Der Diskurs ist kein Metadatum. Eine Replik zu Ben Kaden
Von Karsten Schuldt
Ben Kaden hat vor kurzem an dieser Stelle seine Überlegungen zur Erweiterung der Bibliotheks- und Informationswissenschaft dargelegt. Ich möchte diesen in wichtigen Punkten widersprechen. Der Widerspruch erfolgt aus zwei Gründen: Erstens scheint mir ein gewichtiges Missverständnis bei der Verwendung des Diskursbegriffes vorzuliegen, welcher in einer inhaltlich problematischen Engführung enden könnte, die zudem den kritischen Gehalt des Begriffes verleugnet. Zweitens soll diese Replik als Einladung verstanden werden, sich an der Diskussion über den Inhalt der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu beteiligen. Meine Position ist nicht annähernd so weit ausgebaut, wie die von Ben Kaden, (bin ich ehrlich, habe ich mir bislang nie Gedanken über die Gesamtheit der Informationswissenschaft gemacht, auch weil es bislang interessanterweise nicht notwendig zu sein scheint, um sie oder doch zumindest den Teilbereich Bibliothekswissenschaft zu betreiben) dennoch äussere ich mich in der Hoffnung, dass auch andere sich äussern werden – und sei es mit einer Widerlegung.
Ich möchte hier einen Dreischritt versuchen. Zuerst soll herausgestellt werden, was an Ben Kadens Überlegungen meiner Meinung nach zukunftsweisend ist und verfolgt werden sollte. Im zweiten Teil soll allerdings dargestellt werden, warum das von Kaden vorgeschlagene Untersuchungsthema mit dem Begriff Diskurs falsch umschrieben ist. Dabei soll auch skizziert werden, welche kritischen Impuls der Foucaultsche Diskursbegriff in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft haben könnte (der Habermasche wird hingegen mit einer kurzen polemischen Bemerkung ins Abseits geschickt, aber das zu Recht). Im dritten Teil soll skizziert werden (a) wie der Diskurs als Untersuchungsgegenstand in die Bibliotheks- und Informationswissenschaft stattdessen integriert werden könnte und (b) wie der von Ben Kaden offenbar vorgeschlagene Untersuchungsraum zu verorten wäre. Dabei versteht sich dieser Text grundsätzlich als Beitrag zu einer möglichen Debatte um die Aufgaben und Themen und Bibliotheks- und Informationswissenschaft.
I. Gegen reine Praxisfixierung, für mehr Theorie
Kaden führt aus, dass es sich bei seinem Text um „eine Überlegung zur Erweiterung der Informationswissenschaft“ handeln würde. Diese Stossrichtung ist explizit zu unterstützen. Auch wenn er es nicht explizit macht, deutet Kaden doch an, dass das, was bislang (zumindest im deutschsprachigen Teil der Welt) als Informationswissenschaft behandelt wird, zu einem grossen Teil Praxisorientierung, aber weder mehr noch weniger sei. Vielleicht ist dies hier ungerechtfertigt zugespitzt, dann aber soll die Meinung halt hier vertreten werden: Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist im deutschsprachigen Bereich vor allem aus praktischen Problemen erwachsen, hat sich darüber aber selten mit theoretischer Absicht erhoben. Zwar existieren in einigen Bereichen Modellbildung, insbesondere die Bibliometrie hat versucht, sich an mathematischen Modellen zu orientieren (und darüber zum Teil vergessen, dass sie die beschriebenen Fakten auch erklären müsste, um sie verständlich zu machen). Aber eine theoretische Fassung, die auch Wissen über Regelmässigkeiten und Strukturen – über Plattitüden hinaus – zu beschreiben in der Lage ist, wurde bislang nur selten unternommen. Im besten Falle wurde versucht, Theorien aus anderen Wissenschaften produktiv zu machen (hier kann ich mich nicht ausschliessen: der Grossteil dessen, was ich bislang tat, war die Pädagogik und Sozialwissenschaften zu plündern) und Überblickswissen zu erstellen, auf deren Basis eine theoretische Arbeit hätte stattfinden können – aber auch das oft als zusammenhanglose Einzelarbeiten, die kaum aufgegriffen wurden. Es scheint immer wieder so, als würde die Informationswissenschaft im Praktischen verbleiben wollen und sich um die Produktion wissenschaftlichen Wissens wenig kümmern.
