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Die sogenannte Geisteswissenschaft. Ein Kommentar zu Willi Bredemeier.

Posted in LIBREAS aktuell by Ben on 16. September 2010

„Würde das Fach aus dem unversitären Spektrum verschwinden, gäbe es ein paar arbeitslose Akademiker mehr. Sonst würde man nicht viel merken, und vermissen würde man wahrscheinlich auch nichts.“

Im Oktober 2002 besuchte der Journalist Konrad Adam den Deutschen Soziologen-Tag, verfolgte die Eröffnungsrede Jutta Allmedingers und formulierte im Anschluss in der WELT sein Verdikt unter dem Titel Überflüssige Soziologie.

Nun macht eine schlechte Rede noch keine schlechte Wissenschaftspraxis und es ist am Abend eines Soziologentages nicht sonderlich sinnvoll, die Qualität des Faches anhand eines Tagungsbeitrages, selbst wenn es die Eröffnungsrede ist, zu beurteilen. Die Soziologie selbst nahm die Spalte in der WELT auch entsprechend gelassen hin.

Aber vielleicht lässt sich ein übergeordnetes Stimmungsbild ermitteln, wenn man alle Beiträge der zentralen Tagung einer Disziplin heranzieht und kritisch beleuchtet. Immerhin durchdringt man auf diesem Weg die zwei Bestandteile einer disziplinären Praxis zugleich: die Fachgemeinschaft und die Fachagenda. Über diesen Umweg sind in der Erweiterung möglicherweise Aussagen zur Stellung der Wissenschaft als solcher möglich.

Willi Bredemeier, Herausgeber des Informationsnewsletters Password, versucht genau dieses. Anhand der Proceedings des 11. Internationalen Symposions für Informationswissenschaft (ISI2009) arbeitet er an einer auf sechs Teile angelegten „Kritik der Informationswissenschaft“, deren erster jüngst erschien (PASSWORD 07/08-2010, S. 12-16) und bereits von Jakob Voß kurz gewürdigt wurde. Ganz wie bei Konrad Adam zielt diese Kritik auf die „gegenwärtige Praxis“ des Faches.

Allerdings spielt die Tagung im Auftakt zur Reihe keine explizite Rolle. Vielmehr grundiert der Autor in dem mittlerweile auch frei zugänglichen Text Kritik der Informationswissenschaft. Anmerkungen eines interessierten und besorgten Bürgers mit Common Sense mithilfe einer Reihe von allgemeinen Thesen zur Informationswissenschaft seinen Ansatz.

Der gewählte Weg ist zwar durchaus begrüßenswert ist, die Ausführung erscheint aber bereits an dieser Stelle aus folgenden Gründen problematisch:

  1. Die Selbstpositionierung als außenstehender Beobachter kann nicht überzeugen.
    Er betont mit seiner erklärten „Bürger“-Rolle per Überschrift zwar eine klare Perspektive, verfälscht diese aber selbst wieder in der Ausführung des Textes. Es ist zudem nicht erkennbar, welche Position der Beitrag im informationswissenschaftlichen Diskurs spielen kann und soll.Dies ist dann unglücklich, wenn über die Kritik tatsächlich ein Einwirken auf die disziplinäre Praxis gewünscht ist. Wissenschaftliche Gemeinschaften sind überwiegend selbstorganisierend. Ein externer Text muss demnach erst über Mediatoren in den Diskurs der Gemeinschaft eingebracht werden, um eine Wirkung zu entfalten. Es bleibt offen, ob bzw. in welcher Form das mit diesem Text möglich ist.
  2. Dies gilt umso mehr, da der Autor in seinem Einstieg wissenschaftstheoretisch zu argumentieren versucht, wenn er die Informationswissenschaft in die Kategorie der Geisteswissenschaften einordnet. Das ist generell zwar möglich, sollte aber, um als Aussage Bestand zu haben, eben doch von Willi Bredemeier nicht als einem besorgten Bürger, sondern Willi Bredemeier als einem Informationswissenschaftler vorgenommen werden.
  3. Die Begründung der These, die Informationswissenschaft sei eine Geisteswissenschaft, ist in der vorgenommenen Form wenig plausibel.

