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Wer übernimmt was? Zum Verhältnis von Digital Humanities und Geisteswissenschaften.

Posted in LIBREAS.Debatte, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 12. September 2013

Ein Kommentar von Ben Kaden (@bkaden)

Der Beitrag ist zwar nach den Zeitrechnungsstandards des WWW schon uralt, da er aber offensichtlich in der deutschen Digital-HumanitiesCommunity für einigen Wirbel sorgt und mir, nachdem er sich scheu unter meinem ansonsten schon zuverlässig zugreifenden Radar hindurch geduckt hatte, nun noch einmal mit Nachdruck (bzw. als Ausdruck) auf den Schreibtisch gelegt wurde, will ich doch wenigstens meine Kenntnisnahme dokumentieren.

Am 19.07.2013 druckte die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf der Themenseite Bildungswelten (S. 9) einen Beitrag des Literatur-Juniorprofessors Jan Röhnert (TU Braunschweig, Wikipedia-Seite) mit dem Titel Feindliche Übernahme? Die Geisteswissenschaften wehren sich gegen falsche Ansprüche der Informatik, aber setzen auf die „Digital Humanities“. Er berichtet vom „Gespenst einer feindlichen Übernahme [der geisteswissenschaftlichen] Fächerkultur durch die Dogmen der Informatik.“ , was offensichtlich derzeit das heißeste Eisen im Metadiskurs der Geisteswissenschaften zu sein scheint. Jedenfalls auf dem Sommerplenum 2013 des Philosophischen Fakultätentages in Chemnitz im späten Juni.

Eigentlich handelt es sich um einen Methodenstreit, denn die Geisteswissenschaften fürchten ihre Mathematisierung und damit einhergehend die Verdrängung von Interpretation bzw. Hermeneutik. Erstaunlicherweise ist die Bibliothekswissenschaft hier einen Schritt voraus, denn ähnliche Debatten wurden am Berliner Institut bereits Ende der 1990er Jahre rege ausgefochten, wobei die zweite Seele (meist die biblio- bzw. szientometrische) lange Zeit parallel irgendwo unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Informationsversorgung“ oder auch „Dokumentation(swissenschaft)“ parallel an ihrer Entfaltung arbeitete, um schließlich mit der nahezu Volldigitalisierung bibliothekarischer Datenverarbeitungsprozesse und endlich auch mehr und mehr der Bibliotheksbestände zur bestimmenden wurde. Dass die Gegenstände der Bibliothek digitalisiert wurden ist insofern von Bedeutung, als dass diese Digitalisierungen zugleich häufig die Gegenstände der Geisteswissenschaften (nämlich Texte) digitalisierten und so erst die Digital Humanities möglich machten.

Der Paradigmenwechsel, den laut Jan Röhnert der Bremer eScience-Fachmann Manfred Wischnewsky einfordert, vollzog sich dort schon weitaus früher und mittlerweile sind alle Facetten metamedialer Auseinandersetzung mit analogen Bibliotheksbeständen (Einbandkunde, Buchgeschichte, u. ä.) längst aus den Lehrplänen des Berliner Instituts verschwunden. Das Medium Buch ist für die Bibliothekswissenschaft in Berlin weitgehend irrelevant geworden. Betrachtet man die Debatten der Digitalen Geisteswissenschaften aus einer medialen Warte, geht es dort um einen ganz ähnlichen Schritt: Die Auflösung des Einzelobjekts, also in der Regel eines Werkes, das in der Literaturwissenschaft oft klassischerweise in direkter Beziehung zum Medium Buch oder etwas ähnlich Berührbarem steht.

Es sind verschiedene Stränge, die im Diskurs zusammen- und auch aneinander vorbei laufen. Jan Röhnert berichtet von Positivismus-Vorwürfen und dem bekannten und aus irgendeinem Grund gepflegten Irrtum, bei dem man „quantitativ erzeugte technische Simulationen bereits als qualitativen Wissenszuwachs ausgibt.“

Zumal der Wissensbegriff selbst, wie heute jedem bewusst sein dürfte, mit oft myopischem Blick auf ein Simulacrum verweist. Abstrakt ist das Wort „Wissen“ auch durch seine Übernutzung in den vergangenen Jahrzehnten derart zu einem substanzarmen Textbaustein eingeschrumpft, dass eigentlich jeder mit etwas Sprachbewusstsein ausgestattete Diskursteilnehmer auf dieses Hohlwort zu verzichten bemüht sein sollte.  Dann würden vielleicht auch die aus dem mit dem Ausdruck „Wissen“ fast  verbundenen Anspruchsdenken nicht ganz unzusammenhängenden Missverständnisse reduziert.

