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It’s the frei<tag> 2013 Countdown (5): Druckkultur und Affenpfote

Posted in LIBREAS aktuell, LIBREAS.Feuilleton by Ben on 17. März 2013

von Ben Kaden

Trivia, Ephemera und Obskura – so könnten sie heißen, die drei Parzen von Büchern, deren Schicksal es ist, nach bestenfalls einem kurzen Aufblühen in tiefe Vergessenheit zu verschwinden. Und die Druckgeschichte war bekanntlich ausgefüllt von Exemplaren dieser Art, die entweder furchtbar speziell waren, deren Inhalt außerordentlich schnell überholt schien oder die aus Blickwinkeln auf die Welt blickten, die man vorsichtig mit dem Attribut schräg versehen darf. Wer solche Bücher daheim hat, fühlt sich nicht selten in einem Zwiespalt: Einerseits kann man mit ihnen wenig anfangen und will sie genauso wenig jemandem zumuten. Weder als Spende an eine Bibliothek, als Angebot für ein Allerweltsantiquariat und nicht einmal für die „Zu Verschenken“-Kiste im Treppenhaus scheinen sie geeignet. Aber zum Schreddern will man sie auch nicht geben, und zwar nicht nur, weil in unserer Kultur eine grundsätzliche Hemmung gegen die Vernichtung von Büchern und sei es zum Zwecke des Recycling gegeben zu sein scheint. (vgl. dazu auch diesen Beitrag) Sondern auch, weil man sich irgendwie für diese Randstücke des Buch gewordenen Geisteslebens auch aus einer Fürsorgerolle heraus verantwortlich fühlt. Eventuell hält man das letzte Exemplar seiner Art in den Händen und wer möchte schon das Aussterben einer noch so abseitigen Idee verantworten?

I

In Toronto existiert, wie die aktuelle Ausgabe des Style Magazine der International Herald Tribune (Rubrik: Men’s Fashion) an diesem Wochenende berichtet, “a most unusual bookshop”, der sich als Pilgerort (der Inhaber spricht von einer “church of print”) für Liebhaber dieser Art von derart verschütteter bzw. von Verschüttung bedrohter Literatur anbietet. Folgt man der Darstellung des Artikels, dann könnte dieser Laden namens The Monkey’s Paw zugleich ein Vorbote dessen sein, was die Buchkultur des 21. Jahrhunderts auszeichnet: Das Staunen. Genauer: das Staunen über das Vergangene. Nichts spricht hier dafür, dass das Buch noch ein Medium für gegenwärtige Inhalte sein könnte. Die Autorin des Reports aus dem Antiquariat der Zukunft zitiert den Inhaber Stephen Fowler mit der aus der Praxis destillierten Einsicht: „The only way to sell books in the 21st century is as artifacts.”

Neben der Deutung des Buches als Spur in die Welt von Gestern zweigen im denkbaren Interpretationsgewölle zum Wort artifact allerdings auch die allgemeinere Besinnung auf den Wert der materialen und materiellen Besonderheiten von Druckwerken und die Frage nach einer Aktualisierbarkeit des Mediums ab, wie sie die durchaus in diversen experimentellen Richtungen florierende, gen Kleinauflagen oder sogar Unikatkulturen gerichtete “Buch als Objekt”-Bewegung anstrebt. Wenn das Buch als Informationsträger keine Rolle mehr spielt, eignet es sich eventuell doch als Wunderkammerobjekt der kommenden Jahrhunderte, als ästhetische Freude allgemein oder – im beschriebenen Kontext wohl am ausgeprägtesten – als ironisches Spiel mit den Irr- und Nebenwegen vergangener Versuche, die Welt zu fassen.

Stephen Fowler, der bereits mit der Namensgebung seines Geschäfts eine Verbindung zu obskuren oder heute obskur scheinenden Teilen der westlichen Kultur herstellt, betreibt sein Sortiment irgendwie auch als kulturarchäologisches Unterfangen. Es ist nicht nur, vermutlich sogar eher weniger gegenkanonisch. Es ist ein Handeln mit Büchern aus der möglichst größten Abseitigkeit. Die Ausgeschlossenen (und zwar auch aus Bibliotheksbeständen), die Abgeschobenen und längst Überlebten und die am Rande, die man nahezu notwendig übersieht, sind sein Metier. Er nennt es B.A.M.A.: beautiful, arcane, macabre, absurd (und deutlich wird es an den präsentierten Beispielen im Blog zum Shop).

