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Gut gegen Nerdwind? Eine Milieustudie zum Hipster-Medium Buch, erläutert an den Traffic News To-Go.

Posted in LIBREAS.Feuilleton by Ben on 19. April 2011

Ein Lektüre-Essay.

Von Ben Kaden

Jüngst hatte ich das kleine Vergnügen, einen herausgehoben stilbewussten Redaktionskollegen an einem Samstagvormittag in der fröhlichen Frühlingssonne des Dreiecks der jungen Berliner Mode an der Rosenthaler Straße zu begleiten. Während er sich in einem Flagship-Store verlor, bot sich mir die Gelegenheit, drei handvoll Minuten im Licht des angehenden Nachmittags, der hier samstags als entspannter Morgen durchgeht und nur langsam im Iced Caramel des benachbarten Coffee Häuschens verrührt wird, vor dem Laden zu stehen und zu beobachten, wie sich der Berliner Mythos an seinen Major Labels vorbeischiebt. Die Hosen sind wieder eng in dieser Saison, die Hemden so farbenfroh kariert wie die Socken und die Haare im Schnitt gedrittelt die 1930er, die 1950er und die 1980er zitierend. Eventuell mag man von einer postmodernen Auflage der Mod-Kultur in Neon sprechen, die Purple Hearts wie Purple Hills und Acid House wie Acid Jazz zulässt. Und wahrscheinlich sogar Purple Schulz.

Während ich also am warmen Stein zwischen Pfisterei und Ben Sherman-Schaufenster lehnte und das bunte Potpourri erster Frühlingsahnung an mir vorbei promenieren ließ, kam mir ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2008 in den Sinn, den man Motto gebend quer über die das Viertelstück spannen könnte: „Meet the global scenester: He’s hip. He’s cool. He’s everywhere.” Überall und vor allem auch hier.

Hat man das Glück, diese Nachbarschaft seit nun mehr vielleicht zehn Jahren fast jeden Abend zu durchwandern, um den vom Bildschirm geschachtelten Blick mit der mehr oder weniger glaubwürden Berliner Metropoliteness zu konfrontieren, die die lokale Schnauze in Mitte längst abgelöst hat, aber nicht zwingend durch Herzlichkeit zu ersetzen verstand, dann weiß man schon um die Bedeutung des Kommens und Gehens. Bestand die Frühjahrsuniform im letzten Jahr aus Segelschuhen, Darkdenim-Jeans und weißem Hanes-Shirt, schlägt dieses Jahr das aus, was im Zuge eines diversifizierten Librarian Chic als Nerd-Style bezeichnet werden darf.

I (Der Druck)

Man kann das Free-Zine Traffic News To-Go nicht unbedingt als Zentralorgan des lokalen Hipsterismus bezeichnen. Hier greift man lieber zu Zeitschriften namens I love you, The Gentlewoman, S Magazine oder Fantastic Man – alles erstklassige Beispiele dafür, dass Print lebt und zwar als Lifestyle-Ware. Aber es ist schon wenig Gradmesser dafür, was an der Selbstgestaltungsfront der Szenerie geschieht. So nimmt man die 32 Seiten Seismografie der Trendberichterstattung, die überall in den angesagteren Geschäften der Innenstadt ausliegen, gern mit. Und indem man die dort aufgebreiteten Inhalte rezipiert, wird man selbst, selbst wenn man dagegen schreiben sollte, zu ihrem Verstärker. In jedem Fall lernt man, die Zeichen, die sich vor einem in der Schlange vor dem gleichermaßen gefragten wie exzellenten Speiseeislokal zeigen, richtig zu deuten.

Die März/April-Ausgabe dieses Jahres ist nun fast schon durch die „Art Issue“ ersetzt, verdient aber dennoch Beachtung, denn ihr Thema lautet „All About Books“.