Aus einer distanzierten Warte ist die Aufregung ohnehin unverständlich, handelt es sich bei den Digital Humanities doch ganz offensichtlich nicht um die Fortsetzung der Geisteswissenschaften mit digitalen Methoden, sondern um die Auseinandersetzung mit traditionell geisteswissenschaftlichen Gegenständen mittels digitaler Aufbereitungs- und Analysewerkzeuge. Es ist eher eine neue Form von Wissenschaft, die hier entsteht. Dass man sich einer geistigen Schöpfung nach wie vor auch hermeneutisch nähern kann (und zum Wohle der Menschheit auch zukünftig muss), sollte außer Frage stehen. Bedenklich wird es erst, wenn Förderinstitutionen Durch- und Weitblick verlieren und aus Zeitgeist-, Marketing- oder anderen Gründen denken, dass man die Unterstützung für die Geisteswissenschaften auf die Digital Humanities umschichten sollte. Diese Angst ist, wie man oft von Betroffenen hört, nicht ganz unbegründet und wahrscheinlich die eigentliche Essenz der Behauptungskämpfe.

Inhaltlich verwundert dagegen (nicht nur) aus einer semiotischen Warte, warum die traditionellen Geisteswissenschaften (eine behelfsmäßige Formulierung in Abgrenzung zum Ausdruck der „digitalen Geisteswissenschaften“) ihre hermeneutische Kompetenz nicht noch stärker auf natur- und sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche ausweiten. Wer beispielsweise Franz Hessels Stadtraumlektüren kennt, weiß sofort, dass sich jedes beobachtbare soziale Gefüge genauso wie auch die Geometrie als Narrativ lesen und verstehen lässt.

Übrigens auch die Debatte um die „Feindliche Übernahme“, wobei Jan Röhnert unnötig in die – etwas wohlfeile –  Parallele zu geheimdienstlicher Datenanalyse stolpert:

„Solche Software, die  – nicht unähnlich den kürzlich aufgedeckten Spionageprogrammen „Prism“ und „Tempora“ –  unvorstellbar große Informationsmengen analysiert […]“

So naheliegend die Ähnlichkeit ist, so unglücklich ist der Vergleich. Denn dass natürlich geheimdienstliche Aufklärung seit je massiv auch auf interpretatorische, teilweise sicher auch hermeneutisch inspirierte Verfahren setzte, steht genauso außer Frage. Die Parallele ist keinesfalls neu und als kritisches Argument nur tauglich, wenn man sie auch entsprechend erläutert. In der Länge dieses Artikels ist das freilich nicht möglich. Dabei liegen mit den zitierten Positionen von Gerhard Lauer und Malte Rehbein eigentlich schon sehr konsensfähige Positionen auf dem Tisch und im Text und auch Jan Röhnert beendet seine Schilderung derart versöhnlich, dass man als außenstehender Beobachter die Aufregung gar nicht versteht. Übrigens auch nicht die, der Digital-Humanities-Community, von der mir heute berichtet wurde.

 (Berlin, 12.09.2013)

4 Antworten

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  1. Walther Umstätter said, on 12. September 2013 at 22:06

