Muss man den Hochschulbibliotheken die Information Literacy entreissen, um sie zu demokratisieren?
Karsten Schuldt
Zu: Withworth, Andrew / Radical Information Literacy: Reclaiming the Political Heart of the IL Movement. – (Chandos Information Professional Series). – Amsterdam et al. : Chandos Publishing, 2014
Der Anspruch, den Andrew Withworth in seinem Radical Information Literacy erfüllen möchte, ist die Re-Politisierung der Information Literacy (IL), weg von einem Konzept, welches er als „funktionalistisch“ beschreibt und hin zu einem Konzept von Fähigkeiten, welche die Demokratie unterstützen. Dazu dekonstruiert er das Konzept IL im ersten Teil seines Buches, ausgehend von der Geschichte des Konzeptes und stellt dabei sowohl das verbreitete Verständnis von IL als auch die Verankerung von IL in Hochschulbibliotheken in Frage. Letztlich führt er die geringe Einbindung von Hochschulbibliotheken in die Hochschulbildung auf die Verengungen von IL auf diese Bibliotheken zurück. Im zweiten Teil seines Buches unternimmt er es, IL wieder zu rekonstruieren. Dafür greift er scheinbar vor allem auf Jürgen Habermas und Mikhail Bakhtin zurück, um IL als Teil eines demokratischen Prozesses zu beschreiben und einzufordern; allerdings scheint es sich bei seinen Wahrnehmungen unterschiedlicher Theorien oft mehr um „produktive Missverständnisse“ als um die tatsächliche Nutzung von Theorieelementen zu handeln. Das im Buchtitel angekündigte „Radical“ ist im Ergebnis seiner Studie nicht zu finden.1 Die Stärke des Buches ist eindeutig der erste Teil.
Kritik des Status Quo
Grundsätzlich speist sich die Kritik von Withworth aus zwei Quellen: erstens einem Verständnis von Information als kontextbezogen und zweitens der Geschichte der Debatten um IL. Withworth versteht Information immer als Bestandteil sozialer Kommunikation. Die Idee, dass es Informationen geben würde, die nicht Artefakte solcher Kommunikationsakte wären, lehnt er ab. Information ist für ihn immer in einem Kontext entstanden; abgespeichert als Text oder in anderer Form trägt jede Information ihren Entstehungskontext mit sich und kann auch nur wieder in einem spezifischen sozialen Kontext als Information genutzt werden. Systeme, welche solche Informationen abspeichern und wieder verfügbar machen, reproduzieren diese Verhältnisse, insbesondere die sozialen Hierarchien mit. Radical IL würde helfen, diese Strukturen zu erkennen und ihnen bei der Nutzung von Informationen entgegenzutreten. Aus diesem Grundgedanken leitet Withworth ab, dass die IL, wie sie in den unterschiedlichen Standards – insbesondere der ALA – niedergelegt sind, keine Kompetenz beschreiben, sondern einzig Studierende (eine besondere Gruppe in der Gesellschaft) während ihres Studiums (einer besonderen Situation) bei der Nutzung von Informationsressoucen als Instrument (aber nicht reflektierend, sondern als vorgeblich abgeschlossener Kommunikationsakt und Fakt) unterstützen.2 Diese Standards würden nicht das Ziel haben, Menschen bei dem Verständnis der sozialen Situationen, in denen Informationen entstanden sind oder beim Verständnis des aktuellen Nutzungskontextes unterstützen. Kürzer: Sie wären nicht auf demokratische Werte, sondern auf den Instrumentencharakter von Informationssystemen hin ausgerichtet.
