Ragoût brusque. Roland Reuß erinnert in der FAZ daran, dass er Open Access immer noch verachtet. Aber wie.
Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)
zu: Roland Reuß: Staatsautoritarismus, groß geschrieben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2016, S. N4 (online)
Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wandert Roland Reuß mit seinem Open-Access-Unverständnis und einer blütentreibenden Rhetorik zwischen den Seiten des Feuilletons und des Wissenschaftsteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hin und her. Was offenbar leider dazu führt, dass er in seiner Argumentation stagniert. Immerhin scheint er wieder etwas mehr Engagement in seine sprachlichen Bilder und Schöpfungen zu stecken (diesmal, u.a.: Blauäugigkeit 4.0) wenngleich er die ganz überraschenden Wendungen, wie beispielsweise sein bemerkenswerter rhetorischer Doppelschlag sowohl gegen das organisierte Verbrechen (Content-Mafia) wie auch die Remixkultur (Content-DJs, vgl. für beide boersenblatt.net vom 15.Juli 2009) nicht zu wiederholen imstande ist. Es wird aber naturgemäß auch einfach schwerer nach den frühen Punktlandungen, die hohen Erwartungen immer zureichend zu bedienen. Die Frequenz der Neuwörter zwischen Staatsautoritarismus (Titel) und Oligopolverlagen (vorletzter Satz) stimmt jedenfalls.
Denkbar, dass man ihm vor allem deshalb in Frankfurt augenscheinlich derart zureichend die Treue hält, um ihm ohne Zögern einen Doppelspalter in den immer schmaler und zugleich teurer werdenden Ausgaben des Blattes freiräumt, damit er seine Textkritik zu einem Interview, das Johanna Wanka der WELT gab, entfalten kann. Und zu Recht. Wir zahlen allein aus Gründen der Vollständigkeit unserer Sammlung gern die 2,60 Euro. Inhaltlich jedoch können wir kaum mehr dazu sagen als vor einem Jahr.
Man muss auch einräumen, dass der Literaturwissenschaftler im letzten Absatz einen in der Tat wichtigen Punkt berührt, wenn er auf die problematische Rolle der großen Wissenschaftsverlage im Bereich Gold-Open-Access verweist. Leider fehlt ihm jedoch der Differenzierungswillen, um etwas mehr als eine allseits bekannte Tatsache aus diesem Punkt herauszuarbeiten und die Kritik zu fokussieren. Es scheint fast so, als hätte er Angst davor, dass ihn der Fachdiskurs zur Sache ernst nehmen könnte.
Stattdessen schimpft er in gewohntem Stil auf „popelige T-Shirts“ und sieht die Idee der „Bildung“ (in Ausrufezeichen bei Roland Reuß) aus dem entsprechenden Ministerium verschwinden, wohlweislich ignorant dafür, dass es bei Open Access nicht um Bildung geht, sondern um die Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse und zwar in der Regel unter Akteuren, die bereits ausgebildet sind.
Wir leben nun unbestreitbar im Zeitalter des Populismus und überall demolieren idiosynkratische Figuren die Idee des diskursiven Fortschritts, indem sie mit Clownerien und bar jedes Verständnisses für Fakten, größere Zusammenhänge und kategoriale Abgrenzungen mit Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Provokationen herumschleudern. Aber bei allem Kopfschütteln über Roland Reuß und seine Emphase im Kampf für eine Wissenschaft nach seinem Bilde will man ihm doch unterstellen, dass er sich nicht nach Zugehörigkeit zu dieser illustren Gesellschaft sehnt.
