Konzepte des Gegenwartsdiskurses. Heute: Digital Managerialism.
von Ben Kaden / @bkaden
In seiner Besprechung von Simon Heads Buch Mindless: Why Smarter Machines Are Makung Dumber Humans. (New York: Basic Books, 2014) in der vorletzten Ausgabe der New York Review of Books referiert Robert Skidelsky, emeritierter Professor für Politische Ökonomie in Warwick, das Grundkonzept des „Digital Managerialism“, wie es Simon Head ausführt. (Robert Skidelsky: The Programmed Prospect Before Us. In: New York Review of Books.Vol. LXI, No. 6, S. 35-37)
Für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ist dies insofern ein Ansatz, den man die Reflexion einbinden sollte, als dass die Digitalisierung von Bibliotheken und bibliothekarischen Prozessen genau in dieser Gemengelage operiert. Geht es zudem in komplexen digitalen Forschungsinfrastrukturen darum, der Komplexität entsprechende Strukturen eines Monitorings umzusetzen, wie ich es gerade in einer Arbeitspaket des TextGrid-Projektes tue, dann findet man sich erstaunlich schnell in der Nähe des „digitalen Managerialismus“, also einer Art Organisationsideologie mit dem Leitgedanken einer reibungsfreien Prozessorganisation auf der Basis digitaler Technologien. Spätestens dann sind Obacht geboten und die kritische Dekonstruktion auch der eigenen Handlungsprämissen angesagt.
Simon Head, der sich in seinem Buch insgesamt leider wenig mit der Ökonomisierung der Wissenschaft befasst, schreibt:
„When describing their day-to-day scholarly lives, my academic contacts used a stange and, in academic context, unfamiliar language. They spoke of „departmental line managers“ who monitored their work. They speculated whether an academic conference they were going to attend would count as an „indicator of esteem“.“ (S. 73)
Jeder im akademischen Betrieb Tätige dürfte Beispiele von oft sehr hochbegabten Menschen kennen, deren Motivation, Wissenschaft besonders im Universitären zu betreiben, in dem Umfang abnimmt, in dem sie erkennen, dass das Hineindringen vermeintlich professioneller Management- und Messverfahren in die Wissenschaft die Möglichkeit inhaltlich freier wissenschaftlicher Arbeit außerordentlich einhegt und den Großteil der Aktivität von der Sache auf den Effekt umlenkt. Eine alternative Karriere, möglicherweise sogar bei einem dieser garstigen Wissenschaftsverlage, ändert zwar wenig am Leistungsdruck, verdreifacht aber schnell mal das Gehalt. Damit kann sich das Herz gelassener anderen Dingen zuwenden und den Zwang, sich als Wissenschaftler zugleich in Form einer intellektuellen Ich-AG permanent selbst vermarkten zu müssen, wäre man dann auch los. Die Zahl derer, die Wissenschaft als Beruf angehen liegt gefühlt mittlerweile deutlich unter der derjenigen, die Wissenschaft als Job ausüben. (zum Unterschied Beruf-Job siehe u.a. auch hier) Was auch daran liegt, dass es Menschen mit einem Hang zur Wissenschaft als Beruf meist nur eine der für den Job des Wissenschaftlers erforderlichen Kompetenzen besonders herausstechend mitbringen und daher in Einstellungs- und Berufungsverhandlungen nicht nur hervorragend abschneiden.
Robert Skidelsky nähert sich dem Thema und der Arbeit Simon Heads etwas allgemeiner. Er stellt unter anderem den Gedanken heraus, dass die Basis der Verwaltungs- und Kontrolltheorie des „Digital Manageralism“ die Verwandlung des realen, menschlichen Individuums (hier: der Arbeiter) über seine digitaltechnologisch adressierbare und analysierbare elektronische Repräsentation ist.
