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LIBREAS Call for Papers: #45: The Sound of Libraries. Ein Impuls in fünf Stationen

Posted in LIBREAS Call for Papers by libreas on 3. November 2023

I.

Sommer 2023. Eine Kantonsbibliothek. Die automatische Tür geht auf. Innen, in der ersten Etage, eine Ruhe, aber keine Stille. Links, der Kaffeeautomat in der Zeitschriftenecke gibt Töne von sich. Die beiden älteren Herren dort blättern in den Zeitungen, die sie vor sich haben. Rechts, an der Theke, unterhalten sich zwei Nutzer*innen mit eine*r Bibliothekar*in. Weiter oben, in der zweiten und dritten Etage, ist es ruhiger. Aber durch die offenen Fenster sind die Vögel vom Weinberg, der am Rande der Altstadt liegt, zu hören. Dennoch: Wer die Ausstellung in der obersten Etage besuchen will, verfällt fast automatisch ins Schweigen, in der Angst, jemanden zu stören. Dabei liegt der eigentliche Lesesaal, in dem explizit um Ruhe gebeten wird, anderswo, im Anbau, den er sich mit dem Kantonsarchiv teilt.

Bibliotheken haben einen eigenen Sound. Aber er wird eher selten und nur selektiv beschrieben. In der bibliothekarischen Fachliteratur finden sich vor allem Anmerkungen dazu, dass es falsch wäre, die Bibliothek mit Ruhe und stereotypen Bibliothekar*innen, die «Pssst» machen, zu verbinden. Aber wie man unschwer hört, ist da noch mehr. Es gibt einen Sound, wegen dem Menschen überhaupt in bestimmte Bibliotheken kommen. Dieser Sound ist nicht – ausser vielleicht in Magazinen – vollständige Ruhe. Er ist lebhaft, aber in einer gewissen, eigentümlichen, schwer greifbaren Form, die ein wenig ausserhalb der normalen Realität liegt.

II.

Geht man in der Kantonsbibliothek in den langen Gang rechts hinter dem Tresen, findet sich dort, ganz am Ende, ein Tisch mit drei Rechnern, die gerade niemand nutzt. Neben allen liegen Kopfhörer. Es sind Hörstationen für die fonoteca nazionale svizzera, die schweizerische Nationalbibliothek für Musik. Deren Tonaufnahmen kann man benutzen, wenn man direkt zu ihr nach Lugano fährt oder aber solche spezifischen Stationen in Kantonsbibliotheken, der Nationalbibliothek in Bern, Archiven oder Musikhochschulen in der Schweiz nutzt.

Musik in allen ihren Medienformen gehört zum Bestand von Bibliotheken. Ob Noten, Aufnahmen, Monographien über Musik, Zeitschriften oder auch – vor allem in Musikbibliotheken – Nachlässe von Musiker*innen und Instrumente selber – sie alle spielen eine Rolle im Bibliothekswesen. Nicht umsonst gibt es eigene Musikbibliotheken mit eigenem Weltverband (IAML) und einer deutschsprachigen Fachzeitschrift (Forum Musikbibliothek). Gerade in grösseren Öffentlichen Bibliotheken ist es normal, auch eigene Hörstationen und extra ausgebildete Musikbibliothekar*innen zu finden.

III.

Der gleiche Tag im Sommer 2023, einige hundert Meter von der Kantonsbibliothek entfernt, hinter dem Bahnhof. Vor der Bibliothek der Höheren Fachschule für Medizinberufe sitzen Studierende und blättern in Unterlagen. Einige sitzen alleine, einige in Paaren. An den weiter entfernten Tischen sitzen auch Gruppen und arbeiten gemeinsam an Aufgaben. Sie haben Fallberichte vor sich ausgebreitet, Bücher in Stapeln und folgen jetzt Anweisungen aus Arbeitsblättern. Öffnet man die Tür der Bibliothek, tritt an der Theke vorbei, setzt sich dies fort. Hinter den Buchregalen sitzen, am Fenster aufgereiht, an kleinen Tischen, Studierende alleine oder zu zweit. Sie schauen auf Rechner, sie notieren Dinge, sie blättern in Büchern. Nicht vollkommen ruhig, aber  nicht laut. Weiter hinten im Raum, teilweise auch in kleinen, extra dafür angebauten Ecken, sitzen wieder kleine Gruppen angehender Pfleger*innen und bearbeiten selbstständig Fälle. Sie diskutieren, aber es ist kaum zu hören. Sehr diszipliniert gehen sie der Reihe herum vor, niemand fällt sich ins Wort, niemand wird laut. Dazwischen gehen die Bibliothekar:innen zwischen den Regalen und stellen Bücher ein.

Spätestens seit den 1990er Jahren sind Bibliotheken in Hochschulen daran interessiert, für die Nutzer*innen Arbeitsräume und Landschaften einzurichten, in denen sie anders, lauter, intensiv, angeregt miteinander arbeiten können. Als Idealfall scheint die flexible Gruppenarbeit zu gelten, auch wenn gleichzeitig immer Möglichkeiten zur ruhigen Arbeit an Einzelarbeitsplätzen eingerichtet werden.

Grundsätzlich wollen Bibliotheken eine möglichst abwechslungsreiche Nutzung ermöglichen. Und abwechslungsreich heisst auch, in unterschiedlicher Lautstärke.

IV.