Eine wichtige Erkenntnis, die Whitworth vermittelt, ist die, dass dies nicht so sein müsste, sondern das Ergebnis strategischer Entscheidungen war. Er zeichnet die Entstehung des Konzeptes IL nach, beginnend in den frühen 1970er Jahren, über die Entstehung der ersten Standards der ALA (American Library Association) 1989 und dem weiteren „Besetzen“ der IL durch die Hochschulbibliotheken. Während der 19070er und 1980er Jahre hätte es ein weit grösseres Verständnis von IL gegeben, dass zum Teil gar nicht auf das Lehren von IL, sondern auf die Gestaltung von Informationssystemen gerichtet gewesen wäre. Die einflussreichen – und auch im deutschen Sprachraum in verschiedenen Abwandlungen rezipierten – IL-Standards der ALA seien als Ergebnis des Berichtes A Nation at Risk: The Imperative For Educational Reform als strategisches Dokument entstanden. Dieser Bericht, 1983 erschienen und heute ein Klassiker der bildungspolitischen Texte, stellte das Bildungssystem der USA als grundsätzlich disfunktional und dem Zusammenbruch nahe dar. Es wurden grundlegende Reformen angemahnt und anschliessend zum Teil durchgeführt (die heute allerdings zum Teil wieder als Grund für das schlechte Schulsystem der USA gelten, insbesondere der fast schon fanatische Fokus auf Standards und Schulautonomie). Nicht erwähnt wurden im Bericht Bibliotheken. Diese verstanden sich allerdings als Bildungseinrichtungen (was heute nicht anders ist) und versuchten, angepasst an die aufkommenden Diskurse der späten 1980er Jahre, ein Thema zu besetzen, welches sie als ihr eigenes in die Bildungsdebatten einbringen konnten und wählten die IL, wobei die Hochschulbibliotheken diese Strategie dominierten. Dies, zumindest der Darstellung Whitworths folgend, war der Beginn der Verengung der Debatten darum, was IL sein soll und was sie erreichen soll.
Von Interesse ist dabei gar nicht so sehr die Interpretation, welche Whitworth vorlegt, als vielmehr die notwendige Erinnerung daran, dass die Debatten um IL – mit den gleichen grundlegenden Annahmen darüber, dass „heute“, also Ende der 1970er, die Informationsmenge zu gross sei, um sie eigenständig zu verarbeiten, wie sie im 21. Jahrhundert immer noch angeführt werden – recht alt sind und viele mögliche Entwicklungswege offen gestanden hätten. Die Fokussierung auf Standards, welche ja einen bestimmten Typ von Mensch – zweckrational handelnde Studierende – als Grundlage haben, war nur ein möglicher Weg. Dabei sind, wieder Whitworth folgend, nicht nur mögliche historische Entwicklungen ausgeschlagen, sondern auch eine Diskussion von IL etabliert worden, welche die Bibliotheken (und die Library and Information Science) und deren Sicht auf Informationen in den Mittelpunkt stellt und dabei notwendig andere Einrichtungen marginalisiert – was erklärt, warum eine Kooperation, welche die Bibliotheken immer wieder einfordern, nicht wirklich zustande kommt – sowie die tatsächlichen Erfahrungen und Praktiken von Nutzerinnen und Nutzern kaum wahrnehmen kann – würden diese als soziale Prozesse wahrgenommen, müssten die Hochschulbibliotheken ihre Deutungshoheit über Informationsnutzung und IL aufgeben.
„[This situation has] created a gap between the idealised, theoretical information user – an individual aware of their information needs and face to make judgements from the full range of information sources – and real information practices undertaken by individuals (subject to anxiety, pressures of time, cognitive authorities, and other psychological effects), within communities and information landscapes that may help or hinder their experience of variation in different ways.” (Whitworth 2014, 84)
Demgegenüber würde fast die gesamte Literatur zu IL sich heute damit beschäftigen, die jeweils lokal gültigen Standards in der Praxis umsetzbar zu machen, aber weder über Ziele noch Grenzen von IL diskutieren noch über eine theoretische Fundierung nachdenken.
Wenig überzeugende Neufassung von IL
Dieses Nachdenken von Whitworth über die Realität von IL ist erfrischend kenntnisreich, kritisch und polemisch. Grundsätzlich führt er die Debatte an einem Punkt, an dem man ihm entweder vollständig widersprechen – aber dann hinzunehmen hat, dass sich die Situation wohl nie ändern wird, weil IL in einer gewissen „Praxis-Sackgasse“ feststeckt – oder aber eine grundlegende Trennung von Hochschulbibliotheken und IL-Debatten anstreben muss, um weitere Ziele in die Debatten einzubringen, die im Laufe der Zeit „vergessen“ wurden.