Deshalb muss man Passagen wie die nachfolgend zitierte, die zweifellos der Höhepunkt dieser aktuellsten seiner zahllosen Widerständigkeiten ist, eher mit dem gnädigen Blick des Verständnisses dafür lesen, dass hier jemand, nicht immer erfolgreich aber doch immer bemüht, der eher literarischen Seite einer Tradition des Stilmittels der Polemik frönt und dabei nicht lange fackelt. Oder doch?:
Die publikationsbegleitende Audienz, die Bildungsministerin Wanka der „Welt“ in Gestalt eines Interviews gab, lässt […] tief blicken. Es handelt sich um ein schwer goutierbares Ragout aus krud neoliberalen Vorstellungen von Wissenschaftsmärkten („Monitoring“ darf, natürlich, nicht fehlen), virtueller DDR 5.0 (mit Enteignung der geistigen Produktion) und Staatsautoritarismus wilhelminischer Anmutung. Man weiß gar nicht, ob man mehr über die Blauäugigkeit der das hypertrophe Selbstbewusstsein staunen soll, das in der gewährten Fragestunde zum Ausdruck kommt. Open Access erscheint da auf einmal, seltsam fortschrittsbeschwipst, als Einlösung des auf Grund gelaufenen Atomenergieversprechens der fünfziger und sechziger Jahre: „Moderne Innovationen können den Alltag zunehmend vereinfachen, unsere Ökosysteme entlasten und die Gesundheit der Menschen fördern.“ [Hervorhebung vom Autor]
Nun ist die zitierte Aussage eine, deren Aussagewert so kontextlos abgebildet zwangsläufig gegen Null tendiert. Und es gibt sicher Gründe, warum man nicht unbedingt traurig ist, dass die WELT das Interview hinter einer Paywall versteckt, weshalb man auch nicht den direkten Vergleich zum Neuen Deutschland anno 1985 suchen kann, der nahe liegt, da Roland Reuß aus irgendeiner Echokammer „meint[,] das ZK der SED zu hören“.
Zu befürchten ist freilich, dass der Urheber des Heidelberger Appells nichts von der DDR weiß, außer, dass sie furchtbar war und dass man in den 1980er Jahren jeden Bundesbürger mit dem Verweis auf die Bedingungen drüben gehörig erschrecken konnte. Im Jahr 2016 ist dieser Popanz auch mit 5.0 allerdings so einschüchternd wie ein Spuk unterm Riesenrad. Wenn die FAZ-Redaktion ein bisschen Zeitgefühl hat, dann redigiert sie ihrem Stammautor dieses Metaphernungetüm bei den sicher bald folgenden Tiraden und Polemiken besser aus dem Text. Zumal dadurch auch endlich mehr Platz für klare Aussagen und triftige Argumente bleibt und sichtbar werden könnte, wie viel Roland Reuß eigentlich von wissenschaftlicher Kommunikation mit digitalen Mitteln versteht.
(Berlin, 28.09.2016)
Und da ist auch schon das Problem. Wieviel RR davon versteht oder verstehen will, sei mal dahingestellt. Er schreibt jedenfalls ein Publikum an, das davon nichts versteht und mit Sachkenntnis auch nicht behelligt werden will. Vage Untergangsprosa dagegen geht in FAZ und NZZ gut.
[…] Reuß, die allerletzte Linie (kurz: Reuß AL) hergebrachten Wissenschaftlertums, darf einmal mehr in der FAZ gegen Open Access hetzen. Lesenswerter ist Ben Kadens Replik. […]
Mit diesem „Qualitätsjournalismus“, der aus den oben beschriebenen Gründen eher zu einer durchsichtigen Lobbyarbeit einschlägiger Interessenverbände von Verlegern des vorherigen Jahrhunderts verkommt, schaufeln deren Protagonisten „ihrer“ FAZ das Grab. Zeitung interessiert ohnehin niemanden mehr in der Generation 14-29 Jahre. Und die ist in der nahen Zukunft meinungsbildend und relevant: für Anzeigen, Abos, und den offenen Einsatz von innovativen, digitalen Medien. Schade für die FAZ und Reuss, oder eben auch nicht 🙂
schade für die FAZ. Der Sportteil ist nämlich gar nicht schlecht ⚽
[…] Ragoût brusque […]
Die Debattenbeiträge von Roland Reuss sind insofern weiterführend, weil sie zeigen, wie argumentativ hauchdünn die Position der Traditionalisten dasteht. Der Suppe fehlt das Fleisch. Zur Güte könnte man vereinbaren, einfach die Literaturwissenschaften aus dem Kreis der Open Sciences auszuschließen – z.B. germanistische Doktorarbeiten sind so gut wie nie weiterführend, kaum für andere Wissenschaftler wichtig – diese Arbeiten werden daher auch nicht mehr genutzt, wenn sie offen und digital zugänglich wären.
Was ferner auffällt ist, dass gerade die schöngeistigsten Argumente lediglich vorgeschoben sind. Tatsächlich geht es um die Geschäfte der Kleinverlage mit – neben anderem vielleicht – auch wissenschaftlichem Programm. Darüber könnte man tatsächlich reden, denn kleine Verlage könnten im Open-Access-Geschäft vermutlich nur per Preisführerschaft weiter dabei sein, würden aber kaum noch benötigt. Diese Mischverlage stehen damit vor dem Aus, weil die Seite ihres Geschäfts, die ihnen kalkulatorisch eine gewisse Sicherheit versprach, entfallen würde. Von daher sollte man die OA-Kontroverse nur strikt ökonomisch führen und die ganzen Wolkenwörter radikal beiseite lassen.
