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Zur Diskursänderung. Eine Position zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft.

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton, Sonstiges by Ben on 21. März 2012

von Ben Kaden

„Als kleine Warnung: Wenn’s bei der Diskussion derart theoretisch wird, dass die Diskurse gefährdet sind (weil keiner mehr was versteht), werde ich mir erlauben einzugreifen, d.h. nachzufragen.“

Wer hier warnt, ist Wolfgang Stock, Moderator der Podiumsdiskussion: Zukunft der Informationswissenschaft, die am Freitag auf der 2. DGI-Konferenz Social Media & Science – Das Web als Lebensraum stattfinden wird und zu der ich freundlicherweise eingeladen wurde. Nun ist mir bedauerlicherweise und ganz gegen meinen Wunsch und Willen die Teilnahme an dieser Veranstaltung kurzfristig nicht möglich. Und daher kann Wolfgang Stock auch nicht eingreifen, wenn es Diskurs gefährdend wird. Aber Nachfragen – das wird gehen. Denn nachfolgend stelle ich als vielleicht etwas unzulänglichen Ersatz für meine Stimme im sicher kontroversen Schlagabtausch zwischen Willi Bredemeier, Stefan Gradmann, Christian Schlögl, York Sure-Vetter, Marlies Ockenfeld und Hans-Christoph Hobohm über perspektivische Entwicklungslinien des Fachs einen kleinen Abriss dessen in Textform bereit, was ich am Freitag gern als vermutlich theoretischer Außenposten in die Debatte eingebracht hätte.

Zwei Aspekte sind mir vorab noch wichtig:

1) der Hinweis, dass es sich dabei um eine Überlegung zur Erweiterung der Informationswissenschaft handelt, die hauptsächlich als Idee und/oder Sensibilisierung ins Spiel gebracht werden soll. Dass das Fach weitere Aspekte integrieren muss, bleibt unbestritten.

2) der Hinweis, dass ich mehr oder weniger aus Humboldt-universitärer Tradition nicht nur von der Informationswissenschaft, sondern von der Bibliotheks- und Informationswissenschaft spreche. Die Auseinandersetzung mit dieser terminologischen Feinheit und die Frage, inwieweit die Bezeichnung „Informationswissenschaft“ selbst noch tragfähig genug ist, möchte ich allerdings vertagen.

Folie

Folie et (dé)raison d'être. Zum Beispiel der Informationswissenschaft wie ich sie für die Diskussion auf der DGI 2012 zugespitzt sehe. Jeder eingeplante Teilnehmer wurde im Vorfeld gebeten, ein Präsentationsbild einzureichen und das obige ist das meinige. Da man es in Düsseldorf vermutlich nicht zeigen wird, zeige ich es hier.

Zur Diskursänderung. Eine Position zur Diskussion um die Zukunft der Informationswissenschaft.

Das Ziel der Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Wissenschaft im akademischen Sinn sollte es m.E. auch und verstärkt sein, ein Verständnis für diskursive Prozesse zu entwickeln sowie die daraus gewinnbaren Erkenntnisse in Handlungsanleitungen für die „Praxis des Diskurses“ umzuwandeln. Diese Verschiebung des fachlichen Blickes soll die dokumenten- und informationszentrierte Ausrichtung der Bibliotheks- und Informationswissenschaft ergänzen. (Wie zutreffend die Bezeichnung Bibliotheks- und Informationswissenschaft an dieser Stelle noch ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden.)

Das Dokument wird dabei definiert als ein zeitstabiles semiotisches Bezugsobjekt.

Semiotisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Dokument eine formale (syntaktische) Bindung von Bedeutung (Semantik) besitzt und unter einer bestimmten Zielstellung (Pragmatik) erzeugt wurde und rezipiert wird. Der lange Zeit gerade für die Bibliothekswissenschaft ebenfalls dominante Aspekt der Materialität spielt in gewisser Weise u. a. bei der digitalen Langzeitarchivierung noch eine Rolle. Innerhalb der semiotischen Auseinandersetzung mit digitalen Medien wird er aber doch weitgehend irrelevant bzw. bleibt möglicherweise nur über seine Abwesenheit als Kontrastpunkt (beispielsweise bei der Printbuch vs. E-Book-Debatte) noch bedeutsam.