Bibliotheksneubau in Stuttgart

Bibliothek 21 Gramm? Wir fürchten nicht, gehen aber davon aus, dass die Bauaufsicht im Ländle das Gewicht der Säle ohnehin genauer zu bestimmen versteht. Zudem ist zu hoffen, dass der Würfel mit der in die Steinbordüre gemeißelten Kennzeichnung "Library", den der koreanische Architekt Eun Young Yi für die Stadt der 21 entwarf, nicht als Duncan MacDougallsches Messexperiment gemeint ist, sondern eher als Investition in eine lebendige Lesekultur. Dass man mit schmucker Bibliotheksarchitektur auch die Hipster mit ihren Leicas anzieht, weiß man spätestens seit dem Cottbusser IKMZ und nimmt diesen Effekt sicher gern mit.

Die Kinder der nach-bourgeoisen Bohème, deren butterweiche Verbindung aus Hochprofessionalität und Lebenslust dem einstigen Laissez-Faire des Schmuddelberlins das im Kern sehr seriöse Laissez-Faire-Trade einer aufgeräumten Kulturelite überstülpte und das raue Berlin nur noch als Reminiszenz im Galerieformat zitiert zulässt, übernehmen neben Avantgarde-Kunst, kosmopolierter Cuisine und solidem Erwachsenen-Pop auch das Gedruckte in den Kanon ihrer Distinktionskultur. Dadurch, dass die Mediamärkte und Mobiltelefonanbieter auf dem Digitalmarkt kaum eine Produktnische übrig ließen, die nicht auch per Ratenzahlung in den periphersten Ecken der Stadt HD-Geräte und Touchscreen-Kommunikatoren zum de facto Allgemeingut werden kann, erscheint diese Zuflucht in den greifbaren, manifesten Wert nur folgerichtig. Und ist zweifelhaft, ob eine BeoReader etwas daran ändern würde.

Es ist die Sehnsucht nach Beständigkeit, die sich mit einer ab- und aufgeklärten Besinnung wechselseitig befruchtet. Man weiß um die Vergänglichkeit und man kann es sich leisten, Lebenslust mit Existentialismus zu durchbrechen und dennoch zu genießen. Wie jeder Kulturtrend, erschafft sich auch diese Entwicklung ihre spezifischen Codes. Und die entstammen, wie viele ihrer Vertreter, der säkularisierten spätprotestantischen Ethik, die in ihrer Idealwelt südwestdeutsche Mittelstandsromantik mit intellektueller Williamsburger Weltgewandtheit kombiniert. Nimmt man also dieses Lebensstilberlin als weltstädtisches Stuttgart minus Automobilfetisch und plus Currywurst unter der Hochbahn, dann hat man etwa den Schnittpunkt, auf den die Straßenzüge von der Mitte bis auf den Prenzlauer Berg seit einer Handvoll Jahren zusteuern. Folgerichtig kommt die Speiseeiskugel nicht mehr aus der Eisdiele, sondern aus der Manufaktur und heißt immer öfter „Bällchen“.

Das Buch, ein halbes Dutzend Jahre angestaubtes Auslaufmodell im Small Apple-Versum der Informations- und Unterhaltungstechnologie, kehrt nun als Zeichen für die virtuelle Welterschließung derjenigen zurück, die sich leisten können oder leisten wollen, was in der hyperinformationalisierten Alltagswelt so schwer scheint: Muße zur Besinnlichkeit inmitten des ubiquitären informationellen Mahlstroms. Dass nicht alle Autoren und alle Verlage dafür in Fragen und alle Themen dafür in Frage kommen ist klar. Auch hier sind Wertigkeit und Solidität Leitfäden. (Das unzerstörbare Berlin Berlin nimmt dies alles übrigens so gelassen hin, wie eine Kinoleinwand die Filme, die auf ihr laufen.)

II (Die Politik)

Die März-April-Ausgabe von Traffic News To-Go bündelt gerade diesen Hang zum Buch sehr anschaulich. Wenn Berlin seinem Ruf als kulturelles Labor für den Rest der Republik gerecht wird, werden die in dem Blatt aus der Torstraße abgebildeten Tendenzen demnächst auch an anderer Stelle zu beobachten sein. Die Verkehrsrundschau aus der Hauptstadt ist immerhin schon laut Website in Hamburg, Amsterdam und Zürich zu finden und über Issuu als E-Paper überall, wo es Webterminals gibt.