Man muss gar nicht zu den digitalen Fließbändern von Amazon und Walmart und der Leistungsmessung in der Wissenschaft gehen. Es ist vielmehr offensichtlich, wie sehr alle digitalen sozialen Netzwerke, die dominanten Interaktionsmedien unserer gesellschaftlichen Gegenwart, diesem Ansatz wenigstens sehr ähnlich arbeiten (können), dass also prinzipiell die gesamte Abbildung von Kultur im Digitalen, wie wir sie derzeit kennen, strukturell mit ihren Verknüpfungs-, Interaktions- und Popularisierungsszenarien diese Form der externen Steuerbarkeit vorbereiten. Wir verlagern unsere Kommunikationen, wenn wir sie ins Digitale verlagern, fast unvermeidlich in Strukturen, die im Sinne von so genannten Computer Business Systemen (CBS) geschrieben (gescripted, gecodet) wurden. Wir ordnen folglich unser Leben auch außerhalb jeder Arbeit Elementen des Digitalen Manageralismus unter und in der Tat sind die gamifizierend anmutenden Erinnerungen und Leistungsschauen von Klout-Indices und Tumblr-Aktivitätsbotschaften deutliche Symptome, wie wir den Leistungs- und Profilierungsgedanken der Digitalökonomie zum festen Bestandteil unseres kommunikativen Privatlebens machen. Wir kommunizieren und konsumieren und kreieren genauso wie wir arbeiten. Ein Vorteil ist, dass wir damit den Aufwand des kognitiven Wechsels zwischen den jeweiligen Bezugssphären einsparen. Ein Nachteil ist, dass wir kaum Distanz zu diesen Prozessen finden können, weil alles was wir tun, bereits in diesen Strukturen stattfindet.
Die Folgen werden bekanntlich aus diversen Blickwinkeln, bisweilen sehr öffentlichkeitswirksam, diskutiert.
Skidelsky schreibt:
„The tendency of CBS, Head argues, is to discourage intuition and judgement in a large population, except for a tiny class of highly paid engineers and managers, who are needed to activate and control the automated systems.“ (Skidelsky, S. 35)
Und was in ihnen möglich ist und geschieht, möchte man ergänzen und staunt wie Dequalifizierungsargumente (#DigitaleDemenz) mit Überwachungsansprüchen (#NSA, #GCHG, #SnowdenFiles) und Tendenzen zur Monopolisierung der Informationsmärkte (#MathiasDöpfnerGoogle) auch an dieser Stelle wie von selbst ein verbindendes Schleifchen finden.
Betrachtet man die drei interdependenten Basisbausteine des CBS:
- Computer-Netzwerke (Verknüpfung aller Arbeitsplätze / workstations, Adressierbarkeit der Ziele des Monitorings=Arbeits- bzw. Kommunikationsprozesse, ausführende und zu lenkende Individuen)
- Data-Warehouses (Aufzeichnung der Arbeits- und Kommunikationsprozesse mit Ergebnissen, möglichen und tatsächlichen Relationen, etc.)
- Expertensysteme (die für das Monitoring und die Steuerung notwendige kognitive Ausgaben übernehmen, also das Geflecht des Geschehens gezielt zu analysieren helfen)
so erweisen sich jede Digitale Bibliothek, jede Big-Data-orientierte Wissenschaft und jede virtuelle Forschungsumgebung und damit auch ein Großteil der Gegenstände der gegenwärtigen Bibliotheks- und Informationswissenschaft als in dieses Raster einpassbar.
Andererseits ist der übergeordnete Kontrollanspruch auch nicht ganz so neu:
„The aim of all control systems is to control human behavior including the way we think. Priests and political leaders have long used religion and ideology for this purpose, since it economizes on the use of force and terror.” (ebd.)
So weit so schlecht. Erstaunlich ist allein, dass Robert Skidelsky die Vergangenheitsform wählt. Denn wie grundlegend dieses Muster in der menschlichen Kultur nahezu jeder Färbung verankert ist, offenbart auch eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit medialen Repräsentationen bzw. einfach die bewusste Anschauung der Abendnachrichten. Und bei der Gelegenheit erkennt man in der Regel auch als- und allensbacher-bald:
„[…] it is only in the last hundred years or so that the attempt to control behavior by controlling the mind has achieved scientific status, largely through the explosion of calculating power that computers have made possible.” (ebd.)
Die Gegenwart kombiniert, so Head, zwei Kernanliegen menschlichen Machtstrebens: die totale Überwachung (Benthams Panoptikum) und eine Arbeitsorganisation nach Taylor. Beides nimmt den betroffenen Individuen Einfluss: Sie haben keine Möglichkeit zum Verbergen und sind zugleich nicht in der Lage zum einem Handeln über ihren winzigen Aufgabenbereich hinaus.
