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It’s the frei<tag> 2012 Countdown (8): Über Leidenschaft, Routine und Philatelie

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton by libreas on 9. August 2012

Ben Kaden

Wer lebt, der weiß, dass es die kleinen stabilen Rhythmen des Alltags sind, die uns die notwendige Orientierung geben, um nicht permanent anfällig für innere und äußere Rebellionen zu werden. Routinen geben Sicherheit und bilden somit im besten Fall die Voraussetzung, auf ihnen als Fundament eine Glanzleistung nach der anderen herunter zu polieren. Nun ist die postmoderne, spätkapitalistische und hochbeschleunigte Lebenswelt nicht mehr unbedingt rundum darauf ausgelegt, balancierte, auf Muße setzende, soziale institutionalisierte Wiederholungshandlungen (vom Kirchgang bis zum konzentrierten dreigängigen Mittagessen) überhaupt zu akzeptieren. Selbst wer sehr selektiv seine Blogrundschau und E-Mail-Kommunikation angeht, erkennt schnell, dass ganz wie von selbst am Morgen die entsprechenden Sammelbecken wieder vollgelaufen sind, die am Vorabend mühsam leergeschöpft wurden. Wer hier in diesem Kontext kommunizieren will, muss andere Strategien finden.

Die neuen Routinen sind also solche, die aus den Dingen selbst entstehen (häufig spricht man vom Sachzwang) und vor allem erst einmal ein Phänomen der Masse. Glücklicherweise gibt es darin nur wenige Akteure, die durchgängig originell kommunizieren. Denn hochqualitative und –relevante Informationen in dieser Frequenz würde uns endgültig über die Kante stoßen und eine informationelle Emigration in die Offline-Welt quasi aus Gründen der Selbsterhaltung erzwingen. Daher erweist sich die Mehrzahl der zu verarbeitenden vermeintlichen Informationen am Ende erfreulicherweise doch als redundant und also verzichtbar.

Es bleiben zwei Probleme: Erstens weiß man vorher nicht unbedingt, wo etwas redundant ist und wo nicht und muss leider doch die meisten Nachrichten erst einmal öffnen und sichten. Und zweitens gibt es trotz allem irgendwo erstaunlicherweise immer wenigstens ein oder zwei Leute, die offensichtlich kein Problem haben, ein informationelles Dauerfeuer mit höchster Relevanz in ihre Umwelt strahlen zu lassen, also Leuchtturmdenker und -rhetoriker neuer Generation, die auf Hochleistungsdenken und -analysieren trainiert in einer für Außenstehende nicht nachvollziehbaren Geschwindigkeit immer sofort exakt das sagen oder schreiben, was man selbst nach langer Überlegung nicht besser hätte ausdrücken können. Das sind die Olympioniken der intellektuellen Arbeit und wer mit ihnen zu tun hat, vergöttert sie entweder, eifert ihnen nach oder hasst sie.

Ich weiß nicht genau, wie die Routinen dieser diskurslenkenden Protagonisten unserer Gegenwartskultur aussehen und ob sie sich wie ich jeden Monat auf den ersten oder zweiten Donnerstag freuen, an dem die Deutsche Post traditionell ihre Briefmarkenneuausgaben an die Schalter bringt. Ganz sicher würde es ihnen aber nicht passieren, dass sie einen Monat zu früh (nämlich an diesem Donnerstag) in der Erwartung, einen Text über die Briefmarkenemission zur Deutschen Nationalbibliothek für den LIBREAS-Countdown schreiben zu können, zu der ihnen nahe liegenden Poststelle eilen, um dort nur Zuschlagsmarken mit Dampflokomotiven und eine Würdigung von Kaiser Otto I. vorzufinden. Die Peinlichkeit ist deshalb besonders groß, da ja erst vorgestern in diesem Weblog das korrekte Ausgabedatum der Bibliotheksbriefmarke genannt wurde (13.09.). So stimmt zwar die Routine, nicht jedoch ihr Inhalt. Die daraus entstehende Irritation ist naturgemäß erheblich.

Wenn also die philatelistische Feier von 100 Jahren Nationalbibliothek verschoben werden muss, kann man vielleicht wenigstens zur Kompensation ein kleines selbstgewähltes dazwischen schieben: Vor 55 Jahren (leider auch nur ein Circa-Wert, der Ausgabetag war nämlich der 18.10.1957), also noch im vorrevolutionären Kuba, erschien eine Sonderbriefmarke zu Ehren der kubanischen Nationalbibliothek, begleitet von einer zweiten, die ihren ersten Direktor, Domingo Figarola Caneda, mit seinem berühmten Seitenblick zeigt.

Briefmarken Kuba Nationalbibliothek José Marti

Bibliophilatelisten sehen sofort die Lücke auf diesem Bild. Es fehlt die Tarifa general de precios de medicina, also die dritte Marke im Satz zur kubanischen Nationalbibliothek. Die Apothekenpreisliste aus dem Jahr 1723 war immerhin die erste Publikation die auf Kuba gedruckt wurde. Und die 4 Cent-Marke fehlt nicht nur auf dem Bild, sondern sogar in meiner Sammlung. Die Nationalbibliothek José Marti hat die Broschüre, die mittlerweile natürlich selbst eine Preziose ist, dagegen im Bestand. Und berichtet auf dieser Seite darüber.