Ein erster aus dem Heft heraus ableitbarer Trend ist die Integration des explizit Politischen in die Welt der stilistischen Avantgarde und zwar jenseits der Provokationen, wie man sie noch von Benetton-Kampagnen erinnert. Unterläuft die FAZ ihre Kernkompetenz regelmäßig durch die Beilage des Red Bulletin, das der betagten Frankfurter Weltrundschau mit Leichtigkeit vormacht, auf der Höhe welcher Oberflächen sich der Mainstream-Printjournalismus im frühen 21. Jahrhundert bewegt, so wirkt hier wie durch die Hintertür eine neue Form der Politisierung aus unerwarteter Richtung in das Gewebe der Gesellschaft hinein. Es handelt sich zwangsläufig nicht um die gediegene Güte von bundeszentral verbreiteten politischen Bildungspublikationen, sondern um die mitunter etwas naiv funkelnde Exploration eines Gesellschaftsfeldes, das lange Zeit von der Hipness soweit entfernt lag, wie Tristan da Cunha vom nächsten Großflughafen. Dass die Traffic-News-Leser nun Anzüge tragen, in denen man sich immer Felix Keetenheuve vorgestellt hat, verwundert nicht und bei genauerer Überlegung ist der feingeistige Protagonist in Wolfgang Koeppens Treibhaus prototypischer für die 2011er Midlife-Hipster der Berliner Republik, als man zunächst annimmt. Und das nicht, weil e.e. cummings mit seiner frühlingshaften „perhaps hand“ zum kanonisierten (und nichtsdestotrotz zeitlos schönen) Zitatenschatz für ein aprilromantisches Stelldichein auf dem Koppenplatz gehört. Ein e markiert hier nicht die Differenz.

Für die Rückkehr des explizit Politischen stehen zwei Beiträge in der Traffic-News Ausgabe: Greta Taubert analysiert am Beispiel des Hutes das Weltgeschehen des März 2011 und verfugt Karl-Theodor zu Guttenberg mit Muamar al-Gaddafi und John Galliano zu einer Kolumne. Der Eröffnungskommentar Torsten Denklers liest sich dagegen als noch viel nüchterne Bestandsaufnahme der Berliner Republik, die ihm eine „ausgesetzte“ ist. Man ist engagiert.

III (Das Buch)

Gekreuzt wird dies durch einen kleinen Dialog, der implizit selbstredend auch politisch ist. Carina Groh und Anne Hansen schreiben über die Folgen der Rundumdigitalisierung unserer Kommunikationsprozesse für das menschliche Miteinander. Anne Hansen – Jahrgang 1980 und damit an der Knickstelle der so genannten Digital Natives geboren – spricht gar von einer „Digitalen Diktatur“, der es zu trotzen gilt. Hinter dieser Übertreibung scheint vielleicht nichts anderes zu stehen, als die Angst davor, im Digitalen nicht mehr die Spuren ziehen und sein zu lassen, mit denen man selbst seine frühe Identitätskonstruktion erfuhr: greifbare Artefakte als Erinnerungsschlüssel. In mehrfacher Hinsicht sehr typisch für diese, wenn man so will, sinnliche Wende, ist ihre Abrechnung mit dem E-Book:

„Das größte Übel allerdings sind meiner Meinung nach e-Books. Ist das eigentlich schon zum Unwort des Jahres gewählt worden? Wenn nein: Kann ich das bitte irgendwo einreichen? Nun, darum kümmere ich mich später. Nun, darum kümmere ich mich später. Jetzt geht es um die Frage, ob wir lesen um des Lesens Willen oder lesen, weil wir in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Inhalt in unser Hirn pressen wollen. E-Books sind nämlich – da ist diese[s] schreckliche Wort schon wieder – unwahrscheinlich praktisch. Aber muss das Lesen eines Buches praktisch sein? Ist es nicht vielmehr Teil von etwas Größerem? Wir gehen in die Buchhandlung, lassen uns von den verschiedenen Büchern inspirieren, wählen schließlich ein Exemplar, fahren mit den Fingern über den Einband, spüren das Gewicht in unserem Rucksack auf dem Nachhauseweg, um es dann voller Vorfreude auf dem Sofa feierlich auszupacken. Dann beginnt das Lesen.“ ( S. 8 )