Skidelsky erkennt durchaus den dystopischen Gehalt dieser Entwicklung und versucht sich am üblichen Trost:
„human beings are notoriously recalcitrant to attempts to hammer them into the required shape.“ (ebd.)
Die digitale Zähmung des Widerspenstigen wird schon nicht gelingen, so seine Hoffnung. Die Weltgeschichte mag ihm in der Langzeitbetrachtung Recht geben. Auf der kurzfristigen Ebene, und auf der tut es gemeinhin tatsächlich weh und dort sind auch die Reibungsverluste am spürbarsten, hat selbige aber auch genug Gegenbeispiele im Arsenal. Der Hammer heißt dann Ideologie und ist meist als solcher im ersten Moment gar nicht spürbar. Verführbarkeit ist, wer mag da widersprechen?, eine anthropologische Grundeigenschaft.
Im Arbeitsalltag der betrachteten Beispielen (Walmart, Amazon, Foxconn), die erstaunlicherweise allesamt Leitsterne einer westlichen Konsumkultur sind, werden die Arbeiter, wie man hört, nur bedingt verführt, denn zumeist haben sie kaum Alternativen. Oder andersherum betrachtet: der Schmerzpunkt der Zumutung wird von einem professionellen Management natürlich genauso fein austariert, wie das Plansoll:
„if workers can finish their quota the target will be increased day by day until the capacity of the workers is maximised.“ (ebd.)
Gäbe es in diesem Zweig der Ökonomie so etwas wie ein historisches Bewusstsein, läge eine Auseinandersetzung mit den durchaus reichlich vorliegenden Erfahrungen mit anderen Ausführungen der Planwirtschaft nah. Die konsequente Optimierung ist dabei ein stabiler Topos, der mit den Reizwörtern schneller, besser, bequemer in beinah allen Zusammenhang verfängt. Und besonders offenbar in Entscheidungszusammenhängen. Der Artikel Skidelskys zeigt selbst da, wo er relativieren will, wie hilflos wir eigentlich sind. Der Ökonom erwähnt das Beispiel der Lächeloptimierung bei Cathay Pacific:
„For example, it can be calculated how much smiling flight attendants need to do to make passengers feel they are being sufficiently pampered.“ (ebd.)
Vermutlich kam Entfremdung durch Lohnarbeit nie herziger daher, wobei die „customer relations“-Industrie interessanterweise dafür zuständig ist, auf der Seite des Dienstnehmers (also Konsumenten) das menschliche Element in gleichem Maße heraus zu optimieren.
Diese Ökonomie braucht eine Symmetrie der Massen und wie oben bereits angedeutet, sind die Unterschied zwischen Konsum und Produktion – übrigens auch dank der geschickten Web-2.0-Ökonomie – kaum mehr erkennbar. Wo Flickr-Nutzer begeistert ihre Arbeiten kostenfrei Stockfotobörsen zur Verfügung stellen und damit entlohnt werden, dass sie als gut genug erscheinen, um von diesen verwertet zu werden, sind Berufszweige wie der des Fotografen natürlich nicht mehr notwendig. Das Hauptproblem bei so genannten nutzergenerierten Inhalten liegt auf der Ebene der Qualität. Erschwingliche digitale Spiegelreflexausrüstungen einerseits und die Anpassung ästhetischer Normen andererseits haben dies im Bereich des Fotografierens weitgehend kompensiert. Beim Schreiben / Bloggen hängt man noch ein wenig hinterher, wobei Angebote wie die Huffington Post intensiv daran arbeiten, mehr und mehr Laienjournalismus auf ein verkaufbares Niveau zu heben. Dass die ehemaligen qualitätsjournalistischen Bastionen dem durch redaktionelle Kürzungen und Kosteneinsparungen entgegenkommen kann man ebenfalls (noch) problemlos am Kiosk nachprüfen. Und wer nun so gar nichts zu schöpfen vermag, das wissen wir mittlerweile auch, zahlt eben mit seinen Konsum- und Netzwerkdaten.
Skidelsky bringt als Beleg für die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen eine digitalökonomische Vereinnahmung ein fasziniert schlichtes Beispiel. Er berichtet, dass die Flugbegleiterinnen bei Cathay Pacific auf steigenden Leistungsdruck mit einem angedrohten Lächelstreik reagierten und ergänzt als weiteren Lichtblick:
„Attempts to create a happy demeanor by encouraging workers to think of pleasant past experiences led to daydreaming that hindered efficiency.“ (ebd.)