Als Lobbyist der Kleinverlage macht Reuss seine Sache leider nicht besonders gut, weil er zwar – wie hier schön dargelegt – einfallsreich formulieren kann, aber, typisch Germanist, die Zergliederung der Sachfragen gar nicht recht auf die Reihe kriegt.
Wenn das böse klingt – ich meine es nicht so. Die Frage ist: Wenn OA der Standard ist für wissenschaftliche Artikel, wie sieht dann die künftige Verlagslandschaft insgesamt aus? Ich weiß es nicht, würde aber davor warnen, von OA in der Wissenschaft als default, ohne weitere Einstellmöglichkeiten, wäre doch nur die Wissenschaft betroffen.
Lieber Herr Kaden, Ihr Text liest sich schön, amüsant. Aber Sie kritisieren inzwischen OA-Kritiker ohne den Text überhaupt verstehend gelesen zu haben. Es reicht Ihnen sich mit Sarkasmus über eine Person herzumachen und für die Galerie zu schreiben. Dabei bietet die Thematik durchaus Punkte, über die es nachzudenken lohnt.
Verkürzt ist der Vorwurf nach dem peinlichen Haucap-Gutachten ja der, dass es undemokratisch ist, wenn bei einem Gesetzgebungsprozess nur eine Seite einbezogen wird und die andere nicht, wenn der anderen Seite bewusst keine Gelegenheit gegeben wird ihre Bedenken vorzubringen und wenn dann noch Gutachten beschafft werden, die bestätigen, dass man die Bedenken der Kritiker nicht ernst nehmen muss, und das ebenfalls wieder ohne einen einzigen dieser Kritiker überhaupt gefragt zu haben. Wenn dann in der FAZ Raum gegeben wird, um auf das sehr kritikwürdige Demokratieverständnis hinter diesem Vorgang hinzuweisen, dann wäre das ja eigentlich ein geeigneter Anlass über Systemfehler in der Wissenschaft wenigstens nachzudenken.
Ihr Beitrag ist dagegen ein weiteres Zeichen für eine Selbstimmunisierung der Wissenschaft gegenüber jeder Kritik, ein Zustand, der sowohl aus der Systementwicklung heraus gefährlich ist, und der gleichzeitig dem Gedanken der Wissenschaft zutiefst widerspricht.
Lieber Herr Ulmer,
haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich freue mich zunächst, dass Ihnen der Text gefällt. Zugleich kann ich Ihnen versichern, dass ich Ihre Sorge nicht nur nachvollziehen kann, sondern insofern sogar teile, dass ich es ebenfalls hoch problematisch fände, wenn eine Pauschallösung für das wissenschaftliche Publizieren als alternativlos in den Raum gestellt würde. Dass die Bedingungen in den Geisteswissenschaften nicht unbedingt mit den bestehenden Gold-OA-Konzepten zu adressieren sind, haben wir an der Humboldt-Universität ja unlängst im Fu-PusH-Projekt herausgearbeitet und auch an die DFG kommuniziert. Insgesamt konnten wir für Geschäftsmodelle für das digitale Publizieren in den Geisteswissenschaften keinen tragfähigen Ansatz ermitteln. Die Zielgruppe mag E-Books eher nicht und experimentellere Publikationsformen noch weniger.
Persönlich würde ich nach Durchführung der Studie jedem klein- und mittelständigen Verlag mit dem Focus auf die traditionellen Geisteswissenschaften dazu raten, sich auf qualitativ hochwertige Printpublikationen zu orientieren, ein gutes Fachlektorat anzubieten und eine Open-Access-Zweitveröffentlichung nach einer bestimmten Zeit einfach zuzulassen. Die Autorinnen und Autoren fühlen sich derzeit oftmals ziemlich vernachlässigt, wenn sie satzfähige Vorlagen einschicken, zugleich erhebliche Druckkostenzuschüsse auftreiben müssen und am Ende ein billig verklebtes Belegexemplar zurückbekommen. Dann fragen sie tatsächlich mal nach, ob man für dasselbe Geld nicht bei einem anderen Dienstleister mehr Leistung erhält. Die Zweitveröffentlichung auf einem Open-Access-Repositorium ist eigentlich nur ein willkommener Beifang, da sie höhere Sichtbarkeit verspricht.
Ich teile also durchaus die Position, dass es hier Punkte gibt, „über die es nachzudenken lohnt“. Und die diskutiert werden sollten.