So ganz unbekannt erscheint einem dies nicht, aber so Schwarz auf Weiß wirkt es doch etwas zu Schwarz und Weiß. Denn zu sagen, man würde beim Bücherlesen ständig vor solch paradiesischen Gestaden kreuzen, wäre der allgemeinen Realität gegenüber eine dreiste Schwindelei. Vermutlich verlaufen die feinen Unterschiede tatsächlich zwischen Kontemplation vs. Contentplation. Was beiden Extremen fehlt, ist die Kontextsensibilität. Das Leseidyll der Anne Hansen ist denn auch nur eine Beschwörung von vielen und die ästhetische Vergnüglichkeit des Lesens um des Lesens willens ist eine selten erreichbare Reinform. Man liest aus vielen Gründen. Und auf diversen Sofas.

IV (Die Dokumentation)

Das bedauerlich knapp vorgestellte und reich bebilderte eher Kunst- denn Publikationsprojekt von Georg Diez und Christopher Roth verweist auf eine andere zentrale und eigentlich sinnstiftende Funktion des Werkgenusses. Ihr Projekt ist nichts anderes als eine Dokumentation kultureller Spuren und um dies in einer bewältigbare Brennweite zu bekommen, beschränkt sich die Aufnahme auf die Jahre 1980/1981. In zehn Bänden wurde diese für Uneingeweihte vielleicht überraschend datierte Zeitenwende bisher ausgebreitet. Die Art der Chronographie dieser beiden Jahre, der mikrodiachrone Querung diverser Ereignisfelder vom Afghanistankrieg bis zu John McEnroes Triumph in Wimbledon dockt nahtlos an den Wunsch nach eigener Verortung und Erinnerung an. Es ist die Geschichtsschreibung, die die Wissenschaft nicht leisten kann. Es ist ein Umgang mit Informationsmengen, eine – subjektiv – strukturierende Aufarbeitung von Erinnerungsbildern in einer Art Remix-Modus. Es ist vermutlich eine informationsgesellschaftliche Praxis, die dort ansetzt, wo die wissenschaftliche Historiografie mit ihrem Anspruch an Gründlichkeit scheitern muss. Natürlich weiß man nicht, inwieweit die diversen Formen der Welterschließung – hier einer künstlerischen, dort einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung – in einem Pastiche wirklich zusammenfinden können. Die Wissenschaft tut sich, ihrer Natur gemäß, weitaus mit Übernahmen externer Perspektiven schwerer, als die Kunst, die rechtmäßig alles an Verfahren plündern kann, was ihr zupass kommt. Eine spannende Beobachtungsperspektive für die Wissenschaftssoziologie ergibt sich aber dann, wenn die Generation der Hipsters und Scenesters, die Sinnliches und Subjektives gerade nicht hinter aus ihrem Pflichtalltag zu reduzieren bereit ist, sukzessive in die bestehenden Wissenschaftsstrukturen dringt. Also die Generation derer, die sich Informations- und Faktenmangel nicht mehr vorstellen können und für die Digitaltechnologie so selbstverständlicher Lebensbestandteil ist, wie für ihre Elterngeneration Rundfunk, Volkswagen und Italienurlaub. Projekte wie das erwähnte 1980/81er bilden dann womöglich den Brenner zwischen beiden Welten.