Am späten Nachmittag, zurück vom Bahnhof zum Rand der Altstadt. Hier findet sich die Stadtbibliothek. Gruppen von Tourist*innen gehen an ihr vorbei, ohne sie gross zu beachten. Das Gebäude scheint ihnen oft nicht interessant genug. Aber die Bewohner*innen der Stadt frequentieren das Café im rechten Anbau recht intensiv. Das Café hat einen direkten Durchgang zur Bibliothek, doch meistens wird der Eingang von der Strasse benutzt. Im Bibliotheksraum ist es auffällig ruhiger als im Café. Keine Musik, kein Geklapper von Geschirr. Aber doch Leben. Menschen gehen durch den Raum, sitzen an den Tischen, in den Sitzecken. Auf der ganz anderen Seite, im linken Anbau, spielen Kleinkinder in der Ludothek. In der Bibliothek befindet sich wiederum eine Poststelle, die von den Bibliothekar*innen mitbetreut wird. Hier ist manchmal Leben, wenn Briefe verschickt und Päckchen eingescannt werden. Im Augenblick aber ist die Hauptbewegung anderswo im Raum. Bibliothekar*innen beginnen, Regale zur Seite zu schieben, Stühle aufzubauen, eine Bühne zu bereiten. Dafür wird die heute Mittag benutzte Sitzecke der «Schenk mit eine Geschichte»-Veranstaltung, in der Kindern in einer Fremdsprache vorgelesen wird, fortgeräumt. Aber morgen muss sie wieder aufgebaut werden, weil die nächste Gruppe Kinder kommt. In einigen Stunden hat einer der bekannten lokalen Autoren hier eine Lesung, inklusive Musikbegleitung. (Für jedes neue Buch macht er bei einer Lesereihe auch hier in der Stadtbibliothek halt. Es wird dann immer sehr voll.)

Bibliotheken sind Veranstaltungsorte. Während man bis nach der Mitte des 20. Jahrhunderts dafür gesonderte Räume, Auditorien, gar Konzertsäle in Bibliotheken einbaute, gilt heute der normale Bibliotheksraum als der bevorzugte Ort dafür. Das hatte beispielsweise Auswirkungen auf die Möblierung von Bibliotheken. Es ist mittlerweile nahezu unmöglich, bei den bekannten Anbietern Regale zu kaufen, die nicht flexibel durch die Gegend gefahren werden können. Ebenso selten findet man noch Bibliotheken, die nicht irgendwo einfach aufzustellende Stühle und Tische, Sitzsäcke, aber auch Mikrophone und Mischpulte verstaut haben. Ein Veranstaltungsbudget gehört heute ebenso zur Bibliothek wie regelmässige Angebote für Kinder und Familien.

Und darüber hinaus wird kontinuierlich versucht, Bibliotheken mit weiteren Angeboten zu verbinden. Bibliothekscafés sind so alltäglich geworden, dass sie kaum noch gesondert erwähnt werden. Postfilialen, kleine Läden für lokale Produkte, Automaten mit Büromaterialien – die Frage ist heute eher nicht mehr, ob Bibliotheken etwas in dieser Art betreiben, sondern nur, was genau.

Diese Veranstaltungen und Angebote verändern auch die Soundlandschaft der Bibliotheken – einige mehr, andere weniger. Die Geräusche werden anders, die Gespräche haben einen anderen Ton.

Keine Kantonsbibliothek sondern das Stiegenhaus der Slowenischen Nationalbibliothek in Ljubljana, fotografiert von Thomas Ledl, der die Aufnahme unter einer CC-BY-SA 4.0-Lizenz für die Wikipedia bereitstellte. Wir haben uns für diese Illustration entschieden, weil sie perfekt ein unter einer PDM 1.0 DEED-Lizenz im Internet Archive bereitgestelltes Klangbild aus dem Lesesaal eben dieser Bibliothek begleitet. Der Klick aufs Bild spielt die Feldaufnahme ab.

V.

Klacken, murmeln, sirren, rascheln, flüstern, zwitschern, scharren, hallen, knarzen, klappern, brummen, piepen, knistern. Was noch? Die Ausgabe #45 der LIBREAS. Library Ideas fragt genau danach: Was ist dieser Sound der Bibliotheken? Was macht ihn aus, wer bestimmt ihn und wen beeinflusst er? Verändert er sich und wenn ja, wie und warum? Dabei soll es um die ganzen verschiedenen Sounds gehen: Wie «klingt» die Bibliothek für Nutzer*innen? Wie «klingt» sie für Bibliothekar*innen selber? Wie «klingen» der Bestand und das Magazin? Wie klingt die Grossstadtbibliothek, die Bibliothek einer kleinen Hochschule oder der Bücherbus?

Dabei soll es um die konkreten Klänge gehen, also das, was gesagt, gesungen, an Geräuschen gemacht wird, wenn etwas durch die Gegend geschoben wird; aber auch um die Sounds, die in der Bibliothek angeboten werden. Sicher: In Musikbibliotheken und -abteilungen ist das konkreter zu fassen, all die Noten, Tonträger, Instrumente, Streams. Aber es gilt auch für den ganzen Rest der Bibliotheken.

Für diese Ausgabe ruft die LIBREAS. Library Ideas also zu Einreichungen auf, die sich dem Sound der Bibliotheken widmen. Ganz besonders freuen würden wir uns über kreative Einreichungen (Geschichten, Songs, Collagen oder Ähnliches), die sich dem Thema in einer passend offenen Weise nähern. Aber auch Berichte aus Musik- und anderen Bibliotheken, wissenschaftliche oder historische Arbeiten sind gerne gesehen oder gehört. Falls Sie Ihre / du deine Idee für eine Einreichung im Vorfeld besprechen möchten / möchtest, ist die Redaktion dafür gerne bereit.

Einreichungsschluss für diese Ausgabe ist der 30.04.2024. Über Beiträge, Beitragsideen und weitere Anregungen freuen wir uns. Kontakt: redaktion@libreas.eu

Eure Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Chur, Göttingen, Hannover, München, Potsdam)

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