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Anmerkungen zur Information Literacy

Posted in LIBREAS.Referate by Karsten Schuldt on 28. November 2013

Karsten Schuldt

Zu:

  • Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.) (2010) / Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010
  • Accardi, Maria T. (2013) / Feminist Pedagogy : for Library Instruction. Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013
  • Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.) (2013) / Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013

Information Literacy scheint in den englischsprachigen Bibliothekswesen1 keinen ganz so grossen Platz einzunehmen, wie es in den deutschsprachigen Bibliothekswesen die Informationskompetenz tut. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, erscheinen in einiger Regelmässigkeit im englischsprachigen Bibliothekswesen Beiträge, die sich kritisch mit Information Literacy auseinandersetzen. Diese Literatur wird in den deutschsprachigen Bibliothekswesen bislang ebenso selten wahrgenommen wie die restliche Literatur zu Information Literacy. Dies ist zu bedauern, da sie einen tiefen Einblick in tatsächliche Praxis der Information Literacy Instruction und das Unwohlsein mit dieser bei einer relevanten Anzahl von aktiven Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sowie Forschenden erlaubt. Dabei lehnt kaum einer dieser Beiträge die Idee ab, dass Menschen besser mit Information umgehen können sollten. Sie stellen allerdings tiefgreifende Fragen an die Konzepte und impliziten Annahmen um Information Literacy, welche dazu beitragen können, über dieser Praxis nachzudenken und sie besser zu gestalten, wobei eine Diskussion notwendig wird, was „besser“ eigentlich heissen soll. Auffällig ist an diesen Texten, dass sie sich zumeist sehr klar daran orientieren, die Arbeit von Bibliotheken für die Nutzerinnen und Nutzer so zu gestalten, dass diese am Ende sinnvoll mit Informationen umgehen können, gleichzeitig aber immer wieder Zweifel daran äussern, ob Information Literacy – insbesondere in der Form von definierten Standards – der richtige Weg ist. Zudem beschreiben sie bibliothekarische Arbeit beständig als Arbeit, welche dem sozialen Gegebenheiten nicht entkommen und deshalb, gewollt oder nicht, immer auch politisch ist.

Für alle, die ihre Arbeit im Bezug auf Information Literacy oder Informationskompetenz nicht als reine Werbemassnahme verstehen, kann diese Literatur vor allem Irritationen auslösen, die dazu beitragen kann, die eigene Haltung zu diesen Themen klarer zu fassen. Sicherlich muss man sich dazu darauf einlassen, die eigene Haltung zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, auch muss man damit umgehen, dass sich diese kritische Literatur nicht auf ein Thema oder eine Aussage reduzieren lässt, sondern selber widersprüchlich ist. Aber das ist die Aufgabe solcher Literatur und, selbst wenn man am Ende jeden Punkt der vorgebrachten Kritiken ablehnen sollte, die beste Möglichkeit, mehr über die bibliothekarische Praxis nachzudenken und sie sinnvoll zu gestalten.

Die drei hier besprochenen Werke sind prägnante Beispiele für diesen Trend. Sie sind allesamt im gleichen, für seine kritischen Bücher zur Bibliothekspraxis bekannten, Verlag erschienen. Library Juice Press ist einer der bevorzugten Orte für solche kritischen Interventionen in bibliothekarische Diskurse. Dies führt dazu, dass in diesen Werken sowohl die profundeste als auch die weitgehendste Kritik geäussert wird. Man kann sie als den radikalen Pol dieser kritischen Strömung ansehen. Nicht alle Texte, die sich kritisch zu Praxis um die Information Literacy äussern, gehen so weit, wie die hier besprochenen. Allerdings: Je vehementer der Widerspruch, umso mehr ist aus ihm zu lernen.