Das Kernmerkmal des Diskurses ist die Regelhaftigkeit der in seinem Rahmen vollzogenen Kommunikationen. Der Diskursbegriff, wie ihn vor allem Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel herausarbeiteten, geht grob gesagt davon aus, dass der Diskurs weitgehend herrschaftsfrei und argumentationsbasiert das Ziel einer möglichst allgemeinen Verständigung, die dann als „Wahrheit“ verstanden kann, verfolgt.

Dies entspricht in etwa der Idealvorstellung von der Wissenschaftskommunikation. Eine solche Kommunikation bindet mehr oder weniger objektiv existierende Sachverhalte an individuelle Wahrnehmungen und Ausdrucksmöglichkeiten für diese Sachverhalte sowie die Kommunikation dieser Wahrnehmung im Rahmen der Ausdrucksmöglichkeiten nach bestimmten sozialen Regeln. Die traditionelle Wissenschaftskommunikation und Wissenschaft bemühen sich idealtypisch um eine Versachlichung dieser Kommunikation über strikte Regeln und das Ziel einer möglichst großen Angleichung individueller Wahrnehmungen an mutmaßlich tatsächlich existente Tatsachen.

Allgemeiner formuliert handelt es sich bei einem Diskurs um eine Form der Kommunikation, die sich neben der Übermittlung von Inhalten die Verfahrensregeln ihres Ablaufs bewusst machen kann bzw. diese selbst mitthematisiert. Daraus resultiert sogenanntes diskursives Wissen (im Gegensatz etwa zu intuitivem Wissen).

Charakteristisch für das diskursive Wissen sind a) seine Erzeugung über Elaboration und b) seine Explikation. Das explizite – häufig an Trägermedien gebundene textuelle – Vorliegen der Inhalte und Verläufe des Diskurses ermöglichen es, diesen nachträglich zu prüfen. Ein Dokument lässt sich in diesem Zusammenhang tatsächlich als ein dokumentierender Teil eines Diskurses verstehen.

Die Rolle der Diskursethik ist es, im Diskurs ein Höchstmaß an Verständigung abzusichern. Dazu gehört (nach Karl-Otto Apel) ein bewusstes Bekenntnis eines Diskursteilnehmers zu diesem übergeordneten Wert. Auf dieser Basis lassen sich semiotische Stabilisierungen in den Kommunikationsprozessen und letztlich Aussagenverbindlichkeit erreichen.

Das Verfahren der Diskursanalyse bringt diese Teile (oder auch „Diskursspuren“) in eine bestimmte systematische Ordnung, die bestimmte Erkenntnisfragen an den Diskurs zulässt. Obschon der Diskurs idealtypisch einem der Kommunikation selbst bewussten Geschehen entspricht, verläuft er in der Praxis selten entsprechend strukturiert und ebenso selten tatsächlich herrschaftsfrei und gleichfalls selten ausschließlich auf Verständigung ausgerichtet. Auch eine noch so sorgfältige Eigendokumentation bleibt notwendig lückenhaft. Häufig wird sie sogar – mit welcher Zielstellung auch immer – manipuliert.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Ausrichtung der nachträglichen analytischen Erschließung des Diskurses. Diese entspricht ebenfalls einem diskursiven Geschehen, welches den Diskurs als Referenz besitzt. Sie erfolgt daher ebenfalls von einer bestimmten, in einem gewissen Spielraum operierenden semiotischen Fassung. Die Diskursanalyse von Diskursanalysen ist durchaus denkbar.

Bibliothek und Dokumentation sind insofern diskursive und diskursethische Institutionen, als dass sie über ein möglichst neutrales Sammeln und Verfügbarmachen der Diskursspuren (also der Dokumente) eine Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Diskursverläufen absichern.

