LIBREAS.Library Ideas

CfP #43: Soziologie der Bibliothek

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 18. November 2022

Soziologie als Wissenschaft stellt grundsätzlich die Frage, wie Gesellschaft funktioniert und in welcher Beziehung das Individuum und das Kollektiv stehen. Sie fragt: Welche Regeln und Strukturen gibt es und welche Wechselwirkungen existieren im menschlichen Miteinander. Und sie schaut nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf Institutionen. Diese manifestieren und objektivieren die Regeln des Miteinanders funktional. Und sie erweisen sich als außerordentlich beständig. Die Soziologie beobachtet, beschreibt und versteht bestenfalls. Das daraus resultierende Wissen bietet, so die mehr oder minder explizit gemachten Prämisse, auch immer die Möglichkeit, diese Prozesse, die Institutionen und damit auch die Gesellschaft zu gestalten. Wenngleich die Diskurse der traditionellen Soziologie mit Theoretikern wie Max Weber schon viele Schleifen durchlaufen haben, bleibt die Relevanz der grundsätzlichen Fragestellungen, die auf interkulturelle und kritische sowie interdisziplinäre Ansätze erweitert worden sind, bestehen.

Dabei gibt es in der Soziologie selbstverständlich unterschiedliche Ansätze, beispielsweise stark theoretische, die vor allem beschreiben, systematisieren und aus diesen Beschreibungen Schlüsse ziehen. Oder auch fast vollständig empirische, die aber notwendig sind, um die Beschreibungen der Theorien in der Realität zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen.

Keine Bibliothekssoziologie

Eigentlich könnte man erwarten, dass Bibliotheken für die Soziologie einen interessanten Untersuchungsbereich bieten. Zugleich wäre es sinnvoll, wenn Bibliotheken in ihre Entwicklungsplanungen und der alltäglichen Arbeit soziologisches Wissen einfließen lassen würden.

Bibliotheken sind Institutionen, die direkt in der Gesellschaft wirken, auf die aber auch gesellschaftliche Entwicklungen unmittelbar wirken – man denke nur an die zunehmenden Schwierigkeiten von Bibliotheken, Personal zu rekrutieren, die viel mit demographischen Entwicklungen und anderen gesellschaftskulturellen Veränderungen zu tun hat. Gleichzeitig sind sie – manchmal zum Leidwesen einzelner Engagierter – Institutionen, also Strukturen, die sich nicht sofort, nicht beliebig und auch nicht unendlich weit verändern lassen. Diese Spannung analytisch zu durchdringen, könnte ein Interesse von beiden Seiten, der Soziologie und dem Bibliothekswesen, sein. Zumal es nicht wenige “Bindestrich-Soziologien” gibt, welche sich mit einzelnen Institutionen beziehungsweise institutionalisierten Gesellschaftsbereichen befassen.

Und dennoch gibt es keine Bibliothekssoziologie. Es finden sich einzelne Artikel oder Monographien, die immer wieder neue Ansätze zu so einer spezifischen Soziologie versuchen – dann aber nicht weiter aufgegriffen werden. Ein Beispiel für so einen Artikel aus unserer eigenen Zeitschrift wäre “Zur Legitimation Öffentlicher Bibliotheken” von Fabio Tullio (2016), der Öffentliche Bibliotheken organisationssoziologisch untersuchte.

Abgesehen davon scheint im Bibliothekswesen eher mit Schlagworten aus der Soziologie gearbeitet zu werden, die dann oft aus ihrem eigenen Kontext gelöst und nicht immer begriffsgeschichtlich besonders stabil unterlegt re-interpretiert werden. Dafür symptomatisch war in den letzten Jahren wohl die Nutzung des Begriffs “Dritter Ort”. Ursprünglich eigentlich eher auf Trinkhallen oder Kneipen bezogen, wurde seine Bedeutung im Bibliothekswesen sehr offen für Konzepte und Aussagen adaptiert wurde, die mit dem Originalbegriff nicht mehr in jedem Fall viel zu tun haben. Auch fungieren insbesondere Öffentliche Bibliotheken oftmals, wenn man bei der Zählweise bleiben möchte, sogar eher als eine Art „Zweiter Ort” für Menschen, die beispielsweise keinen anderen Arbeitsort oder Zugang zur Informationsstrukturen haben.

