Gegendsätzlich: Der Mensch, die Technik und der Bibliothekartag 100 in Berlin 44
Die Technik
„Ein wichtiges Motiv […] ist […] die Suche nach dem perfekten ersten Satz – eine Obsession im Boulevardjournalismus, wo die Leser wenig Zeit haben und der Text eines Artikels mit Schlagzeilen und bunten Bildern von nackter Haut konkurriert. Es ist aber auch eine philosophische Suche, der Wunsch, sich einen Reim zu machen, der leitet und schützt.“
So steht es in einer Buchbesprechung im gestrigen Feuilleton der FAZ (Nils Minkmar: Vom tastenden Leben zwischen dem ersten und dem letzten Satz, S. 32). Und so steht es hier als erster Satz – was einen Reim ergibt, der leider nichts leitet und schützt. Aber durchaus einen Sinn.
Da LIBREAS bisweilen als bibliothekarisches Feuilleton wahrgenommen wird, ist uns nämlich geraten, gelegentlich selbst in ein Feuilleton hinein zu blättern. Zum Beispiel in das der Tagespresse vom Samstag. Das sich dann wieder mit unserem Blog trifft.
Nimmt man die Kriterien „wenig Zeit“,„Schlagzeilen“, „bunte Bilder“, „nackte Haut“, dann ist das Internet an sich ein Boulevard. Dass „Boulevard“ seinen Ursprung im Bollwerk hat, passt nur noch besser ins Bild, denn die postmoderne Verteidigung liegt gerade in der Diffusion und nicht in der Ballung. Und es passt zum Phänomen der Digitalität.
Mercedes Bunz verrät uns, und hier liegt der aktuelle Treffpunkt, ebenfalls in der FAZ (und zwar im Bereich Bilder und Zeiten) ausführlich in einem flotten Programmartikel („Das Denken und die Digitalisierung“, S. Z1f.), dass die Digitalisierung […] im Gegenzug zur Industrialisierung“ nichts bündelt und normiert, sondern ihre techné, also die ihr innewohnende Logik über Leitbegriffe wie „update“ und „disruption“, d.h. Entwicklungsprozess und Unterbrechung, beschreibbar wird und fragt im Anschluss: „Warum sollte man nur Menschen fordern und fördern und nicht auch Maschinen?“
Mit Martin Heidegger sagt sie uns zudem, was eigentlich selbstverständlich ist und vor allem als Entgegnung an die noch vor kurzem gern an dieser feuilletonistischen Systemtelle in der deutschen Presselandschaft gepflegte Technikskepsis bzw. mitunter Technophobie gerichtet scheint: „Zur Verwindung des Wesens der Technik wird der Mensch gebraucht.“ Was sie uns nahelegt, ist ein digitales Lola-Prinzip: Den „liebgewonnen Gegensatz von Mensch und Maschine gilt es dringend loszulassen.“
In der Tat sind wir als kommunizierende Gefäße (Friedricke Mayröcker) bei technologievermittelter Kommunikation, also wenigstens bei jeder Art von Text und vielleicht bereits in der Sprache an sich, hybride Handlungsinstanzen. Fehlt mir das Mittel, mich zu zeigen, werde ich nicht gesehen. In soziale Konstruktionen wie diesem Abstraktum Gesellschaft gilt: Bin ich nicht-sichtbar, bin ich nicht da. Bin ich nicht Mensch.
Auf den Boulevards des Netzes wird niemand kommen und das verborgene Individuum suchen. Die Chance auf die zufällige Begegnung mit dem Ungewollten ist reduziert. Was wir suchen, sind Formen, uns präsent zu halten.
Auch deshalb lesen oder schreiben wir Feuilletons. Wir tun es, um uns zu vergewissern, was die Kultur als explicatio des Menschseins gerade als besehenswert und bedenkenswert hergibt und probieren, was sie anerkennt. Und tragen, sofern wir bloggen und irgendjemand unseren Text, also unser Selbstbild der Welt liest, zu diesem Prozess bei.