Es gibt also „Incentives“ die versagen und ein Klassenkampf mit Lippenstift passt auch in eine Gegenwart, in der eine politische Botschaft, die in barbusiger Form und vor allem für YouTube vorgetragen wird, größere Chancen hat, Aufmerksamkeit zu finden, als eine systematische, ausdauernde und nicht minder risikoreiche Arbeit im Hintergrund.
Am Ende fertigt Skidelsky Simon Head relativ barsch ab, allerdings nicht ohne seiner Kritik zuvor in dem Feld, dass ihn selbst betrifft, zuzustimmen: dem der Anwendung von Computerized Business Systemen (CBS) auf die akademischen Strukturen. Das wird völlig zurecht kritisiert.
Insgesamt bleibt wenig Helles für die Zukunft der Arbeitswelt, denn
„Algorithmic programming is bound to be much less successful in situations involving person-to-person transactions, but the number of these required for the efficient conduct of contemporary business – the production and consumption of goods and services by and for the masses that constitute the modern economy – may be shrinking.” (ebd.)
Die alten Ängste wiederholen sich: Was automatisiert werden kann, wird automatisiert und der Mensch wird überflüssig bzw. freigesetzt. Durch die digitaltechnischen Optionen sind davon nun auch alle intellektuellen Brotarbeiten inklusive des Bibliothekswesens betroffen. Es bleiben einzig ein paar Schlüsselpositionen zu besetzen, die, auf welcher Basis auch immer, Entscheidungen fällen, Impulse setzen und irgendetwas Kreatives in das System hineinwürfeln, wobei letzteres gemeinhin weitgehend von hingebungsvollen Nutzern übernommen werden kann, die sich eine Entlohnung in sozialem Kapital erhoffen und damit dann auch zufrieden sind. Wie allerdings in diesem Kontext das bisher nur am äußersten Rand des Diskurses grundsätzlich hinterfragte Lohnarbeitssystem aufrechterhalten werden kann, auf dem letztlich die Konsumökonomie auch im Tauschsystem Geld gegen Zugang (und vielleicht auch Zuwendung / Dienstleistung) aufsetzt, erklärt der Ökonom Skidelsky nicht einmal im Ansatz, wenn er für die kommenden Zeiten, sich an John Maynard Keynes erinnernd, folgende Formel vorhersagt:
„Less (human) work, less consumption, more leisure […]“ (ebd.)
Das werden spannende Zeiten für die Politik und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens könnte sehr bald weit weniger spinnert wirken als es derzeit noch im Mainstreamdiskurs vermittelt wird.
Da die Menschheit Ähnliches in der Vergangenheit, vielleicht nicht ganz so durchdringend, bei jedem Automatisierungsschritt er- und zu großen Teilen auch überlebt hat, ist die Situation weder ganz neu noch ganz hoffnungslos. Für Bibliotheken, immerhin so etwas wie Zentralen kreativen und intellektuellen Handelns, sind zusätzliche und zu füllende Entfaltungsfreiräume für einen Großteil der Menschen keine schlechte Nachricht, sofern sie sich an dieser Stelle offensiv einbringen können. Das Aufkommen der Idee von Makerspaces, also dezidierten Aktivräumen in Bibliotheken, schließt genau an dieser Stelle an.
Als übergeordnete Lösungsidee für das Dilemma, dass uns ausgerechnet die Technologien, die uns ganz vielfältige neue Handlungsräume besonders kommunikativer ermöglichen, gleichzeitig vor eine viel elementare Sinnfrage stellen und zugleich in doch neuartiger Weise überwach- und steuerbar machen, bisweilen sogar schlichtweg überflüssig, taugt das freilich noch nicht. Eine überzeugende Lösung dafür, was eine Gesellschaft bzw. Volkswirtschaft mit der freiwerdenden, überqualifizierten und nicht gegenfinanzierbaren Arbeitskraft anfängt, scheint generell nirgends erkennbar. Die Stromlinienformgebung letztlich auch des Konsums auf, wenn man so will, Symbolverbrauch, also gestreamte Unterhaltung und digitalvermittelte Zwischenmenschlichkeit hat sicher noch das Potential, die derzeitigen ökonomischen Leitmuster noch ein paar Dekaden irgendwie zu tragen.