Drei Themenbereiche

Unter den wenigen längeren Werken, die sich explizit mit einer Soziologie der Bibliotheken befassen, stechen drei heraus. Sie stehen für verschiedene soziologische Fragestellungen und zeigen, dass an Bibliotheken als Untersuchungsgegenstand sehr unterschiedlich herangegangen werden kann.

In seinem 1954 zuerst und dann, in einer erweiterten Auflage, nochmal 1965 veröffentlichten “Studien zur Soziologie der Bibliothek” fokussierte Peter Karstedt sehr darauf, wer Bibliotheken und Veranstaltungen in Bibliotheken besuchte, wie von diesen Personen gelesen wurde und welche Auswirkungen dieses Lesen auf diese Personen hatte. (Karstedt 1965) Er ging dabei vor allem beschreibend vor und beschränkte sich auch nicht alleine auf die Soziologie, sondern bezog andere Disziplinen mit ein. Hingegen auf die Institution Bibliothek selber fokussierte Frank Heidtmann in seiner Dissertation “Zur Soziologie von Bibliothek und Bibliothekar”. (Heidtmann 1973) Er analysierte, wie sich die Institution Bibliothek – also das Zusammenspiel von Prozessen, Abläufen, koordinierten Handlungen, Entscheidungen des Personals – immer wieder so reproduziert, dass am Ende erwünschte Ergebnisse entstehen, also bei ihm vor allem Nutzer*innen mit Literatur versorgt werden. Auch er ging beschreibend vor, dabei aber von organisationssoziologischen Prämissen aus. In gewisser Weise nutzte er die Bibliothek als Anwendungsbeispiel soziologischer Theorie.

Das Bibliothekspersonal selber, deren soziale Schichtung und Veränderungen dieser Schichtung, nahm Bernadette Seibel – allerdings für Frankreich – in “Au nom du livre – analyse sociale d’une profession: les bibliothécaires” in den Blick. (Seibel 1988) Sie ging empirisch vor, wenn auch gestützt auf soziologische Kenntnisse über Sozialschichten.

Und diese Perspektive steht denn auch, wenngleich mehr biografisch als akademisch geprägt,  für uns als Redaktion hinter der Themenwahl. Wir als Redaktion fanden zum Thema “Soziologie der Bibliothek” als Desiderat, als wir darüber diskutierten, mit welchen gebrochenen, suchenden und unerwarteten Biographien viele von uns ins Bibliothekswesen eingestiegen sind. Diese, wenn man so will, vermeintlich Zufälligkeit in der Entscheidung schien uns kein Zufall zu sein, sondern strukturell angelegt. Wir merkten auch, dass das Bibliothekspersonal – wer arbeitet in Bibliotheken, auf welchen Stellen, mit welchem Einfluss, mit welchem sozialen Hintergrund – bislang nicht Thema der deutschsprachigen Forschung war. Wir wissen also nicht belastbar, ob wir in der Redaktion Ausnahmen oder typische Fälle darstellen.

Die oben benannten Arbeiten sind Jahrzehnte alt. Seitdem gab es immer wieder einzelne Artikel und auch Abschlussarbeiten. Grundlagenwerke wie die von Peter Karstedt, Frank Heidtmann oder Bernadette Seibel gab es aber unserer Wahrnehmung nach kaum noch. Ihre Stärke liegt auch heute noch darin, mögliche Herangehensweisen und Fragenkomplexe aufzuzeigen: Die Nutzer*innen, das Personal und die Institution Bibliothek als Untersuchungsgegenstände und die soziologische Beschreibung, die Anwendung soziologischer Theorien sowie die konkrete empirische Forschung als Herangehensweisen. Sollte sich in Zukunft einmal eine eigenständige Bibliothekssoziologie entwickeln, wird sie sich zwangsläufig in diesem Rahmen bewegen.