Und doch bleibt ein Stich Irritation in Mercedes Bunz‘ Aufforderung, sich doch endlich verwachsen mit der Maschine zu fühlen. Es liegt weniger daran, dass es sich um eine Kommunikationstechnologie handelt, sondern daran, dass die Kommunikation ohne Körper und dadurch von einer paradoxerweise unkontrollierbaren Präzision auskommt. Die säuberlich dokumentierbare Auslagerung des sozialen Miteinanders auf externe Server und Festplatten schreibt eine hypertextuelle Biografie mit, der die eigene Erinnerung an Beweiskraft zwangsläufig unterlegen sein muss. Der verminderten Chance an Begegnung mit dem Fremden tritt eine erhöhte Chance an gezielter Nachkontrollierbarkeit des Eigenen gegenüber. Auch durch andere.
Mercedes Bunz hält sich dabei mit Heidegger auf der sicheren Seite: Es kommt darauf an, was wir daraus machen. Eine einfache Erkenntnis. Genauso erforderlich, wenn nicht sogar notwendiger und als Konkretisierung nicht mehr ganz so einfach zu beantworten, erscheint mir jedoch die Frage, was wir daraus nicht machen.
Es geht um die Balance zwischen Anthropozentrismus und Technozentrierung, also um die Frage, ob die Technik Zutat und Erweiterung des menschlichen Daseins ist oder der Mensch in gewissem Umfang Zutat zur Technik. In dieser Abwägung mag man das Echo einer verbrauchten dystopischen Kulturkritik vergangener Zeit hören. Andererseits zeigen isolierte Systemiken, wie sie Teile der spätkapitalistischen Betriebswirtschaft durchaus aufweisen, dass eine perspektivische Einseitigkeit in der Tat realweltliche Folgen hinsichtlich einer Vertauschung von Mittel und Zweck haben können.
Das einzige Mittel, das mir als Stabilisator geeignet zu sein scheint, ist zwangsläufig das permanente Üben einer differenzierenden Kritik, die Konfrontation mit dem Anderen, die Gewissheiten dekonstruieren hilft und zu der man als Gegengewicht ein gesundes Maß an Distanz und vielleicht auch Naivität braucht, damit man sich nicht verliert und nur noch das eisenharte Gehäuse der Ironie als Überlebenstaktik überbleibt.
Gleiches gilt natürlich auch für die technologiegeleitete Bibliothekswissenschaft und ihre nicht minder technologiegeleitete Projektionsfläche der Bibliothekspraxis. Es ist nicht unbedingt so, dass sich das deutsche Bibliothekswesen ganz ohne Not und Notwendigkeiten sieht, aber wenigstens die Bibliothekartage sind zumeist eher sanftmütige Zusammentreffen in wohliger Atmosphäre.
Die Stadt
Aus diesem Grund entpuppt sich die Wahl des Ortes für den Bibliothekartag 2011 am Rande des aus verschiedenen Gründen berühmten Berliner Bezirks Neukölln vielleicht als die Beste, die man treffen konnte. Denn sie fügt sich nahtlos an die Forderung einer Balance, einer Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Nicht-Idealen, dem Herausfordernden. Sofern man das Tagungsgelände verlässt, ist der mitunter abschirmende Charakter der Konferenz nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie erzwingt die Begegnung mit einer Welt, in der sich Diffusion und Bündelung mit allen möglichen Kotingenzen und Emergenzeffekten im Analograum besonders intensiv abbilden.
In der InetBib-Liste gab es im vergangenen Herbst eine kleine eruptive Empörung und dazu einige Beschwichtigungen. Sowohl das Entsetzen („in einer Gegend, die nichts Urbanes an sich hat, und auch wenig mit Berlin zu tun“), wie auch das dagegen positionierte Idyllenbild („Sie werden begeistert sein über die blühenden Bäume in der nahen Kleingartenanlage.“) werden der eigentlichen Situation nicht gerecht.