„[T]he more specific the nonfiction book, the better. A general survey of British history is not an interesting book. A history of transportation in England: better. A monograph on Elizabethan toll roads in Kent? That’s a Monkey’s Paw book.”

Damit schwimmt man unvermeidlich in einem gewissen Hipster-Zeitgeist und nicht umsonst zählt Stephen Fowler „these 26-year-old downtown Toronto kids – they’ve actually literally never been to a bookshop” zu seinem Publikum. Es sind Leute, die nicht wirklich Bücher lesen, aber bereits über Bücher an sich staunen können und eventuell sogar über die Tatsache, dass es Menschen gibt, für die diese Form der Mediennutzung alltäglich war. (Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story-Welt (Zitate dazu hier) scheint gar nicht so weit entfernt und wer die aktuellen amerikanischen Großstadtreflektionen über das Phänomen Online-Dating liest, der kann diesen Eindruck noch viel weniger von der Bettkante des Gegenwartsanalyse stoßen – aber das ist ein anderes Thema.) Der Laden unter dem Zeichen der Affenpfote ist aber weniger die museale Aufarbeitung der Erscheinungsform Buchhandlung als ihre postmoderne Überzeichnung.

raum:shift Wissenschaftswissenschaft

„Es gibt jetzt in der Welt etwa tausend Forschungsorganisationen, die sich auf die Prognostik von Wissenschaft und Forschung spezialisiert haben.“ (G.M. Dobrow, 1970. S.59) Dank der Umschlaggestaltung durch niemand Geringeren als Manfred Bofinger ist G.M. Dobrows Buch Aktuelle Probleme der Wissenschaftswissenschaft (Berlin: Dietz Verlag, 1970) ein geeigneter Kandidat für Menschen, die auch gern in Geschäften wie The Monkey’s Paw nach à la B.A.M.A.-Titeln stöbern. Inhaltlich ist die sowjetische Wissenschaftsprosa der ausklingenden und fortschrittsbesessenen 1960er Jahre streckenweise schwer genießbar. Andererseits dürften viele der heute entstehenden wissenschaftspolitischen Programmpapiere in 50 Jahren kaum mehr Lektürefreude bringen. Da sie aber keine Umschläge von Manfred Bofinger mehr bekommen und sowieso kaum noch eine offizielle Druckfassung erhalten, geschweige denn, dass sie in die Verlagsauslieferung gelangen, liegen die Dinge ohnehin anders. Das Thema selbst – die Wissenschaftswissenschaft als „wissenschaftliche Theorie für die Leitung der Wissenschaft“ – wird übrigens derzeit weitreichend im Rahmen der Entwicklung digitalen Wissenschaftsinfrastrukturen ziemlich aktuell – wenn auch unter anderem Namen und vor allem nicht mehr im Dienste des Sozialismus.

II

Das spannende Detail liegt darin, dass die Geschäftsidee bestimmte Prinzipien der Webwelt in die Analogwelt zurücktransferiert. Das ist vielleicht das wirkliche Kennzeichen der Gestaltung unserer Lebensräume in den 2010er Jahren: Nachdem der Raum digitalen Kommunizierens eine weitgehend stabilisierte Fassung besitzt, die durchaus von Prinzipien und Metaphern aus realweltlichen Zusammenhängen geprägt war und ist, steuert nun die Digitalität in die Realwelt zurück und wir richten uns diese unter einem Firmament digitaler Meme, Bilder, Metaphern und Prinzipien neu ein. Dies schlägt sich unter anderem in der Aufstellung der Bücher nieder. Stephen Fowler erklärt:

„The experience of Web browsing makes it possible for a shop like this to exist […] The randomness of the book displays, they’re like the web – masses of unrelated information popping up next to each other, there context pretty much wiped out.”

Der Ursprungs- bzw. Entstehungskontext – so müsste die Präzisierung heißen. Denn wie im Web entsteht auch in der Verkaufsregalaufstellung eine permanente und tatsächlich arbiträre Rekontextualisierung (oder vielleicht auch nur Rekombination) der hier an physische Entitäten gebundenden Inhalte. Nun ist Regalbrowsing keine neue Sache. Aber zumeist boten Freihandaufstellungen zugleich immer auch ein sachgeordnetes Gestell. Neu ist also, dass das Browsing keinen erschließenden Ordnungssystemen mehr folgt, sondern den zufälligen Themensprung zum Prinzip erhebt. Dies ist auch für Buchhandlungen innovativ, die meist doch grob und zumindest nach Alphabet, Einbandfarbe oder Verlag ordnen. Die Aufstellung in den Regalen von Monkey’s Paw scheint dagegen jedes Ordnungsprinzip zu übergehen.