In meiner Kritik der Kritik gehe ich auf diese Aspekte näher ein. Dies bedeutet keinesfalls, dass die von Willi Bredemeier angesprochenen Probleme nicht vorliegen bzw. die Kritik an sich als nicht notwendig erachtet wird. Eher im Gegenteil. Aber gerade eine darauf gerichtete kritische Argumentationsführung wird nur dann zweckmäßig, wenn sie als Perspektive einen offenen Dialog aufweist. Dies scheint in Willi Bredemeiers Text aufgrund der nicht glücklichen Positionierung des Autors und der eindimensionalen Ausrichtung der Argumentation nicht zureichend gegeben.

Ben Kaden: Die sogenannte Geisteswissenschaft: Willi Bredemeiers Kritik der Informationswissenschaft misstönt schon bei der Ouvertüre. Ein Kommentar. (PDF)

10 Antworten

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  1. Jakob said, on 17. September 2010 at 08:47

    Der Artikel von Bredemeier ist auch bei E-LIS archiviert – dort sind auch andere Beiträge zur Informationswissenschaftlichen Fachkommunikation zu finden. Mich interessiert weniger die Analyse der Form von Kritik – d.h. es ist für mich zweitrangig, als was jemand schreibt – sondern Inhalt und Richtung. Die unklare Verortung der Informationswissenschaft ist ein grundsätzliches Problem, weil man zwischen den Stühlen praktisch wie im Elfenbeinturm sitzt. Wenn sich die Informationswissenschaft lieber mit irrelevanten Themen beschäftigt, wird sie eben zu Recht von anderen Disziplinen wie der Informatik verdrängt. Noch größer ist die Überlappung mit der Disziplin Information Systems. Bei soviel Gemeinsamkeiten ist es einfach schlechte Wissenschaft, sich nicht auf diese angrenzenden Gebiete zu beziehen. Das Zurückziehen auf die Freiheit der Forschung ist legitim, muss aber zumindest auf Tätigkeiten hinweisen, die aus der eigenen Sicht relevant sind – wie zum Beispiel das genannte EERQI-Projekt. Ich erwarte also mehr Darstellung der gegenwärtigen Forschungspraxis (d.h. konkrete Fragen, Projekte und Ergebnisse) und deren Kritik, anstatt eine Meta-Kritik.

  2. Jakob said, on 17. September 2010 at 10:28

    In der Disziplin Information Systems tobt übrigens seit einigen Jahren die Diskussion über die eigene Disziplin. Als Einstiegspunkt für weitere Quellen kann ich Issues at the IS Core: How French Scholars Inform the Discourse empfehlen.

  3. Ben said, on 17. September 2010 at 11:40

    Hallo Jakob,

    vielen Dank für Deine Anmerkungen. Meine Rückfrage ist nun, von wem Du „mehr Darstellung der gegenwärtigen Forschungspraxis (d.h. konkrete Fragen, Projekte und Ergebnisse) und deren Kritik“ erwartest?

    Von mir wirst Du in diesem Zusammenhang Deine Erwartung nur bedingt erfüllt bekommen, da es mir vorrangig um die Prämissen des Ansatzes geht.

    Die Kritik an diesen setzt sich leider in Hinblick auf Deinen Kommentar fort: Auch Du repetierst pauschal das Kriterium der „Irrelevanz“ („Wenn sich die Informationswissenschaft lieber mit irrelevanten Themen beschäftigt…“) ohne darzustellen, auf welcher Grundlage die Relevanz eines Themas bestimmt wird. Weder Bauchgefühl noch Plebiszit noch Marktgängigkeit scheinen mir dafür gut geeignet. Die Disziplin muss jedoch m.E. in jedem Fall selbst entscheiden dürfen, was sie als relevant erachtet. (Obschon am Ende wahrscheinlich die Förderpraxis der DFG entscheidet…)

    Möglicherweise hänge ich da einer gewissen Wissenschaftsnostalgie nach, aber da dies der Grund für mich ist, warum ich mich für die Wissenschaft entschied, bleibt dieser Anspruch an die diskursive Selbstbestimmtheit der Wissenschaft für mich ausschlaggebend.