Ist dies schlimm? Ja. Eine Wissenschaft, der es nicht gelingt, eine eigene Theorieproduktion hervorzubringen, ist nicht in der Lage, den Teil der Welt, den sie untersucht und beschreibt, wirklich zu beschreiben. Sie geht nicht soweit, Wissen zu produzieren, dass Handlungen und Weiterdenken über die nächste Zukunft hinaus erlauben würde. Und andererseits nein. Eine Wissenschaft, die nur Theorie produziert, ist in den meisten Fällen für die Praxis unbrauchbar. Zudem erlaubt das Herumstochern in den unterschiedlichen Bereichen, die der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zugeschrieben werden (und das oft an den unterschiedlichen Standorten der Disziplin unterschiedlich) ohne ausreichende theoretische Produktion das friedliche Koexistieren verschiedener Forschungsströmungen und Interessen in einer kleinen Wissenschaft, wie es die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist. Man kann viel tun, weil einem ja eh nie wirklich widersprochen wird. Auch ein Sammelsurium hat seinen Reiz. (Teilweise lässt es sich der fordernden Praxis auch besser als Praxisorientierung verkaufen.) Aber wirklich befriedigend ist das nicht.
Wenn Kaden nun daran geht, einen Weg zu suchen, wie wir mit den Objekten und Strukturen, die wir ehedem erforschen, in einen bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Forschungszusammenhang stellen können, der sich nicht von Praxisüberlegungen, sondern letztlich von Erkenntnisinteresse leiten lässt, ist das zu begrüssen.1
Oder anders: Jemand musste es einmal sagen. Den es stimmt: Nicht die interne Zersplitterung, nicht die relative Unterausstattung, nicht die am Ende doch geringen Datenmengen, mit denen hantiert wird und auch nicht der implizite Nicht-Angriffspakt (den Willi Bredemeier in den letzten Ausgaben der Password wieder einmal zu postulieren scheint) zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, sondern die erstaunliche Theorielosigkeit und mangelnde Theorieproduktion scheint das grosse Problem bei der Fortentwicklung des Wissenschaftszweiges zu sein. Das man in wissenschaftliche Karrieren in unserem Feld eintreten kann, ohne nur ein theoretisches Werk gelesen zu haben; dass gleichzeitig alle Forschenden, die dessen lustig sind, relativ beliebig Theorien heranziehen können, denen am Ende doch nie jemand widerspricht, ist eine Gefahr für die Wissenschaft. Wenn wir weder die Bibliothek als Einrichtung noch die Information als – ja, was eigentlich, so wenig ist unsere Theorieproduktion fortgeschritten, dass noch nicht mal das klar ist: soziales Verhältnis? (beispielsweise Nico Stehr und die Informationssoziologie), biologisch-soziales Verhältnis? (beispielsweise neuestens, ohne jeden richtigen Grund, Søren Brier), mathematisch zu beschreiben? (beispielsweise die Ansätze, die ich unter dem Protest der Akteurinnen und Akteure, als kybernetische / neokybernetische benennen würde), eine eigenständige Entität, die Unterschied macht? (insbesondere Reiner Kuhlen) – Entität untersuchen, beschreiben und erklären können, wenn wir uns nicht zumindest von einigen Modellen leiten lassen, auf die wir uns beziehen, stellt sich immer wieder die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Disziplin. Und wo sich eine Disziplin beständig fragt, was sie eigentlich ist, was sie untersucht und ob sie überhaupt zusammengehört, anstatt auch mal über die Praxisanwendung hinaus zu forschen, führt sie auch keinen gemeinsamen Forschungsdiskurs; sondern immer wieder (nur) die Neukonstitution.2
Und das ist auch der Grund, warum Ben Kadens Insistieren auf einer Theoretisierung notwendig und richtig ist.