III

Dass alte und edle Vorstellungen von Vollständigkeit, dauerhafter Gültigkeit, systematischer Ordnung und der ganzen restlichen Palette dessen, was Bibliotheken als zentrale Wissensordnungsinstitutionen bis in die jüngste Zeit noch als Ideal verfolgten, hier auf der Strecke bleiben, scheint in diesem Prozess unvermeidlich. Und auch am Substitut semantischer Erschließung, bei der irgendwann Elemente in den Text selbst Navigations- und Ordnungspfade eröffnen sollen, hat man im konkreten Fall keine Interesse. Wir Bibliotheks- und Informationswissenschaftöer müssen es aber schon aufbringen, benötigen wir doch in dieser Hypertrophie des Vernetzens, Vermischens und Überkreuzens von Kulturspuren, in der alles, was Code ist, als Material gleiche Validität besitzt, neue Methoden des Umgangs sogar mit Begriffen wie Denken und Wissen und auch von kultureller Stabilität. Daher sind die Entwicklungsbemühungen zu semantischen und pragmatischen Netzen, zu Ontologien, ER-Modellen und formalen Beschreibungssprachen mehr noch aus erkenntnisphilosophischer Warte hochinteressant, als im Sinne einer wirklichen technischen Implementierung, deren Reichweite auf absehbare Zeit mehr oder weniger auf eher kleine Kreise begrenzt bleiben dürfte. Eindeutig ist für uns, dass vernetzte Wissenskulturen andere und komplexe Ordnungsverfahren benötigen, als die herkömmliche Formal- und Sacherschließung anbieten kann.

Parallel dazu entfaltet sich Kultur aber auch ganz eigenständig in quasi-evolutionären Selbstversuchsreihen und während wir darauf warten, dass bei Europeana der semantischen Knoten platzt und alles verändert, können wir die kleine Effekte der autopoietischen Verschiebungen bereits in den konkreten Wissens- und Erinnerungskulturen betrachten.

IV

Der kleine kanadische Buchladen mit seinem “iPod shuffle of Books”  – wobei das Bild des iPod shuffle in fünf Jahren für die dann 20jährigen genauso mit dem Retrolabel besetzt sein dürfte, wie  für die Kinder der 1990er der Walkman mit Bügelkopfhörer – ist einer dieser zahlreich existierenden Laborversuche, in denen Varianten für den Umgang mit Medien und Erinnerung durchgespielt werden. Das zuweilen Retromanie genannte Hereinholen möglichst antiquierter Codes, meist motiviert aus dem hohen Druck des Avantgarde-oder wenigstens Anders-ein-Wollens oder -Müssens, spielt dabei eine maßgebliche Rolle und mittlerweile wirkt Techspeak à la Library 2.0 als hoffnungslos staubfängerisch. Die Sowohl-als-Auch-Welt integriert und variiert leichthändig Touchscreen und Ledereinband. Daher eröffnet dieser Über-Remix, in dem selbst das vermeintlich Unzeitgemäßeste wieder seinen kleinen Frühling erleben könnte, eine Entwicklung, der wir, ob wir mögen oder nicht, keinesfalls echappieren.

Der Antrieb entspringt dem Drang bzw. der Pflicht zur Lücke, dem/der sich besonders die Kulturindustrien nach dem (vermeintlichen) Ende des Mainstreams verschrieben haben. Long Tail hat an dieser Stelle nichts mehr mit Relevanz zu tun, sondern mit Distinktion. Selbstverständlich ist auch dieses Bemühen in Referenzrahmen gesäumt, aus denen man nicht fallen darf. Aber die begrenzen die Spielräume nach frischen Kriterien, von denen die sie Gestaltenden zuweilen selbst gar nicht zu wissen scheinen, wie sie wirklich zu bestimmen sind. Generell erweisen sich die meisten dieser Variationen im Abgelegenen freilich als rein ästhetisch motiviert.