Auf dieser Grundlage können Geltungsansprüche diachron geprüft werden. Dabei sollte es m. E. weniger um eine ewige Allgemeingültigkeit im Sinne einer „Wahrheit“ als vielmehr um eine „Tatsächlichkeit“ gehen. Das begrüßenswerte Ergebnis der postmodernen Überprüfung unserer Lebenswelt ist der Abschied von auf Wahrheiten setzenden „Erzählungen“, die dank einer nachträglichen Dekonstruktion von Diskursen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als in den Grundlagen ungesichert und bestenfalls mit klarer Motivation dezisionistisch begründet erscheinen.

Die große Chance der diskursanalytisch gestützten Auseinandersetzung mit der kommunikativen Lebenswelt liegt in der differenzierten Auseinandersetzung mit den Entstehungsprozessen bestimmter, Geltung beanspruchender Aussagen, die nicht in Beliebigkeit abgleitet. Sie orientiert sich an den Tatsachen und ermöglicht genau deshalb das Denken von Alternativen und Varianten.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Bibliotheks- und Informationswissenschaft bislang nur in begrenztem Umfang dieser Rolle bewusst ist und bewusst widmet. Ein wichtiger Schritt einer derart orientierten Bibliotheks- und Informationswissenschaft wäre folglich, zunächst einmal die Regeln und Verfahren der eine Nutzung vorbereitenden Ordnung und Erschließung von Diskursspuren selbst zu dekonstruieren. Michel Foucault ist zu verdanken, dass er deutlich aufzeigte, wie Wissenssysteme und also auch die Systeme zur Ordnung des Wissens (und damit also auch Verfahren der Sacherschließung) als historische diskursive Formationen ohne universale Verbindlichkeit verstanden werden müssen. Wir müssen immer fragen, wer mit welchem Hintergrund weshalb wem gegenüber welche Aussage mit welchen Folgewirkungen trifft. Und weshalb er annimmt, dies in dieser Form derart vollziehen zu können bzw. zu müssen.

Es geht demnach mit anderen Worten darum, den pragmatischen Gehalt auch scheinbar wertneutraler Äußerungen in Rückbindung an den Äußernden prüfen. Daran zeigt sich u. a. auch, dass entgegen mancher Annahme der Autor längst nicht tot ist. Sondern vielmehr sogar stärker als bisher auf seine Aussagen zurückgeworfen und hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit bewertet wird.

Dabei gilt es auch die Spielräume zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Kommunikation situativ, syntaktisch und semantisch zur Verfügung standen. Diese Art von Analyse fokussiert, wenn man so will, die diskursive Kontingenz. Ob man sich nun damit einhergehend bemühen sollte, die Normativität von und in Diskursen möglichst weitreichend zu reduzieren, bezweifle ich. Denn allein dieser Anspruch ist wiederum hochgradig normativ und letztlich bewegen wir uns permanent auf einem aporetischen Feld.

Das bescheidene Nahziel könnte vielleicht sein, zu lernen mit notwendig auftretenden Aporien produktiv umzugehen. Dabei ist eine differenzierende Präzisierung und Explikation des Möglichen in Wechselwirkung zum Tatsächlichen  hilfreich.

Was kann nun daraus als Gegenstand für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft abgeleitet werden? In jedem Fall erscheint mir eine Erweiterung des Betrachtungsumfangs auf den Prozess der Kommunikation geboten. Nicht allein das nackte Dokument als Objekt (mit einem „toten Autor“) steht im Mittelpunkt, sondern zusätzlich eine Art Metadokumentation, die u. a. auch berücksichtigt, dass Diskurse hinsichtlich Aspekten der Kontrolle, Selektion, Organisation und Kanalisierung bzw. Kommunikation von Aussagen befragt werden können. Zum Dokument müssen demzufolge übergreifende Kontextanschlüsse idealerweise im Netzwerk der Diskurse mitdokumentiert werden.