Einladung zur Mitarbeit

Im Schwerpunkt der Ausgabe #43 der LIBREAS. Library Ideas wollen wir gerne einen neuen Versuch wagen, Soziologie und Bibliothek zusammenzubringen. Nicht nur scheint es weiterhin, dass die Potentiale dazu groß sind, sowohl für die Soziologie als auch für das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft. Zudem verändert sich die Gesellschaft aktuell merklich – die Demographie, die soziale Schichtung, vor allem die abnehmende soziale Durchlässigkeit, die soziale Struktur der Städte aber auch der ländlichen Gebiete sind merklich in Bewegungen.

Es scheint, als wäre die Zeit reif, auch die Bibliothek wieder mehr soziologisch zu beschreiben, um zu verstehen, wie sie innerhalb dieser Entwicklung funktioniert und sich gleichzeitig verändert.

Das Feld für verschiedene Beiträge ist durch die drei oben genannten Werke gut umrissen. Uns interessieren zum Beispiel Beiträge, die die Funktion von Bibliotheken soziologisch beschreiben: Wer arbeitet in ihnen? Und in welchen Bereichen? Wie funktioniert die Bibliotheken als Institution und mit Bezug zu anderen Institutionen? Ist sie Teil von Systemen und wenn ja, von welchen?

Interessant fänden wir auch die exemplarische Anwendung soziologischer Theorien auf Bibliotheken: Ist sie mit Niklas Luhmann als sich selbst erhaltendes System zu beschreiben? Ist sie mit bildungssoziologischen, stadtsoziologischen oder auch lebensraum-fokussierten Theorien zu beschreiben? Oder lässt sich sinnvoll eine Analyse der sozialen Schichtung von Nutzer*innen und Personal durchführen?

Nicht zuletzt sind Berichte oder Überlegungen dazu, wie in der Bibliothekspraxis soziologische Methoden angewandt werden können, ein mögliches, interessantes Thema für Beiträge in diesem Schwerpunkt.

Dabei wünschen wir uns Beiträge ganz unterschiedlicher Art, sowohl aus der Bibliothekspraxis und -wissenschaft als auch der Soziologie, so wie auch die drei oben genannten Monographien ganz unterschiedlich sind. Gerne lesen wir ausgearbeitete empirisch basierte Studien ebenso wie soziologische Beschreibungen und Theoriediskussionen. Zur Einreichung der Zusammenfassung von Abschlussarbeiten mit soziologischen Fragestellungen rufen wir explizit auf. Und schließlich interessieren uns natürlich auch die biografischen Linien, die die Menschen in bibliothekarische Professionen brachten. Selbstreflektive Texte zu diesem Thema sind entsprechend auch willkommen.

Gerne diskutiert die Redaktion im Vorfeld auch erste Ideen oder Entwürfe von Beiträgen.

Einreichungsfrist für die Ausgabe #43 ist der 30. April 2023. Hinweise zur Einreichung finden sich in den Autor*innenhinweisen / Author guidelines auf der Homepage der LIBREAS.

Eure/Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Hannover, Göttingen, Lausanne, München)

Literatur

Heidtmann, Frank (1973). Zur Soziologie von Bibliothek und Bibliothekar : betriebs- und organisationssoziologische Aspekte. Berlin: deutscher bibliotheksverband, 1973

Karstedt, Peter (1965). Studien zur Soziologie der Bibliothek. (2., durchgesehene und vermehrte Auflage) Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1965

Seibel, Bernadette (1988). Au nom du livre analyse sociale d’une profession: les bibliothécaires. Paris: La Documentation française, 1988

Tullio, Fabio (2016). Zur Legitimation Öffentlicher Bibliotheken. In: LIBREAS. Library Ideas, #30 (2016), https://libreas.eu/ausgabe30/tullio/

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