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Es geht ums Gleichgewicht. Wie man das Verhältnis von Bibliothekswissenschaft und -praxis 1863 sah.

Posted in Sonstiges by Ben on 28. Juni 2011

Leider zu spät, um sie noch mit der Diskurs-Drehscheibe zur Bibliothekswissenschaft rotieren zu lassen, stieß ich auf eine vergleichsweise frühe Aussage zum Verhältnis von Theorie zu Praxis in der Bibliothekswissenschaft: In der Rundumschrift Theorie und Praxis der Bibliothekswissenschaft von Johann Georg Seizinger die der Verlag von Louis Ehlermann 1863 in Dresden publizierte, findet sich auf den Seiten 7-9 eine Art Metabetrachtung zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Disziplin.

Da das Buch in der Ausgabe 38/1864 des Wochenblatts Das Ausland (Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker) vom 17.09.1864 auf S. 909 von einem ungenannten Rezensenten äußerst positiv besprochen wurde (der Gegenstandsbereich sei „in ein System gebracht […], das den Namen Bibliothekswissenschaft mit Recht führt“ sowie die „Theorie derselben klar und lichtvoll dargestellt“) ist der Blick in ein de facto Standardwerk der Frühgeschichte des Faches möglicherweise ganz interessant. Seizinger schreibt also:

„Theorie und Praxis stehen in einem innigen Wechselverhältnisse. Die erstere ist das geistige Anschauen und Untersuchen, also die daraus hervorgehende wissenschaftliche Erkenntniss, bestimmter aber die Entwickelung der einzelnen Erscheinungen einer Wissenschaft in ihrem innern Zusammenhange; die andere hingegen ist die durch Uebung erlangte Fertigkeit in der Anwendung der von der Theorie oder von der Erfahrung dargebotenen Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes auf das wirkliche Leben, namentlich die Ausübung einer Kunst oder Wissenschaft.“

Er betont also tatsächlich die Existenz einer über wissenschaftliche Methoden (so verstehe ich „geistiges Anschauen und Untersuchen“) erfolgenden Erkenntnisgewinnung zum Gegenstand und rollt damit frühzeitig einen Stein in die Argumentationslinie derer, die meinen, es ginge hier im Bibliothekswesen nur um praktische Ausrichtung. Nicht nur, sondern auch und zwar in enger Beziehung, meint Seizinger, und führt fort:

„Einen eigentlichen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis gibt es nicht, denn , was in der Theorie richtig ist, das muss auch durch die Praxis ausgeführt werden können; von einem Gegensatze kann nur dann die Rede sein, wenn es entweder nicht gelingt, die zur Erreichung eines Zweckes nöthigen Mittel zur Verfügung zu bekommen, oder wo das Verhältniss zwischen Mittel und Zweck, die Ursachen und Bedingungen für gewisse Erfolge (die man wünscht oder beabsichtigt) noch nicht bekannt sind.“

Es reizt nun, die Theorie als Supremat zur Praxis aus diesen Zeilen zu lesen, aber ich glaube nicht, dass Seizinger soweit gegangen wäre. Oder andersherum: Der zweite Satz der Passage fordert indirekt ein, dass die theoretische Bibliothekswissenschaft solche Ergebnisse hervorbringt, die sich für die Anwendung in der Bibliothekspraxis eignen.

Etwas schwieriger wird es, wie er einräumt, dort, wo man noch nicht weiß, wie die Ergebnisse und/oder Erfordernisse aussehen. Während das erste Unbekannte (Ergebnisse) in der offen operierenden Wissenschaft ein unabwendbarer Dauerzustand ist (dagegen setzt sich systematisierende Forschung vor allem damit auseinander, wie man etwas an sich Bekanntes in eine sinnvolle Ordnung bringen kann), spielt das zweite Unbekannte (Erfordernis) auf das an, was man als geteilten Zielkonsens einer Fachgemeinschaft bezeichnen kann. Man muss sich einigen, wohin man will und dann lässt sich auch der passende Pfad abstecken, erkunden und zur Schnellstraße ausbauen.

Nun greift Seizinger zum Stilmittel der interdisziplinären Translation: Was in einer ähnlichen Disziplin gilt, könnte auch in der eigenen stimmig sein:

„Wenn v. Gönner (in seinen Beiträgen zur Jurisprudenz der Teutschen, Band 1, 1810, Vorrede S. VIII) den Satz ausspricht: „Theorie und Praxis vereint machen den vollendeten Rechtsgelehrten aus, und man habe mit eben jener Aufmerksamkeit, die wir theoretischen Werken schenken, auch praktische Schriften aufzunehmen, sofern ihnen Mannichfaltigkeit ihrer Formen, Zweckmässigkeit der Ausführung, Klarheit der Darstellung, Richtigkeit der Schreibart, Schärfe der Beurtheilung zur Seite steht“; so liegt hierin eine Wahrheit, deren volle Bedeutsamkeit sich darstellt, sobald im Leben so häufig hervortretende Umstände die Veranlassung darbieten, die Gebrechen der Einseitigkeit wahrnehmen zu müssen.“

Der Rechtsgelehrte Nikolaus Thaddäus von Gönner wird an dieser Stelle geschickt als Belegautorität angeführt, denn der Herr Staatsrath war in der Rechtswissenschaft seiner Zeit auch eine solche. Der Gedanke, das Verhältnis von Bibliothekswissenschaft und Bibliothekspraxis analog zum Verhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu durchdenken, liegt nah: In beiden Fällen geht es darum, Ordnungssysteme zu entwickeln, zu prüfen und anzuwenden. Im Fall des Rechtes sind es Handlungsnormen für das regelhafte Zusammenleben der Menschen. Im Fall des Bibliothekswesens sind es Ordnungsnormen für das, was die Menschen an repräsentiertem Wissen publizieren.