    Man kann dies mit der brüchigen Phrase des „Elfenbeinturms“ bezeichnen, aber genau genommen geht es mir um das Gegenteil: Ich finde es nicht sehr sinnvoll, wenn man Wissenschaft als Verdrängungswettbewerb begreift, in dem man gegen eine wie auch immer geartete Konkurrenz dadurch zu bestehen versucht, dass man am Ende doch wieder betriebsblind einer – wie gesagt kaum definierten – Relevanzagenda nacheilt.

    Eine Profilierungsmöglichkeit für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft liegt in meinen Augen in einer kritischen Reflexion der Bedeutung, der Ausprägungen und der Wirkungen des Phänomens „Information“ in all seinen Facetten in der Gesellschaft, also weniger in den Anschlusspunkten zu Wirtschaftsinformatik oder Information Systems, sondern mehr in der Rolle einer gesellschaftsanalytischen Disziplin.

    Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies im Gegensatz zu einem großen Teil dessen steht, was gemeinhin als Informationswissenschaft betrieben wird. Nichtsdestotrotz sehe ich hier eine Lücke, die weder Informatik noch andere anwendungsbezogene Fächer adäquat füllen.

    Entsprechend interessiert mich natürlich die Form einer Kritik mehr als Inhalt und Richtung, denn Inhalt und Richtung werden maßgeblich durch die Form bestimmt. Die Frage ist, wie die Diskurse organisiert sind, welchen Interessen und ideologischen Bildern sie folgen. Die daraus gestaltete Struktur definiert, was in einer Wissenschaft als legitim gilt und was nicht. Wenn wir die Informationswissenschaft grundsätzlich beleuchten, kommen wir um diese, wenn man so will: dekonstruierende, Metadiskussion nicht herum.

    So ist meine gegenwärtige Forschungspraxis tatsächlich die einer bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Metakritik. Da ich diese, wie ich denke, doch ausführlich genug dargestellt habe, dürfte Deine Erwartung am Ende doch wenigstens halb erfüllt worden sein.

  4. WilhelmHeinrich said, on 18. September 2010 at 07:23

    Ich will auf Ben Kadens Kritik nicht im einzelnen eingehen, weil mir ein anderer Zusammenhang, der über Ben Kadens Kritik unterzugehen droht, wichtiger ist: Die institutionalisierte Informationswissenschaft schwebt in Gefahr, sich von realen Entwicklungen und externen Einflussnahmen so weit abzuschotten, dass sie irrelevant zu werden droht. Diese Haltung kann aus meiner Sicht nur von außen aufgebrochen werden, da es eine interne Kritik an der Informationswissenschaft nicht gibt oder diese für den Kurs der institutionalisierten Informationswissenschaft ohne Bedeutung eblieben ist. Eine externe Kritik droht von der institutionalisierten Informationswissenschaft unter Rückbezug auf die Freiheit der Forschung ignoriert zu werden, weil es sich nicht um Informationswissenschaft handele. Sie bedarf daher einer möglichst nicht zu ignorierenden Begründung.

  5. Ben said, on 18. September 2010 at 13:02

    Lieber WilhelmHeinrich,

    besten Dank für die Anmerkung.