    Ich befürchte, dass auch viele Literaturwissenschaftler die Aussage des whistle blowers Snowden “Sie haben keine Ahnung, was alles möglich ist” bislang noch nicht ernst genug nehmen. Die meisten können das wohl auch nicht, weil es ja gerade so unvorstellbar sein soll. Sicher ist nur, dass es nicht nur um „unvorstellbar große Informationsmengen“ geht, wie J. Röhnert meint, sondern auch um das, was seit Jahren als semantic web diskutiert wird, und genaugenommen handelt es sich dabei um Semiotik, und damit um die Bedeutungserkennung von Sprache durch entsprechend programmierte bzw. lernende Computer. Auch die Hoffnung, dass „Reflexion und Kreativität“ von Computern nicht geleistet werden kann, dürfte inzwischen recht blauäugig sein. Sicher stehen wir noch am Anfang dieser Entwicklung, und so lange die USA ihr geheim gehaltenes Wissen nicht Preis geben, damit ihre Gegner nicht die ganze Unvorstellbarkeit ihres Know Hows durchschauen, können all diejenigen, die sich vor dieser Entwicklung fürchten, weil sie zu wenig darüber wissen, sich gegenseitig Mut machen, dass ihr Wissen ja noch immer gebraucht wird. Die Parallele zur Bibliotheks- bzw. Informationswissenschaft ist durchaus richtig. Da haben sich die Verlage und etliche ihrer Leser bezüglich der Printmedien auch Jahrzehntelang gegenseitig Mut zugesprochen, und trotzdem nicht verhindern können, dass immer mehr Bereiche ins Internet abwanderten und auch weiterhin abwandern werden, während die Druckauflagen der Zeitungen stetig sinken. Frei nach M. Planck kann man nur sagen, veraltetes wird nicht widerlegt, es stirbt nur aus, und oft sogar sehr langsam, weil das Wissen ihrer Vertreter langsam veraltet und dann erst ausstirbt, während inzwischen eine neue Generation heranwächst, die dann weniger feindlich als zwangsläufig übernimmt.
    Walther Umstätter

  2. Ulla Tschida said, on 12. September 2013 at 23:40

    Aufregung kann Anlass zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Standpunkten sein – insofern finde ich Aufregung als Impulsmoment erstmal gut und im Kontext der „Digital Humanities“ sinnvoll und angebracht.
    Die im ZEIT-Artikel gezogene Parallele digitaler Methoden mit „Prism“ oder „Tempora“ ist tendenziös und unterstellt meines Erachtens allen wissenschaftlichen Disziplinen, die ihre Datenanalysen mit Hilfe von Software-Algorithmen vornehmen, dubiose Machenschaften. Das fördert *eine* Wahrnehmung von Digitalen Humanisten, nämlich die von technikhörigen Adepten. Das hilft weder den (durchaus unterschiedlichen) Anliegen derer, die sich als „Digital Humanities“ organisieren, noch jenen, die den wissenschaftlichen Austausch zu diesem Phänomen suchen. Die Gräben zwischen den „digitals“ und „non-digitals“ werden nicht nur unnötig vertieft, sondern unreflektiert übernommen. (Und meiner bescheidenen Meinung nach trägt die Informatik ausnahmsweise mal nicht Schuld an dem Dilemma 😉

    Insofern verstehe ich die Aufregung – und sehe sie als positiven Impuls für eine Rückkehr zu sachlichen Diskussionen, mit möglichst vielen und auch unterschiedlichen Beiträgen aus den Geistes-und Sozialwissenschaften. Meines Erachtens wissen wir noch viel zu wenig darüber, was der Digitalisierungs-Trend für die unterschiedlichen Akteure der wissenschaftlichen Praxis (wie Fachwissenschaftler, wissenschaftliche Dienstleister oder Forschungsmanager) bedeutet, was deren jeweilige Bedingungen und Möglichkeiten sind, welche Ziele oder Interessen sie damit verbinden wollen/müssen oder welche Konsequenzen das haben kann/soll. Mögliche Antworten darauf kann kaum eine Disziplin alleine leisten, sondern erfordert den Dialog. Neben den aktuellen und potentiellen „Digital Humanists“ gibt es einige Disziplinen, die Interessantes zu Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung von Forschung und wissenschaftlicher Praxis beitragen können – sei es die Wissenschaftsgeschichte, die Wissenschafts-und Technikforschung, die Wissenschafts-, Technik- oder Organisationssoziologie, und wie Ben ausführt, sicher auch die Bibliotheks-und Informationswissenschaften. Populistische Gemeinplätze à la „google macht uns alle blöd“ (und daran erinnert mich der Vergleich mit PRISM) helfen jedenfalls kaum dabei, die Digitalisierung der Wissenschaft als seriöses und relevantes Forschungsthema voranzutreiben. Insofern – aufregen, Fragen stellen und gemeinsam Antworten suchen!

  3. Ben said, on 13. September 2013 at 13:07

    Wer den Volltext von Jan Röhnerts Artikel nicht zur Hand hat, findet ihn übrigens als eine Art Kollateralzweitveröffentlichung in der Pressedokumentation des Münchner Strukturbiologen Patrick Cramer, der glücklicherweise Ko-Autor des über dem Artikel abgedruckten Beitrags Lob der Promotion war. Und zwar hier als PDF.


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