V (Die Mode)

In den Universitätsbibliotheken sichtet man die Hipster und Scenester jedenfalls schon. Traffic News To-Go hat denn auch in der Rubrik „Das Wetter“ die passenden Ausgehtipps: Die Bibliothek von Alexandria, die Openbare Bibliotheek in Amsterdam, das Berlin Brain der Freien Universität sowie die Bibliothek des British Museums. Und einen wohlgemeinten Hinweis gibt der Beitrag seinen Lesern obendrein: „Vielleicht lohnt es sich ja, einen Stift einzupacken.“

Wie nah hippes Stilbewusstsein und Lektüre zusammenfinden, kann man gemeinhin im Lesesaal des Grimm-Zentrums begutachten, auch wenn dort nach wie vor einige tapfere Lacoste- und Ralph-Lauren-Träger zeigen, dass Hochschuluniformen noch nicht bei jedem perdu sind. Als Mitte-Hipster geht man damit natürlich nicht durch, sondern bestenfalls als Besucher aus dem Neckartal. Traffic News To-Go weiß das und porträtiert als Gegenmodell acht Vertreter der Berliner Kreativindustrien in zeit- und ortsgemäßerem Schneiderhandwerk, die allesamt als stilsicher gehobener Dienst im Bibliothekswesen durchgehen würden. Es ist schon fast ein wenig verstörend, wie sich MTVeejay, Playboy-Cover-Mädchen und Karpatenhund-Sängerin Claire Oelkers in die Ausleihthekenkraft unserer Träume zu verwandeln versteht, Kurzfilmregisseur Dave Lojek als Leiter der IT-Abteilung erscheint (und sich passend als E-Book-Freund outet); die Parfumeurin Stefanie Hanssen macht als Leiterin der Katalogisierung eine exzellente Figur, die Opernsängerin Eszter Harazdy gehört in ihren Herbstfarben an die Auskunft, der Crossmedia-Spezialist Damian Folk ins geschlossene Magazin, Architekt Sigurd Larsen mit Einstecktuch ins Fachreferat, dem „Redakteur und Aktivisten für nachhaltige Lebensstile“ Tom Schlüter mit Tapisserie-Hemd würde ich die Leitung des ganzen Hauses anvertrauen und der „Allround-Gestalterin“ Wibke Noack möchte man angesichts ihrer Strickjacke und „jfk terminal 1“-Brille sofort die Benutzung übergeben. Wenn es denn allein nach der Anmutung ginge. Es ist eine Couture der Retrospektion, in ihrer Form präzise und wunderschön und in ihrer inneren Stimmigkeit ein Abgesang auf jedes postmoderne Spielvergnügen. Diese Mode ist ernsthaft, saturiert (im Sinne von gesättigt) und zeitstabil wie ein Lesesaal.

VI (Die Literatur)

„Rote Wangen hatte Erika“ – schreibt im Anschluss die für diese Generation zwischen Sinnieren und Sinnlichkeit recht typische Schriftstellerin Ulrike Almut Sandig. Ihre kurze Geschichte bindet nun endgültig den Kern der Bücher, nämlich die Literatur, in das Flechtwerk der Situationserhebung. Auch hier geht es um Erinnerungskultur, um Ernst und Verlust und der Text zeigt recht typisch die Projektionen der Generation der heute über 30-Jährigen auf diese Spannungen. Zur Retrospektion im Allgemeinen, gesellt sich die Introspektion im Besonderen und beide treffen sich, so möchte man meinen, mit Schnittblumen auf der Friedhofsbank am frühlingsgrünen Grab der rotwängigen Erika.

Die Dokumentation der politischen Gegenwart, die Aktualisierung über modische und mediale Zitate sowie die Speicherung und Fiktionalisierung in der Narration: die Zeit kreist deutlich um ihre Erinnerungen und wenn Jeanette Hepp – vermutlich ohne diesen Hintergedanken – Yves Saint Laurents Sinnsprüchlein „Fashion Fades, Style is Eternal“ zur Überschrift erhebt, dann wiederholt sich nur das Leitthema der Frage nach einer Bewahrbarkeit der Welt. Die beigeordneten Shopping-Tipps arrangieren ein Lesegerät (Kindle 3) an die Spitze dreier Utensilien für aktive Kommunikation: eine Schreibmaschine, eine Federmappe (bzw. pencil casing) sowie einen Schreibtisch. Die nächste Facette des hier transportierten schichttypischen Bestandsnachweises kultureller Praxen lässt sich möglicherweise so deuten: Man liest nicht nur, man schreibt auch.