II. Der Diskurs ist kein Verlaufsverfahren
Und dennoch muss und möchte ich im Weiteren dem Ansatz von Kaden widersprechen. Er stellt den Diskurs als eine Anordnung von regelhafter Kommunikation dar. Gäbe es diese regelhafte Kommunikation, wäre sie auch zu untersuchen. Findet diese Kommunikation nun noch vor allem über Dokumente statt – so die weiterführende Idee – die jeweils einen Inhalt tragen und eine Bedeutung haben, und liessen sich vor allem die Bezüge zwischen den Dokumenten (und damit auch zwischen den Inhalten) als Netzwerk begreifen und darstellen, liesse sich auch dieses Netzwerk und damit der Diskurs untersuchen:
Das Dokument ist nicht mehr an sich, sondern steht in einem Netzwerkzusammenhang mit anderen Dokumenten, Akteuren und auch Themen.
Ein Ziel der Bibliotheks- und Informationswissenschaft müsse es deshalb sein, diese Netzwerk (oder im Verständnis von Kaden: diesen Diskurs) mit zu untersuchen, Regelhaftigkeiten aufzudecken, zu verwalten und schlussendlich zu verstehen. Letztlich reden wir hier von Metadaten zu den Dokumenten, die wir greifbar haben: möglichst viele, möglichst umfangreiche Metadaten, die wir in möglichst sinnhafte Beziehungen setzen (so sie es nicht eh „selber tun“). Das ist grundsätzlich nicht falsch und ich möchte im nächsten Teil dieses Textes noch einmal darauf zurückkommen.
Aber: Es ist kein Diskurs. Kaden führt vor allem zwei Theoretiker an, wenn er von Diskurs spricht: Habermas und Foucault.3 Beide sprechen von Diskurs, aber doch von etwas sehr unterschiedlichem. Habermas imaginiert sich eine mögliche Welt, in der rein über Diskussionen und Argumente kommuniziert und abgestimmt wird, in welcher der Fortschritt qua reiner Bürgerlichkeit vorangetrieben wird – im Idealfall, auf den wir aber zustreben würden, ohne jede die Diskussionen störende Friktionen: keine sozialen Unterschiede, keine Macht, keine sozialen Verhältnisse. Nur die Diskussionen und Argumente sollen zählen. Sicherlich räumt Habermas mehrfach ein, dass wir nicht in einer Welt leben, in der solche machtlosen Diskussionen stattfinden, aber anschliessend tut er doch so. Implizit scheint Kaden dieser Argumentation zu folgen: Einerseits bemerkt er, dass es keine Dikurse ohne Machtunterschiede gäbe, anderseits will er Diskurse (also Netzwerke von Metadaten) untersuchen und schliesst dort letztlich gerade die soziale Verfasstheit von Diskursen aus.
Nur: Diese Welt gibt es nicht. Mehrfach nicht. Erstens sind Diskurse nicht einfach Diskussionen. Vielmehr konstruieren sie die Wirklichkeit, in der sie stattfinden, mit. Sie stellen auch nicht Regeln für Diskurse auf, denen gefolgt wird, sondern sie konstituieren Räume von möglichen Aussagen. Was ausserhalb eines Diskurses liegt, ist nicht sag- und damit auch nicht darstellbar. (Oder wieder anders: Es gibt kein ausserhalb von Diskursen, dass zu untersuchen wäre, weil es nicht sagbar ist. Nur dann, wenn es Diskurs historisch geworden ist, lässt er sich von einer Position ausserhalb seiner selbst beschreiben und untersuchen.)
Kaden scheint, im Anklang an Habermas, den Diskurs (explizit den in der Wissenschaftskommunikation) als Anordnung von Meinungen und Argumenten zu verstehen, die sich auf andere Meinungen und Argumente beziehen – in Regeln, aber nicht als mehr. Die Kommunikation hat in dieser Vorstellung keine andere Funktion, als die Kommunikation selbst. Genau das ist falsch: Kommunikation ist immer eine soziale Aktion, in der Wirklichkeit konstitutiert und performativ verändert wird. Sie ist nicht nur „irgendwie“ von bestehenden Machtbeziehungen beeinflusst (also eigentlich ohne jede Macht denkbar, dass heisst die Machteinflüsse müssten irgendwie eliminierbar, herausrechenbar oder gar zu ignorieren sein), sondern erst durch Machtbeziehungen konstituiert.
