LIBREAS.Library Ideas

CfP #42: Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Posted in LIBREAS Call for Papers by Karsten Schuldt on 14. Juli 2022

Zahlenmystik ist eine Sache, der sich LIBREAS gemeinhin verschließt. Popkultur liegt uns schon näher. Und die 42 biegt von Level 42 bis Coldplay, Doctor Who bis zur Nummer von Fox Mulders Apartment vielfach codiert immer wieder um die Ecke und erinnert daran, wie eine kurze Eingebung in einem fiktionalen Werk ein memetisches Eigenleben entwickeln kann. 

In Douglas Adams Roman Per Anhalter durch die Galaxis ist „42“ die Antwort auf Alles. Im ASCII-Code steht die 42 für den Asterisk. Der Satz, der alles enthält, wäre: *. Überfordert? Das ist nachvollziehbar. Bei Douglas Adams ist die 42 das Ergebnis einer Berechnung eines Supercomputers nach einigen Millionen Jahren Rechenzeit. In der Narration stellt sich heraus, dass die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ (Englisch: „life, the universe and everything“) einfach zu unpräzise ist und diese Antwort somit (noch) nicht verständlich ist.

Information Retrieval und Big Data

Das „zu komplex“ und „zu fuzzy“ ist ein Leitmotiv der Informatik vor der Durchsetzung einer Künstlichen Intelligenz, die als Übersetzungsinstanz zwischen der Unendlichkeit des Datafizierten und dem Verständnis des informatischen Menschen auftreten kann. Unschärfe und Übermaß seien ein Symptom der Gegenwart. Das Phänomen „Big Data“ beschreibt eine große Menge von Daten, die zu komplex und zu unstrukturiert ist, als dass sie von bekannter Hard- oder Software in einer akzeptablen Zeit verarbeitet werden könnte. [1] In diesem Fall liegt also eine unabschätzbar große Menge potenzieller Informationen vor, die jedoch nicht entschlüsselt oder kontextualisiert werden kann. Das Problem ist also der fehlende Kontext der Antwort „42“. Die Lösung wäre eine Raffinierung zu „smart data”. Aber was ist „smart”? Lässt sich „big” als „too big“ in eine prinzipielle Unbestimmbarkeit blackboxen, muss „smart“ spezifiziert werden, um als Attribut eine sinnvolle Rolle zu spielen. Die Informationswissenschaft hat diese informationsphilosophische Herausforderung bekanntlich wegabstrahiert, indem sie für die „Smartness“ von Informationssystemen beziehungsweise Rechercheinstrumenten die Werte Recall und Precision definierte, also das Verhältnis von Genauigkeit (precision) und Trefferquote (recall), folgender Formel folgend:

precision = relevant documents and retrieved documents / retrieved documents. (Wie viele der ermittelten Treffer sind relevant?)

recall = relevant documents and retrieved documents / relevant documents. (Wie viele der relevanten Treffer wurden ermittelt?)

Die Smartness eines Systems wird dadurch in der Theorie messbar. In der Praxis gilt das aber nur für entwicklungsabgeschlossene und komplett ausgemessene Datenstrukturen, die mit einem endlichen Set an Fragen angesprochen werden. Für das assoziative Tohuwabohu menschlichen Denkens – und Fühlens und Handelns – ist der Ansatz aber ebenso hilflos wie für die vernetzten und sich ständig verschiebenden Informationssysteme der digitalen Gegenwart. 

Entsprechend nachvollziehbar wird die Objektivität dieses Konzepts und dessen Relevanz vielfach diskutiert. [2]

​​Im Falle der „42“ stellt sich die Frage, ob diese Antwort tatsächlich relevant ist und wir die Antwort nur nicht begreifen können. Oder ob die Frage selbst Unsinn ist, weil menschliche Lebenswelten und menschliche Informationswelten eine begrenzte Bedingtheit voraussetzen, die eine Frage nach dem „Leben, Universum und dem ganzen Rest“ grundlegend negiert. Möglicherweise geht es also schlicht nicht darum, ob die Antwort, sondern darum, ob die Frage Relevanz hat. 