V

Dabei muss es aber nicht bleiben. Wenn man Bücher nicht nur nach ihrem Inhalt, sondern auch nach ihren Kontexten (Entstehungsbedingungen, Zweck, Rezeption, etc.) studiert, dann schaffen sie unter Umständen den Zugang zu einem Wissen, das in den Text- und Bildteilen gar nicht erfasst oder erfassbar ist. Folgerichtig rücken nun Phänomene ins Zentrum, die bisher vernachlässigt wurden bzw. nach alten Interpretationsmustern auch vernachlässigbar schienen.

„Traditionally, the job of a learned bookseller was to preserve the important printed documents of his culture […] But we have libraries that are the repositories of those books, and they’ve all been scanned by Google.”

Die Aussage Stephen Fowlers offenbart zugleich, wie schwierig es ist, in dieser Überkomplexität auch nur zwei Schritte neben dem eigenen Kerngebiet den Überblick zu behalten. Er dürfte zwar damit Recht haben, dass die meisten Bücher, die irgendwann einmal als bewahrenswert eingeschätzt wurden, auch von der Gedächtnisinstitution Bibliothek bewahrt werden.

Aber die Zuschreibung von Wichtigkeit änderte sich auch über die Zeit in den Bibliotheken und wer kann schon überblicken, was alles durch Weeding und Aussonderungen vor allem immer dann verlustig ging, wenn eine neue, bessere Zeit direkt vor der Tür schien, die man nicht mit übermäßig viel veraltetem Schriftgut belasten wollte. Und natürlich hat Google längst nicht alle Bücher gescannt. Nicht einmal alle wichtigen. Und schließlich bedeutet ein Scan auch nicht die Bewahrung eines Buches, sondern die digitale Dokumentation seiner Existenz und – wenn es gut läuft – seines Inhalts.

Die aufschlussreichste Stelle des Textes ist vielleicht diese:

„Fowler grabs a book off the pile on his desk: “Elixir of Life,” published in 1935. “This isn’t about the elixir of life,” he says. “This book is about preventing constipation. To a librarian, a bookseller this book was dross. But now that print is no longer the center of our culture – now that culture is on my iPhone – we can step back and really see print. And you know what? ‘Elixir of Life’ might say as much about American culture, and attitudes towards health and the body, as anything published in 1935.”

Stephen Fowler formuliert hier nicht nur eine kulturanthropologische Elementarweisheit, sondern wiederholt mit seiner “culture on my iPhone”-Attitüde leider auch eine gewisse Selbstorientierung bis Überschätzung der eigenen Rolle, die aus der europäischen Perspektive kaum nachvollziehbar ist, in Nordamerika aber erfahrungsgemäß häufig anzutreffen ist. Für die vermutlich gemeinte Arbeit des Autorenduos Dr. Jill Cossley-Batt und Dr. Irving Baird, die 1935 in der zweiten Auflage erschien (London: Python Publishing), lässt sich jedenfalls mit denkbar wenig Mühe ein Handvoll Besitznachweise in Bibliotheken finden. Der Gebrauchtbuchmarkt hält Exemplare für etwa 50 Euro bereit. Man mag sich damit noch nicht wirklich im Preissegment der „rare books“ bewegen, aber die steigende Nachfrage kombiniert mit allen zugänglichen Preisvergleichsmedien, erlaubt es Gebrauchtbuchhändlern, auch abseitige Titel halbwegs realistisch, also oft jenseits des Schnäppchenniveaus, zu taxieren. Die seltenen und kuriosen Titel sind auch dann häufig teuer, wenn sie nicht die klassischen Sammlerklientel ansprechen. (Wenngleich bei diesem Beispiel der Erwerb einer galligen Besprechung des Titels teurer ist als das Gebrauchtbuch.)Vielleicht eben genau deshalb, weil die Gruppe der nicht-klassischen Sammlerklientel, die Titel wie Dental Evidence: A Handbook for the Police gern einmal als unorthodoxes Geschenkbuch in einer popkulturellen Gemeinschaft, die sonst schon alles hat und kennt, verwendet. Wenn es en vogue ist, dann legt man sich auch so etwas als Nebenmöblierung in die Wohnstube, auch wenn man sonst nichts mit Büchern am Hut hat. Ist es passé, bleibt immer noch ein Flohmarkt am Mauerpark.