Oder anders: Diskurse und Kommunikation sind höchst sozial. Die Darstellung Kadens hingegen eliminert dieses Soziale fast vollständig. Die Wissenschaftskommunikation wird als Angelegenheit dargestellt, die mit der Gesellschaft nichts zu tun hätte. Das Versprechen der Objektivität durch Qualitätssicherungsmassnahmen in der Wissenschaftskommunikation wird (gegen jedes bessere Wissen, das Kaden an anderer Stelle schon geäussert hat) für voll genommen, nur um darauf aufbauend letztlich eine erweiterte Metadatenanalyse vorzuschlagen.
Dabei weiss jede und jeder, der oder die einmal Wissenschaftskommunikation live erlebt hat, wie wenig das stimmt. Hierzu bedarf es noch nicht einmal einer Theorie. Ein Besuch von Redaktionssitzungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Publikationen, einen teilnehmende Beobachtung in ein paar unterschiedlichen Wissenschaftseinrichtungen und Projektgruppen macht das klar: Es ist eine soziale Frage, wer wann was wie, wo, zu welchem Preis (nicht unbedingt im Sinne von Geld, sondern auch von Reputation, eingelösten und gegebenen Verpflichtungen et cetera) und in welcher Form kommuniziert vulgo veröffentlicht. Das Feilschen um Gutachten ist da nur der sichtbarste Teil. Und all dies taucht in den Dokumenten, Metadaten und Netzwerken von Metadaten nicht auf. Es ist vielleicht in einer Inhaltsanalyse sichtbar; aber selbst wenn nicht, ist es relevant. Es konstitutiert, wer was sagen kann. Wer nur die Metadaten und Dokumente untersucht, kann den Diskurs nicht nachzeichnen, den gerade der Diskurs fehlt in ihnen. (Dies nur eine sehr vereinfachte Darstellung, die aber sichtbar machen kann, wie gefährlich es ist, von einem nur von Regelhaftigkeit geprägten Diskurs auszugehen.)
Dieser hier angeführte soziale Diskursbegriff wird mit dem Namen Foucault verbunden. Auch Kaden führt Foucault und in seinem Schlepptau die Postmoderne mit in den Text ein. Aber die Verwendung ist nicht erkenntnisfördernd; sondern vielmehr absichernd. Wir wissen, so der Tenor, dank der Postmoderne, dass Diskurse historisch veränderlich sind, das es immer irgendwie Aussagerichtungen gibt und so weiter. Aber, und das ist das wichtige, daraus wird bei Kaden nichts abgeleitet. Dass der Diskurs veränderlich ist, dass es Macht in ihm gibt, schlägt sich nicht im vorgeschlagenen Ansatz nieder. Es scheint, polemisch gesprochen so, als würde es angesprochen, um darauf verweisen zu können darauf verwiesen zu haben, ohne davon lernen zu müssen.4
Wer die Postmoderne ernst nimmt (oder Foucault), kann nicht von einem Diskurs ausgehen, ohne nach der gesellschaftlichen Realität zu fragen, die durch den Diskurs reproduziert wird. Wer die Postmoderne ernst nimmt, kann nicht eine Diskurs ohne Machtbeziehungen postulieren, auch nicht implizit. Wer die Postmoderne ernst nimmt, kann den Diskurs sich nicht einfach in den Metadaten verstecken sehen.
Foucault ermöglicht es, Diskurse als Ausdruck und Reproduktion von Aussagemöglichkeiten und damit auch Lebensmöglichkeiten zu verstehen (weshalb sie explizit keine Diskussionen ohne Auswirkung sind und weshalb der Autor doch „tot“ ist). Jeder Diskurs ist Ausdruck und Reaktualisierung von Machtbeziehungen, Machtbeziehungen sind immer produktiv (sie führen Realität, Möglichkeiten und Widerstand gegen sich herbei). Wer Diskurse untersucht, kann sich nicht wirklich um diese Erkenntnis drücken, auch nicht mit Augenzwinkern.