criticalinformationliteracy

Critical Pedagogy, Paulo Freire

Insbesondere die beiden Sammlungen Critical Library Instruction : Theories and Methods (Accardi, Drabinskis & Kumbier, 2010) und Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis (Gregory & Higgins, 2013) versammeln Texte, welche sich regelmässig auf Critical Pedagogy berufen, wobei unter dieser eine Anzahl von Ansätzen zusammengefasst wird. Grundsätzlich ist diesen, dass sie eine Pädagogik meinen, welche das Ziel hat, den Lernenden zu helfen, im Lernprozess ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Dieses Bewusstsein soll ihnen ermöglichen, über die Nutzung von Informationen als reine Fakten hinausgehend, mit Informationen kritisch, reflektiert und mit einer umfassenden Analyse umgehen zu können. Es geht den Schreibenden um Empowerment; darum die Lernenden in die Lage zu versetzen, sich selber zu äussern und aktiv zu werden. Viele, aber nicht alle, verstehen Critical Pedagogy als Form, um sozialen Aktivismus zu unterstützen oder auszulösen. Andere stellen die Frage, ob das Publikum, welches Information Literacy Instructions erhält wirklich die Personen sind, welche in sozialem Aktivismus partizipieren werden. Duke, Ward & Burkert (2010) sehen kritisches Bewusstsein beispielsweise als notwendig für ein unterstützendes Arbeiten von Special Needs Teachers in abgelegenen Siedlungen in Alaska – welche sie weiterbilden – an und beschreiben dieses Bewusstsein explizit politisch:

Critical consciousness is characterized by the ability to recognize and take action against the multiple forms of privilege and oppression that contribute to social, political, and economic injustice. […] When the awareness of oppression (i.e., critical consciousness) begins, so, too, begins the struggle for liberation ([Trask, H. (1999). From a native daughter. Colonialism and sovereignty in Hawai’i. (Revised ed.) Honolulu, Hi : University of Hawai’i Press]).“ (Duke, Ward & Burkert, 2010, 115)

Eine Reihe von Autorinnen und Autoren der besprochenen Bücher berichtet über Lernende, die sozial benachteiligten Gruppen angehören. Diese betonen mehrfach, das kritisches Bewusstsein und Information Literacy zusammengehörten.

“Liberatory education practices are closely related to and complementary with the goals of information literacy instruction. Community colleges are committed to fostering critical thinking skills in their students, and both critical pedagogy and information literacy provide methodologies for fabricating that goal.“ (Keer, 2010, 157)

Gleichzeitig erhalten immer noch vor allem Studierende, die, bei aller sozialen Mischung, in den letzten Jahren wieder verstärkt aus den privilegierten gesellschaftlichen Schichten stammen, Information Literacy Instructions. Gleichwohl betonen die Schreibenden, dass auch diese kritisches Bewusstsein benötigen würden, um überhaupt mit wissenschaftlicher Literatur und Informationen umgehen zu können. In gewisser Weise postulieren die Schreibenden, dass ein sinnvoller Umgang mit Informationen erst dann möglich ist, wenn Lernende in der Lage sind, die Produktionsbedingungen dieser Informationen und damit die Gesellschaft inklusive ihre Ambiguitäten zu verstehen. Information Literacy Instructions, welche sich an den gegebenen Standards orientieren, seien dazu nicht in der Lage.

“Students may be unaware of the dialogic quality of the sources they use, but the researchers, theorists, and practitioners who produce them generally are not. A student may view a source as an absolute authority to which they must passively defer, as in the banking model of education, or they may view it as an embodied voice in a conservation, one that occupies a position in space and time and thus a political perspective in relation to real problems in the world. Librarians are not in a position to notice the difference between banking and problem-posing kinds of research if they see themselves merely providing materials to students, delivering items from point A to point B.” (Kopp & Olson-Kopp, 2010, 57)

Das in diesem Absatz angesprochene Gegensatzpaar Banking Model of Education vs. Problem-Posing liegt den meisten dieser Kritiken zugrunde. Es stammt von Bildungspolitiker und -theoretiker Paulo Freire, der in den 1960er und 1970er Jahren mit seiner Arbeit bei Alphabetisierungsprogrammen in Brasilien, später – als Flüchtling nach dem Militärputsch 1964 – unter anderem als Berater in verschiedenen internationalen Organisationen seine Theorie der Critical Pedagogy ausarbeitete. (Freire, 1970)