Der zweite Teil des Buches hingegen, in dem Whitworth versucht, auf der Basis von Versatzstücken verschiedener Theorien eine solche neue Debatte zu IL anzustossen, in welcher andere Ziele gesetzt und ein weitergehendes Verständnis von IL als sozialer Prozess angestrebt wird, fällt weit hinter diesen Anspruch zurück. Über weite Stelle liesst sich dieser Teil, als hätte Whitworth eine Vorstellung von IL, die er zu untermauern versucht, indem er die Theoriegeschichte plündert. Dies führt aber nicht weit. Grundsätzlich fordert er, dass die Kontextgebundenheit von Information als Ergebnis sozialer Prozesse zum Teil von IL wird.3 Wer informationskompetent ist, sollte nach Whitworth diese Kontexte erkennen, interpretieren und neu verwenden können. Autorität und Artefakte sozialer Kommunikation (d.i. Texte, Dokumente, Daten etc.) sollten hinterfragt, ihre impliziten Voraussetzungen identifiziert und gleichzeitig neu Information geschaffen werden können. Oder anders: Nicht (nur) Texte gefunden, sondern diese auch kontextualisiert und für neue Texte verwendet werden können. Zu erreichen sei das vor allem durch Gegenhegemonien. Den Begriff Hegemonie borgt sich Whitworth von Antonio Gramsci – allerdings ohne die auf eine marxistische Revolution zeigende Zielrichtung bei Gramsci zu beachten – und entwirft ein Programm von IL, welche die demokratische Bildung zum Ziel hat. Wer informationskompetent ist, sollte die Gesellschaft mitbestimmen können (und nicht nur das Studium abschliessen).
Das ist kein neuer Entwurf. Vor dem Hintergrund der politischen Geschichte der letzten Jahrzehnte liesst sich der Entwurf von Whitworth – der allerdings keine Kenntnis von den Debatten in den deutschsprachigen Gesellschaften zu haben scheint – wie ein Manifest zur Gegenöffentlichkeit, wie sie die taz oder verschiedene Blogprojekte darstellen wollen; nur auf der Ebene persönlicher Kompetenzen eine möglichst breiten Masse von Menschen im Bezug auf Informationen. Dies mag eine sinnvolle Haltung sein, aber es ist keine – wie im Titel seines Buches angekündigte – radikale Haltung, auch wenn er im Laufe des Textes beständig marxistische Denker anführt. Wäre der Begriff nicht so negativ belegt, könnte man Whitworths Vorstellungen von IL gut als „reformistisch“ beschreiben. Gleichwohl lohnt sich das Buch aufgrund der Anregungen im ersten Teil. Gewiss lassen sich aus den Hinweisen dieses Teils auch andere, bessere abgesicherte Forderungen und Debattenanlässe generieren, als dies Whitworth im zweiten Teil selber tut.
Fussnoten
1 Vielmehr geht er dem aus dem Weg, in dem er – ebenso produktiv – die Frankfurter Schule vor Habermas und zugleich Michel Foucault uminterpretiert und nicht etwas aus beiden radikale Einsichten oder Forderungen zieht. Vielmehr bewegt er sich in seinem Denken in einer affirmativen Haltung zur existierenden Gesellschaft, was zum Beispiel dazu führt, dass er der Frankfurter Schule vorwirft, einfach gar keine Lösung anzubieten, anstatt ernstnehmen, dass es in deren Diskussionen immer auch um die radikale Überwindung der aktuellen Gesellschaft geht. Ebenso reduziert er Bakhtin auf eine Kommunikationstheorie und umgeht dessen marxistischen Hintergrund. Es ist recht erstaunlich, wie sehr Whitworth Radikalität in Anspruch nimmt, aber gleichzeitig nicht in sein Denken integriert. Er scheint zwar die Radikalität als Anspruch zu geniessen, aber ansonsten zwar grundlegend demokratisch, aber auch unradikal zu denken – was vor allem deshalb irritiert, da er beständig von Radikalität spricht.
2 Er insistiert darauf, dass dies grundlegend auch für weitere IL-Standards, insbesondere für Schulen gilt, die darauf abzielen würden, Schülerinnen und Schüler früh diese Fähigkeiten zu vermitteln, die sie eigentlich nur im Studium benötigen würden.
3 Womit er, meiner Meinung nach, vollkommen Recht hat.
It’s the frei<tag> Countdown. Noch 28 Tage.
Ein ständiger Lernprozess ist sie, die Demokratie. Und auch eine Form der Freiheit, die immer wieder einmal verteidigt und aktiv betrieben werden muss. Wird sie reduziert darauf, wählen zu gehen oder wird sie einfach nicht genutzt, verfällt sie. Diese Wahrheit über unsere Regierungs- und Gesellschaftsform ist so einfach und einsichtig, wie sie auch gerne vergessen oder übersehen wird. Die moderne Gesellschaft kann und muss die Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrer, die von der Freiheit nicht die Verantwortung wollen, mittragen. Aber sie kann nicht nur aus solchen Mitfahrenden bestehen. Jede Regierungsform verfällt, wenn sie von niemandem getragen wird, die Demokratie aber schneller als andere, weil sie auf diesem Mittun basiert.
