überleben und zum Ausstieg aus ihrer sozialen und ökonomischen Situation, die Strukutrierung ihres Alltags. Sich in der Bibliothek aufhalten und lesen gilt ihnen als sinnvolle Tagesgestaltung.
Nur Personen, die der Stufe der Rupture zugeordnet werden, stimmen überhaupt in Ansätzen mit den Vorurteilen über Obdachlose überein, aber auch das nicht wirklich. (Wie eigentlich auch zu erwarten war.) Zwar nutzen einige dieser Personen die Bibliothek auch als Aufenthaltsraum; aber nicht übermässig. Zudem stellen sie nicht die Mehrzahl der Personen sans domicile fixe. Die Bibliothek – und wieder eigentlich das gesamte Centre Pompidou – stellen für sie Aufenthaltsräume da, die zwar nicht vom Leben „auf der Strasse“ abgetrennt sind, aber doch im Gegensatz zu anderen Orten relativ sicher sind. Diese Personen versuchen immer wieder einmal, die Regeln auszutesten, sind aber auch schnell bereit, sich den Regeln, die sie getestet haben, unterzuordnen, um diesen Raum nicht zu verliehren. Ihr Interesse an der Bibliothek ist hauptsächlich der geschützte Raum.

Frage zur sozialen Beobachtungsgabe, vom Cover der Studie gestellt: In welcher sozialen Situation befindet sich die abgebildete Person?
Insgesamt zeigt die Studie, dass die Personen die Bibliothek sehr gezielt zur Gestaltung ihres eigenen Lebens nutzen und zwar immer wieder ausgehend von ihrer sozialen Situation und den Zielen, die sie sich realistisch zu setzen bereit sind. Sie alle sind der Bibliothek gegenüber positiv eingestellt. Gleichwohl die Bibliothek ganz explizit keine Sozialarbeit betreibt, erfüllt sie für diese Personen eine soziale Funktion und zwar durch die offene Angebotsstruktur.
Für die deutschsprachigen Bibliothekswesen (zumindest in der den Grossstädten und Metropolen) lässt sich lernen, dass die Interessen und Nutzungsweisen der Personen ohne festen Wohnsitz nicht mit so einfachen Modellen wie Zielgruppenanalysen oder einfachen Interviews zu erfassen sind. Die soziale Realität ist offensichtlich zu komplex. (Und gleichzeitig wirkt die Bibliothek als gesellschaftlich relevant positiv, ohne direkt daraufhin gestaltet zu sein.)
Forschungsdesign
Neben dem soziologischen Wissen, dass vor der Studie vorhanden war, nutzten die Forschenden ein grundsätzlich einfaches Forschungsdesign, welches allerdings eine relativ lange Forschungszeit und Offenheit für Beobachtungen und das sich Einlassen auf Situationen erforderte. Auf der einen Seite wurden Beobachtungen durchgeführt. Personen, die mehr oder minder auffällig waren und deren Verhalten in der Bibliothek wurden von einer Forschenden beobachtet und diese Beobachtungen in einem Forschungstagebuch eingetragen. Die Personen wurden so beschrieben, dass die Forschenden die Beobachtungen mehrere Tage zusammenfassen konnten; gleichzeitig waren die Personen anonymisiert.
Eine andere Forschende sprach im Verlaufe der Untersuchung Personen an, die beobachtet wurden und befragte sie, wenn diese zustimmten, in strukturiert-narrativen Interviews (also anhand eines Fragebogens durchgeführten Interviews, bei denen die Interviewten möglichst frei antworten konnten).
Die Auswahl der Personen, die beobachtet und interviewt wurden, bedurfte einer relativ grossen Beobachtungsgabe. Ansonsten wäre es zum Beispiel schwierig, Personen zu erkennen, die ihre soziale Situation gerade verstecken wollen. Sie bedurfte auch einiges an Fingerspitzengefühl bei den Interviews und den möglichst objektiven Beschreibungen der Beobachtungen, welches sich mit einer langjährigen Forschungspraxis erarbeitet werden musste.
Die Auswertung der Daten bedurfte ebenso einer grossen sozialen Offenheit. Die Einzelfälle durften nicht als reine (bedauernswerte) Einzelfälle betrachtet, aber auch nicht einfach subsumiert werden. Dabei half die soziologische Theoriebildung, auf die zurückgriffen wurde; welche die Forschenden bei der Zusammenstellung der Daten und Auswertung leitete, da sie nicht darauf angewiesen waren, einfach nur Daten zu berichten (etwas, was notwendig ist, wenn man ohne Theoriebildung einfach nur Umfragen macht), sondern in der Lage waren, Aussagen und Verhaltensweisen in ein Modell der gesellschaftlichen Nutzung von Bibliotheken als Ort und Infrastruktur zu integrieren, dieses Modell zu erweitern und aus diesem Modell Erklärungen für Verhaltensweisen abzuleiten.
Le Livre
Das Buch ist in einem eingängigen Französisch geschrieben. Zur Erläuterung der Ausführungen werden sowohl die Aufzeichnungen aus dem Beobachtungstagebuch als auch den Interviews angeführt. Weite Teile der Erklärungen bestimmter sozialer Ansichten werden überhaupt von Interviewaussagen getragen.
Paugam und Giorgetti sind beide sozialwissenschaftlich Forschende und halten sich deshalb auch erfrischend klar mit konkreten Handlungsanweisungen zurück. Während in deutschsprachigen Bibliothekswesen wohl sehr schnell der Ruf nach einer Praxisanleitung erhoben würde – im Sinne von: Was genau soll die Bibliothek tun? Wo sind die abzuarbeitenden Checklisten? etc. – beschränkt sich die Studie darauf, zu beschreiben und verständlich zu machen. Dies gibt den Kolleginnen und Kollegen in Paris die Aufgabe, die Erkenntnisse der Studie selber zu interpretieren; dabei aber sind sie dazu aufgefordert, diese nachzuvollziehen, was ein sinnvolles Zurücktreten von der Praxisfrage erzwingt beziehungsweise ermöglicht und vor Augen führt, dass die gesellschaftliche Situation so komplex ist, dass sie mit einfachen Werkzeugen nicht zu bearbeiten ist. Gleichzeitig legt die Studie damit die Möglichkeit an, über den – wie schon gesagt sehr speziellen – Einzelfall der Bibliothek im Centre Pompidou hinaus etwas über die tatsächliche Nutzung von Bibliotheken durch Personen in sozial und ökonomisch prekären Lagen zu lernen.
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