Besucht man die Gegend an einem Sonntag wie diesem, muss man zunächst ohne Umwege feststellen, dass man sich am Rand der Stadt Berlin befindet. Denn für einen Kernberliner sind Stadtrandlagen wie Berlin-Buch oder Staaken ohnehin jenseits der Wahrnehmung. Randlage definiert sich in dieser Stadt nicht nach Abstand vom Alexanderplatz im Radius, sondern danach, ob man mit der Gegend etwas zu tun haben könnte. Die Sonnenallee war seit 1961 Grenzgebiet und ist immer noch ein solches. Wer vom ziemlich unschönen Klotz des Tagungshotels nach Osten oder Nordosten wegwandert, spürt binnen weniger Meter, wie unwirtlich ein laut Stadtplan noch ziemlich mittiges Gebiet sein kann.
Der Weg Richtung Westen, Richtung Rixdorf also nach Neukölln hinein ist dagegen ohne Zweifel eine kalte Konfrontation mit dem, was ebenfalls eine Herzkammer Berlins ist. Die Stadt hat hier keine Sommersprossen, sondern eher Hornschwielen. Die Oberfläche dieser Gegend ist rau, ehrlich und entbehrt jeder Politur, wie man sie in Mitte findet. Im albernen Wowereit’schen Diktum der Hauptstadt mit der Eigenschaftsmischung „arm aber sexy“ befindet man sich hier eindeutig im Teil „arm“. Die Gegend wirkt benutzt – im Positiven wie im Negativen – etwas angegilbt und insgesamt lebendig. Wenn der Postdamer Platz das Apple-versum der Stadt ist, ist man hier im Kren einer Art Samsidat-Kultur.
Ein hervorstechendes und ausgesprochen reizvolles Merkmal dieses Bezirkes ist nämlich das überall in mannigfaltiger Weise sichtbar werdende Bedürfnis nach Beschriftung. Vom Aushängeschild der Fachgeschäfte über Handzettel bis zu diversen Filzstift- und Sprühlacktags ist der Stadtteil in einer Vielfalt beschrieben (und zwar buchstäblich), die einem höchst pragmatischen Alltagsgebrauch oder einem rohen Ausdruckswillen huldigt, der fern jeder Normierung zusammenfügt, was gerade und mehr oder weniger zufällig beieinander liegt. Hier ist die Stadt selbst fließender Text und genau deshalb vielleicht urbaner als es die Coffee-Shop getränkten Sandsteinfassaden um das fotogene Grimm-Zentrum je sein dürfen.
Geht es dort um passgenaue Informationsleistungen mit Raum für Ideenspiele wie die Bibliothek 2.0 und Rundumdigitalisierung, entfaltet das Gebiet zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße eine Atmosphäre, die eher an die klassische Soziale Bibliotheksarbeit denken lässt. Passend dazu fehlt hier die großstädtische Geschwindigkeit der Friedrichstraßen und Kurfürstendämme: Man scheint sich in diesem Kiez in ein eigenartiges Arrangement gefunden zu haben, dass jenseits des Fortschrittsideals liegt. Man lebt. Man steht am Spätkauf und schwatzt oder sitzt in einem der unzähligen Glücksritterlokale und lässt sein Hartgeld in die Spielautomaten trudeln. Man verbringt die Nachmittage auf einem Stadtplatz beim Schachpiel oder einer Tischtennispartie und „im Juni, wenn es in Berlin am schönsten ist“, wie man in der InetBib las, wirkt die Nachbarschaft mit ihren zerrissenen Matratzen an den Straßenecken fast verstörend heimelig, in jedem Fall liebenswert.