Gleichzeitig ist die Demokratie auch nicht immer schön und einfach. Manchmal schaut sie aus, wie ein ewiges Treten gegen Strukturen, ein Reproduzieren von Aktionsformen, ein Weiterleben von Debatten, die man abgeschlossen wähnte; zeitweise scheint sie ein Hobby für einige Studierende zu sein, die dem Tourismus oder dem Verkehr im Weg stehen. Aber, so wissen wir, ist dies der Preis der Freiheit. So freundlich, frisch und frei, wie es am 12. Februar auf den Tahrir-Plätzen in Kairo und Alexandria schien, oder am 14. Januar in Tunis, sieht die Realität einer funktionierenden Demokratie selten aus.
Den bekanntlich ist nicht alles perfekt hier. Vielmehr gibt es Gründe genug, auf die Straße zu gehen, sich zu engagieren, Informationen zu sammeln und zu verbreiten. Informationen – und so kommen wir zum Thema – sind eben nicht nur die Triebfeder moderner Wirtschaft, sie sind auch die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft: egal ob als Mittel, um das Funktionieren der Gesellschaft zu verstehen und zu steuern oder als Mittel, um die Probleme der Gesellschaft aufzudecken, zu thematisieren, skandalisieren, überhaupt zu verstehen. Informationen sind ein Werkzeug, um die Gesellschaft weiter zu verändern und ihre Entwicklung zu beeinflussen. Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften nennt das Nico Stehr und meint das unbedingt positiv.
Insoweit ist nicht nur die Freiheit von Kunst und Presse, sondern auch der Informationen eine grundlegende Voraussetzung für eine freie Gesellschaft. Insoweit ist es auch die Aufgabe, funktionierende Informationseinrichtungen zu unterhalten, die rechtmäßig der Politik gestellt werden muss. Nicht nur, weil sie vielleicht einen ökonomischen Einfluss haben oder weil auch andere Länder sie haben, sondern weil sie Teil sein müssen einer Gesellschaft, die ihren Bürgerinnen und Bürgern zugesteht, potentiell sich selbst regieren zu können und zu dürfen.
Gleichwohl ist das nie alles. Auch Diktaturen unterhalten Bibliotheken und Informationseinrichtungen – oft in großer Zahl. Information alleine bringt keine Veränderung, das Engagement aufgrund von und mit Informationen tut es. Faktische Informationen alleine reichen nicht immer aus, um die Gesellschaft zu richtigen Entscheidungen zu bringen. Die Uminterpretation von Daten, das Ignorieren oder Kontern mit anderen Daten ist eine gängige Vorgangsweise. Aber dennoch kommt man nicht umhin, festzuhalten: Je komplexer die Gesellschaft wird, um so schwieriger wird es, ein einfaches „richtig oder falsch“ auszumachen.
Dass die Diktaturen fort müssen, dass alle die gleichen Rechte haben sollen, dsas alle das Recht haben müssen, nach Glück zu streben und dass die, die Verantwortung haben, auch verantwortlich für ihre Entscheidungen sind – das ist einfach zu klären. Es gibt ein richtig und ein falsch. Doch ob beispielsweise die Novellierung eines Hochschulgesetzes in angemessener Weise die Parität der Statusgruppen bewahrt, die Höhe der Zuwendungen zum Studentenwerk angemessen oder die Organisation des Europäischen Hochschulsystem sachgerecht und gleichzeitig demokratisch erscheint, ob die Förderung langfristiger Infrastruktur zur eigenbestimmten Bildung und Freizeit ausreichend und richtig gestaltet ist, sind Fragenkomplexe, die nur mithilfe der Interpretation von Information ansatzweise zu beantworten sind. Bis dann auf der Straße oder in den Verein oder den Parlamenten etwas passiert, ist viel Information verarbeitet und neu produziert worden. Die Demonstrationen, die uns in den großen Städten ständig auffallen, sind immer nur das Ausdruck zuvor geführten Informationsarbeit.
Nimmt die Bibliotheks- und Informationswissenschaft das ernst? Wäre es eine Aufgabe, dies ernst zu nehmen und zu untersuchen? Oder ist das der Informationssoziologie und Medienwissenschaft überlassen? Stellen sich nicht zumindest Fragen zur Zielsetzung von Informationseinrichtungen? Wie funktioniert sie, die Demokratie, der ständige Lernprozess, im Bezug auf die Nutzung von Informationen?
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