VI

Aber am Ende geht es gar nicht darum. Denn der wichtige Schritt ist, dass wir allgemein verstehen, Medien als Gesamtheit und Phänomen in ihrem Kontext zu lesen, wo wir lange gelernt haben, dass einzig der Inhalt zählt. Und, ob sich dieser für uns als temporär relevant erweist. Da es eine Qualität des Internet ist, dass auch zu marginalen Fachpublikationen viele Angaben und manchmal auch, dank Google Books, den Volltext ohne viel Mühe zu ermitteln sind, bleibt Raum, weitere Facetten einer Publikation zu betrachten und einst als irrelevant abgetane Arbeiten, neu oder wieder zu lesen. Das steht im Einklang mit dem, was The Monkey’s Paw („a glimpse of the future, a way forward for the old-fashioned bookstore in the age of the iPhone and the e-book”) exemplarisch vorführt und was die Tatsache, dass es zum Thema in der New York Times wurde, zusätzlich bestätigt: Wenigstens die westliche Kultur befindet sich derzeit und zwar dank Digitalisierung an einem Punkt, an dem die marginalsten Kulturspuren unerwartet wieder Bedeutung erlangen können.

VII

Wie dauerhaft solche Trends sind, lässt sich bekanntlich schwer prognostizieren. Es wäre verfrüht und auch falsch, das Beispiel aus dem Style Magazine der Herald Tribune zum belastbaren Vorboten einer Entwicklung zu überhöhen, die sich zum Massenphänomen ausdehnt. Für den Gebrauchtbuchmarkt gilt das sowieso: der Handel mit Raritäten und Massierungseffekte schließen sich prinzipiell aus.

Die Anziehung des an sich Überholten und parallel laufende Aktualisierungsbemühungen sind auf einer abstrakteren Ebene dennoch für die Auseinandersetzung mit Fragen des Bewahrens, Erschließens und Vermittelns von Kultur bedeutsame Trends. Also auch für Bibliotheken. Es zeigt sich erfahrungsgemäß recht deutlich, dass mediale Entwicklungen nicht selten mit wiederholtem und wiederholendem Blick in den Rückspiegel ablaufen und dass es hilfreich ist, das scheinbar Überholte hin und wieder darauf zu prüfen, ob es nicht gerade in seinem Überholtsein entscheidende Impulse für das gegenwärtige Handeln enthält. Oder mehr noch, ob etwas, das links liegen gelassen glaubte, nicht auf einmal rechts vorbei zieht.

VIII

Schließlich bleibt die Frage zu beantworten, weshalb die Rückorientierung für manche Medienformen (Schallplatte, Sofortbildfotografie, Buch) funktioniert und für andere (Tonbandkassette, Daguerreotypie, Tontafel) nicht. Eine systematische Antwort würde diese Betrachtung noch weiter dehnen, als sie ohnehin bereits spannt. Für diesen Zusammenhang mag der Hinweis auf den Dreiklang der unmittelbaren sinnlichen Erfahrbarkeit bei gleichzeitig hohem Ästhetisierungspotential und verhältnismäßig einfacher Benutzung als Vermutung zureichen.

Das gedruckte Buch, wenn es gut gemacht ist, erfüllt alle dieser drei Wünsche. Sein wirklicher Status ergibt sich immer neu aus der Dreiecksbeziehung zwischen der medialen Form, dem in ihm Codierten und dem Individuum, das sich mit Beidem auseinander setzt.

Lange Zeit ignorierte man angesichts der neuen digitaltechnischen Prozessierungsmöglichkeiten etwas Grundsätzliches:  Elektronische Textverarbeitung bezieht sich ausschließlich auf den Code, Bücher werden aber nie nur als Code geschrieben. Und Bücher werden wohl traditionell vorrangig aber eben nicht nur allein als Code gelesen. Die Eigenschaften des Mediums prägen die Botschaft spürbar mit.

Insofern ist die Digitalisierung gedruckter Inhalte aus einer (bibliotheks)kulturellen Perspektive zwar als Ergänzung eine wichtige Erweiterung. Als Ersatz wäre sie jedoch eine Verengung. Wie sich das so genannte Born-Digital-Werke verhält, ist uns heute wahrscheinlich buchstäblich kaum begreiflich. Eine mehrdimensionale kulturanalytische Auseinandersetzung mit dem sehr entwickelten und vergleichsweise gut durchforschbaren Medium Print könnte uns dafür immerhin wichtige Anhaltspunkte liefern. Der Übergang vom Desktop zum Notebook zum Tablet zum Phablet (vgl. hier) mit den jeweilig betonten und ermöglichen Nutzungsformen von Content, ist bereits eine Linie, mit der sich alle, die sich mit Produktion und Vermittlung von Inhalten professionell beschäftigen, auseinandersetzen müssen. Da wir unzweifelhaft in diese Gruppe gehören, ist das durchaus ein Thema für die am kommenden Freitag stattfindende Unkonferenz raum:shift Information Science.