Tatsächlich gewinnt man, sofern man sich auf den WG-Parties des entsprechenden Milieus bewegt, den Eindruck, jeder hätte ein Manuskript in der Schublade. Auch das würde für die Renaissance des Lesens und damit des Mediums Buches sprechen. Denn erst wer selbst einmal auszog um eines zu schreiben, vermag wirklich zu beurteilen wie viel Schweiß und Tränen und manchmal auch Blut oft hinter so etwas, wie der hier abgedruckten „Messe der kleinen Verreckten“ aus Léon Bloys „Blutschweiß“ stecken. Wenn man dann noch weiß, dass dieser drastische Klumpen Kriegsschilderung erstmals 1914, also zeitlich als Ouvertüre zum I. Weltkrieg, erschien (Paris: G. Crès & Cie), dann läuft man auch nicht Gefahr, die Schilderung eines Gemetzels als aus dem Pulp lächerlicher Inglourious Basterds geschält zu lesen. Auch das ist Erinnerungskultur, deren Einbettung zwischen einem zitronengelben Roksanda Ilincic-Kleid – ornithologisch bewanderte Kritiker würde hier vielleicht von einer Motacilla citreola sprechen – und einem nicht durchgängig zündenden „satirischen Blick auf die Leipziger Shortlist“ einerseits etwas irritiert, andererseits aber gerade Mischparadigma der vielfältigen Gleichzeitigkeit kultureller Rollen zum Ausdruck bringt. Man kann nicht nur betroffen sein. Man kann nicht nur unbefangen leger das Kleidchen in den Wind hängen. The healthy animal is up and doing.

Und das Tier Mensch kann sich William McDougalls Einsicht eben auch nicht entziehen, muss aber immer noch neben seinem konkreten Überlebensraum einen vieldeutigen Sinnhorizont ausbalancieren. Die Zeitdiagnostik zeigt, dass man im 21. Jahrhundert dabei zwangsläufig in eine Perspektive gerät, die als ironische bezeichnet werden muss – und zwar nicht im Sinne des Spottes, sondern genuiner Paradoxien. Richard Rorty grüßt aus diesem Verständnis. Und Michel Houellebecq aus der Traffic-News-Ausgabe und zeigt, dass auch seine literarische Karte zur Erschließung dieses Gebiets als belangvoll angesehen wird.

VII (Der Trend)

Was bleibt nun, da ein gutgelaunter Windstoß die flatterhafte Ausgabe mild vom Balkon hob und in eine angrünende Baumkrone wickelte, wie es nur mit Printprodukten möglich ist? (Das staubgraue Smartphone wäre wie eine kleine Schiefertafel auf das Pflaster gesegelt und mit einem traurigen Geräusch in tausend kleine Elektroschrott-Splitter zerborsten.)

Einerseits die Grundeinsicht, dass Print wenigstens in diesem traditionell eher textorientierten Milieu nicht tot ist. Druckwerke kehren sogar wieder in neuer Form und als Lebensstil definierendes Element. Eine buchgestalterisch ambitioniertere Aufmachung erweist sich durchaus als hilfreich. Als aktuelles Beispiel stellt Jonathan Safran Foers konsequente Dekonstruktion von Bruno Schulz‘ Krokodilstraße die perfekte Materialisierung dar. Die Entwertung des Buches als Informationsträger führt zu seiner doppelten Aufwertung: als Objekt und als Symbol. (Und damit zwangsläufig wieder auch als Distinktionsmittel.) Der symbolische Gehalt – dies als zweite Schlussfolgerung – färbt auf die Tätigkeit des Lesens ab. Foers Tree of Codes mit seiner prinzipiellen Unlesbarkeit ist dafür kein Beispiel, wohl aber z.B. die literarischen Schatzgräber von Matthes & Seitz, die nicht nur Léon Bloy auf den Buchmarkt zurück bringen, sondern gleichfalls Roland Barthes‘ „Über mich selbst“ und eine ganze Reihe anderer Texte auflegen, die das Verlagsprogramm möglicherweise zur Stammadresse der Nach-Suhrkamp-Generation werden lässt. Die Literatur ist in dieser Gemengelage immer auch Versuch, eine Sprache für etwas Empfundenes zu entdecken.