Dies ist der Hauptpunkt, an dem ich Kaden widersprechen muss: Was er zu untersuchen vorschlägt, sind Metadatenstrukturen, Regelhaftigkeiten von Metadatenstrukturen und Dokumente als Teil von Metadatenstrukturen. Aber das ist kein Diskurs, nicht einmal im Habermaschen Sinn, schon gar nicht im Sinne Foucaults. Es sind Metadatenstrukturen und ihre Regelhaftigkeiten, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
III. Zwei Entwicklungsrichtungen
Zwei Vorschläge hätte ich, ausgehend von Kadens Text, zu machen, einer zu „Rettung“ Foucaults, einer zur „Rettung“ Kadens.
a. Der Diskurs ist ein Diskurs
Den Diskurs als Theorem in die Bibliotheks- und Informationswissenschaft einzuführen wäre sinnvoll. Wir beschäftigen uns nicht umsonst mit Grundbausteinen von Diskursen. Nicht so sehr die Dokumente und Information allerdings, sondern die Kategorien, Einteilungen von Informationen, An- und Neuanordnungen von Informationen wären sinnvolle Forschungsthemen. Wenn wir die Postmoderne ernst nehmen, dann sind sie Bausteine von Diskursen. Banal: Nach welcher Informationsordnung die Medien einer Bibliothek oder eines Archivs geordnet und angeboten werden, konstitutiert die Aussagemöglichkeiten, die mit diesem Informationen möglich werden. Bei räumlichen Aufstellungen ist das einfach sinnhaft erfahrbar, aber man sollte nicht glauben, dass dies über Darstellungen, die elektronisch anboten werden, wirklich anders wäre – es ist „nur“ komplexer. (Und das eingelassen in einer weiter komplexen Welt.)
Zumindest für diese Fragestellung ist der Diskursbegriff von Foucault nutzbar. (Der von Habermas scheint mir viel zu ideal-typisch und zu weit von der gesellschaftlichen Realität, als das er für mehr zu verwenden wäre, als für Gedankenspiele – um hier mal eine steile These zur Generierung von Diskussion aufzustellen. Mir fällt aber ehrlich nicht ein, was man mit Habermas anfangen soll. Besser, man vergisst ihn und geht auf die früheren Generation der Kritischen Theorie zurück.) Allerdings: Dieses Diskursbegriff ist gerade nicht ohne Gesellschaft zu haben. Und zwar Gesellschaft nicht als Beiprodukt, sondern als Hauptgegenstand. Wer mit Foucault Diskurse untersucht, untersucht immer auch die Gesellschaft. Dahinter geht es nicht mehr zurück. Das mag dem oder der nicht behagen, der oder die Informationen als biologisch-soziale Entität versteht oder als rein mathematisch erfassbare. Aber damit müssen diese Personen klarkommen, nicht ich. (Insoweit fällt mir der Vorschlag hier leicht.)
b. Netzwerke von Metadaten sind Netzwerke von Metadaten
Auch den Vorschlag von Kaden will ich nicht verwerfen. Er plädiert dafür, Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht (mehr) hauptsächlich als Untersuchung von „optimierten Regeln und Programme[n] zur Prozessierung von Daten und Informationen“ zu verstehen, sondern über das Verständnis von Dokumenten als Bedeutungsträger und Metadaten als Klammern in Netzwerken aus Metadaten, die auf diese Bedeutungsträger verweisen, nachzudenken und aus diesem Nachdenken auch eine Theoretisierung abzuleiten. Hier widerspreche ich gar nicht: Diese Möglichkeit ist sichtbar und sinnvoll. Nur: Dies sind keine Diskurse, die Netzwerke von Metadaten lassen auch bei genauester Untersuchung keine Aussagen über Diskurse zu. Sie können Untersuchungen von Diskursen informieren, sie können – genauso unvollständig, wie bislang die Szientometrie, die zwar Regelmässigkeiten feststellen, beschreiben und anwenden, aber eben nicht erklären kann – Regelmässigkeiten analysieren.