Grundsätzlich beschreibt Freire die herkömmliche Pädagogik als Banking Model („Bankiersmethode“), bei dem Wissen als Objekt verstanden würde, das zu weiterem Wissen hinzu addiert werden könnte. Die Lernenden würde in diesem System die benötigten Wissensstücke erhalten, speichern und mechanisch anwenden, aber nicht verarbeiten oder verstehen. Diese Methode, die er als Grundlage von Schulen und Hochschulen ansieht, würde die Lernenden dazu erziehen, Wissen als gegeben hinzunehmen und nicht selbstständig zu nutzen. Dem gegenüber stellt er das problembasierte Lernen, bei welchem die Lernenden in einem aktiven Dialog Wissen dadurch erwerben, dass sie es gemeinsam hinterfragen, auf ihre eigene Situation beziehen und dazu ermutigt werden, ihrem eigenen Wissen und ihren eigenen Entscheidungsfähigkeiten zu vertrauen. Freire liess dieses Konzept in den brasilianischen Alphabetisierungskampagnen anwenden. Auf deren Erfahrungen baute er auf, als er in den 1970er Jahren beim World Council of Churches arbeitete. Obgleich er heute in der deutschsprachigen pädagogischen Diskussion kaum mehr rezipiert wird, fungiert er im englischsprachigen pädagogischen Diskussionen weiterhin als Referenz. So auch für einen Grossteil der Autorinnen und Autoren der hier besprochenen Bücher.

Ein Hauptvorwurf vieler Texte an das aktuelle Verständnis von Information Literacy – vor allem niedergelegt in den Information Literacy Competency Standards for Higher Education der Association of College & Research Libraries, welche beständig den Referenzpunkt für weitere Standards und Policies darstellen – ist, dass es letztlich ein Beispiel des Banking Models wäre. Es würde die Prozesse des Umgang mit Informationen auf reine Techniken beschränken und somit Lernende dazu zu erziehen suchen, mechanisch Informationen als Objekte zu verstehen.

Pankl & Coleman (2010) beschreiben beispielsweise eine Situation, in der eine Studierende am letzten Tag vor der Abgabe eines Papers die Bibliothekarin mit der Behauptung angeht, über ihr Thema gäbe es keine Literatur. In folgendem, längeren Abschnitt führen Pankl & Coleman (2010) dieses Denken auf ein falsches Verständnis von Information zurück, welches durch Information Literacy Instructions, die sich auf die Vermittlung von Techniken beschränken, verstärken würde.

“The fundamental problem in such scenario is that the student has failed to properly conceptualize the research process and lacks the cognitive sophistication to articulate and imagine her topic in a manner that is meaningful and dialectical. The hypothetical student truly believes that academic researcher is merely a process of punching some random terms into an electronic apparatus and then receiving, perhaps by the will of God, a magical and sizable list of sources that are all perfectly relevant to what she is writing about (and, ideally, these sources all have titles that closely match her own title). Such situations are attributable to education that is bound and constraint to positivism. Positivism is the belief and practice that valid knowledge is objective, empirical, and static. Unfortunately positivism is the dominant paradigm for most educational efforts in the U.S. and has been since the Enlightenment. Educational systems within the U.S. are committed to marketing knowledge as something outside of the individual, and treat individual’s fundamental character as instrumental rather than imaginative and creative. Such an educational ideology produces agents that are incapable and, for the most part, unwilling to construct their own knowledge – knowledge that might in turn liberate them form the tyranny of facts.

Critical pedagogy attempts to combat the positivistic stranglehold on the educational system. Its fundamental project is to emancipate all people from overt and hidden forms of oppression by denaturalizing dominant ideologies and systems as historically produced human constructs that are far reaching in their impacts and, perhaps more importantly, subject to change.” (Pankl & Coleman, 2010, 3f.)

Battista (2013) postuliert ebenso, dass Information Literacy, die auf Techniken reduziert würde, einen negativen Effekt auf das Lernen und Denken von Studierenden hätte.