Die Einrichtung selbst wurde 1901 gegründet und zwar per Militärerlass der USA, die zu dieser Zeit als Ergebnis des „Splendid Little War“ (John Hay) zwischen Spanien und den USA die Insel kontrollierten. Die Briefmarke zeigt den Neubau aus der Mitte der 1950er Jahre, der dann auch erst den Namen José Marti erhielt und offensichtlich erst im Juni 1957 offiziell übergeben wurde, was zwar das Ausgabedatum nicht jedoch die Jahreszahl 1956 erklärt. Möglicherweise feierte man damit einfach nur die Fertigstellung des 15 Stockwerke zählenden Gebäudes. Finanziert wurde der Bau übrigens über eine zeitweilig erhobene gesonderte Zuckersteuer – eine Hingabe an das Bibliothekswesen, die heute und in unseren Breiten kaum mehr denkbar ist.

Domingo Figarola Caneda, dessen 160sten Geburtstag man in diesem Jahr hätte feiern können, hat dies allerdings nicht mehr mitbekommen. Aber es hätte ihn sicherlich gefreut. Zwar ein Bibliophiler, bibliothekarisch aber doch ein Quereinsteiger bekam er eine Expressweiterbildung im British Museum und musste zeitlebens mit schwindenden Etats kämpfen. Seine eigene Sammlung war ohnehin bereits in den Bestand der Bibliothek integriert. Zusätzlich finanzierte er jedoch Ankäufe für die Nationalbibliothek mit Teilen seines nicht sonderlich üppigen Gehalts – auch hier ist eine bewundernde Anerkennung der Hingabe mehr als angemessen, selbst wenn die Bibliotheksgeschichte sicher zahlreiche Beispiele eines solchen Idealismus‘ enthält. Dass er sich permanent mit seinen Vorgesetzten anlegen musste, die der Nationalbibliothek weitaus weniger Wertschätzung angedeihen ließen, ist vielleicht eine ähnliche Konstante der Bibliotheksgeschichte. Das Hauptproblem leidenschaftsgetriebener Idealisten im Kontrast zu pflichtbewussten Routinearbeitern ist ja seit je, dass sie sich ausgerechnet in ihrem Überborden an Fantasie nicht vorstellen können, dass jemand anderes gar kein Interesse daran haben könnte, sich von der Begeisterung anstecken zu lassen.

Dabei ist es erfahrungsgemäß für die Sache fast gleichgültig ob es sich dabei um Vorgesetzte oder Untergebende handelt. Wo der Funke nicht zündet, die Routine also nicht gebrochen wird, da brennt man in der Regel als Fackelträger schnell aus, während die anderen das für sie Beste aus dem Licht machen, nämlich es von der sicheren Seite betrachten.

Domingo Figarola Caneda wurde immerhin von den Nachgeborenen mit einer Sonderbriefmarke bedacht. Und eine Bibliothek in der Güte, von der er immer träumte, haben sie schließlich auch noch gebaut. Insofern gleicht sich in der Weltgeschichte so manches ein bisschen aus. Eventuell hätte ja der Schriftsteller José Lezama Lima, dessen 36sten Todestag man heute in der kubanischen Nationalbibliothek gedenkt, erklären können, weshalb. Denn sein Steckenpferd war der Taoismus und zu diesem veröffentlichte er einmal (1965) einen schönen Aufsatz, von dem man heute nur noch den Titel als Metapher zitiert: Las eras imaginarias: la biblioteca como dragón. Unsere rationale Zeit hätte vermutlich aus Brandschutzgründen etwas gegen solche Verknüpfungen. Aber immerhin war Lao-tse, bevor er eine Art Gottheit wurde, ein Bibliothekar. Und entsprechend fällt es José Lezama Lima nicht schwer, zu folgender Einschätzung zu kommen:

„Así, toda biblioteca es la morada del dragón invisible, se apoya sobre la tortuga de espaldar legible.” (So erweist sich jede Bibliothek als eine auf den lesbaren Panzer einer Schildkröte gestützte Wohnstatt des unsichtbaren Drachen. / meine Langenscheidt-Wörterbuch-Übersetzung)

Man weiß also nie, woher die Flammen oder Wogen, die zwischendurch immer mal wieder alles verändern, eigentlich kommen. Weiß man aber, dass der Drache im Chinesischen Long genannt wird, lässt sich das Long-Tail-Prinzip auch anders interpretieren. Und dass man die Schildkröte im Chinesischen gui nennt und ein Graphic User Interface (GUI) als sichtbar machende Schnittstelle zu den dem Auge verborgenen Prozessen in der Maschinerie des Digitalen dient, dürfte Buchstabenmystiker zu abenteuerlichen Schlüssen hinreißen.

Ob man aber über eine Beschäftigung mit der biblioteca como dragón eine Art Tao der Bibliothek erkennen kann und ob dieses Gegenstand der Unkonferenz sein sollte und ob es schließlich angemessen es, auf das metaphorische Potential der Wundertiere aus der Pangu-Welt (der Vogel Phönix und das Qilin fehlen noch) einzugehen, muss an dieser Stelle offen bleiben.

Dass das Wechselspiel von Leidenschaften, Interessen und Routinen das Drehmoment unserer Arbeit prägt, lässt sich dagegen kaum bestreiten. Und könnte dort thematisieren werden, wo wir nach den höchst seltenen Erden utopischer Elemente in unserem Fach fragen.