Quelle:

Jody Rosen: An Oddly Modern Antiquarian Bookshop. In: T. International Herald Tribune Style Magazine. Spring Issue. March 16, 2013, S. 32-35. Onlinefassung via nytimes.com

(16.03.2013)

4 Antworten

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  1. Walther Umstätter said, on 17. März 2013 at 18:47

    Die eigentliche Problematik, die sich hinter dieser Thematik verbirgt, scheint mir die zunehmend diskutierte Frage unserer Zeit zu sein, was dürfen bzw. was müssen wir vergessen, um den Information-Overload in Grenzen zu halten. Jahrhunderte lang hat man nur das Wichtigste durch teure Kopien dem Vergessen entrissen. Heute archivieren wir schon allein durch hohe Auflagenzahlen bzw. unübersehbare Redundanzbildung vieles, was früher undenkbar zu archivieren war. Schon ein Blick in die belebte Natur macht deutlich, dass diese mit noch weitaus höheren Redundanzen ihr phylogenetisches Wissen erobert hat. Trotzdem brauchen wir eine wissenschaftlich fundierte Theorie für Poppers Welt 3. Anders gesagt müssen wir Gesetzmäßigkeiten finden, mit denen wir überflüssige Information vergessen, ohne unser Wissen zu gefährden. Die Evolution des gedruckten Buches ist dabei nur ein kleiner Apekt gegenüber den Informationen in diesen Büchern.

    • Ben said, on 19. März 2013 at 16:14

      „Anders gesagt müssen wir Gesetzmäßigkeiten finden, mit denen wir überflüssige Information vergessen, ohne unser Wissen zu gefährden.“

      Dem stimme ich völlig zu und genau dies wäre die Forschungslinie einer Wissenschaft vom Wissen, die ja etwas ganz anderes ist, als die Praxis der Wissenschaftswissenschaft, die in dem älteren blauen Buch auf dem Foto herüberleuchtet. Erstaunlicherweise sind deren Themen, nämlich die möglichst rationelle Organisation des Wissenschaftsbetriebs und der wissenschaftlichen Kommunikation sowie der (Forschungs)Daten – man beachte, wie der Informationsbegriff hier momentan weitgehend umschifft wird – deutlich präsenter, als die langfristig wahrscheinlicher entscheidendere und prinzipiell allen Infrastrukturentwicklungsdebatten notwendig vorausgehende Auseinandersetzung mit den im Digitalen strukturell in gleicher Form (nämlich digital codiert) vorliegenden Phänomenen Rauschen und Redundanz.

      Das ist medienarchäologisch vielleicht nicht per se neu, aber in diesem Ausmaß und auch in ihrem Egalitätsanspruch bisher unbekannt: Im Bitstream sind alle Aussagen zunächst einmal formal gleich. Was wir benötigen, sind zusätzliche Qualitäts- und Relevanzmesser. Die Maßstäbe setzen hierfür nicht die Bibliotheken, nicht die Bibliothekswissenschaft sondern die Alpha-Tiere der digitalen Industrien.

      Und dank sozialer Medien schwimmen in diesen Bitstrom permanent Aussagen mit hinein und werden konserviert und erschließbar, die in vordigitalen Kommunikationswelten vorläufig und rein kontextbezogen gemeint waren und daher folgerichtig meistens auch verschwunden sind. Was sich davon zufällig hielt, hat gerade deshalb heute oft einen hohen kulturhistorischen Wert, denn es stellt eine Spur dar, die es eigentlich gar nicht mehr geben sollte. In Bezug auf diese Kommunikationen bedeutet die Digitalisierung der Kommunikation eine Umkehrung, die in der Tat neue Verfahren des „digitalen Vergessens“ notwendig werden lässt. Auch heute beanspruchen solche Temporärkommunikationen keine dauerhafte Gültigkeit. Allerdings bleiben sie in der Regel vorhanden. Und müssen wenigstens aktiv getilgt sein – was zuweilen ein hochkomplizierter Akt ist.