“When students see the completion of an assignment as the chief goal of seeking information, they lose the ability to see themselves as participants in public discourse, and they fail to imagine ways that they can grow their information sources to serve them beyond a singular task that occupies them. […]

Because information literacy is a fluid ethic, we must depart from task-driven models of instruction and treat inquiry as a process that hinges on how well we build information networks.” (Battista, 2013, 88)

Während sich zahlreiche Texte auf Paulo Freires Theorien – und einigen Theorien, die Freires Theorie weiterschrieben – stützen, sind die Einschätzungen sehr unterschiedlich. Ein Teil der Schreibenden wirft der Praxis der Information Literacy vor allem vor, die eigenen Versprechen nicht einzuhalten. Diesem Problem sei mit eine Critical Pedagogy, insbesondere dem Problem Based Learning beizukommen. Ein anderer Teil, der grösste, postuliert, dass insbesondere die in der englischsprachigen Welt verbreiteten Standards für Information Literacy hoffnungslos dem Banker Model verhaftet seien. Auch dem sei mit Critical Pedagogy beizukommen, allerdings in andere Weise: Die bisherige Praxis der Information Litercay Instructions und die Zielsetzungen dieser Praxis sollten vollkommen geändert werden. Eine weitere Anzahl von Texten, allerdings die kleinste, geht über diese Kritik hinaus.

Ist die Information Literacy neoliberal?

Information Literacy als Modell stellt, so die weitestgehende Kritik, ein neoliberales Konzept dar. Diese Kritik wird vor allem in Gregory & Higgins (2013) wiederholt geäussert. Neoliberalismus wird dabei definiert als Ideologie, welche die sozialen Verhältnisse als Marktverhältnisse beschreibt, beispielsweise Menschen allein als Trägerinnen und Träger von anrechenbaren Fähigkeiten versteht, welche von diesen in rein rationalen Wegen zur Steigerung der eigenen Marktfähigkeit eingesetzt würden. Grundsätzlich sehe der Neoliberalismus den Marktprozesse als alleinigen Aushandlungsort von gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Prozessen an. Diese Ideologie würde eine Gefahr darstellen für Demokratie, soziale Sicherheit und die staatlichen Funktionen. (Seale, 2013; Enright, 2013; Lilburn, 2013)

Information Literacy, so wie es heute verstanden wird, sei im Zuge der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie entstanden und folge dieser. Dieser zeitliche Zusammenhang sei kein Zufall, vielmehr wäre Information Literacy ein neoliberales Projekt. Die Theorie des Human Capital sei der Information Literacy eingeschrieben. (Seale, 2013) So sei das neoliberale Subjekt – also die einzelne Person, die so reagieren würde, wie sich dies ideologisch vorgestellt wird – immer rational handelnd und auf die eigene Profitmaximierung ausgerichtet. Ebenso würden in den Standards zur Information Literacy Personen verstanden.

“The argument that I wish to finally advance here is not only that the information literate is the neoliberal subject par excellence, but is structured around the notion of human as homo economicus. Indeed, in all of the policy the information literate is always conceptualized as a rational, self-interested individual who can recognize ‘the need for information’ and continually ‘re-evaluates the nature and extent of the information need.’” (Enright, 2013, 32)

Die Standards für Information Literacy würden den Einzelpersonen die alleinige Verantwortung für diese Literacy zuweisen und damit die realen Ungleichheiten überdecken. Die Literacy sei von allen gleich gut zu erwerben und anzuwenden, wenn dies nicht geschieht, sei dies dies Schuld der jeweiligen Individuums.

“The ALA Presidental Commitee’s Final Report [(American Library Association Presidental Committee on Information Literacy (1989). Final report), welcher das aktuelle Verständnis von Information Literacy das erste Mal skizzierte und als Grundlage für die folgenden Policies und Standards gilt] duplicates this [die neoliberalen Vorstellungen der Regierungen Reagan, USA und Thatcher, GB] more and shifts the blame for social and economic inequalities onto the very individuals disempowered by those inequities; if an individual cannot find a well-paying job, it is because she or he has not actively pursued information literacy. The report wholeheartedly rationalizes and supports the adoption of neoliberalism that occurred during the 1980s.” (Seale, 2013, 49)

Diejenigen Texte, welche diese Kritik formulieren, gehen davon aus, dass der Neoliberalismus als Ideologie sich in der Krise befände. In zahlreichen Wissenschaftsfeldern hätten sich kritische Forschungsrichtungen etabliert, welche diese Krise und die Auswirkungen der Ideologie untersuchen würde. In der Library and Information Science, insbesondere im Bezug auf Information Literacy, sei dies nicht der Fall. Zwar würde verstärkt Kritik an der Gesellschaft in seiner ihrer jetzigen Form geübt, aber diese Kritik würde Information Literacy als Konzept nicht tangieren. Vielmehr sei Information Literacy zu einem in sich selbst geschlossenen Diskurssystem geworden, welches Kritik nur noch innerhalb des Systems zulässt, andere Kritik, welche die Grundannahmen nicht teilt, als irrelevant erscheinen lässt.2