Die Grenzen dieses Vorgehens sind allerdings weit enger, als Kaden den Eindruck vermittelt. Behalten wir im Hinterkopf, was wir eigentlich mit solchen Analysen wirklich aussagen können, und benennen es auch immer wieder, dann ist das Programm selber nicht falsch.
Berlin und Chur, März 2012
Fussnoten
1 Schaut man hingegen in die laufende Artikelserie von Willi Bredemeier in der Password, die er seit der ersten Nummer diesen Jahres als Kritik des Standes der Informationswissenschaft begriffen haben möchte, sieht man dort ein andere Kritik. Bredemeier fordert nicht eine von Erkenntnisinteresse geleitete, sondern vor allem eine konsistente und von Studierenden sowie der Praxis mitgestaltete Informationswissenschaft. Seine Kritik richtet sich vor allem darauf, dass offenbar Projekte zusammenhanglos nebeneinander stehen würden und zumeist ohne Aussenwirkung betrieben würden. Sicherlich wird diese Kritik, die Bredemeier ja nicht zum ersten Mal äussert, wieder nicht besprochen werden – was auch dem Auftreten und Ego des Autors geschuldet sein wird, aber nicht nur –, aber festgehalten werden muss hier, dass sie einer anderen Vorstellung zu folgen scheint, als Ben Kaden. Sie ist auch nicht ganz unrichtig. Interessant ist allerdings, dass Bredemeier seine Vorstellung von Informationswissenschaft nicht zu begründen, sondern einfach als richtig – und damit andere als falsch – vorauszusetzen scheint. Das ist ärgerlich, weil es gerade nicht klar ist, warum die Informationswissenschaft beispielsweise besser sein sollte, wenn mehr Studierende beteiligt wären.
2 Dabei geht es gar nicht darum, nur eine Theorie oder nur einen Informationsbegriff zu installieren. Niemand verlangt Einheitlichkeit. Eine Wissenschaft kann auch im Streit blühen. An einer anderen Stelle hatte ich schon einmal berichtet, wie gerne in der Sozialwissenschaft auf die heftigen Debatten zwischen Luhmann-Anhängerinnen und -Anhänger und Gegerinnen und Gegner auf Deutschen Soziologietagen verwiesen wird, oder auch auf den Streit zwischen Neomarxistinnen und -marxisten gegen eher an Schelsky orientierten Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, um darzustellen, wie methodisch beliebig und irgendwie auch langweilig die Sozialwissenschaften heute sind. Das stimmt auch, aber wichtig ist: als sich die Forschenden in den 1960er und 1970er auf ihren Treffen wegen ihren theoretischen fast ihre Köpfe einschlugen, zweifelte niemand daran, dass es die Sozialwissenschaften gäbe und dass sie ein Bedeutung haben. Eine Wissenschaftsdisziplin kann mit mehreren Theorieansätzen, auch widersprüchlichen oder konträren, funktionieren, solange diese auch offensiv vertreten, kritisiert und modifiziert, mithin in der Diskussion gehalten werden. Vielleicht sind wir aber als Forschende in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft heute selber nicht genug überzeugt davon, dass unsere Wissenschaft notwendig ist, um uns in dem Masse zu engagieren, wie es einstmals – vor den soundsovielen Reformen des Wissenschaftsbetriebes – die deutschsprachigen Soziologinnen und Soziologen taten.
3 Kaden führt explizit auch Karl-Otto Apel ein, aber es wird nicht so Recht klar, wozu. Das, was von Apel übernommen wird (Diskursethik) findet sich so oder ähnlich auch bei Habermas. Vielleicht kann man in diesem Text hier Habermas als Habermas und Apel lesen. Das grundsätzliche Problem mit deren Diskursbegriff löst die Formulierung der Diskursethik nicht.