      Mir ging es in meiner Betrachtung aber auch noch um etwas anderes, was mit dieser Frage verbunden ist, von ihr aber nicht vollends abgedeckt wird. Analoge Medien, so die These (die Erfahrung und auch die Erkenntnispraxis) enthalten wie alles Gegenständliche einen aus ihrer Materialität lesbaren Eigensinn. Neben dem Inhalt kann man sie auch morphologisch wie einen Code behandeln. Also lesen.

      Die in der Buchkultur sehr eingespielte Wechselwirkung von Trägerbeschaffenheit, Inhalt und Rezeptionspraxis ist etwas, was sich mit dem Verschwinden stabiler Trägerformen unweigerlich verändern muss. Das meine ich mit der Aussage „Die Eigenschaften des Mediums prägen die Botschaft spürbar mit.“ Ich plädiere damit dafür, eine solche metamediale Perspektive sehr zu berücksichtigen, wenn wir darüber sprechen, wie Bibliotheken Inhalte zukünftig sammeln, erschließen und verfügbar machen sollen. Wenn wir von Druck- auf E-Bücher umstellen, verändern wir zugleich die Rezeption grundlegend. Ich bin mir nicht sicher, ob dies den Vertretern in diesen Trends weithin bewusst ist.

      Schließlich fasziniert mich an dem Beispiel des Buchladens in Toronto und auch einiger anderer Entwicklungen, dass sich das Analoge als resistenter erweist, als manche der Digitalevangelisten predigten und was der bibliothekarische Trenddiskurs gern wenig gefiltert übernahm. (vgl. auch diesen Beitrag von Karsten Schuldt) Wie nahezu immer erweisen sich Ausschließlichkeitsschemata als untauglich.

      Denn bei The Monkey’s Paw etc. geht es ja nicht um Zielgruppen, die besonders intensiv über medienstrukturelle Aspekte arbeiten und/oder nachdenken. Sondern um Leute, die erklärtermaßen aus einem Bauchgefühl handeln und ästhetischen Kriterien folgen. Ob die Touchscreen basierte Informationsvermittlungswelt das Bedürfnis nach dieser hochdifferenzierten Alltagssinnlichkeit dauerhaft befriedigen kann, ist fraglich. Diese Art von Information ist vielleicht auf den ersten Blick sexy. Auf den zweiten indes fast völlig ohne erotische Wirkung.

  2. Walther Umstätter said, on 20. März 2013 at 09:45

    Sicher gilt oft: “Die Eigenschaften des Mediums prägen die Botschaft spürbar mit.” Es gibt aber auch Autoren, die ihre Inhalte möglichst unabhängig vom Informationsträger verbreitet sehen möchten. (Am liebsten in allen Gehirnen deser Welt 😉 Darum müssen wir nach meiner Einschätzung das Wissen über die Information, über den Informationsträger und das Informationsmedium als Verbund von Information und -medium unterscheiden. Erst gestern hörte ich wieder, wie jemand über das haptische Erlebnis schwärmte ein altes Buch in der Hand zu haben. Das ist leicht nachvollziehbar und kann ebenso wissenschaftlich (pschologisch, chemisch etc.) untersucht werden wie der Inhalt von Büchern (geistig evolutionär, szientometrisch etc.), man sollte sich allerdings auch immer bewusst machen, wie elitär solche Schwärmereien sind, denn wenn die Zahl derer überhand nimmt, die dieses Recht einfordern, sind solche alten Bücher bald unbenutzbar. Solche Buchkulturgenießer schließen also induktiv von sich auf alle, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Darum waren ja Bibliothekare lange als Gralshüter diskriminiert, weil sie zum Erhalt ihrer Schätze möglichst niemanden daran ließen (s. U. Ecco). Erst als Bücher immer billiger wurden und immer leichter vervielfältigt werden konnten, schaute man immer mehr nach Ausleihzahlen, und so mannche ÖB war stolz, wenn sie zeigen konnte, dass sie ein Buch, das nach 50 Ausleihen völlig zerlesen war, nun nachgekauft hat. .

  3. […] mag pauschal zutreffen. Wo allerdings Läden wie The Monkey’s Paw (mehr dazu auch hier) nach dem Absonderlichen suchen, sind Bibliotheksbestände eine fantastische Quelle. Gerade […]


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