Wir können nicht beurteilen, ob die Antwort „42“ zutreffend ist oder nicht. Vielleicht ist sie beides zugleich, eine Schrödinger’sche Katzenkistenzahl. Oder sie ist der relevante Zufallstreffer, den man gerade nicht gesucht hat. Denn dass sie wirkt(e), siehe Popkultur, ist unbestreitbar. So ist die „42“ vielleicht ein Idealtyp der Serendipity. [3] Sie ließ sich nicht sinnvoll suchen, aber finden und entfaltet ihren eigentlich Sinn erst nach ihrer Entdeckung beziehungsweise Erfindung? Die Informationswissenschaft hat auch das in einer Formel schematisiert: 

S=b(s)/b

(S: Serendipität, b(s): Anzahl der relevanten Ergebnisse (auch, wenn nicht direkt danach gesucht wurde), b: Anzahl der nicht relevanten Ergebnisse).

Aber auch hier forscht sie vermutlich in die falsche Richtung des Zeitstrahls. Zumindest müsste man von potenziell relevanten Ergebnissen oder besser noch konditional zukünftig relevanten Ergebnissen sprechen. Die Bedingung ist freilich, dass sie entdeckt werden. Erst mit der Öffnung dieser Kiste wird die Relevanz relevant. Schrödingers Retrievalkatze statt Lycos-Hund. 

Der viel zitierte Serendipitätseffekt [4] in der engeren informationswissenschaftlichen Auslegung greift natürlich und vor allem auch beim Stöbern im physischen Raum, zum Beispiel in der Freihandaufstellung einer Bibliothek. [5] Er greift andererseits bei jedem Akt der Informationsaufnahme, vom Channelsurfing bis zum Gang um den Block. Und seit je gibt es Bemühung, diese Serendipity doch zu lenken – von der Schaufensterauslage bis hin zu Recommenderverfahren in Online-Shops und Knowledge Discovery(!) Systemen.

Die Messbarkeit von Relevanz

Wie also organisieren wir Präzision und Relevanz in unüberschaubaren Kontexten? Dieser Urfrage der Wissensorganisation möchten wir mit der Ausgabe 42 nachgehen. Die Anschlusspunkte sind erwartbar vielfältig: Von einer Auseinandersetzung mit den benannten Grundthemen der Informationswissenschaft zu den praktischen Auswirkungen einer Volldatafizierung von Arbeits- und Lebenswelten bis hin zur Wissenschaftsbewertung oder Impactmessung in der Kultur bieten sich zahllose Verknüpfungspunkte und wir als LIBREAS sind offen für alle und darüber hinaus.

Der auf Zitationsanalysen basierende Impact-Faktor ist allgegenwärtig, aber auch viel kritisiert. [6] Nichtsdestotrotz entscheidet der zeitschriftenbezogene Messwert mit in Berufungsverfahren und in der Vergabe von Fördermitteln, bei welchen doch die akademischen Meriten im Mittelpunkt stehen sollten. Ist der Impact-Faktor also das wissenschaftsevaluierende Pendant zur Antwort „42“ – als Antwort auf eine nicht beantwortbare Frage? Weil es eine Antwort geben muss? Vor diesem Hintergrund sind gleichwohl Beiträge willkommen, die sich mit der nahezu omnipräsenten Quantifizierung von eigentlich qualitativ zu betrachtenden Aspekten – und Auswirkungen dessen oder Alternativen dazu – beschäftigen. Der Bezugspunkt kann auch außerhalb der Wissenschaft liegen, also jegliche Formen der (numerischen) Erfolgsmessung wie Bibliotheksentwicklungspläne oder Ähnliches ansprechen.