Was in der analogen Dokumentenwelt nicht leistbar schien, wird in den digitalen semantisch orientierten Netzen durchaus abbildbar. Selbstverständlich müssen auch die Abbildungsverfahren wieder reflektiert werden. Die Arbeit der Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist genau genommen – und Derrida hätte womöglich seine Freude daran – eine stetige und uneinholbare Verschiebung.

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft verstehe ich entsprechend vor diesem Hintergrund als Applikation diskurstheoretischer Verfahren auf die Verwaltung und Organisation von Diskursspuren und damit mittelbar auch der Diskurse selbst. Sie ist eine Art Clearing-Stelle für Kommunikationsprozesse, welche auf Geltungsansprüche orientierten Aussagen beruhen. Dies betrifft in etwa die gesamte Wissenschaft. Während wir von Foucault lernen, die pragmatische Komponente in den Mittelpunkt zu rücken und nach der Kontingenz in bestehenden Aussageformationen (=Wissen) zu fragen, hilft uns die Diskursethik, halbwegs verbindliche Verfahrensregeln für den Diskurs zu reflektieren.

Ich denke nicht, dass wir angesichts der stärkeren Orientierung auf den Prozess der Kommunikation das Phänomen des Dokuments vernachlässigen sollten. Es scheint mir jedoch unumgänglich, selbiges mit einer zusätzlichen Dimension zu verstehen und zu verarbeiten. Das Dokument ist nicht mehr an sich, sondern steht in einem Netzwerkzusammenhang mit anderen Dokumenten, Akteuren und auch Themen. Diese Zusammenhänge lassen sich messen und abbilden. An dieser Stelle erhält die Bibliotheks- und Informationswissenschaft zusätzlich eine netzwerkanalytisch geprägte topologische Ausrichtung. Wie genau diese Methoden der Messung von Distanzen bestimmter Eigenschaften von Dokumenten, aus denen sich ihre Positionen in Diskursräumen bestimmen lassen, aussehen können, ist eine weitere Facette der sich entwickelnden Bibliotheks- und Informationswissenschaft.

Als Zwischenfazit möchte ich also festhalten, dass ich mir das Fach mit

a) einer semiotischen Grundierung und
b) einem Bezug auf konkrete Diskurse anhand
c) von Dokumenten als Diskursspuren zum Zweck einer
d) differenzierenden Relationierung, Abbildung und Erschließung von Diskursspuren mit dem Ziel der
e) Möglichkeit einer prüfenden Dekonstruktion des Diskursgeschehens

vorstelle.

Um solch ein Programm umzusetzen, müsste sich das Fach an einigen Stellen drastisch neu denken. Denn die Disziplin ist bislang in gewisser Weise als blanke Positivwissenschaft konzipiert: Ihr Gegenstand sind optimierte Regeln und Programme zur Prozessierung von Daten und Information. Ihr geht es überwiegend um die Entwicklung von Steuerungsverfahren und Optimierungen für Informations- und Kommunikationsprozesse und damit folglich mehr um Konstruktion als Dekonstruktion, mehr um Kontrolle als um die Analyse des Kontrollierens.

Allerdings ist sie als Positivwissenschaft einerseits dann nicht konsequent, wenn sie ihre eigene Grundierung nicht permanent überprüft und den Ansprüchen dieses Regelkreises entsprechend modifiziert (also zum Prozess wird). Und andererseits bleibt sie mit dieser Ausrichtung immer unangemessen verengt. Denn da vielleicht wissenschaftliche Erklärungsmodelle der Natur positiv gerichtet sind, die grundsätzliche lebensweltliche Orientierung des Menschen jedoch nicht unbedingt diese Eigenschaft teilt, bleibt es notwendig, den Raum für Eigentranszendenz und Alternativen zu lassen. Da die Wissenschaft von Menschen betrieben wird, gilt dies am Ende auch für die noch so positivste Form der Wissenschaft.

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft muss die Notwendigkeit anerkennen, negativ zu denken und die Lücken ihrer Verfahren und Erkenntnisse nicht als Anomalien und Störungen sondern als zusätzliche Entfaltungsräume begreifen und nutzen.

Berlin, 20.03.2012

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