Und auch das: – die Traffic-News-Ausgabe gibt es nur bedingt her, wohl aber ihr Fundort – Der Markt für hochwertige Spezialmagazine blüht, gedeiht und floriert was die Auslagen hergeben. Zeitschrift und Buch werden sich dabei nicht nur preislich immer ähnlicher (eine GRANTA-Ausgabe steht problemlos mit gehörigem Taschenbuchstolz im Regal).

Neben der medialen Dimension fällt eine bisweilen noch etwas sehr zurückhaltende Rückkehr des Politischen auf, die sich abseits etablierter Strukturen als Selbstaktivierung entfaltet. In eine Volkspartei bekommt man diese hochindividualistische Zielgruppe vermutlich nicht mehr. Gerade deshalb ist es eine äußerst aufregende Linie gesellschaftlichen Engagements, die sich von den südwestdeutschen Kernkraftwerken zur re:publica abzeichnet. Den Leitsatz Heinrich Heines – „Der Parteigeist ist ein Prokrustes, der die Wahrheit schlecht bettet“ – hat diese Kohorte im Blut und entsprechend stoßen dort allzu bunte, emanzipatorische Zukunftsplanskizzen aus der Social Media-Bewegung eher nicht auf unkritische Sympathie. Vor allem wenn es um die eigene Wahrheit und die Anerkennung ihrer multiplen Gebrochenheit geht.

So scheint es dem betrachteten Milieu der heutigen Nachdreißiger in den metropolen Innenstädten im Kern darum zu gehen, mit diesen Widersprüchen zurechtzukommen. Sie merken, dass das permanente Unterwegssein, dass die Mobilisierungsgesellschaft des letzten Jahrzehnts nicht erfüllen kann, was es und sie versprachen. Es ist in mehrfacher Hinsicht zu teuer und mit dieser unbequemen Wahrheit muss man umgehen. Die Genealogie des Selbst lockt als möglicher Schlüssel, an dem man sein Leben lang in seiner soziokulturellen Zelle feilt und hofft, dass er eines Tages passt und etwas anderes erschließt. Daraus begründet sich die Rückkehr der Erinnerung in der Gegenwartsgesellschaft, die ein grundphilosophisches Mark hat: Was bin ich, was soll ich, was werde ich sein? Die Sinnfrage wird permanenter Bestandteil der Biografiekonstruktion. Die Antworten erhofft man sich aus dem Gewesenen, aus Kindheitsmustern, Erinnerungsbildern und Vor-Gedachtem. Dabei geht es nicht historisierend um eine objektive Rekonstruktion der Geschichte, sondern um eine subjektive Aktualisierung. Das Werkzeug dafür ist das Zitat. Und das offene Bekenntnis zum Zitieren. Es ist die Leitfigur der Remix-Kultur, die Neues nur durch Rekombinatorik erzeugt. Der Gedanke selbst ist steinalt – neu scheint jedoch, dass man sich dessen bewusst ist. Und damit offensiv verfährt. Das Zitat ist das Rhythmusinstrument unserer Gegenwart. Für die Bibliotheken könnten die Sterne nicht besser stehen: Sie sind unerschöpfliche Zitatspeicher. Und, wenn sie geschickt sind, erstklassige Zitatvermittler. So schreibt man es sich als Skizze unserer Faserlandschaft – nicht ins Stammbuch, sondern ins Moleskine.

Mannheim, 19.04.2011

2 Antworten

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  1. […] Grandezza, wo und wie der Cardigan zu hängen hat. Andere sinnieren stetig und stabil über die Hipsterisierung des Mediums Buch. Spätestens seit Christopher Brosius Kreation “In the Library” zieht ein mild […]

  2. Ben said, on 13. Mai 2011 at 09:20

    : Hipster-Traps in New York – allein es fehlt ein angesagtes Printmedium in der Lockstoffsammlung des anscheinend papiernen Möchtegern-Tellereisen für die Fauxhemian-Jagd. Mein Vorschlag: What was the Hipster?.


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