Lost in Translation

Einen weiteren Bereich wollen wir noch herausheben: die Frage der Übersetzbarkeit. In Per Anhalter durch die Galaxis existiert ein überaus innovatives und effektives Tool zum Management der Vielfalt der Sprachen. Bei dem sogenannten „Babelfisch“ handelt es sich um ein Tierchen, welches ins Ohr eingesetzt wird und dort das Verständnis aller existierenden Sprachen ermöglicht. Das klingt wünschenswert und inspirierte zahllose technische Annäherungen an automatisierte Übersetzungen. Aus einer semiotischen Perspektive lassen sich die benannten informationswissenschaftlichen Leitgrößen Relevanz und Präzision wunderbar mit den syntaktischen, semiotischen und pragmatischen Wirkung in Beziehung setzen. Wie präzise wird ein Wort übertragen, wie genau seine Bedeutung übersetzt und wie exakt die Intention der Ursprungsaussage vermittelt? Und welches Potenzial haben serendipitöse, also unerwartete, Bedeutungsverschiebungen? Vielleicht ist ja gerade dieses Etwas-Anders-Verstehen, die abweichende Interpretation, der Schlüssel zu einem unerwarteten Sinn. Könnten gerade die Unschärfen von DeepL, Google Translate & Co. etwas aufzeigen, was wir bei präziseren Übertragungen übersähen? Und was bedeutet das für die Entwicklung von KI-gestützten Analyse- und Übersetzungswerkzeugen? Auch dazu würden wir sehr gern etwas aus Theorie, Praxis und allem Dazwischenliegenden erfahren. 

Und schließlich interessiert uns auch: Wie lautet die Frage, die der Antwort „42“ einen uns verständlichen Sinn gibt? Alle Vorschläge sind willkommen. 

Einladung zur Mitarbeit

Im Schwerpunkt der Ausgabe #42 der LIBREAS. Library Ideas stehen all die genannten Themen. Dabei wünschen wir uns Beiträge ganz unterschiedlicher Art, sowohl aus der Bibliothekspraxis und -wissenschaft als auch Künstlerisches und/oder Absurdes.

Einreichungsfrist für die Ausgabe #42 ist der 15.09.2022. Hinweise zur Einreichung finden sich in den Autor*innenhinweisen / Author guidelines auf der Homepage der LIBREAS.

Eure/Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas

(Berlin, Göttingen, Lausanne, Potsdam, München)

Literatur

Adams, Douglas (2009): Per Anhalter durch die Galaxis. Heyne : München.

Björneborn, Lennart (2017): Three key affordances for serendipity. Toward a framework connecting environmental and personal factors in serendipitous encounters. In: Journal of Documentation, 73(5), Oktober 2017, 1053–1081.

Callaway, Ewen (2016): Beat it, impact factor! Publishing elite turns against controversial metric. In: Nature 535 (2016), Issue 7611, 210.

Freyberg, Linda (2021): Ikonizität der Information. Die Erkenntnisfunktion struktureller und gestalteter Bildlichkeit in der digitalen Wissensorganisation. Berlin : Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, 2021. Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft ; 484). https://doi.org/10.18452/23813.

Hjørland, Birger (2010): The foundation of the concept of relevance. In: Journal of the American Society for Information Science and TechnologyVol. 61, No. 2, 217–237.

Krameritsch, Jakob (2007): Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Waxmann: Münster.
Snijders, Chris; Matzat, Uwe; Reips, Ulf-Dietrich (2017): Big Data. Big gaps of knowledge in the field of Internet. In: International Journal of Internet Science, 7/2017, 1–5: http://www.ijis.net/ijis7_1/ijis7_1_editorial.pdf.

Fußnoten

[1] Siehe Snjders et al. (2017).

[2] Siehe unter anderem Hjørland, Birger (2010): The foundation of the concept of relevance. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology. Vol. 61, No. 2, 217–237.

[3] Siehe Björneborn, Lennart (2017): Three key affordances for serendipity. Toward a framework connecting environmental and personal factors in serendipitous encounters. In: Journal of Documentation, 73(5), Oktober 2017, 1053–1081.

[4] Siehe Freyberg (2021), 192 f.

[5] Siehe Krameritsch, Jakob (2007): Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Waxmann: Münster 2007, 189.

[6] Siehe unter anderem Callaway, Ewen (2016): Beat it, impact factor! Publishing elite turns against controversial metric. Nature 535 (2016), Issue 7611, 210.

Tagged with: , , ,

Hinterlasse einen Kommentar