Die Herausforderung bei den Beiträgen von Herrn Reuss ist allerdings, dass sie traditionell wenig bis keine Diskussionsbereitschaft erkennen lassen und andererseits bei ihm die Kritikpunkte, die Sie in Ihrem Kommentar problemlos präzise benennen können, hinter einem ungezügelten Willen zur Stilblüte verschwinden. Das ist durchaus mal ganz drollig und konnte sogar hin und wieder einen Impuls setzen. Aber mittlerweile müssen sich die Fachleute aus dem Bibliotheks- und OA-Bereich seit mindestens 2008 einerseits beschimpfen lassen und andererseits erhebliche Interpretationsarbeit leisten, um zu verstehen, welche Laus Herrn Reuss diesmal über die Leber lief. Das macht man ein paar Mal, fragt sich dann irgendwann jedoch, ob er wirklich der richtige Ansprechpartner ist.
Wo die Rhetorik so zentral ist, bietet sie eben auch die primäre Angriffsfläche und damit müssen Herr Reuss und die FAZ leben. Wahrscheinlich wäre man in Frankfurt besser beraten, öfter mal bei Ihnen, Herr Ulmer, anzurufen und am besten auch mal bei jemandem, der die Seite der Bibliotheken kompetent zu beschreiben versteht. Oder einen versierten Wissenschaftsjournalisten in die Spur zu schicken,der alle Positionen abfragt und einen für die Leserinnen und Leser nachvollziehbaren und einen um Objektivität wenigstens bemühten Artikel verfasst. Andere Medien können das auch.
Für uns Leserinnen und Leser der FAZ ist der Eindruck aktuell leider der, dass aufgrund einer wie auch immer gearteten intimen Verbindung von FAZ-Redaktion und Heidelberger Anti-OA-Fraktion regelmäßig möglichst barocke Schimpfkanonaden für die ausgedünnten Wissenschaftsseiten eingeworben werden, die letztlich niemandem nützen: Die Open-Access-Kritik verpufft, externe Leserinnen und Leser fragen sich, worum es eigentlich geht, ein Dialog wird nicht gesucht und die FAZ holt sich angesichts des ungefilterten Durchreichens solcher Texte wie dem von Herrn Reuss den einen oder anderen journalistischen Lackschaden. Sie bleibt natürlich eine der führenden Tageszeitungen in Deutschland. Aber der eigentlich Diskurs zu Open Access und seinen Folgen findet zwangsläufig auf anderen Plattformen statt.
Mit besten Grüßen,
Ben Kaden
Lieber Herr Kaden,
vielen Dank für die klare Antwort. Ich verstehe das voll. Mir fällt es zwar nicht schwer, die Texte von Herrn Reuß zu verstehen, das liegt aber sicher nicht am Gehalt, sondern an der Einstellung, mit der man das Lesen beginnt. Und da freue ich mich auf deutliche Worte, während andere genervt auf den „ist eh alles Blödsinn“-Modus umschalten.
Im Kern geht es um die Frage, wie der Dialog eigentlich wieder gelingen kann. Wir sollten alle den Anspruch haben, dass ein Dialog zustande kommt und nicht, dass er umgangen wird. Die Prämisse muss sein, dass es um eine Weiterentwicklung (und natürlich als Verbesserung) des wissenschaftlichen Publikations- und Informationswesens geht. Wem es nur darum geht, sein Geschäftsmodell zu optimieren oder auf der anderen Seite, wem es nur darum geht, Geld zu sparen, den darf man auch ignorieren.
Im speziellen Fall von Frau Wanka kann ich nur entschuldigend anführen, dass man als Verleger nach dem Haucap-Gutachten und dem Welt-Interview (finden Sie übrigens auf der Seite des BMBF als Pressemeldung vom 20.9.) und anderen Zeichen von bewusster Ignoranz nur noch wenige verbindliche Worte übrig hat. Die Ausübung von Macht in dieser Form erzeugt Aggression, die sich dann in Worten entlädt. Und es entsteht das Gefühl, dass das inzwischen systemimmanent ist, zumindest im Wissenschaftssystem.
Die anstehende Diskussion um die Wissenschaftsschranke würde viel Raum zur Diskussion um ein besseres System geben. Aber das ist denkbar schlecht gestartet.
Herzliche Grüße
Matthias Ulmer
Ihr Anliegen ehrt Sie, aber dass Dialog auch der Kern der apokalyptischen Tiraden von Roland Reuß sein soll, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
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