“And yet despite the resurgence of critique, most critical research in LIS still tends to stop short at formulating any explicit critique of capitalist social relations thereby deemphasizing the relationship between 21st century librarianship, the expansion of capital and the resultant forms of discipline and control developing from capital’s late modern augmentation. The failure to link LIS with a broader critique of capitalism has resulted in a research program that fails to connect with the real, ‘everyday life’ constraints emerging from the ‘information society’ and driven by capital and its social relations. Sadly, the failure to position LIS within a systematic critique of capitalism also gives rise to an insufficient form of critique that consistently fails to scrutinize the central tenets of LIS practice by dislocating its historical specificity from the socio-economic context in which they are necessarily embedded.” (Enright, 2013, 16)

Der Neomarxismus des Autors ist kaum zu übersehen. In seiner Radikalität weist er aber – selbst dann, wenn der neomarxistische Anteil abgelehnt wird – auf eine wichtige Frage hin, die im Rahmen der Information Literacy nicht gestellt wird: Was für Menschen wollen Bibliotheken mit Information Literacy erziehen und welche Gesellschaft stellen sie sich dabei vor? Information Literacy, dass machen diese kritischen Texte schnell deutlich, ist weder frei von gesellschaftlichen Voraussetzungen noch rein objektiv. Es ist als Diskurs zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden – trotz Vorläufern verorten diejenigen Autorinnen und Autoren, die sich damit beschäftigen, diesen Beginn zumeist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre – und trägt selbstverständlich die Grundannahmen der damaligen Gesellschaft in sich. Die hier angeführten Texte leiten daraus ab, dass Information Literacy mit den Diskursen der frühen 1990er Jahre verbunden ist. Der Schritt ist dann folgerichtig: Wenn in den frühen 1990er Jahren der Neoliberalismus als Ideologie dominierte und in die Information Literacy Standards und Policies eingeschrieben wurde, gleichzeitig diese Ideologie sich heute praktisch in einer Krise befindet, dann stellt sich die Frage, warum sich die Information Literacy als Diskurs und Praxis nicht auch in der Krise befinden sollte.

“When considering the meaning and purpose of information literacy, librarians must decide on the form of citizenship promoted through their teaching. They must decide whether the citizenship they help to produce is one that works to strengthen and uphold existing social, economic and political structures or whether it is one that dares the question and, if necessary, challenge the ideological foundations on which inequitable or oppressive distributions of social, economic and political power are based.” (Lilburn, 2013, 76)

Die Bücher im Einzelnen

Alle Texte der drei Bücher nehmen Information Literacy ernst als Konzept und als pädagogische Praxis von Bibliotheken. Sie nehmen es so ernst, dass sie ihm immense Wirkmächtigkeit zuschreiben. Niemand von Ihnen würde Information Literacy als Marketingwerkzeug für Bibliotheken verstehen. Allerdings, wie schon angedeutet, in sehr unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Kritiken an diesem Konzept. Einige Texte verwerfen Information Literacy vollständig, andere kritisieren es als ineffizient, unvollständig oder unzureichend, wieder andere kritisieren die Umsetzung der Information Litercay Instructions. Die Kritiken sind nicht deckungsgleich, vielmehr widersprechen sie sich in letzter Konsequenz zum Teil. Dennoch werfen sie immer wieder Fragestellungen im Bezug auf Information Literacy auf, die auffällig selten gestellt werden und plädieren oft dafür, zur Beantwortung dieser Fragen einen Schritt zurückzutreten und das gesamte Konzept samt seiner Zielsetzungen und eingeschriebenen gesellschaftlichen Vorstellungen zu befragen. Zudem eint alle Autorinnen und Autoren ein Bezug zu sozialen Fragen. Die drei Werke werden hier zusammen vorgestellt, weil sie inhaltlich zusammengehören. Gregory & Higgins (2013) verweist explizit auf Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) als Grundlage, Accardi (2013) stammt von einer der Herausgeberinnen des 2010er Werkes und stellt eine Ausarbeitung eines spezifischen Kritikstranges dar. Die drei Werke sollten auch als Zusammenhang begriffen werden.