Interessanterweise spricht sich von Gönner für die gleichberechtigte Beachtung praktisch orientierter Publikationen aus, sofern diese bestimmten Qualitätsansprüchen genügen. Es spricht sich also in diesem kleinen Betrachtungsrahmen genau umgekehrt für die Wahrnehmung praktischer Einsicht in der Rechtstheorie aus. Seizinger interpretiert die Aussage natürlich passend zu seiner Argumentation und betont die Notwendigkeit des einschließenden Blickes: Theorie und Praxis sind gleich wichtig und müssen in ihrer Wechselbeziehung betrachtet werden, will man nicht am „Gebrechen der Einseitigkeit“ leiden und das möglicherweise nur, weil eine epistemologische Krücke fehlt. Oder eben ein praktisches Stützbein.

Schließlich schickt Seizinger noch als Warnung ein Doppelszenario in die Runde:

„Der blosse Theoretiker wird, insofern nicht tieferer Sinn in ihm liegt, das Wechselverhältniss der Doctrin und Praxis zu erfassen und, was zur Verschmelzung beider nothwendig, sich anzueignen, in seinem Wirkungskreise unheimisch sich finden und im praktischen Geschäftsleben mit einer Kette unabweisbarer Kämpfe sich umstrickt sehen. Ebenso wird aber nicht minder der einseitige Praktiker, welcher der tiefern theoretischen Grundlage oder auch nur des Bedürfnisses nach theoretischer Forlbildung entbehrt, das Bild eines schwankenden Rohres bieten, das niemals seine Unabhängigkeit von den Einflüssen der zuerst ihm entgegentretenden, oft selbst blos auf Scheingründe sich stützenden, Ansicht erringen wird.“

Der Denker also, der seinen traditionell aus seltenen Stoßzähnen verfertigten Türmchen theoretische Wolkenkuckucksheime anbaut, kommt spätestens dann aus dem Takt, wenn er mal die Tür in die Realwelt zu öffnen gezwungen ist. Der Praktiker, der unreflektiert einzig dem Zeitgeist folgt, bleibt ohne höheren Bezugspunkt selbigem hoffnungslos bis zur Schließung seines Hauses ausgeliefert. Damit formuliert Seizinger offensichtlich eine Grundkonstante unserer Disziplin, die auch im Juni 2011 recht anwendbar klingt.

Man kann die zähe argumentative Überlebenskraft dieses Imperativs der Wechselseitigkeit problemlos damit begründen, dass es sich nunmal um einen trivialen Allgemeinplatz handelt. Das ändert aber nichts an der Notwendigkeit, auf selbigen immer dann hinzuweisen, wenn der Eindruck entsteht, die feine Balance zwischen Theorie und Praxis sei dabei, verloren zu gehen. Und ihn danach zu aktualisieren.

So offenbart sich zwischen dem Verfasser des 1864er Bibliothekswissenschaftsbuchs – das nebenbei gesagt für die aktuelle Methodenfindung nicht allzu viel Fruchttragendes bietet – und seinem Leser im Sommer 2011 eine zwangsläufige Glaubensverwandtschaft in diesem dauerhaft aktuellen Punkt:

„Die Bearbeitung unserer Wissenschaft ist indess, wie der Verfasser glaubt, noch keineswegs zum Abschluss gediehen […]“ (S. IV)

Aber als Abweichler, der ich in bisweilen bin, gehe ich sofort schon wieder auf neue Distanz. Denn ich glaube nicht, dass „Abschluss“ irgendetwas ist, was man anstreben sollte. Sondern – siehe oben – eine Aktualisierung, die das Dreiecksverhältnis (statt der Doppelseitigkeit) von Bibliothek, Bibliotheksnutzung und Bibliothekswissenschaft im Lot hält.

Das Grimmzentrum Berlin im Sommer 2011

Da ich heute über Twitter lernen durfte, dass Wissenschaftler, die nicht bloggen, schlechte Wissenschaftler sind (http://twitter.com/#!/R_Koenig/status/85664065363521536), bin ich natürlich umso mehr bemüht, mich auf die Seite der Guten zu tippen. Als Zugeständnis an die Leser sollte man aber der reinen Textmenge, so denke ich, ab und zu ein verwaschenes Bild als visuelle Lockerung beifügen. Zum Beispiel diese klassische Gegenlichtaufnahme des beliebtesten Verweilraums, den Berlin-Mitte seinen Studierenden zu bieten hat: den Vorplatz des Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums. Dort trifft man nicht nur Hipster aller Semester und knausrige Nachwuchswissenschaftlerinnen, die zu ihrem Frozen-Yogurt unbedingt noch - wegen der langen Wartezeit - ein Gratistopping heraushandeln wollen, dafür fünfzehn andere Kunden noch länger warten lassen und dadurch den neueröffneten Laden (sofern das Gratistopping-Prinzip sich durchsetzt) schon am ersten Tag in den Ruin treiben. Sondern auch hochsympathische MitarbeiterInnen von Bibliothek und/oder Institut und fast jeden Nachmittag Mitglieder der LIBREAS-Redaktion. Wer einmal zu einer dieser ungezwungenen Pausen in der Sonne dazustoßen mag, kann uns einfach spontan (@libreas) antwittern oder -e-mailen. Wenn es dann passt, dann passt's.

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  1. […] jung sind (was auf die Bibliothekswissenschaft alter Prägung allerdings nur bedingt zutrifft, vgl. hier) und/oder aus einer Notwendigkeit geborene Schnittstellendisziplinen zwischen Disziplinen […]


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