Die böhmische Dorfstimmung Neuköllns wirkt wie ein Realität gewordenes Gegenbild zur digitalen Boheme am Rosenthaler Platz. Das bei Mercedes Bunz erwähnte „Glück der Unerreichbarkeit“ scheint hier sogar ein wenig daheim sein zu können. Natürlich kann man sich auch in der Mareschstraße seinen DSL-Anschluss legen lassen. Und natürlich sind die Studenten längst in der Nachbarschaft zu finden. Wenn sie aber in Lokalen wie der B-Lage mit ihrem Pilsner stehen, dann scheinen selbst sie anders, als ihre ausgeschlafenen Kollegen aus den Seitenstraßen der Kastanienallee. Sie erinnern noch an ein Studium vor Bologna. An ein auf mehr auf Entfaltung denn auf Darstellung abzielendes Dasein – wozu zweifelsohne Phasen des Nichtstun und der Lebensfreude gehören, die man am Ralph-Lauren-Hill, zu dem der Prenzlauer Berg in seinen geschmeidigeren Ecken aufgewertet wird, ein bisschen seltener findet. Sie erinnern ein Stück an das, was in den Neunzigern den Mythos Berlin begründete.
Im Juni hat die deutsche Bibliothekswelt auf ihrem 100sten Bibliothekartag die Gelegenheit, diesen Gegensätzlichkeiten und Dynamiken in einer Kulturwelt, mit der die Bibliotheken interagieren sollen, nachzuspüren. Die spitze Hässlichkeit des ungelenken Tagungshotels ergänzt die Situation nahezu perfekt. Räumlich gesehen ist der Bibliothekartag 2011 ein Extrem und zugleich, hoffentlich, eine Erdung und vielleicht auch Erschütterung dahingehend, dass die Bibliothekswelt und das Schreiben und das Kommunizieren im Jahr 2011 weit davon entfernt ist, e-only stattzufinden. Dass digitale Information und Kommunikation eine zentrale Facette darstellt, der eine andere, ebenfalls zu berücksichtigende beigegeben ist.
Wir aus der LIBREAS-Redaktion haben heute auf einer kurzen Querfeldeintour vom Tagungshotel ausgehend eine kleine Sammlung urbaner Schriftlichkeit und Stimmungsbilder zusammenfotografiert. Bis zum Bibliothekartag werden wir je nach Stimmung immer wieder einmal Aufnahmen in diesem Pool und vielleicht in diesem Blog als Vorbereitung zum Bibliothekartag publizieren. Abgesehen davon, kann man sich bei Flickr unter den entsprechenden Tags bzw. Pools auch aus der Ferne zahllose vorbereitende Eindrücke holen. Die gefilterten, erschlossenen und auf das Reizspektrum des Visuellen hin sterilisierten Perspektiven der jeweiligen Fotografen ersetzen selbstverständlich nicht die direkte multisensorische Begegnung. Das Erlebnis, an der Sonnenallee auszusteigen und sich vielleicht gleich ein bisschen in der Nachbarschaft zu verlaufen, kann auch soziale Software nicht simulieren.
Mercedes Bunz meint in ihrem FAZ-Artikel etwas sehr fatalistisch sowie wahrscheinlich ihrer Betrachtungslogik nach auch zutreffend: „Ob Wissen automatisiert wird oder nicht, darüber wird der Mensch nicht entscheiden.“
Der Stadtraum Neukölln und damit der Austragungsort der bibliothekarischen Sommerspiele 2011 zeigt aber, dass die Digitaltechnik eben nur eines der Dispositive ist, welche auf die Generierung menschlichen Wissens wirken. Der Häuserblock, in dem man lebt ist ein anderer. Wenn er etwas schief steht und den Bewohner in eine Reibung zwingt, dann bietet er genau die Lücke, die man braucht, um auch die Gewissheiten der Digitalisierungen ab und an zu untergraben.
[…] Also gingen Ben und ich letztens als LIBREAS-Abordnung dort einmal hin, um der bibliothekarischen Öffentlichkeit einen photographischen Eindruck vom Veranstaltungsort zurück zu liefern. Die ersten Bilder hat Ben mit einem feuilletonistischen Text im LIBREAS-Blog veröffentlicht, weitere werden folgen. (Der Beitrag findet sich hier.) […]
[…] haben wir uns das nicht vorgestellt, als wir hier vor dem Zaun standen, im Januar 2011, und Bilder machten vom Veranstaltungsort des diesjährigen Bibliothekartages in Neukölln. Damals war es kalt und verregnet und niemand war im Estrel-Convention-Center zu sehen. Heute […]