Accardi, Drabinski & Kumbier (2010) liest sich dabei als erste Erkundung des Themas. Die Autorinnen und Autoren zeigen sich unzufrieden mit der Praxis der Information Litercay und dem Umgang mit immer wieder auftretenden Problemen, wie den Problemen, Studierende wirklich zu erreichen. Nur wenige wagen sich mit der Kritik weiter vor, ein grosser Teil des Buches besteht aus Praxisberichten. Dennoch zeigt das Werk Tendenzen der Kritik, welche späterhin in Gregory & Higgins (2013) beschritten werden. Dieses bietet sehr weitgehenden Kritiken – bis hin zu solchen, die Information Literacy an sich ablehnen – Platz. Gregory & Higgins (2013) erscheint als das in sich geschlossenste. Es ist auch jenes, welches die meisten Anregungen zur Reflexion bietet. Accardi (2013) hingegen liest sich als Ergänzung des ersten Werkes aus einem speziellen Blickwinkel, dem der feministischen Pädagogik. Neben einer Einführung in dieser Pädagogik versucht sich die Autorin darin, konkrete Hinweise zur Integration der Kritik in die Praxis zu liefern. Das Buch enthält rund 150 Seiten, davon rund 35 alleine für Beispiele von Arbeitsblättern, welche direkt im Information Literacy Instructions eingesetzt werden können. Auffällig ist, dass sich in der Darstellung von Accardi (2013) feministische Kritik wenig von dem unterscheidet, was in den anderen beiden Werken als Critical Pedagogy mit Bezug auf Paulo Freire beschrieben wurde: Einbeziehung der Kontextes, Empowerment und soziale Fragestellungen als Mittel der Pädagogik.

Grundsätzlich ist Gregory & Higgins (2013) als das stärkste der drei Werke bezeichnen. Es ist, wie ebenfalls mehrfach angedeutet, ein Diskussionsbeitrag, welcher dazu führen kann, die bibliothekarische Praxis zu hinterfragen und somit – wenn sie während des Hinterfragens nicht gänzlich verworfen wird – sozial relevanter zu machen. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sich alle drei Werke auf die englischsprachigen Bibliothekswesen beziehen. Eine Übersetzung in den Kontext der deutschsprachigen Bibliothekswesen sollte wenn, dann vorsichtig geschehen. Die Debatten um Informationskompetenz haben sich zwar aus Übersetzungen relevanter Texte aus dem Englischen entwickelt, aber teilweise andere Richtungen genommen. Insoweit muss nicht jede Kritik auf den deutschsprachigen Kontext zutreffen.

Alles in allem ist die Lektüre der drei Werk zu empfehlen. Sie sind erfrischend offen, teilweise jugendlich radikal und zudem denkanregend.

Literatur

Battista, Andrew (2013) / From “A Crusade against Ignorance” to a “Crisis of Authenticity”: Curating Information for a Participatory Democracy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 81-97

Duke, Thomas Scott ; Ward, Jennifer Diane ; Burkert, Jill (2010) / Preparing Critically Consciois, Information Literate Special Educators for Alaska’s Schools. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 115-131

Enright, Nathaniel F. (2013) / The Violence of Information Literacy: Neoliberalism and the Human as Capital. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 15-38

Freire, Paulo (1970) / Pedagogy of the oppressed. New York, NY : Herder and Herder, 1970

Keer, Gretchen (2010) / Critical Pedagogy and Information Literacy in Community Colleges. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 149-159

Kopp, Bryan M. ; Olson-Kopp, Kim (2010) / Depositories of Knowledge : Library Instruction and the development of Critical Consciousness. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 55-67

Lilburn, Jeff (2013) / “You’ve Got to Know and Know Properly”: Citizenship in Kazou Ishiguro’s Never Let Me Go and the Aims of Information Literacy. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 63-78

Pankl, Elisabeth ; Coleman, Jason (2010) / “There’s Nothing on my Topic!“ Using the Theories of Oscar Wilde and Henry Giroux to Develop Critical Pedagogy for Library Instruction. In: Accardi, Maria T. ; Drabinskis, Emily ; Kumbier, Alana (edit.): Critical Library Instruction : Theories and Methods. Duluth, MN : Library Juice Press, 2010, 3-12