Aber bereits jetzt wirkt für viele Vertreter beispielsweise meiner Berufsgruppe (=akademische Projektbeschäftigte) der jährliche Rentenbescheid mit der stabilen Ankündigung desolater Lebensbedingungen irgendwann ab Mitte der 2040er Jahen als anachronistischer Gruß aus einer anderen Zeit und man mag sich gar nicht vorstellen, wie freie Journalisten und all diejenigen aus der de facto einkommenslosen Digital Bohème, die immer noch ganz gut und komplizenhaft in den Kreativhubs dieser Welt ersparnislos durch ihre Träume und Lebensjahre hasten, diese Jahrzehnte erleben werden.
Ein fantastischer Effekt der digitaltechnologisierten Lebenswelt ist freilich, wie sich die absehbare ökonomische Dysfunktionalität dieses Ansatzes für eine Vielzahl von Menschen im Augenblick so gut anfühlt, dass so gut wie jeder bereitwillig mitspielt. Wobei es auch kaum Alternativen gibt. Die ironisierte, Ich- und radikal gegenwartsbezogene Variante ist oft die einzige Option, sich unter dem allumfassenden Primat des Digitalen Managerialismus so einzurichten, dass es so wirkt, als spielte man nicht ganz bereitwillig mit.
„It can be hard to find young people willing to work more than three days a week. And yet it can also be hard for someone who is working three days a week, and who is earning the low wages that are typical of Berlin, to salt away enough money to leave—to afford, say, the first month’s rent in London or New York. So it favors those who have some money to spare or who don’t care.“
beschrieb Nick Paumgarten im März in der Style-Issue des New Yorker in einer aus Berliner Sicht fast knuffigen Reportage die Einkommensgegenwart der (vermeintlichen) Lebensstilavantgarde in der deutschen Hauptstadt. (Nick Paumgarten: Berlin Nights. The thrall of techno. In: New Yorker, Mr. 24, 2014, S. 64-73)
Man lebt in seinem Selbstverwirklichungskäfig vom Ersparten einer anderen Zeit oder eben vom Zufälligen und hofft, dass sich eines Tages alles richtig fügt. Man muss nur Geduld haben und ein paar Mal zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort den richtigen Kontakt herstellen. (Attraktive Stellen im Bibliothekswesen rotieren, wie jeder weiß, auch ganz gern genau nach diesem Muster.)
Der Reiz der Neuigkeit, beispielsweise gegenwärtig auch in den so genannten Digital Humanities spürbar, liegt also möglicherweise vor allem in einem Versprechen auf eine Zukunft, die sich so fantastisch entwickelt, dass die Probleme, die aus der Gegenwart als unlösbar in ihre zu stehen scheinen, einfach verschwinden werden. Die Versprechen der Digitaltechnologie und einer digitalen Gesellschaft sind noch immer weitgehend utopisch grundiert. Auf der ideologischen Ebene erinnert es an vieles, was man aus dem Sozialismus als Wegbereiter zum Kommunismus kannte. Dass das gesellschaftliche Gegenmodell, die von einer kapitalistischen Marktwirtschaft grundierte Demokratie sich nun aus dieser Richtung dekonstruiert, ist weltgeschichtlich natürlich äußerst spannend zu beobachten. Wie zaghaft man allerdings darangeht, dem Optimierungsmonitoring harmonischere Ergänzungsmodelle entgegen zu entwickeln, lässt sich vielleicht auch als Symptom werten, dass der Mensch sich mit der Proliferation seiner Handlungsmöglichkeiten und damit verbundenen neuen Deutungsverpflichtungen, die es mit nicht gerade ähnlich exponentiell wachsenden intellektuellen Kompetenzen zu verarbeiten gilt, gerade selbst sehr überfordert.
Dass an dieser Stelle eine progressive Bibliotheks- und Informationswissenschaft, traditionell gewohnt auf heterogene Deutungsmuster eine neutrale und die Komplexität absenkende Zugangsschablone aufzusetzen, ein wenig mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen könnte (bzw: sollte, müsste), ist so offensichtlich, dass man es eigentlich gar nicht mehr hinschreiben mag. Dafür, dass sich entsprechende Ausprägungen in der Disziplin leider nur ausnahmsweise feststellen lassen, gilt bedauerlicherweise das Gleiche.
(Berlin, 17.04.2014)
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