    Wenn Sie auf die „institutionalisierte Geisteswissenschaft“ verweisen, dann deuten sich vielleicht zwei verschiedene Sachverhalte für die Diskussion an: die der Wissenschaft an sich und die der formalen Organisation des Faches (Lehrstühle, Fachverbände, Kommunikationsmedien, etc.). Beides ist meiner Meinung nach untrennbar miteinander verwoben. Denn der Wissenschaftsvollzug ist nur im Rahmen des Vollzugsrahmens, also der Institutionalisierung, möglich. Pierre Bourdieu bemängelte in seiner Grundlagenarbeit zur sozialen Organisation der Wissenschaftswelt, „Homo Academicus“, dass die sozialen Akteure der Wissenschaft zwar ihren Gegenstand reflektieren, nicht jedoch den Rahmen, in dem dies geschieht. Die Kritik einer Wissenschaft muss m.E. an dieser Stelle ansetzen. Insofern stehe ich einer Kritik nicht nur offen gegenüber, sondern erachte sie als konstitutives Merkmal einer Disziplin. Wo diese Selbstkritik fehlt, muss man sie einfordern.

    Ich denke, bis dahin gehen wir in etwa in dieselbe Richtung. Allerdings trennen sich unsere Wege an der Frage, wo der Ort der Kritik sein sollte. Während es Ihnen erklärtermaßen um eine Aufrüttelung von Außen geht, vertraue ich nach wie vor auf das eigene kritische Potential der Disziplin. Im schlimmsten Fall wird man dann als Häretiker bekämpft, im besten entsteht daraus ein Dialog. In jedem Fall ist das Ignorieren interner Positionen für eine Fachgemeinschaft schwerer legitimierbar.

    Wenn eine externe Kritik tatsächlich ein Argument findet, dass nicht ignorierbar ist, dann will ich nicht ausschließen, dass die Disziplin erschüttert wird. Eine denkbare Variante wäre z.B. die Streichung von Forschungsmittel bei nicht nachgewiesener Relevanz der Forschung. Ich habe jedoch bereits mehrfach betont, dass ich das Kriterium der Relevanz für problematisch halte, solange nicht geklärt ist, wer auf welcher Grundlage über „Relevanz“ entscheidet.Tatsächlich werden es externe Akteure schwer haben, gegen das Schild der Forschungsfreiheit anzukommen.

    Auf die Forschungsagenda kann m.E. viel wirksamer über eine wissenschaftsinterne Kritik Einfluss genommen werden. Und selbst wenn sich die externe Kritik durchsetzt und als Messlatte etabliert, ist der Sache nicht unbedingt gedient. Denn es bleibt auch dann unterbestimmt, welche „realen Entwicklungen“ und „externen Einflussnahmen“ die Fachagenda formen. Unter Umständen sind es Interessenlagen und Ansprüche, die dem Fach noch weniger dienlich sind, als eine mitunter etwas abgekapselt wirkende Wissenschaftsgemeinschaft.

  6. […] beiden Kritiken der Informationswissenschaft (Teil 1, Teil 2) von Willi Bredemeier wurden schon von Ben Kaden (direkt zum PDF) und Jakob Voss aufgegriffen und ihrerseits […]

  7. Ben said, on 17. November 2010 at 14:51

    Mittlerweile gibt es eine Antwort Willi Bredemeiers auf die Kritiken an seiner Kritik, deren Lektüre – natürlich sowohl der Kritik, der Kritiken und insbesondere jetzt der Antwort – uneingeschränkt empfohlen wird: Willi Bredemeier antwortet seinen informationswissenschaftlichen Kritikern.

    Ein Dialog findet statt. Und besonders der zweite Anspruch seines Fazits, die das zur Erkenntnis komplementäre und ebenso notwendige Element jeder reifen Wissenschaft, also die permanente Kritik, einfordert, findet meine ausdrückliche Unterstützung.

    Seid kritisch und erklärt es euch – dann wird es auch etwas mit einem fruchtbaren Diskurs.

  8. Anonym said, on 18. November 2010 at 13:04

    Was ist das für ein Diskurs, in dem die Beteiligten höchtens peripher auf die Argumentation des Gegenüber eingehen? Bredemeier hat noch einmal auf seine zentralen Thesen hingewiesen.

  9. Ben said, on 18. November 2010 at 13:21

    Hallo Anonym,

    vielen Dank für die Anmerkung. Kurz zur Frage: Es ist ein Diskurs in Entwicklung und Erweiterung. Das ist in der Wissenschaft nicht unüblich.


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