Seale, Maura (2013) / The Neoliberal Library. In: Gregory, Lua ; Higgins, Shana (edit.): Information Literacy and Social Justice : Radical Professional Praxis. – Sacramento, CA : Library Juice Press, 2013, 39-61

Fussnoten

1 Englischsprachige Bibliothekswesen ist selbstverständlich eine Verkürzung. Gemeint sind englischsprachige Bibliothekswesen des globalen Nordens, die sich in den Diskussionen immer wieder vermischen. Über Bibliothekswesen wie die in Nigeria, Belize oder auch Trinidad and Tobago ist im globalen Norden viel zu wenig bekannt, um solche Aussagen zu machen. Insoweit kann hier „englischsprachige Bibliothekswesen“ gelesen werden als Bibliothekswesen der USA, Grossbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands.

2 Diese Einschätzung erscheint nicht gänzlich unberechtigt. Vor einigen Wochen referierten Juha Kämäräinen und Jarmo Saarti auf der European Conference on Information Literacy (http://www.ecil2013.org/index.php/home) in Istanbul über das Promotionsprojekt von Kämäräinen, welcher die Rhetorik der offiziellen Dokumente zur Information Literacy in Finnland untersuchte. Dabei stellten sie in einen Raum gefüllt mit Personen, die offensichtlich von der Bedeutung von Bibliotheken und Information Literacy überzeugt waren, unter anderem die Frage, was eigentlich wirklich passieren würde, wenn Menschen nicht Information Literate würden. Auch befragt das Promotionsprojekt die Vorstellung, dass Information Literacy ein objektiv richtiges, und eben nicht auch ein durch politische Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen beeinflusstes, Projekt sei. Die Reaktion im Saal war erstaunlich. Den beiden wurde für den Vortrag gedankt, wie allen anderen Vortragenden, und niemand rührte sich, so als ob die Frage nicht relevant wäre. Im letzten, zusammenfassenden Vortrag am Abschluss der gleichen Konferenz stellte Ralph Catts, Erziehungswissenschaftler mit grossem Interesse an Information Literacy, klar dar, dass ein Grossteil der Forschung, die Aktive aus dem Bibliothekswesen zum Thema durchführen und bei der Konferenz präsentierten, wissenschaftlichen Mindeststandards nicht standhält, da sie zum Beispiel kein theoretisches Framework benennen, Forschungsmethoden und erhobene Daten nicht nachvollziehbar darstellen. Angesichts dessen, dass in den drei Tagen zuvor sich diese Aktiven gegenseitig grösstenteils ähnliche Studien vorgestellt hatten, die immer wieder die Bedeutung von Information Literacy und Bibliotheken herausstellten, gleichzeitig immer wieder die mangelnde Information Literacy anderer Personengruppen (Studierende, Dozierende) betonte, war dies ein relevanter Hinweise. Aber auch der wurde einfach übergangen. Beide Hinweise schienen zumindest bei dieser Konferenz von den anderen Teilnehmenden als irrelevant ignoriert zu werden. Tatsächlich erschien es teilweise, als würde Information Literacy als ein Diskurs funktionieren, der sich selber genügt und nicht mehr begründet werden müsste, weshalb auf Kritik, die an den Grundfragen des Diskurses (Ist er wirklich objektiv?, Ist er wirklich begründet?, Ist er wirklich theoretisch abgesichert?) ansetzt, nicht reagiert werden muss oder kann.

3 Antworten

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  1. Walther Umstätter said, on 28. November 2013 at 15:20