4 Man kennt dieses Vorgehen, wenn am Anfang von Texten in einer Fussnote behauptet wird, man wissen, dass es mehr als ein Geschlecht gäbe, nur um dann im Rest des Textes „mitzumeinen“ und gerade nichts daraus zu lernen oder abzuleiten, dass es mehr als ein Geschlecht gäbe. Diese Fussnote ist dann wenig mehr als ein Punkt, mit dem man sich vor Kritik (die es ja doch kaum gibt) zu schützen meint und kein Teil des Textes.
6 Antworten
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Ich wünsche mehr von solchen Beiträgen. Spannend!
Beste Grüße
Arnoud de Kemp
Initiator der „Informare!“
Der Satz: „Eine Wissenschaft, die nur Theorie produziert, ist in den meisten Fällen für die Praxis unbrauchbar.“ macht deutlich, dass hier, wie leider viel zu oft, die Begriffe Theorie und Hypothese verwechselt werden. Eine Hypothese wird erst zur Theorie, wenn sie in der Praxis ihre Bestätigung findet. Insofern kann eine Theorie per Definitionem nicht für die Praxis unbrauchbar sein.
Dass die Bibliometrie „die beschriebenen Fakten auch erklären müsste“, ist richtig, aber im Grundsatz gilt für jede Wissenschaft, dass sie mit sammeln, ordnen und beschreiben der beobachtbaren Fakten beginnt, um dann daraus Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen. So haben wir zunächst die Verdopplungsrate der Literatur mit zwanzig Jahren immer genauer beobachtet, um dann zu fragen, warum sie seit Jahrhunderten konstant ist, und sich auch bei Kriegen nur geringfügig (durch begrenzte Geheimhaltung und kriegsrelevante Problemstellungen) verschiebt, um nur ein Beispiel zu nennen. Ansonsten wächst Wissen aus Wissen und kann damit immer nur prozentual aus dem Vorhandenen heraus entstehen. (http://www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/pub93.html )
Es ist richtig, „die erstaunliche Theorielosigkeit und mangelnde Theorieproduktion scheint das grosse Problem bei der Fortentwicklung des Wissenschaftszweiges zu sein.“, auch wenn es eigentlich nicht erstaunlich sondern nur natürlich ist. Die Bibliothekswissenschaft war bislang eine narrative Wissenschaft, sie beschrieb dicke und dünne Bücher, schöne und funktionale Bibliotheken, Schrifttypen, rationalisierte Verwaltungsabläufe etc. Erst die Informationstheorie von Shannon und Weaver brachte eine grundlegende Theorie in den IuD- und danach auch in den Bibliotheksbereich – insbesondere in die Digitale Bibliothek. Die war und ist aber für viele, die eher Latein, Griechisch oder andere Sprachen mitbringen sollten, sich aber weniger für mathematische Gleichungen interessierten, nicht so leicht nachvollziehbar. (Information ist die Abweichung der Summe von Wahrscheinlichkeiten in einem festgelegten Wahrscheinlichkeitsraum multipliziert mit dem Logarithmus dieser Wahrscheinlichkeiten, von dem maximalen Wahrscheinlichkeitsprodukt – das ist nicht jedermanns Sache, aber in seiner Einfachheit sehr beeindruckend, wenn man es durchdenkt. Ansonsten sollte man ein anderes Fach studieren, wenn einen das nicht interessiert ;-).
Es ist auch verständlich, dass z. B. Soziologen Information aus ihrer Sicht zu verstehen versuchen, und die Frage: „Information als – ja, was eigentlich“ ist nachvollziehbar, obwohl es eigentlich einfach und so fundamental ist, dass man sich nur wundern kann. Das ist es aber, was ich als PPP (Pädagogisches PerzeptionsParadox) bezeichne, und dessen sich alle Pädagogen bewusst sein sollten. Bevor man die Informationstheorie verstanden hat, erscheint sie unverständlich bis unsinnig, sobald man sie versteht, fragt man sich, wie es Menschen geben kann, die ein so einfaches Grundprinzip nicht begreifen.