    Seit ich mich in Ausbildung befinde sah, hörte und lernte ich immer wieder, dass es darauf ankommt, Probleme und ihre Lösungen nicht nur auswendig zu lernen, sondern sie zu durchdenken und zu hinterfragen. Insgesamt ist das ein Problem, das so alt ist wie die Pädagogik. Am schönsten fand ich dabei den Versuch eines Professors in einer Diplomprüfung, der sich gerade darum bemühte, nicht nur Wissen abzufragen, sondern auch zu prüfen, wie weit man es durchdacht hat. Er schilderte mir darum kurz einen Tierversuch und erwartete von mir, dass ich ihm die wissenschaftlichen Konsequenzen daraus erläutere. Glücklicherweise kannte ich nicht nur den Versuch, sondern auch die ausgedehnte Diskussion darüber in der Fachwelt, andernfalls hätte ich komplett versagt. Denn das wirkliche Problem ist, dass kritisches Denken unglaublich viel Zeit kostet, und dass insbesondere Schulen dazu neigen, zunächst möglichst viel oberflächliches Wissen (in Sprachen, Biologie, Chemie, Mathematik etc.) anzureißen, damit Studierende sich dann immer mehr auf ihre speziellen Interessen und Begabungen konzentrieren können. Das hat viel mit der alten Vorstellung von Bildung und der Vermeidung von „Fachidioten“ zu tun.

    Die “difference between banking and problem-posing” hat hier also nur einen neuen Namen für ein uraltes Problem, das ungelöst, auch nie aus den Augen verloren werden darf. Insbesondere darum, weil beispielsweise bei der Ausbreitung der Informationstheorie nach dem zweiten Weltkrieg deutlich wurde, dass immer mehr Menschen auf den verschiedensten Fachgebieten Teile dieser Theorie, die sie gerade gut brauchen konnten im „banking“ ohne notwendigem „problem-posing“ zu übernehmen. So wurde Information in der Konsequenz der Informationstheorie als „verringerte Unsicherheit“, als „durch einen Neuigkeitswert gekennzeichnet“ oder auch als „Kontext abhängig“ definiert. Auch die Aussage „Das ist keine Information, das weiß ich schon“ (zit. bei R. Kuhlen: Grundlagen der prakt. IuD S. 10 u. 11; 2004), enthält die Definition der Redundanz, ohne sie beim Namen zu nennen. Das hat große Ähnlichkeit mit der Übernahme von Riten, die über Jahrhunderte tradiert werden, auch wenn deren Inhalte immer weiter im Dunkel der Vergessenheit verschwinden.

    Insofern ist es ein uralter Kampf um die Zeit, da Wissen als begründete Information immer zu der Frage führt, wie tief dieses Wissen begründet sein kann, muss oder sollte.

    Gerade die Feststellung, zu diesem „Thema gäbe es keine Literatur“, ist ein altes Indiz für unzureichende Informationskompetenz. Da Wissenschaft immer erfordert, dass Schöpfungshöhe, auf dem Wissen aufbaut, das bereits vorhanden (publiziert) ist, muss auch immer gesagt werden können, was dazu bereits vorhanden ist. So kann es z.B. auch keine Dissertation ohne Literaturanhang geben. Es ist aber durchaus eine Kunst (im Sinne von Arts and Humanities), Recherchen thematisch so zu erweitern bzw. zu präzisieren, dass eine brauchbare Basis an Wissen zum jeweiligen Thema entsteht. Meist muss man sich dazu auch in die Thematik und Terminologie ausreichend tief einarbeiten, und das ist die eigentliche Problematik.

    Wo liegt das Optimum zwischen Fachwissen bei einem bestimmten Problem und der dazugehörigen Informationskompetenz, mit den entsprechenden Datenbankkenntnissen etc.? Als man noch Wochen brauchte um eine Retrievalsprache und die Indexierung der jeweiligen Datenbanken zu erlernen, wurde der Informationsvermittler zum notwendigen Helfer bei jeder Recherche. Als zumindest die Nutzung von Google so einfach wurde, dass die meisten Menschen glaubten, jeder Mensch könne seine Informationsbedürfnisse mit ausreichend Information Literacy selbst abdecken, versuchten immer mehr Bibliothekare ihren Endnutzern (insbesondere bei Studierenden) das notwendige Grundwissen zu vermitteln. Da aber Google bekanntlich nicht alles ist, zeigte sich, dass der moderne Fachreferent bzw. Subject Librarian noch immer das Bindeglied bei komplizierteren Problemen unserer Zeit ist. Mit Recht wird in der Informationskompetenz immer auch die Beurteilung der gefundenen Informationen gefordert, und das geht nicht ohne jeweilige Fachkenntnisse. Insofern ist eine kritische Betrachtung der Information Literacy in den USA ohne „Subject“-Kenntnisse durchaus angebracht.

    Walther Umstätter

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