Die Informationstheorie beschreibt die Ordnung in dieser Welt aus wahrscheinlichkeitstheoretischer Erkenntnis heraus. Sie verliess damit den veralteten Determinismus von Laplace. In ihr leitete Shannon, seinen mittleren Informationsgehalt aus dem Eta-Theorem (H) Boltzmanns ab, wobei er Boltzmanns drei Raum-Integrale in ein Summenzeichen umwandelte, und damit der Quantelung der Welt (in Bit gemessen) Rechnung trug. Die Semiotik, die nur auf dieser Basis der Informationstheorie aufsetzen kann, bringt erst die Interpretation und Bedeutung von Zeichen (die Begrifflichkeit über Thesaurusartige Strukturen) in dieses System. Solange also Information und Interpretation immer wieder verwechselt werden, kann man sich nicht darüber wundern, dass Menschen die Informationstheorie nicht verstehen, obwohl schon Weaver klar und deutlich vermerkte: „In particular, information must not be confused with meaning.“
Es kann kein Fehler sein, wenn jede Wissenschaftsgeneration ihre Wissenschaft neu hinterfragt. Das entspricht in der Evolution der Biogenetischen Evolutionsstrategie, in der bei jedem Lebewesen im Prinzip die gesamte Phylogenese (vereinfacht gesagt, das auf der DNS gespeicherte ererbte Wissen) auf Überlebensfähigkeit überprüft wird. Dabei darf man sich aber nicht von all denen, die selbst zu wenig wissen, und damit zwangsläufig viel Unsinn verbreiten irritieren lassen. Das ist die Selbstkontrolle einer jeden Wissenschaft.
Einer meiner Professoren in meiner Studienzeit wollte über der Tür des Hörsaals ein Schild anbringen lassen: „Glauben sie dem Dozenten nichts!“ (In den 68ern mochte man keine „Fachidioten“, liebte aber kritische Bürger ;-). Ich fand das damals sehr unsinnig, weil man so nichts dazu lernen kann. Was er aber meinte ist richtig, jede/r Wissenschaftler/in braucht und hat ein eigenes in sich mehr oder minder stimmiges inneres Modell von dieser Welt, und dazu muss man sich die Autoren der Welt aussuchen, die da am besten behilflich sein können.
Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist seit kurzem dabei sich einige theoretische Grundlagen zu erarbeiten. Das ist, wie am Beginn einer jeden analytischen Wissenschaft mühsam, aber um so reizvoller. Es wäre an dieser Stelle müßig aufzuzählen, was alles zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft gehört, zumal es dazu Lehrbücher und Spezialisierungsbereiche gibt.
In der Diskussion einer jeden Wissenschaft geht es hauptsächlich und vordergründig um Macht- und Geldverteilung und damit auch um Stellenbesetzungen. Von ihr sollte man sich aber nicht in der Sache irritieren lassen. So dominierten Jahrhunderte lang die Historiker die Bibliothekswissenschaft. Dass sie dise Position nicht kampflos and die Informationswissenschaftler abtreten wollten, war verständlich. Was man selbst zum Fortschritt beitragen kann ist entscheidend. Jede Bibliothek ist ein Beleg dafür, wie viel Sackgassen die Wissenschaft schon durchforstet und wie viel unnützes Geld sie schon verschleudert hat. Nicht nur im Dritten Reich haben sich viele Wissenschaftler lächerlich gemacht. Leider können wir das gar nicht mehr so deutlich machen, wie es damals erkennbar war, weil danach die Entnazifizierung auch in Bibliotheken wirksam wurde. Dazu haben wir zwar Bibliotheken, um die Fehler der Vergangenheit möglichst zu vermeiden, aber zu viel Unsinn sollte nach dem zweiten Weltkrieg und dem Mauerfall auch nicht archiviert werden. Die wirkliche Kunst liegt also darin, den richtigen Weg zum Wissen zu finden – das ist Bibliotheks- und Informationswissenschaft: die Nationalökonomie des Geistes.
[…] um die Zukunft der Informationswissenschaft. In: LIBREAS Weblog, 21.03.2012 2. Karsten Schuldt: Der Diskurs ist kein Metadatum. Eine Replik zu Ben Kaden. In: LIBREAS Weblog, […]
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